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Eine Tüte buntes Glück

Als Buch hier erhältlich:

Für Frederike sind die Sommer ihrer Kindheit untrennbar mit Dänemark und dem Geschmack von Oma Hennis selbstgemachten Bonbons verbunden. Doch diese süßen Zeiten sind lange vorbei. Mit gemischten Gefühlen kehrt Frederike auf die Insel Fünen zurück, um das Haus ihrer Familie für den Verkauf zu renovieren. Gleich am ersten Tag trifft sie auf ihre Jugendliebe Rasmus, und nach einem holprigen Start funkt es erneut zwischen ihnen. Zusammen mit ihm entdeckt sie das Eiland und auch ihre alte Leidenschaft fürs Bonbonkochen neu. Bald reift in Frederike der Plan, in Dänemark einen kleinen Bonbonladen zu eröffnen. Aber ausgerechnet Rasmus könnte diesen Traum zerstören …


  • Erscheinungstag: 03.09.2018
  • Seitenanzahl: 400
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955768003
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Flødekarameller –
Salz-Sahnebonbons

Aus Rikkes geheimem Rezeptbuch

24. Juni 2000

Flødekarameller

Zutaten:

250 ml Sahne

25 g Butter

120 g brauner Zucker

1 Päckchen Vanillezucker

½ TL grobes Meersalz

Zubereitung:

  1. Ein Backblech mit Alufolie auslegen und dünn mit geschmacksneutralem Öl einpinseln.

  2. Die Sahne in einem Topf erhitzen.

VORSICHT: Nicht dabei tagträumen und sich fragen, wann endlich dieser wahnsinnig süße Typ auftaucht, auf den man insgeheim die ganze Zeit wartet. Auch dann nicht, obwohl man schon zwei Tage (zwei GANZE Tage!!) wieder in Dänemark ist und ihn noch nicht gesehen hat. Sich den Kopf darüber zu zerbrechen, ob womöglich eine feste Freundin dahintersteckt, führt nur dazu, dass die Sahne überkocht. Das ist eine riesige Sauerei, und Morfar Mikkel, mein Opa, hat jedes Recht zu schimpfen, wenn man seine Küche in ein Schlachtfeld verwandelt. Während Oma Henni bloß lacht. Also: Volle Konzentration auf den Kochtopf. NUR auf den Kochtopf!

  1. Wenn die Sahne kocht, langsam den Zucker und Vanillezucker hineinstreuen.

  2. Rühren, bis sich der Zucker vollständig aufgelöst hat.

  3. Nun die Butter dazugeben. Alle Zutaten müssen zu einer glatten Masse verschmelzen.

  4. Rühren, rühren, rühren. Die Masse soll köcheln und eindicken, darf aber nicht anbrennen.

  5. Sobald die Masse zähflüssig ist, den Topf vom Herd nehmen, das Karamell vorsichtig auf die Alufolie gießen und mit einem Teigspatel verstreichen.

  6. Gleichmäßig das Meersalz auf das Karamell rieseln lassen.

  7. Warten, bis die Bonbonplatte abgekühlt ist, und anschließend in mundgerechte Stücke schneiden.

Fertig. Lutschen und genießen. So ausgerüstet, können die Ferien beginnen.

Danke für dein herzliches Willkommen, Rendstrup! Das wird der beste Sommer meines Lebens!

1. Kapitel

Frederike schmeckte die salzige Meeresluft. Sofort musste sie an die herrlichen Sahnebonbons aus ihrer Kindheit denken und seufzte laut. Tief vergrabene Erinnerungen an Oma Henni und laue dänische Sommernächte drängten an die Oberfläche. Und an Morfar. Wenn sie in Frankfurt war, dachte sie an Opa Mikkel als ihren Großvater. Jetzt, auf dem Weg nach Norden, fielen ihr wieder die dänischen Begriffe ein. Morfar hieß übersetzt der Vater ihrer Mutter. Die Vorstellung von Rendstrup Strand ohne ihn war kalt und grau wie das Wetter. Seitdem Frederike den Nord-Ostsee-Kanal hinter sich gelassen hatte, regnete es. Nein, das war nicht ganz richtig. Es regnete nicht einfach nur. Ein Wolkenbruch folgte auf den nächsten und beschränkte die Sicht auf unter zwanzig Meter. Und das Anfang August.

Dabei war Frederike überzeugt gewesen, dass sie alles ausreichend geplant hatte, um sicher und bequem in Rendstrup Strand anzukommen. Sie hatte den Peugeot noch mal durchchecken lassen, ehe sie am Vortag sorgfältig gepackt und das Auto beladen hatte. Dann war sie ganz früh am Morgen aufgebrochen, lange bevor in Frankfurt der Berufsverkehr einsetzte. Den Schlüssel zu Morfars Haus hatte sie gut sichtbar auf das Armaturenbrett gelegt, damit sie sich nicht alle zehn Minuten fragen musste, ob sie daran gedacht hatte, ihn einzustecken.

Sie war noch nie selbst mit dem Auto nach Dänemark gefahren. Als sie noch klein gewesen war, hatte ihre Mutter Mathilde sie einige Male, ohne eine Pause zu machen, bis nach Rendstrup kutschiert.

Gleich nach der Ankunft war Mathilde umgedreht, kaum dass sie ihre Tochter praktisch aus dem Wagen geworfen hatte.

Jetzt, wo Frederike selbst hinter dem Lenkrad saß, sah alles anders aus als in der Erinnerung. Zumindest, was man bei diesem Mistwetter erkennen konnte. Das hatte auch dafür gesorgt, dass Frederike erst später als beabsichtigt die Autobahnbrücke über den Kleinen Belt erreichte. Auf dieser Brücke, die die Meerenge überspannte und die Insel Fünen mit dem dänischen Festland verband, begann für sie die Heimkehr.

Gab es noch Leute, die sich an sie erinnerten?

Auf fünischer Seite wurde der Verkehr deutlich weniger. Dennoch merkte Frederike, dass sie immer langsamer wurde. Nicht wegen des Regens. Alles in ihr schien sich zu verkrampfen, weil ihr Herz sich gegen die Weiterfahrt sträubte. Sie stand kurz vor einem Panikanfall. Was, wenn niemand sie mehr hier haben wollte? Nicht mal auf Morfars Beerdigung war sie gewesen. Von einem Tag auf den anderen hatte sie Fünen den Rücken gekehrt. Weil Søren es so gewollt hatte, nachdem sie seinen Heiratsantrag angenommen hatte.

Und nun kam sie zurück. Achtzehn Jahre, vergangen in einem Wimpernschlag.

Ihre Augen brannten. Die letzte größere Ortschaft auf dem Weg nach Rendstrup war Kerteminde, und das Brennen in ihren Augen verschärfte sich, sobald durch das halb offene Beifahrerfenster ein Hauch von Waffelduft hereindrang. Der Geruch ihrer Kindheit. Bilder von glücklichen, unbeschwerten Tagen schossen Frederike durch den Kopf. Mit den Fahrrädern waren Mille, Søren, Rasmus und sie nach Kerteminde gefahren, um sich im Vaffelhuset Eis zu holen und auf sonnenwarmen Pflastersteinen zu sitzen.

Welcher Teufel hatte sie geritten, hierherzukommen? Sie fühlte sich, als würde sie sich selbst geißeln, und alles nur wegen eines idiotischen Werbeplakats in einem Reisebüro, das sie gesehen und danach nicht mehr hatte vergessen können. Das Werbeplakat. Jeden Tag lief Frederike auf ihrem Weg zur Arbeit an dem kleinen Reisebüro vorbei. Jeden Tag waren die Aushänge eine willkommene Ablenkung von den Gedanken an die acht Stunden am Fließband der Keksfabrik, wo sie seit einem guten Jahr arbeitete. Normalerweise hingen in dem Schaufenster Werbeplakate für Kreuzfahrten oder Urlaube in Südostasien. Doch an jenem Morgen war das anders gewesen. Den einsamen Leuchtturm am Strand hatte sie sofort erkannt. So oft war sie selbst in dem Naturschutzgebiet ganz im Norden der dänischen Insel gewesen, dass sie die Überschrift gar nicht gebraucht hätte.

Willkommen auf Fünen. Wo Dänemark blüht.

Dazu das Bild des Kaps von Fünen mit leuchtend gelbem Ginster, so weit das Auge reichte, und mild in der Meeresbrise wehendem Dünengras, in dem sich vereinzelt violette Lupinen vor dem Wind duckten. Die Sehnsucht war so plötzlich gekommen, dass Frederike stehen bleiben musste, weil ihre Beine drohten nachzugeben. Erst als Passanten sie ansprachen, ob es ihr gut ginge, hatte sie bemerkt, dass sie am ganzen Körper zitterte. Da hatte sie gewusst, dass sie etwas unternehmen musste. Zwei Jahre lang hatte sie den Kopf in den Sand gesteckt. Was genug war, war genug.

Die Durchgangsstraße in Kerteminde führte am Strand vorbei, wo ungeachtet des Regens ein paar Leute mit ihren Hunden spazieren gingen. Eine Gruppe Kajaks schaukelte auf den Wellen herum, und sogar ein Kitesurfer war unterwegs. Frederike fröstelte bei dem Anblick. Im nächsten Moment ertönte das schrille Quietschen von Bremsen. Sie verriss das Lenkrad, und der Wagen prallte gegen die Bordsteinkante.

