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Letzte Chance für das Glück

Hier ist sein Herz zu Hause! Nie im Leben könnte sich Chance vorstellen, die Weiten Nevadas und das beschauliche Städtchen Primrose Creek zu verlassen. Doch als die attraktive Hallie das Last Chance Café betritt, um Schutz vor einem heftigen Sturm zu suchen, wirbelt sie Chances sorgsam geplantes Leben durcheinander und lässt ihn wieder an die Liebe glauben. Aber Hallie scheint fest entschlossen, den kleinen Ort schnellstmöglich wieder zu verlassen …


  • Erscheinungstag: 11.04.2016
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783956495373
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Scottsdale, Arizona

Joel Royer legte seine Hand auf Hallies Unterarm und räusperte sich, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Doch sie konnte sich nicht vom Anblick der Leiche losreißen, von den sterblichen Überresten, der wächsernen Gestalt, die einmal ihr Stiefvater gewesen war. Lieber Lou, guter Cop, anständiger Bürger, einstmals Ritter in schimmernder Rüstung. Er war der Mittelpunkt ihres Lebens gewesen, seit sie sechs war, und sein Tod hatte sie aus der Bahn geworfen.

„Es ist vorbei“, murmelte Joel mit unverhohlener Erleichterung. „Gehen wir.“ Jetzt lag seine Hand sanft auf ihrem Rücken, berührte sie kaum und war doch bereit, ihr einen dieser geschickten, kaum wahrnehmbaren kleinen Schubser zu geben, die sie jedes Mal aufs Neue ärgerten. An diesem Ort, unter diesen Umständen, nur mühsam um Beherrschung ringend, hätte sie sich am liebsten umgedreht und ihn wüst beschimpft.

„Wir treffen uns draußen“, sagte sie stattdessen. Ihre Stimme klang ruhig, beinahe ausdruckslos, was eigenartig war angesichts der Wut und des Kummers, die in ihr brodelten, einem seelischen Feuersturm gleich, der nicht so schnell nachzulassen schien.

Ihr Widerstand passte Joel nicht, aber das galt für vieles an ihr. Sie war ihm abwechselnd zu schlau oder zu dumm. Zu ehrgeizig oder zu faul. Zu stark oder zu schwach.

Er zögerte, als lege er sich eines seiner brillanten Argumente zurecht. Dann seufzte er und gesellte sich zu den anderen Trauergästen vor dem Eingang und auf dem Gehsteig vor dem Bestattungsunternehmen. In der Late Shift Tavern würde es einen Leichenschmaus geben, ein feierliches Gedenken an Lous Leben und Karriere, mit lauter Polizisten – aktiv oder verrentet – und deren Frauen. Dafür würde am Grab keine Trauerzeremonie stattfinden. Lou hatte klare Instruktionen hinterlassen. Er wollte eingeäschert werden und vertraute darauf, dass Hallie seine Asche „irgendwo“ nach ihrem Ermessen verstreute. Sie musste über diese typische Anweisung Lous lächeln – einerseits sehr klar, andererseits mit Spielraum für Interpretation. Noch immer benommen von der Plötzlichkeit seines gewaltsamen Todes, hatte sie sich bisher keine Gedanken über den Ort gemacht, an den sie seine Asche bringen würde.

Sie berührte seine rechte Hand. Die Kälte ging ihr durch und durch, und der erste Impuls war, sich wieder zurückzuziehen, doch sie blieb standhaft. Sie schaute zurück, um sicherzugehen, dass der Raum leer war. Dann drehte sie sich wieder zu Lou um und drückte seine eisigen Finger einmal leicht. Tränen brannten ihr in den Augen, und sie schniefte, während die Bilder der Vergangenheit wie ein ruckelnder alter 8-Millimeter-Film vor ihrem geistigen Auge vorbeizogen: Lou, der bei seinem ersten Weihnachten in der Familie den Weihnachtsmann zu spielen versuchte, als Hallie in der ersten Klasse war. Damit säte er allerdings nur Zweifel, was schlittenfahrende Heilige, Elfen und fliegende Rentiere anging. Oder Lou, der stolz Hallies Tanzaufführungen filmte, ihre Auftritte im Drillteam und als Cheerleader sowie die verschiedenen Abschlussfeiern auf der Cactus Ridge High, dem Scottsdale Community College, der Kochschule. Lou, der tapfer am Bett ihrer Mutter wachte, während Cheryl einen langsamen und unfairen Krebstod starb. Er war für alle eine Stütze gewesen, obwohl Hallie bereits damals gespürt hatte, wie sehr der schwere Verlust ihm zusetzte. Aber Hallie zuliebe hatte er durchgehalten, was so typisch für ihn war. Sein simples Credo lautete: Zeig dich, zieh es durch und sitz nicht mit dem Hintern auf der Bank, wenn du im Spiel mitmischen kannst.

„Du warst der Beste“, flüsterte sie und hoffte, sein Geist wäre irgendwo in der Nähe, um es zu hören, und hätte seinen Frieden gefunden. In den letzten Monaten war er nicht mehr er selbst gewesen, sondern gestresst und gereizt. „Du hast Mom geliebt. Und mich hast du nicht nur akzeptiert oder toleriert, sondern ich war dein Kind. Du hast mich aufrichtig geliebt. Dafür danke ich dir, Lou. Danke, dass du aufgetaucht bist, als wir dich brauchten, und dass du mit uns alle Höhe und Tiefen durchgestanden hast.“

Hinter ihr, aus Richtung der Tür erklang erneut ein Räuspern. Sie musste sich nicht erst umdrehen, um zu wissen, dass Joel zurückgekehrt war, um sie stumm zu drängen, als wären sie noch verheiratet und nicht schon seit drei Jahren geschieden. Und wieder unterdrückte sie ihre Gereiztheit, obwohl er ihren Geduldsfaden schon lange überspannt hatte. Doch sie musste mehr denn je abwägen, wo ein Kampf sich lohnte, und ihr fehlte einfach die Kraft für eine Auseinandersetzung mit Joel.

Noch einmal beugte sie sich zu Lou hinunter. „Ich weiß, du würdest mir raten, alles hinter mir zu lassen und zu verschwinden“, meinte sie leise. „Damit hättest du wohl recht. Trotzdem wird es dich nicht allzu sehr überraschen, dass ich das nicht kann, weil ich sonst nie mehr Frieden finden werde. Also werde ich denjenigen aufspüren, der dich erschossen hat, und dann wird er für seine Tat bezahlen. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue.“

„Hallie?“, fragte Joel schroff. Wahrscheinlich war er nähergekommen und befand sich schon in Hörweite.

Hallie biss sich auf die Unterlippe und schloss für einen Moment die Augen. Als sie sie wieder aufmachte, glaubte sie, die Andeutung eines Lächelns auf Lous Gesicht zu sehen. Das war natürlich nur Einbildung. „Leb wohl“, verabschiedete sie sich sanft. Schließlich richtete sie sich auf, straffte die Schultern und drehte sich um. Sie schritt zwischen den Bänken und Klappstühlen für die zahlreichen Trauergäste hindurch auf den Mann zu, den sie gar nicht erst hätte heiraten dürfen.