Schwer schluckte sie, schüttelte ihre leichte Benommenheit ab und bemerkte jetzt, wovon der Anblick des Strandes sie abgelenkt hatte: Rot-weiße Schranken und Absperrbänder teilten die Straße. Die Gegenspur war gesperrt und der Verkehr rollte auf sie zu. Keine Ampel, die wäre ihr schon weiter weg aufgefallen. Hier setzte man darauf, dass die Verkehrsteilnehmer sich einigten, wer als Erster die Baustelle passieren durfte.

Nur wenige Zentimeter vor ihrer Motorhaube war ein riesiger Volvo zum Halten gekommen, dessen Xenon-Scheinwerfer sie grell anstrahlten.

Ein Mann stieg aus dem SUV, knallte seine Tür zu, offensichtlich wütend auf sie. Mit wenigen Schritten war er neben ihr und klopfte gegen die Scheibe.

Resigniert ließ sie das Fenster runter.

»Haben Sie die Baustelle nicht gesehen?«

Beim Klang seiner Stimme verstärkte sich das Gefühl von Nachhausekommen in ihr. Søren hatte nach ihrer Hochzeit nie mehr Dänisch mit ihr gesprochen, und sie hatte sich so weit von der Sprache ferngehalten, wie es ihr möglich war. In Frankfurt war das nicht besonders schwer. Doch jetzt, hier, mit dem Duft von klarem Regen, der kleine Krater in sauberen Sand schlug, und mit dem Rauschen der Wellen, die an die Küste rollten, erinnerte sie sich mit jeder Faser ihres Körpers.

»Es tut mir leid«, entschuldigte sie sich. »Ich hab nicht aufgepasst«, stammelte sie. Ihr Dänisch war ganz schön eingerostet.

Sie konnte den Fahrer nicht mal anschauen, da ihr die Situation zu peinlich war. Sie hätte nicht hierher zurückkehren dürfen. Schon gar nicht allein mit dem Auto. Was hatte sie denn erwartet? Dass alles sie kalt lassen würde, was sie einmal geliebt und so lange nicht gesehen hatte?

»Rikke?«

Es dauerte, ehe das Wort in ihr Bewusstsein drang. Der Mann, der aus dem Volvo gestiegen war, hatte es gesagt, allerdings dauerte es, ehe sie realisierte, was er gesagt hatte. Nur hier nannten die Menschen sie so. Rikke.

Sie hob den Kopf.

Er hatte die Hände ins offene Fenster gestützt, sich vorgebeugt, um sie besser anmotzen zu können, und jetzt … starrte er sie bloß an, als sei sie ein Geist.

Vermutlich schaute sie ihn genauso an. »Rasmus?« Achtzehn Jahre lang hatte sie sich verboten, an dieses Gesicht zu denken, und nun brauchte es nur einen Blick, einen einzigen Blick, und ihr Herz erkannte ihn. Wenn sie schon etwas fühlen musste, wollte sie ihn wenigstens hassen. Doch nicht einmal das gelang ihr. Er hatte nie etwas falsch gemacht, bis auf das eine Mal. Ihre Finger kribbelten, so sehr wollte sie ihn berühren, sich vergewissern, dass er wirklich echt war.

Seine Augen waren so grau wie früher. Ein bisschen wie die Farbe des Gefieders junger Möwen, aber nicht ganz. Sie hatte Jahre damit verbracht, etwas zu finden, das dieselbe Farbe hatte wie die Augen von Rasmus Martensen. Gefunden hatte sie nie etwas.

Er drückte die Lippen fest zusammen, alle Farbe wich aus seinen hohen Wangenknochen. Sein Gesicht war über die Jahre gereift. Er war nicht mehr der Junge, mit dem sie damals die dänischen Sommer verbracht hatte, er war ein Mann. Winzige Lachfalten in den Augenwinkeln, Dreitagebart auf den Wangen und dem kantigen Kinn. Ein praktischer rotblonder Kurzhaarschnitt, und oben aus dem dunkelblauen Pullover schaute der Kragen eines Hemdes hervor, das die Farbe seiner Augen hatte. Sie entdeckte einen Wassertropfen, der an seinen langen, rotblonden Wimpern hing, herunterfiel und über Rasmus’ regennasses Gesicht rann, als er blinzelte.

»Hej«, stieß er gepresst hervor. »Damit habe ich nicht gerechnet.«

Sie konnte nur schlucken. Ihn nur anstarren, während die Fragen in ihrem Kopf sich überschlugen und gegen die Ketten kämpften, in die sie sie achtzehn Jahre lang gelegt hatte. Warum? wollte sie wissen. Wieso? Weshalb? Was hat sich zwischen uns gestellt?

Allerdings hielten die Ketten, und das war gut so, denn das Gesicht des Mannes, den sie als Jungen gekannt hatte, war das eines Fremden.

Er stand wie festgenagelt da, bis … ja, bis jemand hinter ihnen hupte, weil der Volvo die Einfahrt in die durch die Baustelle verengte Straße blockierte.

»Ist ja gut!« Ohne ein weiteres Wort an Frederike richtete Rasmus sich auf, winkte dem Ungeduldigen zu und kehrte zu seinem Wagen zurück.

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Kaum hatte sie den Zusammenprall mit ihrer Vergangenheit hinter sich gebracht, rissen die Wolken auf und gaben den Blick auf einen Himmel frei, der eine sternenklare Nacht versprach.

Rendstrup Strand war für sie der Inbegriff eines dänischen Dorfes. Wo sich ein Stückchen Bauland fand, hatte im Laufe von Jahrhunderten irgendwer ein Haus daraufgesetzt. Entstanden war ein wunderbares Durcheinander aus alten Fachwerkhäusern, modernen Bungalows und allem, was dazwischenlag. Ihr Herz machte einen Satz, während sie sich dem Haus ihres Großvaters näherte. Als sie ihre Mutter Mathilde um den Schlüssel gebeten hatte, hatte diese noch einmal betont, dass das Gebäude in einem erbärmlichen Zustand sei.

Eine buntgescheckte Katze mit einer Maus im Maul kreuzte die Straße. Frederike versuchte sich zu erinnern, wo sie entlangfahren musste. Morfars Heim befand sich hundert Schritte einen schmalen Weg hinunter, der am Dorfplatz begann und hinter dem Haus in weitem Bogen ins Feld hinausführte.

Den kleinen Tante-Emma-Laden am Dorfplatz gab es nicht mehr. Inzwischen war dort offenbar eine Bäckerei eingezogen. Zwei Grundstücke nebenan erhob sich das Fachwerkhaus, in dem Oma Henni gewohnt hatte. Die gesamte Fassade war verändert, ein Schaufenster erstreckte sich beinahe über die ganze Breite des Gebäudes. Jakobsen & Lindegaard Immobilien stand in großen schwarzen Lettern über dem Fenster. Und wo lebte Oma Henni jetzt?

Frederike lenkte den Wagen an der Bäckerei vorbei und in die schmale, gewundene Straße hinein, die direkt daneben begann. Der Asphalt war immer noch genauso holprig, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Gleich. Gleich wäre sie an dem Ort, an den sie niemals hatte zurückkehren wollen. Ein Ort, der für sie immer der Inbegriff für Glück gewesen war, ein Glück, das sie nicht mehr ertragen hatte. Die Straßenlampen gingen an.

Sie sah das Haus, das sich am Ende der schmalen Straße befand. Ein klassischer dänischer Dreiseitenhof, mit dem Wohnhaus in der Mitte, einem Stall für Tiere, an den sich ein kleiner Schuppen lehnte, auf der linken und einer Scheune mit großem Tor auf der anderen Seite. Im Hof zwischen den drei Gebäuden hatte es früher mal einen Brunnen mit einer Handpumpe gegeben, doch der war schon zu der Zeit außer Betrieb gewesen, als sie noch die Sommerferien hier verbracht hatte. Der Schuppen mit Brennholz war geplündert worden, der Hof von hüfthohem Gras und Unkraut überwuchert. Aber direkt an den Hauswänden entlang blühten farbenfroh unzählige Stockrosen.

Dunkle Balken, ockerfarbene Wände. Eine niedrige Mauer fasste den Hof ein, von Lavendel nicht nur be-, sondern überwachsen. Hinter dem Mäuerchen stand eine uralte Hortensie in einem tiefen Pink in voller Blüte. Am Haus vorbei konnte Frederike goldenen Weizen entdecken, der auf einem endlos scheinenden Feld im Abendwind wogte.

Hatte ihre Mutter nicht gesagt, dass niemand die Felder, die zum Hof gehörten, pachten wollte? Und dass es Mathilde deswegen nicht gelungen war, den Antrag durchzudrücken, das Gebäude zu einem Ferienhaus umzumelden? Sie hatte ihr erklärt, dass, wenn zu einem Anwesen Felder gehörten, es als landwirtschaftliches Unternehmen galt. Erst nachdem diese Felder veräußert worden waren, durfte das Haus einem anderen Nutzen zugeführt werden. Und Mathilde behauptete steif und fest, dass sie im ganzen Norden von Fünen keinen Landwirtschaftsbetrieb gefunden habe, der sich für die Felder interessierte. Also wem gehörte dann der Weizen?

Frederike parkte den Peugeot vor dem Gebäude am Bordstein und zog den Zündschlüssel ab.

Stille.

Nicht ganz.

Sie schindete Zeit. Eine Amsel hockte auf dem Dachfirst der Scheune und trällerte hingebungsvoll. Ein zweiter Vogel auf dem Dach des Wohnhauses antwortete nicht weniger laut. Als Hintergrundmusik des Amselkonzertes drang das Rauschen des Meeres an Frederikes Ohren. Sie konnte es von hier aus nicht sehen, wusste jedoch, dass es da war. Keine zweihundert Schritte auf der anderen Seite des sanft ansteigenden Weizenfeldes, hinter einem breiten Dickicht aus Flieder- und Holunderbüschen und einer zehn Meter hohen Klippe aus weißem Sandstein, begann der Strand, zu dem ein schmaler, neben dem Getreide kaum sichtbarer Trampelpfad führte.

Sie schluckte schwer und blickte hinauf zum Reetdach. Einer der Vögel schaute zu ihr herab, ehe ein neuerlicher Singanfall der zweiten Amsel ihn herausforderte, sich wieder seiner Aufgabe zu widmen.

Eine Erinnerung an Rasmus und Søren und gemeinsame Abende bei Meeresrauschen und Amselgesang wollte sich vor ihrem inneren Auge abspielen, aber Frederike ließ sie nicht. Sie hatte nicht überlebt, weil sie zu Sentimentalitäten neigte. Sie hatte einfach weitergemacht.

Ihre Finger zitterten, während sie nach dem Schlüssel auf dem Armaturenbrett des Peugeots griff.

Mit wackligen Knien ging sie an der niedrigen Strandrosenhecke, von denen die meisten Blüten sich bereits in Hagebutten verwandelt hatten, entlang zur Haustür.

Eine Stimme hielt sie auf und schenkte ihr noch einmal Aufschub.

»Hej«, sagte die Stimme. »Was tun Sie da?« Es war eine Stimme aus ihrer Kindheit. Eine Stimme, die trotz der Härte der dänischen Worte nach Sahnebonbons mit Meersalz klang, nach zuckerklebrigen Fingern und der Süße von frisch gepresstem Erdbeersaft.

Frederike wandte sich um.

Oma Henni, die nicht wirklich Frederikes Großmutter war, sondern die von Rasmus und dessen Schwester Mille, war immer klein und zierlich gewesen, doch jetzt wirkte sie zerbrechlich. Das früher dunkelgraue Haar leuchtete schlohweiß und das sonnengebräunte Gesicht darunter war faltig. In den Augenwinkeln zeichneten sich Falten ab, aber Hennis Blick war immer noch funkelnd und aufgeweckt. In der Hand hielt sie einen Strauß Wildblumen, die am Rand des Holunderdickichts in großen Mengen wuchsen.

Frederike ließ die Hand mit dem Schlüssel sinken und konnte nichts weiter tun, als zu starren.

»Rikke?« Henni kam näher, ungläubig den Kopf nach vorn gestreckt.

»H-hej, Bedstemor, hvordan går det?«, sagte sie, und wie vorher bei Rasmus wollte ihr die Stimme nicht gehorchen. Vielleicht war es die seit fast zwei Jahrzehnten nicht gehörte und benutzte Sprache und Frederikes Unsicherheit, ob sie sich an alle Wörter erinnerte. Natürlich war das Unsinn. Bedstemor hieß Großmutter, und die Frage danach, wie es jemandem ging, vergaß man nicht so schnell.

Einen Moment lang schauten sie einander nur an. Frederike rechnete mit allem. Unruhig trat sie von einem Bein aufs andere.

Dann breitete sich ein solch strahlendes Lächeln auf dem Gesicht der alten Frau aus, dass die Straßenlampen getrost einpacken konnten. Mit ausgestreckten Armen überbrückte Henni die letzten Schritte und schloss Frederike in die Arme.

»Mein kleiner, kleiner Engel!«, flüsterte Henni, schien eine Sekunde lang loslassen zu wollen, nur um dann noch fester zuzudrücken. »Wie hab ich diesen Moment herbeigesehnt!«

Ich nicht, war alles, was Frederike dachte. Ich hatte eine solche Angst vor dieser Begegnung, dass sie mir oft die Luft zum Atmen genommen hat. Aber zum Glück konnte sie immer noch nicht sprechen und lief so nicht Gefahr, Henni zu beleidigen.

Endlich machte Henni sich los. In ihren regengrauen Augen glitzerte es feucht. Sie nahm Frederike den Schlüssel aus der Hand und hielt ihr einen anderen hin. »Der wird besser funktionieren.«

»Du hast das Schloss auswechseln lassen?«, fragte Frederike, froh, über ein unverfängliches Thema zu sprechen.

»Nicht doch«, antwortete Henni, »aber ich komm alle paar Wochen her und schau nach dem Rechten. Aus dem Grund passt mein Schlüssel sicher besser und klemmt bestimmt nicht wie deiner, der ewig nicht benutzt wurde. Ich will ja nicht, dass es einen Rohrbruch gibt oder so was. Stell dir vor, dieser unfähige Klempner, den deine Mutter herbestellt hat, damit er das Wasser abstellt, solange das Haus unbewohnt ist, konnte den Haupthahn nicht finden.«

»Doch du hast ihn gefunden?«

»Ich hab ihn nicht gesucht. Pst.« Sie winkte Frederike mit dem Zeigefinger zu sich und presste ein Ohr an die verschlossene Holztür. »Hörst du das?«

Frederike tat es der alten Frau gleich und lauschte mit ihr zusammen. Ein leises Tröpfeln drang an ihr Ohr.

Henni lachte. »Das ist die Spüle in der Küche. Der Hahn tropft. Deswegen habe ich das Wasser nicht abstellen lassen. So habe ich immer dann, wenn ich hier reinkomme, das Gefühl, es lebt noch jemand hier. Dass dein alter Morfar Mikkel noch da ist. Dein Großvater fehlt uns allen sehr.« Henni zuckte mit den Schultern und schürzte die Lippen. Falls sie es befremdlich fand, dass Morfar Frederike offenbar nicht genug gefehlt hatte, um ihn wenigstens mit zu Grabe zu tragen, ließ Henni es sich nicht anmerken.

»Was soll ich sagen? Ich bin eine sentimentale alte Frau. Wahrscheinlich würde mich der alte Kauz mit seiner Schrotflinte vom Grundstück jagen. Du weißt ja, wie er war. Und seitdem du ihn nicht mehr besucht hast …« Mitten im Satz unterbrach Henni sich, als würde ihr auffallen, dass sie ein heikles Thema anschnitt. Sie straffte die Schultern und nahm das Ohr vom Türblatt. »Wie auch immer. Warum sollte ich das Wasser abstellen lassen? Deine Mutter hat sich nie um irgendwas hier gekümmert und weshalb sollte ich ihr einen Gefallen tun? Doch Strom gibt es nicht mehr.«

Henni wischte sich die Hände an den Oberschenkeln ab, als rüstete sie sich für den Aufbruch. »Hoffentlich brauchst du die Heizung nicht so schnell. Ist ein scheußlicher Sommer bisher. Aber nur kaltes Wasser? Wenn du duschen willst, tust du das bei mir, ja?« Henni zeigte auf einen hässlichen Klotz aus den Siebzigerjahren, der jetzt offenbar ihr Haus war. Oh Gott! Das passte ja überhaupt nicht.

Zu den anderen Dingen wusste Frederike nichts zu sagen. Die schlimmste Kälte kam ohnehin von innen.

Zum Glück übernahm Henni das Weiterreden. »Also ich denke, das Erste, was du morgen machen solltest, ist, den Elektriker und die Stadtwerke anzurufen, damit du wieder Strom und Gas hast. Für heute findest du sicher irgendwo Kerzen und Streichhölzer im Haus.« Jetzt wandte sich Henni allerdings noch einmal zu Frederike und tätschelte ihr die Wange. »Du schaffst das schon. Falls du immer noch so viel liest wie früher, Mikkels Bücher hat niemand angerührt.«

Traurig lächelte Frederike. Sie konnte sich nicht vorstellen, auch nur eines der geliebten Bücher ihres Großvaters in die Hand zu nehmen. Sie konnte sich nicht einmal vorstellen, diese Tür zu öffnen und über die Schwelle zu treten, aber nun war sie schon hier.

»Alsoooo …« Henni ließ Frederikes Wange los und trat nun endgültig einen Schritt zurück. »Wenn du Bettwäsche brauchst oder was waschen musst, dann schau bei mir vorbei, zumindest fürs Erste. Ich glaube, Mille hat sich vor ein paar Wochen eine neue ultramoderne Maschine gekauft, die so viel gekostet hat, dass sie vermutlich die Wäsche nicht nur selbständig sortiert und einfüllt, sondern auch aufhängt. Ich frag sie mal, ob sie ihre alte Maschine noch hat.«

»Mille wohnt noch in Rendstrup?«

»Oh, sie ist verheiratet und beruflich sehr erfolgreich.«

Frederike fragte sich, ob sie sich den ironischen Unterton in Hennis Stimme einbildete.

»Bedstemor Henni?« Frederike wollte nicht, dass die alte Frau ging. Sie hatte Angst vor dem, was sie auf der anderen Seite der Tür erwartete, Angst vor dem nächsten Schritt oder auch nur vor dem nächsten Wort. Es fühlte sich an, als hätte sie seit Jahren den Atem angehalten und es nicht einmal gemerkt. Doch hier, wo der Regen die Luft sauber gewaschen hatte, war es ihr, als könnte sie keine Sekunde mehr so weiterleben. Sie musste Atem holen, der Drang war einfach zu stark. War das nicht der Grund, warum sie überhaupt hierhergekommen war? Um abzuschließen. Um herauszufinden, wie ihr Leben weitergehen sollte, und um endlich wieder nach vorne sehen zu können.