„Du kommst doch zum Leichenschmaus, oder?“, wollte Joel wissen. Er war groß, seine glatten braunen Haare waren modisch geschnitten, und er wirkte eher wie ein hochbezahlter Anwalt als wie ein sich abmühender stellvertretender Bezirksstaatsanwalt. Die Zwillinge Kiera und Kiley, mittlerweile sieben, hatten seine unverwechselbaren blauen Augen geerbt. Kiley besaß auch seine Beharrlichkeit und seine Neigung, aus jeder Mücke einen Elefanten zu machen.

Hallie fühlte sich äußerst verletzlich, und sie war so müde, dass sie kaum noch die Augen offen halten konnte. Doch die Leute, die sich in der Late Shift Tavern versammelten, waren Lous Kollegen und Freunde, von denen manche ihn seit der Zeit auf der Polizeiakademie kannten. Ihnen war sie es schuldig, und Lou natürlich auch, sich dort zu zeigen, obwohl ihr absolut nicht danach war, ein Glas zu erheben. Es sei denn, das Glas enthielt Weißwein, beim Kerzenschein getrunken, während sie daheim bis zum Hals im heißen Schaumwasser in ihrer altmodischen Badewanne lag.

Es musste natürlich einen formellen Abschied geben. Lou hatte das Beste aus seiner Zeit auf diesem Planeten gemacht, dabei war sie viel zu kurz gewesen. Er war erst achtundfünfzig Jahre alt gewesen und bei bester Gesundheit. Vor ihm hätten vermutlich noch viele Jahre gelegen, doch er war auf grausame Weise gestorben, an dem Ort, an dem er am sichersten hätte sein sollen. Er bekam fünf Schüsse in die Brust, als er einen Einbrecher in seinem Wohnzimmer überraschte. Zumindest war das die offizielle Version; so ganz nachvollziehen konnte sie die allerdings nicht.

„Ja“, sagte Hallie ein wenig verspätet. „Ich schaue kurz vorbei.“

„Geht es den Mädchen gut?“ Joel gab sich Mühe, das musste sie ihm lassen. Er zahlte Unterhalt und erfüllte seine Vaterpflichten, auch wenn sie ihn gelegentlich daran erinnern musste, denn im Grunde wusste sie, dass er an ihren gemeinsamen Kindern nicht sonderlich interessiert war. In gewisser Hinsicht war er selbst noch ein Kind, das nicht bereit war – oder unfähig –, das Nest zu teilen.

„Sie sind bei Mrs. Draper von gegenüber“, antwortete Hallie abwesend nickend. Tief in ihrem Bewusstsein breitete sich langsam eine seltsame Taubheit wie Nebel in ihr aus. Sie sollte jedes Vergessen willkommen heißen und froh sein über jede Unterbrechung des Kummers und der rasenden Wut. Doch sie riss sich zusammen, um alles mitzukriegen. Wenn sie Lou gegenüber ihr Versprechen halten wollte – und bei Gott, das würde sie –, konnte sie es sich nicht erlauben, den Biss zu verlieren.

„Du wirkst ein bisschen wacklig auf den Beinen.“

Geh weg, Joel, hätte sie am liebsten gesagt, und: Lass mich in Ruhe. Aber sie hielt ihre Zunge im Zaum. „Mir geht es gut“, log sie. In Wahrheit hatte sie in den letzten fünf Tagen seit Lous Ermordung kaum etwas gegessen und auch nicht allzu viel geschlafen. Ihre Magenschleimhaut brannte ständig und verdaute sich wahrscheinlich schon selbst. Außerdem war eine Migräne im Anmarsch. Immer wieder hatte sie alte Aufnahmen von ihrem Anrufbeantworter abgespielt, auf der Suche nach Lous Stimme und einem möglichen Hinweis darin, dass er irgendwie in Schwierigkeiten gesteckt hatte. Sie hatte nichts gefunden, und trotzdem …

Nein, natürlich ging es ihr alles andere als gut.

Die Polizei suchte nach einem Einbrecher, einem kleinen Ganoven mit Drogenproblem, dessen Waffe locker saß. Hallie wurde allerdings den unerklärlichen Verdacht nicht los, dass Lou aus ganz anderen, viel komplizierteren Gründen ermordet worden war. Die Frage lautete nur: aus welchen?

Draußen, wo die Oktobersonne allmählich verschwand und eine weitere lange Nacht sich ankündigte, wollte Joel schon wieder Hallies Rücken berühren. Sie wich ihm aus und reichte Lous Captain die Hand, der auf dem Bürgersteig neben der Limousine wartete.

„Danke, dass Sie gekommen sind, Lenny“, sagte sie.

Echte Tränen füllten Lenny Bennedettos Augen. Seine Frau Rose hatte sich bei ihm untergehakt und tröstete ihn stumm, indem sie sich an ihn lehnte. „Lou war ein anständiger Kerl“, meinte er, und aus dem Mund von jemandem, der für seine Untertreibungen berüchtigt war, kam das einem grenzenlosen Lob gleich. „Es ist eine Schande, dass das passieren musste.“

Hallie nickte nur und küsste zuerst Lenny auf die Wange, anschließend Rose.

„Wir sehen uns doch beim Leichenschmaus?“, fragte Rose. Lou hatte sie gemocht, und sie kümmerte sich um die Frauen anderer Polizisten.

„Ich schaue kurz vorbei“, erklärte Hallie und unterdrückte ein Seufzen. Sie würde es für Lou tun. Ein Glas Wein trinken, seine Freunde begrüßen und dann so bald wie möglich wieder verschwinden.

„Ich werde dafür sorgen, dass sie da ist“, warf Joel ein.

Erneut ärgerte Hallie sich – und wieder einmal riss sie sich zusammen. Sie hielt den Mund und ließ sich nichts anmerken. Lass diesen Tag vorübergehen, lautete ihr Mantra. Ich will nur noch nach Hause.

Joel half ihr beim Einsteigen in die Limo und setzte sich neben sie auf die Rückbank, einen Tick zu nah, wie sie fand.

Hallie rutschte ein Stück von ihm weg. „Wie geht es Barbara?“, erkundigte sie sich. Sie mochte Joels jüngste Verlobte – er hatte seit der Scheidung einige gehabt –, kannte sie allerdings nicht gut. Barbara war Nageldesignerin in Sue’s Nailhouse und auf liebenswerte Weise stolz auf ihre Arbeit. Das Beste an ihr war aber, dass sie nett zu Kiera und Kiley war.