»Ja?«

»Nichts wird mehr, wie es früher war, oder?«

»Nein, mein Engel. Manches, was man verloren hat, kann man wiederfinden. Aber Jahre bleiben verloren.« Mit dem Zeigefinger deutete Henni auf den Giebel, der sich direkt über ihren Köpfen unter dem Reetdach befand. »Die Zeit liegt nicht dort oben auf dem Dachboden und wartet darauf, dass jemand kommt, der sie entstaubt.«

Aufmerksam betrachtete die alte Frau Frederike. Hennis Augen waren so voller Wärme, als wäre ihr genau bewusst, dass das, was sie sagte, Frederike zutiefst aufwühlte.

»Ich weiß.« Irgendwie schaffte Frederike es, dies zwischen zusammengebissenen Zähnen hervorzubringen. »Vergiss, dass ich das gefragt habe, das war dumm.«

»Das mit Sørens Tod tut mir leid, mein Kleines.« Henni gab vor, nicht zu bemerken, dass Frederike zitterte. »Es ist eine Schande, was das Leben aus den jungen Menschen macht. Wir alten Leute müssen so aufpassen auf euch junges Gefieder. Kein Wunder, dass du ganz durcheinander bist. Aber Søren wollte uns ja nicht auf sich aufpassen lassen. Niemand trägt daran die Schuld.« Auch du nicht. Die Worte hingen unausgesprochen zwischen ihnen.

»Leben seine Eltern noch in dem Haus direkt oben an der Küste?«

Henni schnalzte mit der Zunge. »Die sind geschieden. Vor fünf oder sechs Jahren schon. Hat Søren nichts gesagt? Er war doch hier. Ganz kurz, um seiner Mutter beim Umzug nach Kopenhagen zu helfen. Wohin sein Vater ist? Wer weiß das schon.«

»Er hat nie etwas erzählt, nachdem er wegen des Umzugs hier gewesen war.« Frederike fühlte sich wie die größte Versagerin. Als Ehefrau, als Enkelin, als Freundin und Vertraute, sie hatte auf ganzer Linie versagt. Kein Wunder, dass Søren … Nein, sie konnte den Gedanken nicht einmal zu Ende denken. Den Großteil ihrer Kindheit und Jugend hatte sie hier verbracht und war mit offenen Armen empfangen worden, und dann hatte sie alle Brücken hinter sich abgerissen. Wegen eines Mannes.

»Er wird seine Gründe gehabt haben. Genau wie du. Aber jetzt bist du wieder hier. Das ist das Einzige, was zählt.«

Frederike wollte erwidern, dass dies kein Wieder-hier war, nur ein Atemholen. Ein Innehalten. Dass sie nur so lange bleiben würde, bis sie das Haus renoviert hatte, damit ihre Mutter endlich damit tun konnte, was auch immer sie plante. Frederike hatte Mathilde nicht lange überreden müssen, ihrem Vorschlag zuzustimmen. Aber sie brachte es nicht über sich, dies auszusprechen. Nicht nachdem Bedstemor Henni sie so freundlich und herzlich begrüßt hatte. »Ich glaub, ich sollte da jetzt reingehen.«

»Das solltest du.«

Frederike machte keine Anstalten aufzusperren. Sie war wie versteinert und klammerte sich an den Anblick von Bedstemor Henni, der kleinen Dame mit einem so großen Herzen.

Als würde Henni spüren, dass Frederike sich nicht bewegen würde, ehe sie selbst weg war, wandte sie sich endgültig ab. »Ich sehe morgen nach dir. Mach dir keine Illusionen, da drinnen wimmelt es von Spinnweben und Staubflocken. Wenn du in diesem Kasten einigermaßen bequem leben möchtest, hast du ab morgen jede Menge zu erledigen. Selbst für das Gröbste hilft nur ein ganzes Besengeschwader.«

»Ich habe zwei gesunde Hände«, rief sie Henni hinterher. Das Gartentor fiel hinter der alten Dame ins Schloss.

Zeit für die Wahrheit.

Sie straffte die Schultern, rüttelte ein paarmal an der Klinke, schließlich gab das Blatt nach.

Zuerst sah sie nur Dunkelheit. Die Dielen unter ihren Füßen knarrten, unter dem Dach raschelte der Wind.

Sie schloss die Tür hinter sich und lief weiter.

Es roch nach Mäuseurin und Staub. Durch den kurzen Flur betrat sie das Wohnzimmer. Da waren die Spinnweben in den Ecken, mit denen sie gerechnet hatte, und eine dicke Schmutzschicht auf dem Kamin, aus dem niemand jemals die zu Asche zerfallenen Reste von Morfars letztem Feuer entfernt hatte. In der Küche erklang in regelmäßigen Abständen das Plitsch, plitsch, plitsch. Dunkle Spuren verunzierten die Wände, sicher waren das Wasserflecken.

Unaufhaltsam strömten die Eindrücke auf Frederike ein, und plötzlich war sie unglaublich müde.

Sie trat auf das Sofa zu. Irgendjemand hatte weiße Leintücher über die Polstermöbel gebreitet. Mit einem Ruck befreite sie die Couch von ihrer Schutzhülle. Unzählige Staubpartikel tanzten im durchs Fenster fallenden Abendlicht wie funkelnde Sterne.

Sie sollte ihren Koffer holen und beginnen, wenigstens eines der Zimmer so weit zurechtzumachen, dass sie einen sauberen Ort zum Schlafen hatte. Aber der Knoten in ihrer Kehle, der mit jedem Schritt, den sie weiter in ihre Vergangenheit vordrang, wuchs, war bereits zu groß. Wenn er platzte, würde sie weinen, und sie wollte nicht weinen. Sie hatte nicht mehr geweint, seitdem sie diesen Ort das letzte Mal verlassen hatte. Nicht an Sørens Grab, nicht in der Zeit danach. Nicht, als sie alles verloren hatte. Nicht, als Morfars Todesanzeige in ihren Briefkasten geflattert war, ohne auch nur ein einziges persönliches Wort ihrer Mutter. Wenn die Welt sie niederdrücken wollte, dann zeigte Frederike ihr die Zähne, damit es wenigstens aussah wie ein Lächeln.

Mit steifen Gliedern ließ sie sich auf die Couch sinken, zog die Beine an den Bauch und bettete den Kopf in der Armbeuge.

Morgen, sagte sie sich, morgen war auch noch ein Tag. Dann konnte sie beginnen, aufzuräumen und zu sortieren. Ihr Innenleben ebenso wie dieses Haus.

Der Gedanke hatte etwas Tröstliches, und sie schlief ein.

Københavner – Kopenhagener

Aus Rikkes geheimem Rezeptbuch

1. Juli 2000

Københavner

Zutaten:

100 ml Wasser

400 g Zucker

150 g Traubenzucker

3 ml Ananasaroma

¾ ml gelbe Lebensmittelfarbe

½ TL Zitronensäure

2 EL Magermilchpulver

2½ ml Vanillearoma

Zubereitung:

  1. Wasser, Zucker und Traubenzucker in einem Topf mischen und auf dem Herd erwärmen.

VORSICHT: Zerbröselte Traubenzuckerriegel funktionieren nicht. Wenn ihr das ausprobiert, ist das Einzige, was ihr davon habt, ausgelacht zu werden.

  1. Den Zucker bei starker Hitze schmelzen lassen, bis die Masse exakt 165 °C erreicht hat. Die Temperatur kann nur mit einem Zuckerthermometer überprüft werden.

  2. Sobald die gewünschte Gradzahl erreicht ist, nehmt den Topf vom Herd und gießt den Sirup auf eine Silikonmatte.

Noch mal VORSICHT: Ich empfehle euch, unbedingt dicke Handschuhe dabei anzuziehen. Heiße Sirupspritzer auf der Haut tun verdammt weh. Bedstemor Henni sagt zwar, wer nicht heiß anfassen kann, kann auch nicht heiß lieben, doch ich sage euch, es lohnt sich nicht, auf diese Weise beweisen zu wollen, WIE heiß ihr lieben könnt. Das gibt einfach nur Brandblasen an den Fingern, und mit verbrannten Fingern tut jede noch so kleine Berührung weh. Sogar, wenn man damit ganz vorsichtig die Lippen von Rasmus nachfährt. Diese Lippen, die das Weicheste und Süßeste und Beste sind, was ein Mädchen berühren kann. Brandblasen an den Fingern können selbst diese Lippen nicht gesund küssen.

  1. Wenn die Masse leicht angehärtet ist und nicht mehr zerläuft, in zwei gleiche Teile trennen. Eine Hälfte mit Zitronensäure, Ananasaroma und gelber Lebensmittelfarbe mischen, den anderen Teil mit der Vanille und dem Magermilchpulver. Die Hälfte mit dem Ananasaroma zu einer schmalen Rolle formen und mit dem Teil mit Vanille umhüllen. In 2 cm dicke Stangen ziehen. Erst nach dem Trocknen mithilfe von Morfars Allesschneider oder über der Kante eines alten Schneidebretts mit einem Messer in kleine Stücke zerschlagen.

Fertig. Kopenhagener sind nicht perfekt, sehen nicht mal perfekt aus, sie sind wie winzige Eisberge, scharfkantig und unförmig. Aber sie schmecken einfach so süß, wenn man die scharfen Kanten einmal abgebissen hat. Und für den Anblick, wenn Rasmus die Augen schließt und genießerisch seufzt, lohnen sich sogar Brandblasen an den Fingern.

2. Kapitel

Als das Handy in der Hosentasche der achtlos über einen Stuhl geworfenen Anzughose summte, wäre eigentlich kein Mensch davon aufgewacht. Rasmus hatte in dieser Nacht allerdings erst gar keinen Schlaf gefunden und deshalb hörte er es ohne Probleme. Warum um alles in der Welt hatte er sich mitten unter der Woche auf einen Vor-Ort-Termin mit dem Bürgermeister von Kerteminde eingelassen? Er hätte so friedlich schlafen können, wenn er wie üblich erst am Wochenende nach Fünen gefahren wäre. Mit den einzigen Programmpunkten: heiße Schokolade trinken und Hennis selbstgebackene Hindbærsnitter und Linzertörtchen genießen. Stattdessen war er an einem Mittwoch die knapp hundertachtzig Kilometer hinuntergeheizt, nur um einem Mann Händchen zu halten, der seine Entscheidung längst getroffen hatte und nun Angst vor seiner eigenen Courage bekam. Zu allem Überfluss hatte die Begegnung am Ende des Heimatbesuches ihm auch noch die ganze Nacht verdorben.

Er drehte den Kopf, sah auf die Hose, konnte sich allerdings nicht aufraffen, aufzustehen. Ein Blick auf den Radiowecker verriet ihm, dass es halb acht war.

Erneut vibrierte das Handy.

Wer schickte um diese Zeit Nachrichten?

Das Meeting im Tivoli Kongresszentrum in Kopenhagen begann erst um halb zehn. Er mochte gar nicht daran denken, wie dunkel die Ringe unter seinen Augen waren und wie sehr seine Finger zitterten. Die schlaflose Nacht hatte Spuren hinterlassen, ihm war geradezu übel.

Sowie das Handy vom gelegentlichen Brummen beim Eingang einer Textnachricht zum penetranten Vibrieren eines Anrufes überging, setzte er sich auf, strich sich mit einer Hand durch die Haare und holte mit der anderen das Telefon aus der Hosentasche heraus.

»Was?«

»Guten Morgen, Sonnenschein!«

Er ächzte leise und ließ sich zurücksinken. »Guten Morgen, Lasse, die Nervensäge.«

»Ahhh, nicht so grummelig, die Sonne scheint. Um acht vorm Supermarkt wie immer?«

»Ich habe dir gesagt, dass ich heute um halb zehn im Tivoli sein muss.«

»Eine Runde in Amager Vest sollte aber drin sein. Sonst wächst dir bald der Bauch über den Gürtel, und das ist unattraktiv, mein Freund.« Amager Vest, das früher militärisch genutzte Areal zwischen dem Flughafen und dem Stadtgebiet von Kopenhagen, erstreckte sich bis hinunter zu ein paar alten Fischerdörfern. Das Gebiet war durchzogen von Radwegen, was es zum idealen Trainingsgrund für die regelmäßigen Treffen von Lasse und Rasmus machte. Auf dem Rennrad konnte man dort Stunden verbringen.

Rasmus schnaubte. »Mit dem Bauch überm Gürtel kennst du dich ja aus. Wenn du heute früh aufs Rad willst und ich mitkommen soll, bist du in einer halben Stunde bei Irma und keine Sekunde später.« Als Erstes würde er sich am Automaten im Eingangsbereich einen Kaffee holen, den hatte er dringend nötig.

»Soll das eine Herausforderung sein? Angenommen.«

Herausforderungen durften nicht ignoriert werden. Rasmus Martensen hatte sich zum letzten Mal im Alter von einundzwanzig Jahren einer Herausforderung nicht gestellt, und er würde heute nicht wieder damit anfangen.

Als er neunundzwanzig Minuten später vor dem Irma-Supermarkt vom Rennrad stieg, hatte die kühle Morgenluft seinen Kopf ein wenig freigepustet. Breit grinsend wartete Lasse bereits mit einem Pappbecher in der Hand auf ihn.

»Was gibt es denn so Dringendes im Tivoli?«, fragte sein Freund und reichte ihm den Kaffee.

»Meeting«, antwortete Rasmus und trank einen Schluck. Heiß und bitter. Genau das, was er jetzt brauchte.

»Wegen?«

»Interessiert dich das wirklich?«

»Ich mache nur Smalltalk. Du siehst scheiße aus. Schlechte Nacht? Mit wem? Louise? Oder Camilla?«

»Fahren wir los? Ich hab nicht den ganzen Morgen Zeit«, verkündete er, warf den noch halb vollen Becher weg und trat in die Pedale.

Lasse schloss zu ihm auf, bis sie nebeneinanderfuhren. »Du willst mir nicht verraten, wer dich nicht hat schlafen lassen? Erzähl mir nicht, du hast Karen wieder angerufen? Du hast doch gemeint …«

»Rikke«, entgegnete Rasmus. Seine Stimme klang gepresst wegen der körperlichen Anstrengung. Natürlich nur wegen der Anstrengung.

Als würden die paar Kilometer ihn auch nur in Schweiß ausbrechen lassen. Das war lächerlich.

»Rikke?« Lasse wurde für einen Augenblick langsamer und musste dann ordentlich strampeln, um aufschließen zu können. »Rikke Nielsen? Was willst du denn mit …«

»Tu doch nicht so!«, brachte Rasmus scharf hervor. Rikke Nielsen war eine der wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen im Institut und wurde seit gut und gerne zwei Jahren jedes Mal rot, wenn Rasmus ihr begegnete. Anfangs hatte er das noch ganz niedlich gefunden. »Und pass auf die Oma mit dem Hund da vorne auf.«

»Die ist noch meilenweit weg, und warum soll ich nicht so tun?«

»Du weißt genau, welche Rikke ich meine.«

»Woher soll ich das wissen? Die einzige Rikke, von der ich weiß, dass sie dir jemals schlaflose Nächte bereitet hat, war seit …« Lasse unterbrach sich und schien nachzurechnen. »Na, seit vielleicht zwei Jahrzehnten nicht mehr in Dänemark. Und rein zufällig trägt sie schon genauso lange den Nachnamen deines ehemals besten Freundes.«

»Eben. Achtzehn Jahre. Dann kannst du dir vorstellen, wie überrascht ich war, als sie gestern plötzlich in einem verbeulten Peugeot vor mir stand. In Kerteminde.«

Lasse schnaufte. »Verdammt. Kannst du mal anhalten?«

»Nein, Mann, kann ich nicht. Ich hab einen Termin, zu dem ich pünktlich sein muss, und du wolltest unbedingt vorher eine Runde drehen, jetzt halte dich ran.«

Der Hinterreifen von Lasses Rennrad scharrte im Straßenstaub, sobald er scharf bremste und abstieg. »Jetzt bleib sofort stehen und sprich mit mir!«, rief der Freund ihm nach, da Rasmus einfach weiterfuhr. »Was macht sie wieder hier?«

Rasmus lenkte sein Rad auf den Parkplatz des Golfclubs, wo schon erstaunlich viele Autos parkten, stieg ab und holte sich im Clubhaus einen neuen Kaffee. Als er wieder in die Sonne hinaustrat, wartete Lasse mit vor der Brust verschränkten Armen auf ihn, das Rad gegen seine Hüfte gelehnt.

»Ich hab keine Ahnung«, antwortete er.

»Du hast nicht mit ihr gesprochen?«

»Um was zu sagen? Oh hej, Süße, lang nicht mehr gesehen, wie geht es dir denn? Was hättest du denn gesagt, wenn sie plötzlich aus heiterem Himmel vor dir aufgetaucht wäre?«

Lasse verzog den Mund zu einem anzüglichen Grinsen. »Das eine oder andere wäre mir bestimmt eingefallen. Wie sieht sie aus? Immer noch so wie früher? Frauen mögen Komplimente.«

Rasmus warf dem Rennrad seines Freundes einen höhnischen Blick zu. »Und das von einem Mann, der Herzchenaufkleber auf der Fahrradstange spazierenfährt?«

»Einen Herzchenaufkleber, der ist von Stine, und du weichst aus.«

Stine war Lasses fünfjährige Nichte, und er vergötterte das Mädchen. Rasmus trank einen Schluck aus dem Pappbecher, um Zeit zu gewinnen. Wie sieht sie aus?

Atemberaubend war das Wort, das ihm einfiel.

Sie war keine neunzehn mehr. Damals war sie bezaubernd gewesen, außergewöhnlich, alle hatten sich nach ihr umgedreht. Jetzt war sie außergewöhnlich und eine Frau, die die Mitte dreißig bereits hinter sich gelassen hatte, mit winzigen Fältchen in den Augenwinkeln. Sie war nicht mehr das Mädchen von damals, aber dennoch vertraut. Trotzdem konnte er Lasse nicht erzählen, was die Begegnung mit Rikke in ihm ausgelöst hatte. Dabei hatte auch er damals in Rendstrup Strand zu ihrem Freundeskreis gehört, ehe er vor zehn Jahren eine Kopenhagenerin geheiratet hatte und seither Mitinhaber eines Fahrradgeschäftes in Nørrebro war.