Joel ergriff ihre Hand, und ihr fehlte die Kraft, sie wegzuziehen. „Vergiss sie“, sagte er. „Ich habe mir überlegt, ob wir es vielleicht nicht doch noch einmal miteinander versuchen sollten. Du und ich, meine ich. Schließlich haben wir die Kinder …“

Verblüfft starrte Hallie ihren Ex an. Sie hatten sich während ihrer Ehe ständig gestritten, woran die Scheidung letztlich nicht viel geändert hatte. Sie hatte hart dafür gearbeitet, sich einen Namen als Köchin zu machen und ihr eigenes kleines Restaurant zu eröffnen, Princess and the Pea, das sie nach und nach zu einem florierenden Unternehmen ausgebaut hatte. Sie hatte ihre Ziele hartnäckig verfolgt, sich und die Kinder versorgt, stapelweise alte Rechnungen bezahlt und trotzdem noch Geld zur Seite gelegt. Nein, sie hatte nicht die Absicht, den missglückten Teil ihrer Vergangenheit noch einmal zu wiederholen. „Das kann nicht dein Ernst sein“, sagte sie daher.

„Ich weiß, ich habe einige Fehler gemacht“, räumte er ein. Wie großzügig von ihm.

Ihre Geduld war jetzt endgültig am Ende. „Ja, klar“, erwiderte sie. „Du hast mit deiner Sekretärin geschlafen, noch bevor unsere Flitterwochen vorbei waren. Dann war da noch die kleine Schuhverkäuferin bei Nordstrom, gefolgt von der Rechtsanwaltsgehilfin, die gern ihre Slips in deiner Aktentasche ließ …“

„Hallie“, stieß er tadelnd hervor. Himmel, dieser Kerl hatte vielleicht Nerven, auch nur anzunehmen, es könnte eine Chance auf einen Neubeginn geben. Ganz zu schweigen von der Dreistigkeit, ihr so etwas ins Gesicht zu sagen.

Ihr fiel auf, dass er noch immer ihre Hand hielt, deshalb zog sie sie zurück. Sie war auf sich selbst genauso wütend wie auf ihn. „Lass das“, meinte sie. „Sag lieber kein Wort mehr. Unsere Ehe ist vorbei. Wahrscheinlich war sie das schon, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Belassen wir es dabei, denn wenn diese Unterhaltung nicht sofort endet, werde ich etwas sagen, das ich später bereue. Und das will ich nicht.“

„Natürlich nicht.“ Er lächelte liebevoll und war sich seiner Unwiderstehlichkeit absolut sicher.

„Lous wegen“, stellte sie klar.

Er schaute ihr lange tief und gekränkt in die Augen. „Lous wegen“, wiederholte er.

Hallie schüttelte nur den Kopf.

Nach fünfzehn Minuten hielt die Limousine vor der Late Shift Tavern, wo Lou Dart gespielt und sich mit alten Kumpeln Geschichten erzählt hatte. Nach dem Tod von Hallies Mutter war dieser Laden zu einem zweiten Zuhause für ihn geworden, ein idealer Zufluchtsort, an dem es stets Licht, Musik und Bier gab.

Der Pub war voll, und die Leute schienen aus allen Richtungen herbeizuströmen. Sie küssten Hallie auf die Wange, tätschelten ihr den Rücken und erklärten ihr, was für ein großartiger Kerl Lou gewesen sei. Sie war so gerührt, dass es ihr die Kehle zuschnürte. Entschlossen lächelte sie, hörte jedem Einzelnen aufmerksam zu und versuchte, nicht zu weinen. Gut zwei Stunden hielt sie die Stellung und mied Joel nach Möglichkeit, während sie den vielen Anekdoten über Lous Heldentaten als Polizist bei der Sitte lauschte. Sie legte sie alle ab in ihrem Herzen wie in einem Sammelalbum.

Es gab nur einen Gast in der Late Shift Tavern, den sie nicht kannte, einen älteren Mann mit einem langen Gesicht und dicken Tränensäcken. Vermutlich war er einst gut aussehend gewesen, vielleicht sogar athletisch, seiner hochgewachsenen Gestalt nach zu urteilen, doch die Zeit hatte ihre Spuren hinterlassen, Augenblick für Augenblick, Jahr für Jahr. Sie hätte ihn für einen zufälligen Gast gehalten, wie er da still am Ende des Tresens vor einer Tasse Kaffee saß und mit niemandem sprach. Nur erwiderte er ihren Blick jedes Mal, sobald sie in seine Richtung schaute. Er bemühte sich nicht einmal, das zu verbergen.

Neugierig geworden, ging sie zu ihm und setzte sich auf den freien Barhocker neben ihm.

Er musterte ihr gepflegtes dunkles Kostüm, zu dem sie eine Perlenkette trug. Schwermütig lächelnd hob er die Tasse, als wollte er ihr zuprosten. „Hallo, Hallie“, sagte er.

Sie neigte den Kopf und betrachtete ihn eingehend. Vielleicht gehörte er zu Lous Bowlingtruppe, und sie war ihm mal bei einem der ausgelassenen Grillfeste ihres Stiefvaters im Garten begegnet. „Kennen wir uns?“

„Wir haben uns ein- oder zweimal gesehen“, erwiderte er. „Es ist nicht wichtig.“ Er reichte ihr die Hand. „Ich heiße Charlie Long. Lou und ich waren Freunde und Geschäftspartner, gewissermaßen.“

In Hallie rührte sich etwas. Ihr Instinkt meldete sich, als sie ihm die Hand schüttelte. „Ich habe Sie bei der Trauerfeier nicht entdeckt“, erklärte sie.

„Ich meide nach Möglichkeit Beerdigungen.“ Charlie nahm eine Zigarettenschachtel aus der Innentasche seines nach Tabak riechenden Jacketts, schüttelte eine heraus und bot sie halbherzig Hallie an. Wie er wohl längst geahnt hatte, lehnte sie ab. Er steckte sie sich selbst zwischen die Lippen und zündete sie an. Dann inhalierte er tief und stieß den Rauch über der weiten Fläche der Theke aus.

„Nun, danke, dass Sie zum Leichenschmaus gekommen sind“, meinte Hallie. Das kurze Schweigen, das folgte, eine kleine Insel inmitten des Chaos, war nicht haltbar. „Lou hätte sich gefreut.“

Charlie lachte rau, und Hallie hätte es als verächtlich gedeutet, wenn sie nicht die traurige Amüsiertheit in seinen Basset-Augen bemerkt hätte. „Lou und ich, wir hatten vor der Tat alles gesagt, was gesagt werden musste. Ich bin aus zwei Gründen hier, Mrs. Royer – erstens wollte ich mit Ihnen reden. Und zweitens glaube ich, dass keine Tarnung die beste Tarnung ist.“

Sie korrigierte ihn nicht, obwohl sie den Namen ihres Exmannes seit der Scheidung nicht mehr benutzte. Für sich selbst war sie jetzt Hallie Waitlin, Lou und Cheryls Tochter.

Ein kleiner Schauder überlief ihre Wirbelsäule. Hier kamen sie vermutlich, die Nachrichten, mit denen sie gerechnet und vor denen sie sich gefürchtet hatte, seit sie von Lous Tod erfahren hatte. Sie wappnete sich und wartete.

„Diese Typen“, meinte Charlie und deutete mit dem Daumen über seine Schulter. Er meinte offenbar nicht nur Lous Freunde, sondern das Police Department ganz allgemein, „werden Ihnen erzählen, der Täter sei ein kleiner Ganove gewesen, der beim Einbruch überrascht wurde und daraufhin in Panik reagierte.“ Er machte eine Pause, in der er ihr Gesicht betrachtete und offenbar die Entscheidung traf, ihr zu vertrauen. „Das ist Bullshit, schlicht und einfach.“ Er holte einen sehr kleinen Umschlag aus derselben Tasche, in der er zuvor die Zigarettenpackung wieder verstaut hatte, und legte ihn auf den Tresen. Er nickte, als sie die Hand danach ausstreckte und ihn in ihrer Handtasche verschwinden ließ.

„Lou Waitlin wäre mit jedem Einbrecher fertig geworden. Nein, hier handelt es sich um einen professionellen Mord. Firmenangelegenheit.“

Hallie riss erstaunt den Mund auf, und ein flaues Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. Sie wollte protestieren, diese Theorie sei verrückt, so etwas gebe es nur im Film oder in einem Kriminalroman. Doch sie wusste, dass er recht hatte. Seine Worte deckten sich zu sehr mit ihrem eigenen, zugegeben noch sehr vagen, Verdacht.

Charlie schaute sich unauffällig um und entdeckte zur gleichen Zeit wie Hallie Joel, der sich einen Weg durch die Menge bahnte.

„Ich verschwinde lieber von hier“, sagte er.

Hallie nickte. Am liebsten hätte sie den Umschlag sofort geöffnet, aber sie rührte sich nicht. Stattdessen beobachtete sie, wie Charlie Long einen Fünfdollarschein auf die Theke legte und sich anschließend durch die vielen Cops hindurch einen Weg zur Tür bahnte.

Inzwischen war Joel bei Hallie angelangt. „Wer war das?“

„Keine Ahnung“, erwiderte sie stirnrunzelnd.

„Bist du bereit, nach Hause zu fahren?“

„Ja“, antwortete sie. Wenigstens in diesem Punkt war sie sich sicher.

Er schaute durch das Fenster hinaus auf die Straße und kniff die Augen ein wenig zusammen. „Die Limousine ist fort.“

„Ich nehme mir ein Taxi“, erklärte sie und eilte davon, ehe er ihr anbieten konnte, sie zu begleiten. Alles, woran sie in diesem Moment denken konnte, war der Umschlag, den Charlie ihr überreicht hatte. Was immer sich darin befinden mochte, würde vermutlich ihr Leben für alle Zeit verändern. Eine vernünftige Person hätte das Kuvert in den nächsten Mülleimer geworfen und vergessen. Hallie war aber nicht vernünftig, zumindest nicht, was den Mord an Lou Waitlin betraf.

Draußen hatte der Wind aufgefrischt. Von Charlie keine Spur mehr. Vielleicht, dachte Hallie düster, habe ich ihn mir bloß eingebildet, genau wie diese beunruhigende Unterhaltung. Wie durch ein Wunder fuhr gerade ein Taxi vorbei; sie hob die Hand, wohl wissend, dass Joel auf sie zulief. Der Wagen bremste scharf am Bordstein.

Sie sprang hinein, nannte ihre Adresse und warf erleichtert einen Blick durch die Heckscheibe. Joel stand auf dem Gehsteig, die Hände in den Taschen seines modischen Mantels, und blickte dem wegfahrenden Wagen hinterher.

Innerhalb von zwanzig Minuten war sie zu Hause. Sie gab dem Fahrer ein großzügiges Trinkgeld und lief zur Tür, wo sie einen Moment brauchte, bis sie den Schlüssel im Schloss hatte. Drinnen schaltete sie das Flurlicht ein und blieb neben dem Telefontischchen stehen. Der Anrufbeantworter blinkte. Sie überlegte einen Moment, ob sie das Kuvert öffnen sollte, wollte es eigentlich nicht und drückte dann zunächst den Abspielknopf des Anrufbeantworters. Vielleicht hatte Mrs. Draper wegen Kiley und Kiera angerufen.

Die Stimme, die sie hörte, war ihr völlig unbekannt, kalt und irgendwie andeutungsvoll. „Ich habe Sie im Pub gesehen, Hallie“, sagte der Mann. „Was befand sich in dem Umschlag?“

Hallie legte eine Hand auf ihr Herz. Ihr Atem ging schneller, ihre Augen weiteten sich vor Schreck. Die Nachricht endete mit einem Klicken, als der Anrufer auflegte. Noch ehe sie auf das Display schaute, wusste sie, dass sie sich das sparen konnte. Unbekannte Nummer stand dort.

Sie drehte sich um, verriegelte die Haustür und ging durch das Esszimmer in die große Küche. Durch das Fenster über der Spüle konnte sie den Hof sehen, in dem noch üppig die Sommerrosen blühten, und dahinter die Lichter in Nora Drapers Reihenhaus. Sie griff nach dem Hörer des Telefons, das an der Wand neben dem Herd hing, und drückte die Kurzwahltaste.

Ihre Nachbarin meldete sich sofort, und ihre fröhliche Stimme beruhigte Hallie. Sie löste die Klammer aus ihren schulterlangen Haaren und strich sich mit den Fingern der rechten Hand hindurch. Gleich würde sie auch die Perlenkette, das Kostüm und die Strumpfhose ausziehen.

„Ich bin es, Hallie“, sagte sie. „Ich bin zurück. Ist mit Kiera und Kiley alles in Ordnung?“

„Du meine Güte, ja“, antwortete Nora. „Denen geht’s gut. Wir machen eine Pyjamaparty.“

Hallie schluckte, um ihre Emotionen ein wenig unter Kontrolle zu bekommen. „Macht es dir wirklich nichts aus, die beiden über Nacht bei dir zu behalten?“

„Ob es mir etwas ausmacht? Ich genieße jeden Moment.“ Es folgte eine kleine Pause. „Alles in Ordnung mit dir, meine Liebe? Brauchst du etwas? Die Vorstellung, dass du da drüben ganz allein bist und mit dem schweren Verlust fertigzuwerden versuchst, gefällt mir nicht. Du könntest hier schlafen, ich stelle dir ein Gästebett auf.“

Hallie lächelte und blinzelte gegen die Tränen an. „Ich muss mich einfach ausruhen“, erklärte sie. Sie würde sich den Inhalt des Umschlags anschauen, das Glas Wein trinken, das sie sich versprochen hatte, ein ausgiebiges Bad nehmen und dann ins Bett gehen, um hoffentlich im Schlaf für eine Weile alles zu vergessen. Morgen war immer noch Zeit, sich über diese Nachricht auf dem Anrufbeantworter Gedanken zu machen. „Ich hole die Mädchen morgen früh ab.“

„Du bist erschöpft“, meinte Nora. „Schlaf dich aus.“

„Tue ich“, erwiderte Hallie und vermisste ihre schon vor langer Zeit gestorbene Mutter und Lou schmerzlich. Sie hatte ihre Töchter und ein paar Freunde – genau genommen handelte es sich eher um Bekannte, da ihre langen Arbeitstage ihr kaum Gelegenheiten gaben, Freundschaften zu pflegen. Außerdem war sie es gewohnt, unabhängig zu sein. Doch so zutiefst einsam oder verletzlich wie momentan hatte sie sich noch nie gefühlt.