Rasmus warf den leeren Becher in einen Mülleimer und schwang das Bein wieder über den Sattel. »Fahren wir?«

Lasse schlug ihm auf die Schulter. »Du gewinnst. Ich wüsste auch nicht, was ich zu ihr sagen soll. Mit der ganzen Sache mit Søren und so und alles.«

Welche Sache mit Søren? wollte Rasmus fragen. Die Sache, dass sie ihn genommen hat und nicht mich, weil ich ihr nicht gut genug war? Oder die Sache, dass er es sogar bis auf die Titelseiten dänischer Tageszeitungen wie Berlingske und Jyllands-Posten geschafft hatte mit seinen Machenschaften an der Frankfurter Börse, weil für Rikke immer das Beste gerade einmal gut genug gewesen war? Oder die Sache, dass er sich umgebracht hatte, um dem Knast zu entgehen, den er verdiente?

Oder doch eher die Sache, dass es Rikkes Verrat und Sørens Wegzug nach Frankfurt gebraucht hatte, damit Rasmus Martensen sich der Herausforderung des Erwachsenwerdens stellte?

»Lass uns fahren«, wiederholte er noch einmal und stieß sich vom Boden ab. Sein Kopf dröhnte, der Kaffee rumorte in seinem leeren Magen, und der Gedanke an das lange Meeting mit Vertretern von Sydskov Engineering ließ ihm die Beine schwer werden.

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Sonnenstrahlen weckten Rikke. Sie kniff die Augen zusammen und nahm den Geruch von Staub wahr, der unter der niedrigen Decke des Wohnzimmers hing.

Sie hatte es nicht fertiggebracht, sich in Morfars Schlafzimmer hinzulegen. Das Zimmer, in dem sie als Kind geschlafen hatte, war noch weniger infrage gekommen. Zu viele Erinnerungen lauerten dort unter den Dachbalken auf sie. Blieb nur das Wohnzimmer mit seinen von weißen Laken verhängten Möbeln und dem fadenscheinigen beigegrauen Teppich.

Sie betrachtete den Boden und konnte genau sehen, wo Morfar immer entlanggegangen war. Dort war noch mehr Teppich abgerubbelt als an anderen Stellen, zum Beispiel vor dem Ohrensessel, in dem niemand außer Morfar hatte sitzen dürfen.

Unter dem hochbeinigen Tisch mit dem betagten Stickdeckchen, auf dem der fast ebenso alte Fernseher stand, war der Teppich am besten erhalten. Frederike blinzelte entsetzt, nachdem sich ihr Blick geklärt hatte und sie die fast kinderhandgroße Spinne sah, die dort hockte. Frederikes Herzschlag beschleunigte sich. Sie hasste Spinnen.

Vorsichtig, um den Krabbler nicht zu erschrecken, tastete sie mit einer Hand unter der muffigen Wolldecke heraus nach ihren Schuhen. Gerade als sie einen davon zu greifen bekam, surrte plötzlich an ihrem linken Ohr etwas vorbei. Das hohe, penetrante Ziiieeeeeep einer Mücke! Und kaum, dass sie sich darüber klar geworden war, passierte dasselbe am anderen Ohr. Nicht dieselbe Mücke, denn die saß auf der Decke und rieb sich unternehmungslustig das Fresswerkzeug. Was? Und da hieß es, die Insektenpopulation in dieser Welt sei um über achtzig Prozent zurückgegangen. Die verbliebenen zwanzig Prozent hatten sich offenbar gemütlich in Morfars altem Haus eingerichtet.

Rikkes Blick glitt zurück zur Spinne. So vorsichtig, wie sie danach gefasst hatte, ließ sie jetzt den Schuh wieder los. Während sie sich aufsetzte, surrte die Mücke empört auf und ging zum Angriff über. Rikke musste dreimal zuschlagen, doch schließlich brach das Ziiiiiieeep ab. Der zweiten Mücke war die Flucht gelungen.

»Okay, Spinne«, sagte sie in Richtung des haarigen Insekts. »Ich schlage dir einen Handel vor. Ich gebe dir einen schönen Namen und räume dir Bleiberecht in diesem Haus ein. Wäre allerdings schön, wenn du dich verkriechst, falls ich mal Besuch bekommen sollte.« Mutig stand sie auf und wandte der Spinne den Rücken zu, während sie die Decke zusammenlegte. »Also: Ab heute heißt du Henk. Im Gegenzug erwarte ich aber von dir, dass du dich an die Aufgaben einer Spinne erinnerst, nämlich Mücken fressen. Geht das?«

Über die Schulter schaute sie sich um. Henk hockte ungerührt an seinem sonnigen Fleck unter dem Fernseher.

»Ich warne dich«, fügte sie hinzu. »Eine Dose Ungezieferspray ist schnell gekauft.« Sie würde einfach auf Verdacht hin das Zeug gleich mitbringen, wenn sie nachher zum Einkaufen fuhr. So als Anreiz für Henk, seine Arbeit ordentlich zu erledigen.

Sie ärgerte sich, dass es den kleinen Kaufmannsladen im Dorf nicht mehr gab. Bis nach Kerteminde zu müssen war so zeitraubend. Die Erinnerung daran, wie sie dieselbe Strecke früher, als Kind mit dem Rad gefahren war, einmal hin und wieder zurück, jagte ihr jetzt einen Schauder über den Rücken. Wo waren die Jahre hin?

Sie musste auch immer noch den Wagen ausräumen. Viel Gepäck hatte sie zwar nicht dabei, aber auch das wenige wollte sie nicht im Auto herumkutschieren.

Ächzend zerrte sie ihre große Reisetasche aus dem Kofferraum. Als sie zur Haustür zurückkehrte, bemerkte sie, dass dort an der Wand direkt unter dem Briefkasten ein örtliches Telefonverzeichnis mit einem Herzchengruß von Henni lehnte.

Dankbar lächelte Frederike. Am Briefkasten klebten mehrere offiziell aussehende Sticker. Rikke lud die Tasche im Korridor ab und betrachtete die Kleberei. Das dänische Postwesen erinnerte den Eigentümer daran, einen Briefkasten direkt an die Straße zu stellen, sodass der arme Postbote vom Fahrerfenster aus die Zustellungen einwerfen konnte und nicht erst aussteigen musste. Wenn das nicht bis dann und dann geschähe, würde keine Post mehr an diese Adresse geliefert. Der Stichtag war seit einem Jahr abgelaufen.

Während sie ein zweites Mal zum Peugeot lief, fuhr eine Frau auf einem Fahrrad vorbei. Sie trug weite bunte Pluderhosen, ein gelbes T-Shirt und hatte kurzgeschnittenes, rotblondes Haar. Im gleichen Augenblick war sich Frederike sicher, dass das Mille gewesen sein musste, die Schwester von Rasmus. Auch wenn die früher das Haar bis zu den Hüften getragen hatte.

Die Frau radelte weiter, schaute dann allerdings vor der nächsten Biegung in der Straße noch einmal über ihre Schulter. Nun war Rikke sicher, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Unter Garantie hatte auch Mille sie erkannt.

Dass Mille genau so reagiert hatte, oder besser gesagt, nicht reagiert hatte, wie sie es von allen Einwohnern Rendstrups erwartet hatte, raubte Frederike einen erheblichen Teil des Elans, mit dem sie in den neuen Tag gestartet war. Aber sie war nicht hier, um zu jammern, also riss sie sich am Riemen.

Im Haus blätterte sie durch das Telefonverzeichnis und suchte die Nummern des örtlichen Elektrikers und der Stadtwerke von Kerteminde heraus, um Strom und Gas anschließen und die Müllentsorgung ankurbeln zu lassen.

Kjeld, der Elektriker, lachte schallend, als sie ihm in ihrem allerbesten Dänisch ihr Anliegen vortrug.

»Mikkels altes Haus? Frøken, wenn ich da in die Leitungen wieder Strom reinpfeifen lasse, fliegt Ihnen die Bude um die Ohren. Da muss erst mal alles nigelnagelneu verkabelt werden. Der alte Mikkel hat doch nie was machen lassen.«

»Sind Sie sicher?« Mathilde hatte klipp und klar gesagt, dass sie nur das Allernötigste investieren und Rikke so viel wie möglich selber erledigen sollte, damit das Haus wieder bewohnbar wurde. Frederike bezweifelte, dass Mathilde eine komplett neue Verkabelung als das Nötigste ansah. Gleichzeitig hoffte sie, dass ihre Mutter nicht von ihr erwartete, mit eigenen Händen Kabel durch die Wände zu ziehen. Sie erzählte Kjeld, dass sie es sich überlegen würde, und beendete das Telefonat.

Bei den Stadtwerken hatte sie mehr Erfolg. Da wurde sie lediglich gefragt, ob sie die neue Besitzerin oder Mieterin sei und wer für die Kosten aufkommen würde. Nach ein wenig Hin und Her wegen Mathildes deutschem Wohnsitz und Bankkonto und Rikkes Unsicherheit, ob ihre Mutter überhaupt das von Frederike verbrauchte Gas und die Müllabfuhr bezahlen würde, stand der Auftrag.

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»Mit wem hast du gesprochen?« Oma Henni, die überraschend vorbeigeschaut hatte, fielen fast die Augen aus dem Kopf, als Rikke ihr von dem Telefonat mit dem Elektriker berichtete. »Da hilft nur eine gute Tasse Tee«, erklärte die alte Frau. Kurzerhand griff sie Frederike bei der Hand.