Sie legte auf, überprüfte noch einmal, dass alle Türen verschlossen waren, und setzte sich an den Esszimmertisch. Dort öffnete sie ihre Handtasche und nahm das kleine Kuvert heraus. Ihre Finger zitterten leicht, während sie es aufmachte und umdrehte, um den Inhalt auszukippen.

Heraus fiel ein Messingschlüssel, an dem ein Zettel befestigt war, den Lou mit Virgin Mary beschriftet hatte. Hallie musste grinsen, da sie den Code sofort verstand.

Sie drückte den Schlüssel eine ganze Weile an ihr Herz; danach ging sie damit in ihr Schlafzimmer und packte ihn auf ihren Nachtschrank. Anschließend betrat sie das angrenzende Badezimmer, zündete Kerzen an und ließ Wasser in die Wanne laufen. Sie kehrte in die Küche zurück, da sie sich ein Glas Chardonnay holen wollte. Nach einem ausgiebigen, erholsamen Bad zog sie ein Baumwollnachthemd an und kroch ins Bett, wo sie zu ihrem Erstaunen schlief, bis die Zwillinge sie am nächsten Morgen weckten, indem sie auf die Matratze sprangen und in ihrem üblichen Überschwang herumtobten.

Hallie stöhnte, dann lachte sie und stand auf. Angesichts dieses unschuldigen, ganz gewöhnlichen Beginns dieses Tages hätte sie sich sein Ende nicht im Traum ausmalen können.

„Wir fahren zu Grampa“, erklärte sie, nachdem sie angezogen war und alle drei Müsli und Obst zum Frühstück gehabt hatten.

Zwei ernste graue Augenpaare sahen sie an.

„Grampa ist tot“, meinte Kiley, als bestünde dadurch kein Grund mehr, sein Haus zu betreten.

„Sag das nicht“, protestierte Kiera.

„Stimmt aber.“

„Genug“, meinte Hallie und schenkte sich einen zweiten Becher Kaffee ein. Sie zögerte. Lous Haus ohne Lou. Das würde wie ein Körper ohne Herz sein. Die Mädchen vermissten ihn schrecklich; er war ihr Ersatzvater gewesen, da Joel sich nicht richtig für sie interessierte. „Wenn ihr lieber bei Mrs. Draper bleiben wollt, kann ich das sicher arrangieren.“

„Ich will mit dir fahren“, erklärte Kiera.

„Ich auch“, beschloss Kiley.

Hallie ging in ihr Zimmer, nahm den Schlüssel und steckte ihn in die Tasche ihrer Jeans. Danach holte sie, mit dem Becher in der Hand, ihren Autoschlüssel, schloss die Tür auf und verfrachtete die Kinder auf den Rücksitz ihres dunkelblauen BMW. Nachdem die Sicherheitsgurte eingerastet waren und der Motor gestartet war, machten sie sich auf den Weg durch die Stadt.

Lous Terrassenhaus lag in einem der anständigen Bezirke von Phoenix in einer von Bäumen gesäumten Straße. Während viele Häuser in der „Valley of the Sun“ genannten Metropolregion Stuckfassaden und Schindeldächer hatten, war Lous aus schlichtem Backstein gebaut und hatte grüne Fensterläden. Davor gab es Blumenbeete und einen kleinen Garten, der ein bisschen verwildert aussah.

Einen Moment lang blieb Hallie in der Auffahrt bei laufendem Motor im Wagen sitzen, ehe sie die Zündung ausstellte, den Schlüssel einsteckte und ausstieg. Virgin Mary, dachte sie, sich an die auf den Schlüsselzettel gekritzelten Worte erinnernd. Sie ging zur Hütte im Garten hinter dem Haus. An der Tür befand sich ein Vorhängeschloss, doch Hallie kannte die Zahlenkombination und öffnete es daher mit Leichtigkeit. Kiera und Kiley beschäftigten sich anderweitig, da sie kein Interesse am Gartenschuppen ihres Großvaters hatten, in dem er seinen Rasenmäher, ein Sortiment an Werkzeugen, Kartons mit Weihnachtsschmuck und andere Sachen aufbewahrt hatte. Sie überließen ihre Mutter ihrer geheimnisvollen Suche und rannten zur Schaukel, die Lou vor Jahren für Hallie aufgestellt hatte.

Hallie suchte über eine halbe Stunde im staubigen Inneren der Hütte, bis sie die beinahe lebensgroße Krippenszene aus Plastik fand, die jedes Jahr zu Weihnachten im Vorgarten gestanden hatte – immer vom Freitag nach Thanksgiving bis zum zweiten Januar. Jedes einzelne Teil war in Zeitungspapier eingewickelt. Als Erstes wickelte sie Joseph aus, dann einen Hirten und einen der Weisen, bis sie endlich Maria erwischte.

Sie stellte die Figur auf dem Fußboden auf den Kopf und fand eine kleine Geldkassette aus Metall im Sockel. Aufgeregt zog sie die Kassette heraus, wickelte Maria wieder ein und legte sie zu den anderen Dekorationsgegenständen zurück. Nachdem sie sich die Hände an ihrer Jeans abgewischt hatte, zog sie den Schlüssel mit dem Zettel aus der Tasche und schloss die Kassette auf.

Auf den ersten Blick schien der Inhalt ganz harmlos zu sein – Dokumente, Ausdrucke von Netzdateien, ein paar unscharfe Polaroids, deren Motive nicht gleich erkennbar waren. Hallie machte die Kassette wieder zu und hielt sie schützend an sich gedrückt, als sie aus der Hütte hinaus ins Sonnenlicht trat.

Kiera und Kiley spielten auf der Reifenschaukel, lachten und verstanden sich ausnahmsweise. Hallie schaute sich um, und ihre Nackenhärchen stellten sich auf. Sie ging auf die relativ geschützte Terrasse, auf der Lou im Lauf der Jahre wahrscheinlich eine Million Hotdogs und Hamburger gegrillt hatte. Mit weichen Knien setzte sie sich an den Gartentisch und öffnete die Kassette erneut.

Bei den Computerausdrucken handelte es sich um Landkarten von Orten in der Einöde, hauptsächlich Campingplätze und Parks. Einige waren in Lous Handschrift mit kleinen krummen X markiert. Auf den Fotos waren Männer in verschiedenen Bars zu sehen und an anderen dunklen Orten, wo sie Dinge tauschten oder sich mit ernster Miene unterhielten. Hallie erkannte einige von ihnen und bekam prompt eine Gänsehaut.

Sie entfaltete ein Dokument, strich es auf dem Tisch glatt und überflog die erste Seite. Es war ein Protokoll, vermutlich eines Telefongesprächs, in dem es um irgendeine Lieferung aus Mexiko ging. Erneut spürte Hallie ein flaues Gefühl im Magen. Sie wollte nichts über diese Dinge wissen, keine Namen, von denen ihr viele nur allzu vertraut waren.

Unwillkürlich schaute sie über die Schulter und sah erschrocken Joel neben der Schaukel stehen, die Hände in den Taschen seiner Chino vergraben. Er unterhielt sich mit den Mädchen, die voller Bewunderung zu ihm aufschauten. Hallie verspürte den Impuls, über den Rasen zu rennen und die Kinder an sich zu drücken, um sie vor ihm in Sicherheit zu bringen. Stattdessen saß sie wie erstarrt da, wo Lou so viele Mahlzeiten im Sommer serviert hatte, und beobachtete ihren Ex. Ihre Blicke trafen sich, und er kam auf sie zu, die Hände nach wie vor in den Taschen.

Er war noch ein paar Schritte entfernt, als sie ihre Stimme wiederfand. „Was machst du hier?“, erkundigte sie sich. Dumme Frage. Sein Gesicht war auf einigen der Fotos gewesen, sein Name tauchte in dem Gesprächsprotokoll auf. Um Himmels willen, Lou, schoss es ihr durch den Kopf, wenn du diese Dinge wusstest, warum hast du mich dann nicht gewarnt?

Natürlich kannte sie die Antwort. Lou hatte eine umfangreiche Ermittlung durchgeführt und nicht damit gerechnet, dass er sterben würde, ehe dieser Fall abgeschlossen war. Unter keinen Umständen hätte er die Untersuchungen gefährdet, indem er eine Zivilperson einweihte, selbst wenn es sich bei dieser Person um seine Stieftochter handelte, deren Kinder noch dazu von einem der Verdächtigen stammten.

„Ich wollte mal gucken, wie es dir heute Morgen geht“, erklärte Joel und versuchte sichtlich, keinen Blick auf die offene Kassette und die Papiere zu werfen. Es glückte ihm nicht. „Was hast du denn da?“

Zu ihrem eigenen Erstaunen kam ihr die Lüge ganz leicht über die Lippen. Sie brachte sogar ein geradezu herzliches Lächeln zustande. „Aktien, Wertpapiere, ein paar Gutachterfotos“, erklärte sie. „Anscheinend hat Lou mir nicht nur das Haus und seinen Pensionsfonds hinterlassen.“

„Lass doch mal sehen“, bat Joel, als hätte er jedes Recht dazu.

Hallie schob alles zusammen, legte es zurück in die Kassette und zog sie an sich. „Ist alles leicht verständlich. Damit komme ich schon allein zurecht.“

Er sah skeptisch aus. Sie stand auf und behielt die Kassette in den Händen. Lächelte.

„Warum kommst du mit Barbara nicht mal im Restaurant vorbei?“, schlug sie vor und merkte, dass sie zu beflissen klang, zu schnell redete. „Ich habe ein neues Gericht, das du vielleicht mal probieren möchtest. Geht natürlich aufs Haus.“

Joel hob eine Braue, ohne die Kassette aus den Augen zu lassen. „Okay.“ Er klang nicht sehr überzeugt, zwang sich jedoch ebenfalls zu einem Lächeln. „Ich könnte die Kinder heute nehmen, dann hast du mal frei.“

Hallie lief es kalt über den Rücken. „Wir haben schon etwas vor“, erwiderte sie rasch. „Schau doch Samstagabend im Restaurant vorbei.“

Er nickte.

„Mädchen!“, rief Hallie. „Kommt, wir müssen los.“

„Gib mir die Kassette“, forderte Joel sie mit ruhiger Stimme auf.

„Ein andermal“, entgegnete Hallie fröhlich. Bis zu ihrem BMW in der Auffahrt vor dem Haus würde sie es nicht schaffen, doch Lous alter Pick-up stand hinter dem Schuppen, mit der Front zum Zaun, der das Grundstück zur Gasse hin begrenzte. Wahrscheinlich steckte der Schlüssel. Lou hatte stets gemeint, niemand, der noch ganz bei Verstand sei, würde diesen alten, wertlosen Pick-up stehlen – auch wenn man die Hoffnung nie aufgeben sollte.

Mit ausholenden Schritten und bis zum Hals hämmerndem Herzen ging sie auf die Mädchen und den Pick-up zu. Im Nu hatte sie ihre überraschten Töchter auf die vordere Sitzbank des alten Gefährts verfrachtet, die Kassette hineingeworfen und war hinters Lenkrad geklettert. Joel war einige Meter hinter ihr, aber er war größer und offenbar bereit zur Verfolgung. Hallie hatte sich ganz leicht unter den Wäscheleinen geduckt, doch Joel verfing sich darin, was ihr kostbare Sekunden verschaffte, um den stotternden Motor zu starten und die Türknöpfe hinunterzudrücken.

„Mommy“, rief Kiera. „Was tust du denn …?“

Hallie trat die Kupplung, legte den Gang ein und fuhr direkt in den Lattenzaun. Der Wagen walzte ihn nieder und bog rumpelnd in die Gasse ein.

„Daddy rennt hinter uns her!“, verkündete Kiley, die durch das ovale Heckfenster zurückschaute. „Mommy, halt an!“

Hallie schaltete ein weiteres Mal und raste auf das Ende der Gasse zu, wobei sie mit jedem Holpern schneller wurde. Ein Blick in den Rückspiegel zeigte Joel, der wütend und fluchend in der Gasse stand. Es würde nicht lange dauern, bis er sich fing und die Verfolgung aufnahm. Doch Hallie war in dieser Gegend aufgewachsen und kannte jede kleine Nebenstraße, jede Abkürzung, jede Sackgasse. Bis er bei seinem Wagen war, würde sie mit den Mädchen und den Beweisen, die Lou gesammelt hatte, längst über alle Berge sein.

Kiley versuchte es erneut. „Mommy?“

Hallie nahm eine Kurve praktisch auf zwei Rädern und mit quietschenden Reifen. „Anschnallen, Mädels“, forderte sie ihre Töchter auf. „Wir machen einen kleinen Ausflug.“

Sobald sie Phoenix weit genug hinter sich gelassen hatten, würde sie als Erstes die Kassette verstecken.

2. KAPITEL

Die winzige Messingglocke über der Tür klingelte auf die gleiche nervig-fröhliche Weise wie immer, als sein ruhiges, beschauliches Leben in jener Nacht eine Hundertachtziggradwendung machte. Chance Qualtrough hätte normalerweise wohl nicht einmal eine halbe Oberkörperdrehung auf seinem Barhocker vollführt, um hinzusehen, wäre da nicht dieses komische warme Gefühl in den innersten Regionen seines Herzens aufgestiegen, das sich dort festzusetzen schien.

Er schaute über die Schulter, und da war sie, von Schnee bedeckt, mager und verängstigt, mit einem kleinen Kind an jeder Hand. Er musterte die Kinder, zwei Mädchen, ihren kleinen pinkfarbenen Jacken, den flauschigen Fäustlingen und Pudelmützen nach zu urteilen. Sie konnten nicht älter als sechs oder sieben sein. Trotz seines instinktiven Widerstrebens sah Chance dann die Frau an.