Jetzt saßen sie in Hennis Wohnküche, einem heimeligen Raum mit Möbeln aus den Siebzigern und knarrenden Stühlen. Auf dem Fensterbrett döste eine schwarz-weiße Katze.

»Ich habe Kjeld angerufen, weil er gleich zwei Straßen weiter wohnt. Das ist doch das Einfachste. Ich kann ja schlecht einfach an seine Tür klopfen, der hat bestimmt zu tun.«

»Kjeld hat selten zu tun«, belehrte Henni sie und schob ihr eine Schale mit Gummibären hin. »Der verdient sein Geld nur mit den Sommerhausbesitzern und den Vermietungsagenturen, wenn die mal schnell wen brauchen. Von uns Einheimischen geht keiner zu dem.«

»Und warum nicht?«

»Weil er jedem immer nur neue Kabel andrehen will. Der hat irgendwann mal einen Schuppen voller Kabel gekauft und spürt langsam das Alter in seinem Nacken. Jetzt fürchtet er, dass ihm nicht mehr genug Zeit bleibt, um die ganzen Kabel zu verlegen, ehe er ins Gras beißt. Wenn du mich fragst, geschähe ihm das recht. Mit Mikkel hat der sich fast täglich gestritten.« Henni schnalzte mit der Zunge und nippte an ihrem Tee. »Sprich mit Rasmus, Engel. Der kennt sich aus.«

Die Erwähnung dieses Namens ließ Frederike zusammenzucken, als hätte ein Blitz sie getroffen. Ein kurzer Seitenblick auf die Küchenuhr an der Wand bestätigte ihre Vermutung. Immerhin, ihr war es gelungen, geschlagene zehn Stunden jeden Gedanken an Rasmus zu verdrängen. Dafür hatte sie eine Belohnung verdient, fand sie. Eine Frage konnte sie sich erlauben. Eine Frage, aber dafür keine Gedanken an den wütenden Ausdruck in seinen Augen nach ihrem Zusammenprall gestern. Keine Gedanken daran, wie gut er ausgesehen hatte, mit den windzerzausten rotblonden Haaren und dem starken, athletischen Körper. Und vor allem keine Gedanken daran, wie ihr Leben heute sein könnte, wenn damals alles anders gekommen wäre.

»Wohnt Rasmus denn noch in Rendstrup?«

»Rasmus ist vor Jahren nach Kopenhagen gezogen. Doch er ist oft hier. Ich kann ihn zu dir schicken, wenn er das nächste Mal in Rendstrup ist. Sicher schaut er sich deine Kabel an. Wie wäre das?«

Rikke wollte Henni nicht zeigen, wie das wäre.

Um das Thema zu wechseln, griff sie nach einem der auf dem Tisch in einer Schale bereitstehenden Gummibärchen und steckte es sich in den Mund. Angewidert kräuselte sie die Nase. »Machst du die nicht mehr selber? Die schmecken ja scheußlich.«

Henni winkte ab. »Schon lange nicht mehr. Gicht in den Fingern, und damit es sich lohnt, muss man große Mengen kochen. Wie früher, wenn ihr alle hier wart und mir das Zeug aus den Fingern gerissen habt. Aber so schwere, große Töpfe kann ich nicht mehr heben.«

Schade, dachte Rikke. Ohne Hennis Süßigkeiten fehlte etwas in Rendstrup Strand. Sie trank ihren Tee aus und stand auf. »Ich denke, ich fahre mal los. Brauchst du etwas aus Kerteminde?«

Breit grinste Henni sie an. »Also, wenn du so fragst, kannst du mir zwei Kilo Mehl mitbringen. Geht das?«

»Für dich, Bedstemor, gehen auch zweihundert Kilo.«

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Diesmal erreichte sie Kerteminde ohne Zwischenfälle. Sie lenkte ihren Peugeot auf den Parkplatz des Brugsen-Supermarktes und überprüfte, dass der Einkaufszettel, den sie in Morfars Haus geschrieben hatte, in ihrer Tasche war. In erster Linie standen Putzutensilien auf der Liste. Wischmopps und Reiniger, ein Staubsauger sowie passende Beutel, Besen in verschiedenen Größen, Putzlappen, Mikrofasertücher, solche Sachen eben. Dazu ein paar unverderbliche Lebensmittel. Bis sie Strom und einen funktionierenden Kühlschrank hatte, musste das reichen. Einmal in den Sommerferien hatte Morfar ihr den Erdkühlschrank im Brennholzschuppen gezeigt, aber um dem zu trauen, war sie doch zu sehr ein Stadtkind. Da griff sie lieber die nächste Zeit auf H-Milch mit Müsli und frisches Obst zurück. Leider führte der Laden keine Briefkästen, aber dann würde sie eben hinterher noch im Baumarkt vorbeischauen und einen kaufen. Selbst wenn sie nicht dauerhaft in Rendstrup bleiben würde, es kam ihr falsch vor, in einem Haus zu wohnen, das nicht mal vom Postboten angefahren werden konnte, weil es keinen Briefkasten besaß.

Die Leute im Supermarkt beachteten sie nicht. Warum sollten sie auch? Sie war nur eine von vielen, die um diese Zeit ihren Wagen durch die ewig lang scheinenden Gänge schoben. Die Hälfte von ihnen waren Touristen, weil die dänischen Schulferien schon wieder zu Ende waren. Statt, wie sie es vorgehabt hatte, alles schnell zu erledigen, verlor sie sich in der Betrachtung der ausgestellten Waren. Vor dem Kühlregal mit den Milchprodukten stiegen ihr beinahe Tränen in die Augen. Himmel, hatte sie irgendwo leckgeschlagen? Sie war doch sonst nicht so nah am Wasser gebaut. Aber es brauchte nicht mehr als einen Blick auf die Tetrapacks mit Ymer, der typisch dänischen Sauermilch, und Skyr, und sie hatte den Geschmack wieder auf der Zunge. Stundenlang hatte sie früher auf Morfars Küchenbank gesessen und Walnüsse geknackt, damit sie diese anschließend gemeinsam mit Bedstemor Henni in Honig einkochen konnte. Nichts schmeckte besser zum Frühstück als Koldskål, dänische Buttermilch-Kaltschale mit Zitrone und Honignüssen, nichts legte sich tröstender auf die Seele als eine Kugel Eis mit Schokokussschaum und der goldfließenden, nussigen Süße. Ein paar Sekunden lang schaffte Frederike es, auf ihren Verstand zu hören. Kein Kühlschrank, keine Sauermilch, so einfach war das. Doch dann siegte ihre Sentimentalität. Die Dickmilch würde ganz einfach nicht alt werden. Dafür würde sie schon sorgen. Im Regal mit den Backzutaten fand sie Walnusskerne. Gleich nach dem ersten Scheuerdurchgang würde sie in den Garten gehen und nachschauen, ob Morfars riesiger Nussbaum in diesem Jahr Früchte trug. Wenn ja, würde sie die in ein paar Wochen einsammeln, knacken und dann zusammen mit Honig hier aus dem Supermarkt einkochen. Das schmeckte zwar nicht so gut, wie mit dem Honig von Morfars eigenen Bienen, doch sicherlich waren die Bienenstöcke längst verwaist. Sie musste erst wieder lernen, kleine Dinge zu wagen, und dass sie sich überhaupt wieder traute, mehr als ein paar Stunden in die Zukunft zu blicken, war schon ein Gewinn.

Auf dem Weg zum Regal mit süßen Brotaufstrichen war sie so in Gedanken, dass sie die Stange des Wischmopps, die über den Rand ihres Einkaufswagens hinausragte, einem Mann in den Rücken rammte. Der Typ stand, ein Klemmbrett in der Hand, halb über eine Warenschütte gebeugt. Weil Frederike alle Mühe hatte, ihre Gedanken beisammenzuhalten und gleichzeitig ihren vollbeladenen Wagen zu manövrieren, hatte sie den Mann zuerst nicht bemerkt.

Empört richtete er sich auf. Sie sah noch, wie er sich im letzten Augenblick einen Schmerzensschrei verbiss, ehe sein Gesichtsausdruck von erschrocken zu wütend, dann zu beherrscht und schließlich zu erstaunt wechselte. Ihr selbst erging es nicht viel anders.

»Malthe?«

»Rikke?«

»Was tust du denn hier?«

»Das müsste eigentlich ich dich fragen«, antwortete er. »Ich arbeite hier und wohne seit meiner Geburt in der Gegend. Du bist diejenige, die uns Jungs allen schrecklich den Kopf verdreht hat und dann mir nichts dir nichts verschwunden ist.« Theatralisch schlug er sich mit der Kladde gegen die Brust. »Ich glaube, ich leide immer noch an gebrochenem Herzen.« Sein Lachen wirkte echt, während er sein Klemmbrett weglegte und stattdessen die Arme ausbreitete, als wollte er sie zur Begrüßung umarmen. Aber das, was er gesagt hatte, stand plötzlich wie eine Mauer zwischen ihnen. Sie hatte niemals irgendwem das Herz brechen wollen. Alles, was sie gewollt hatte, war, hier in Dänemark die Freiheit zu genießen, die sie das ganze restliche Jahr über in Frankfurt so schmerzlich vermisste. Bei Morfar konnte sie sein, wer sie war, nicht das Mädchen, das ihre Mutter aus ihr machen wollte. Instinktiv wich sie einen halben Schritt zurück. Malthe schien es nicht einmal zu bemerken. Herzlich grinste er sie an. »Gut siehst du aus. So … erwachsen. Wie geht es dir?«

»Bestens, danke.« Glatt gelogen, doch das musste er ja nicht wissen. Sie hatten damals zum selben Freundeskreis gehört, allerdings war ihre Freundschaft nie so eng gewesen, dass sie ein schlechtes Gewissen wegen ihrer kleinen Notlüge haben musste. Sie erwiderte sein Lächeln. Auf Knopfdruck zu lächeln, hatte sie bereits als Kind gelernt. Sie sollte Mathilde für diese Lektion danken.