Ihre Augen waren braun, und unter ihrer schneebedeckten Baseballmütze lugten blonde Strähnen hervor – die Farbe von Spülwasser, die immer echt ist. Sie war eine Fremde in Primrose Creek, da war Chance sich ziemlich sicher, und doch überkam ihn das seltsame Gefühl, als seien sie sich vor langer Zeit schon einmal begegnet und dann unfreiwillig auseinandergegangen.

Er dachte noch über diese merkwürdige Erkenntnis nach, als Madge Beardsley zu den Neuankömmlingen eilte. Ihr gehörte das Last Chance Café zusammen mit ihrem Bruder, einem ehemaligen Rodeo-Clown und Exsträfling namens Bear. Der kam in diesem Moment neugierig aus der Küche und wischte sich die Hände an seiner Schürze ab. „Nun seht euch bloß mal an“, rief Madge aufgeregt wie eine alte Henne. „Halb erfroren seid ihr!“ Sie saß in einem Zeitloch fest, etwa um 1955. Sie trug die gefärbten roten Haare aufgetürmt und festgesprüht, ihr Lippenstift war vampirrot. Ihr pinkfarbenes Kleid schien direkt aus einer frühen Episode von I Love Lucy zu stammen, ebenso die übergroßen Glitzerohrringe und die Sattelschuhe.

Die Blondine bibberte sichtlich und ließ endlich die Hände der kleinen Mädchen los. Sie nickte Bear zu und sagte: „Mein … Pick-up ist liegen geblieben, draußen auf dem Highway …“

„Gütiger Himmel“, rief Madge und scheuchte ihre neuen Schützlinge zur einzigen noch freien Sitznische. An diesem Abend waren viele Leute im Last Chance gestrandet, hauptsächlich Einheimische, obwohl es auch einige Durchreisende gab. Entsprechend lebhaft ging es zu. „Sie wollen mir doch wohl nicht erzählen, dass Sie bei diesem Wetter da draußen ganz allein unterwegs waren …“

Die Frau lächelte zaghaft, und Chance merkte zu seinem Ärger, dass er sie noch immer ansah. Sie musste das gespürt haben, denn auf einmal schaute sie kurz in seine Richtung, und ihr Lächeln erstarb. Sichtlich nervös begann sie, erst sich und dann die Kinder von den Jacken zu befreien. Madge legte die Mäntel und Mützen über den altmodischen Soda-Kühler, da sämtliche Haken an der Wand sich schon vor Jacken bogen. Dann schenkte sie drei große Becher heißen Kakao mit extra Sahne obendrauf ein.

„Wie heißen Sie, Schätzchen?“, fragte Madge die Fremde und verteilte die Becher. Beide Kinder starrten verblüfft auf den süßen Schaum, doch im Gegensatz zu dem düsteren Ausdruck in den Augen ihrer Mutter wirkten sie schon wieder guter Dinge. Eines der Mädchen fuhr mit dem Finger durch die Sahne und leckte ihn ab.

„Hallie“, antwortete die Frau zögernd. „Hallie … O’Rourke. Das sind meine Töchter Kiley und Kiera.“

Madge strahlte die Kinder an. „Zwillinge“, bemerkte sie entzückt. „Wie alt seid ihr?“

„Sieben“, sagte das Mädchen, das die Sahne probiert hatte. „Ich bin Kiley, und das da ist Kiera. Ich wurde zuerst geboren, deshalb bin ich größer, auch wenn man es nicht sieht.“ Sie machte eine Pause, als müsste sie darüber nachdenken, ob sie ein Geheimnis preisgeben sollte oder nicht. Dann erklärte sie: „Wir sind begabt, weißt du.“

Dafür erntete sie von Kiera einen nachsichtigen Blick, aber keinen Kommentar.

Nach wie vor von den Neulingen angezogen, deren Probleme ihn nichts angingen, fragte Chance sich, wo denn wohl Mister O’Rourke war und was diesen Mann geritten hatte, seine Familie bei diesem Wetter durch die Landschaft marschieren zu lassen. Er widmete sich wieder seinem Kaffee und versuchte vergeblich, Hallie O’Rourke aus seinen Gedanken zu verbannen, wie einen Zeitungsartikel, nachdem er ihn gelesen hatte. Er blieb sich der Gegenwart dieser Frau deutlich bewusst, und das machte ihm Angst. Nachdem er sich ein wenig gefangen hatte, kam ihm ein vager Verdacht: Vielleicht hatte er etwas in ihren Augen gesehen, vielleicht lag es daran, dass er selbst auf der Hut sein musste. Jedenfalls kam ihm in den Sinn, dass sie vor irgendwem oder irgendetwas auf der Flucht sein musste.

Er gab sich Mühe, die neuen Gäste nicht zu belauschen, und die Geräuschkulisse im Lokal war ja auch vielfältig genug – aus der Jukebox kam Musik und im hinteren Teil spielte die Ladies Aid Society ohne Pardon Canasta. Dennoch war es, als säße er direkt an Hallies Tisch, so klar konnte er jedes Wort verstehen.

Eines der Kinder sagte gerade: „Hallie? Kann ich einen Cheeseburger haben?“

Chance schüttelte den Kopf und trank einen Schluck Kaffee. Wohin war es mit dieser Welt gekommen? Familien, die im Schneesturm einen Ausflug unternahmen. Kleine Kinder, die ihre Mütter mit dem Vornamen anredeten, als wäre sie bloß eine Spielkameradin, kein Elternteil. Madge gab Hallie die in Vinyl eingeschweißte Karte und ging den Tresen entlang, um die Becher nachzufüllen und Bananenkuchen abzuschneiden für ein paar Trucker, die an den Flipperautomaten standen.

„Für dich immer noch Mom“, erwiderte Hallie ruhig. „Du kannst dir einen Cheeseburger mit Kiera teilen. Einen ganzen schaffst du sowieso nicht.“

„Ich will aber meinen eigenen Cheeseburger. Ganz für mich allein.“

Hallie probierte es mit einer anderen Taktik. „Wir müssen ein bisschen auf unser Geld achten, Schätzchen. Das weißt du doch.“

„Ich finde, wir sollten nach Hause fahren. Da haben wir genug Geld.“

Hallie konnte nicht viel älter als dreißig sein, aber ihr Seufzen klang, als hätte sie seit dem Frühstück schon ein Jahrhundert durchlebt. „Wir können nicht zurück“, erklärte sie geduldig, klang dabei aber so, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. „Wir werden einen neuen Ort finden, wo wir wohnen können. Einen wundervollen Ort, das verspreche ich euch.“

„Ich muss Pipi“, meldete sich das andere Mädchen zu Wort. Obwohl er sie nicht kannte, spürte Chance, dass die Kleine es gewohnt war, als Friedensstifterin in der Familie zu fungieren. Er fand, dass Kinder heutzutage viel zu schnell erwachsen werden mussten.

„Dann lass uns mal gehen“, meinte Hallie, und alle drei machten sich auf den Weg durch den Flur zu den Toiletten.

Als sie zurückkamen, stellte Madge gerade drei Teller auf ihren Tisch. Cheeseburger mit Fritten, große Portionen. Chance beobachtete Hallie in dem altersschlierigen Spiegel hinter der Kasse.