»Und was tust du hier? Urlaub? Bist wahrscheinlich wahnsinnig erfolgreich, was? Wir wussten immer alle, dass aus dir was Großes wird.«

Ja, sicher. Vage zuckte sie mit den Schultern. »Ich nehme mir eine Auszeit. Mikkels Haus muss auf Vordermann gebracht werden, damit man was damit machen kann, und da ich gerade ein bisschen Zeit …«

»Hej, Malthe? Kommst du mal bitte? Die Kasse nimmt schon wieder die neue Rolle nicht!« Der Ruf einer der Verkäuferinnen unterbrach Rikke mitten im Satz. Sie war kurz davor, sich extra an dieser Kasse anzustellen, um der Frau ein saftiges Trinkgeld geben zu können. Ihr Hilfeschrei hatte Rikke davor bewahrt, sich mit irgendwelchen unbedachten Bemerkungen in die Nesseln zu setzen.

Malthe merkte immer noch nichts von ihrem Unbehagen. Der strahlte nach wie vor über beide Ohren. »Ich muss mich dadrum kümmern«, sagte er entschuldigend und deutete in Richtung Kasse. »Das Leid des Filialleiters. Aber weißt du was? Heute Abend treffen wir uns mit der alten Truppe in Rick’s Pub am Hafen von Korshavn. Na ja, zumindest mit denen, die von der alten Clique übrig geblieben sind. Dort ist donnerstags immer Bingoabend, und wir trinken ein paar Gläschen zusammen und so. Nichts Aufregendes, sicher nicht so glamourös wie das Nachtleben in Frankfurt, doch vielleicht hast du ja trotzdem Lust. Ich würde mich freuen. Die anderen freuen sich bestimmt auch, dich wiederzusehen. War ’ne lange Zeit.«

»Klar, warum nicht.« Sie sagte es zwar bestimmt, aber im Grunde meinte sie es eher als Frage. Warum nicht? Es gab tausend Gründe. Tausend Gründe, wieso es keine gute Idee war, sich den Fragen und wohlgemeinten Neckereien von Menschen zu stellen, die ihr einmal die Welt bedeutet hatten. Sie war noch nicht bereit, denn im Gegensatz zu Malthe war sie sich nicht annähernd sicher, dass sie mit offenen Armen empfangen werden würde.

Ob Rasmus auch dort sein würde? Oma Henni hatte gemeint, er sei häufiger auf Fünen. Im letzten Moment biss sie sich auf die Zunge, um die Frage nicht laut zu stellen. Gerade nach dem, was Malthe über gebrochene Herzen und all das gesagt hatte, sollte sie das Thema wirklich fallen lassen. Sie hatten alle genug gelitten. Es gab in der Tat tausend Gründe, Malthes Einladung auszuschlagen.

Tausend Gründe und eine alles verzehrende Sehnsucht.

Die musste der Grund sein, warum sie wie von selbst sagte: »Gerne. Um wie viel Uhr geht das denn los?«

»Ach, das nimmt niemand so genau. Irgendwann ab acht oder so. Komm einfach, wann es dir passt.«

Ja, als hätte sie so viele Verpflichtungen. »Okay, super. Dann sehen wir uns heute Abend.«

»Ich freu mich.«

Erneut rief die Frau von der Kasse, und diesmal eilte Malthe zu ihr.

Frederike blieb zurück, und es dauerte gefühlt fünf Minuten, ehe sie sich erinnern konnte, was sie eigentlich in dem Regalgang gesucht hatte.

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Mit einem Pling! sprang an der unteren rechten Ecke des Monitors die Nachricht auf, dass ein neuer Termin im Kalender eingetragen worden sei. Genervt wollte Rasmus das Fensterchen wegklicken, doch gerade noch rechtzeitig stellte er fest, dass es sich um einen Termin handelte, der in weniger als einer Stunde begann.

»Når for fanden! Was zum Teufel«, stieß er hervor, einmal mehr froh darüber, dass er im Hauptsitz von Sydskov Engineering während seiner Tätigkeit als Projektmanager ein Büro für sich allein hatte. Der Fluch, der ihm so leicht über die Lippen kam, würde bei Kollegen für Naserümpfen sorgen. Für heute hatte er bereits zwei Telefonkonferenzen geplant, einmal eine Dreierkonferenz mit dem Maklerbüro auf Fünen, das für die Kaufabwicklung der Grundstücke verantwortlich war, und der Finanzabteilung von Sydskov Engineering und gleich danach eine mit einer Zuliefererfirma in Aarhus. Addierte man dazu den Morgentermin im Kongresszentrum, der auch eine gute Stunde länger gedauert hatte als angesetzt, hatte er nun wirklich keine Zeit mehr für eine weitere Besprechung. Irgendwann musste er auch abarbeiten, was in all diesen Meetings besprochen wurde.

Der neue Termin war allerdings von der Sekretärin des Geschäftsführers von Sydskov Engineering eingestellt worden und konnte allein deshalb nicht ignoriert werden. Blumig entschuldigte sie sich für die Kurzfristigkeit, aber die beiden Technik-Direktoren des Energieriesen seien nur noch bis zum frühen Nachmittag im geophysischen Institut an der Kopenhagener Universität, ehe sie wieder nach Aalborg fliegen würden. Explizit hatten die beiden Herren darum gebeten, dass auch Rasmus, als unabhängiger Gutachter, dabei wäre, wenn die Wissenschaftler von der Uni ihre Ergebnisse der Standortuntersuchung auf Fünen präsentierten.

Grimmig starrte Rasmus auf seinen Bildschirm. Da ging sie hin, seine Mittagspause. Nicht mal zwanzig Minuten für eine Tasse Kaffee und ein Stück Smørrebrød wären jetzt noch drin. An diesem Gutachten arbeitete er seit Wochen. Um gezielte Analysen machen zu können, waren neben der Auswertung mehrerer geophysischer Karten und der Bodenbeschaffenheitsberichte aus dem geologischen Institut auch Vor-Ort-Termine notwendig. Bei dem vorliegenden Projekt waren die allerdings seine geringste Sorge. Er kannte die Gegend. Er konnte vielleicht keine Aussagen über die Tragfähigkeit des Bodens treffen und auch nicht über die Wetterdaten der vergangenen Jahrzehnte, doch dafür kannte er jede Klippe und jeden Baum dort.

Mit einem schnellen Blick überflog er noch einmal die Agenda des Meetings am geologischen Institut und stöhnte innerlich auf, als er auf der Teilnehmerliste den Namen Rikke Nielsen entdeckte. Als hätte Lasses Stichelei beim Fahrradfahren den Namen der wissenschaftlichen Mitarbeiterin des Instituts heraufbeschworen. Leider hatte Rasmus keinen Einfluss darauf, wen das Institut mit der Erstellung der benötigten Berichte beauftragte. Dies war der dritte Windpark, den Rasmus für die Firma Sydskov Engineering plante. Jedes Mal hatte er dabei das zweifelhafte Vergnügen gehabt, mit Rikke Nielsen zusammenzuarbeiten. Sie war während ihrer Promotion am Geologischen Institut angestellt, und immer wieder beteuerten die Entscheidungsträger, dass niemand an der ganzen Universität sich besser mit der zu erwartenden Veränderung der Geophysis während und nach dem Bau von Windparks auskannte als Rikke Nielsen. Das mochte durchaus sein, dennoch wäre ihm ein anderer wissenschaftlicher Mitarbeiter lieber gewesen.

Mit wachsender Verzweiflung prüfte er seine Termine und suchte nach einer Ausrede, wie er sich aus der Nummer herausstehlen konnte. Dummerweise gab es da nichts. Die Aarhus-Telefonkonferenz fand erst statt, wenn das neu hinzugekommene Meeting an der Uni schon zu Ende war, und was das Maklerbüro betraf …

Laut seufzte er und griff sich sein Handy.

Seine Schwester nahm nach dem zweiten Klingeln ab. »Jakobsen und Lindegaard Maklerbüro, wie kann ich Ihnen helfen?«

»Mille. Ich bin’s.«

»Wow, das ging ja schnell«, sagte sie, schwieg einen Moment und fügte hinzu: »Dann hast du es wohl schon gehört?«

»Ich hab was schon gehört? Du, ich hab jetzt keine Zeit zum Quatschen. Ich muss unsere Telefonkonferenz verschieben.«

»Die mit den Finanzleuten?« Eine Tastatur klapperte im Hintergrund. »Sagst du denen Bescheid oder soll ich?«

»Ich mach das schon. Du bist ja nicht meine Sekretärin.«

»Gibt es denn Schwierigkeiten mit dem Projekt? Ihretwegen?«

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