„Das habe ich nicht bestellt“, sagte sie mit einem leicht verzweifelten Unterton.

Madge sah in Chances Richtung und ließ ihn damit vermutlich auffliegen. Er hatte angeboten, für das Essen zu zahlen, nur sollte es niemand wissen. „Machen Sie sich deswegen keine Gedanken, Schätzchen“, beruhigte Madge die junge Mutter. „Es ist alles bezahlt.“

Die Mädchen machten sich bereits auf eine Weise über das Essen her, dass Chance sich fragte, wann sie zuletzt eine anständige Mahlzeit bekommen hatten. Hallie stand jedoch nur steif vor dem Tisch, das Kinn trotzig gereckt. Aufgebracht flüsterte sie gut hörbar: „Ich war nicht auf der Suche nach Almosen!“

Madge fand ihre Fassung rasch wieder und deutete auf die vielen Gäste. „Haben Sie schon mal gekellnert, Mädchen? Ich könnte gerade heute Abend ein wenig Hilfe gebrauchen. Ich renne mir hier schon seit sechs Stunden die Hacken ab, und der Schnee draußen scheint nicht nachzulassen.“ Wie um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, rüttelte der Wind an der Eingangstür und ließ den Ventilator hinter dem großen Herd im hinteren Teil des Lokals klappern. Der Sturm hatte am frühen Nachmittag begonnen, zunächst noch ganz harmlos und für Mitte Oktober im Hochland Nevadas nicht ungewöhnlich, ehe er sich dann zu apokalyptischen Dimensionen gesteigert hatte. „Sie würden mir einen Gefallen tun“, meinte Madge.

Chance segnete Madge und ihr freundliches Herz und trank noch einen Schluck Kaffee. Sie hätte Hallie erklären können, dass er es war, der das Essen bezahlt hatte, aber stattdessen respektierte sie den Stolz dieser Frau. Da Hallie nichts sagte, fügte Madge hinzu: „Essen Sie etwas und hören Sie auf, sich Gedanken zu machen. Sie können das abarbeiten, indem Sie Kaffee ausschenken und mir später beim Aufräumen helfen.“

Hallie seufzte wieder, nickte und ließ sich auf die Bank sinken, um endlich auch etwas zu essen. Madge ging hinter den Tresen, nahm die Kaffeekanne und zwinkerte Chance zu, als sie ihm nachschenkte. Er warf ihr einen halb grimmigen Blick zu, weil sie ihn beinah verraten hätte. Aber da sie wusste, dass er nicht wirklich böse war, lachte sie und schüttelte den Kopf. Es gab Leute, die konnte er mühelos einschüchtern. Madge gehörte nicht dazu.

Im Lauf der nächsten Stunde verschlechterte sich das Wetter weiter, trotzdem sank die Gästezahl allmählich. Sheriff Jase Stratton, genau wie Chance ein Abkömmling der McQuarrys und somit ein entfernter Verwandter, der ehemals sein bester Freund gewesen war, tauchte in seinem Wagen mit Allradantrieb auf. Ohne einen Gruß an Chance fing er an, die Mitglieder der Ladies Aid Society nach Hause zu bringen, jeweils vier auf einmal. Die Trucker brachen ebenfalls auf, denn ihre Lastwagen waren für jedes Wetter gerüstet, und der junge Ben Pratt, ein angehender Unternehmer, startete ein kleines Taxiunternehmen mit seinem Schneemobil, indem er jedem Passagier zwei Dollar pro Fahrt abknöpfte.

Chance, der selbst einen großen Pick-up fuhr, blieb an seinem Platz auf dem üblichen Barhocker im Last Chance Café, trank seine bestimmt achtzehnte Tasse Kaffee des Tages und beobachtete, wie Hallie O’Rourke sich als fleißige Mitarbeiterin erwies. Die Kinder, die sich die Mägen mit Pommes frites und Cheeseburgern vollgeschlagen hatten, schliefen auf den Bänken. Madge hatte sie mit einem alten Pullover und einer Decke aus dem Abstellraum zugedeckt.

Als Hallie mit der Kaffeekanne in der Hand auf der anderen Seite des Tresens vor Chance stehen blieb, erschrak er ein wenig. Sie versuchte zu lächeln. „Zu viel von diesem Zeug ist giftig“, sagte sie.

Er gab seiner Tasse einen kleinen Schubs in ihre Richtung, um anzudeuten, dass er noch mehr von dem Gift wollte. Er würde bald nach Hause fahren und versuchen, ein paar Stunden zu schlafen. Aber es bestand kein Grund zur Eile, da dort niemand auf ihn wartete, bis auf die Hunde und die Pferde, die sich bis dahin gut gegenseitig Gesellschaft leisteten. „Danke“, sagte er, als sie nachgab und ihm einschenkte. Es handelte sich nur noch um Brühe vom Kannenboden, stark genug, um damit einen Traktor anzutreiben.

Sie stellte die Kanne zurück auf die Warmhalteplatte und fing an, den Tresen mit einem Lappen abzuwischen. Chance bildete sich nicht ein, dass sie seinetwegen länger blieb. Das Lokal war warm und hell, und ihre Kinder schliefen. Sie konnte nirgendwohin, außer zurück in den Sturm.

Er dachte an Jessie Shaws Blockhaus, das auf der anderen Flussseite, gegenüber von seinem eigenen Haus, leer stand. Ihm kam eine Idee. Auf den ersten Blick wirkte das vielleicht etwas plötzlich, doch er nahm an, dass sie sich schon die ganze Zeit über in seinem Unterbewusstsein geformt hatte. „Sie brauchen für einige Tage eine Unterkunft?“, erkundigte er sich.

Sie erstarrte regelrecht und kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Er war froh, dass sie die Kaffeekanne schon weggestellt hatte, denn sie sah aus, als wollte sie ihm etwas über den Kopf schütten, und brühend heißer Kaffee wäre nicht seine erste Wahl gewesen.

Chance lachte und hob die Hand. „Bleiben Sie ruhig, Ma’am. Sie ziehen da voreilige Schlüsse. Jessie ist eine Verwandte von mir, und sie ist seit einer Woche oder so auf Geschäftsreise. Ich kümmere mich in der Zeit um ihr Haus. Sie wissen schon, ich sorge dafür, dass die Wasserleitungen nicht einfrieren, füttere ihre Tiere, solche Sachen. Nur habe ich bei mir zu Hause selbst genug zu tun, auch ohne den halben Tag auf der anderen Seite des Flusses zu verbringen.“ Er beobachtete, wie Hallies braune Augen sich weiteten. Sie schien neugierig geworden zu sein. „Sie wird bald wieder zurück sein, aber bis dahin, na ja … verstehen Sie etwas von Pferden?“

Sie zögerte, und er wusste – ohne sagen zu können, woher –, dass ihr eine Lüge auf der Zunge lag und sie behaupten wollte, sie wisse alles über die Versorgung von Pferden. Nur brachte sie es dann doch nicht fertig. Er speicherte diesen kleinen Einblick in ihren Charakter ab. „Absolut nichts“, gestand sie seufzend.

„Na, es ist nicht so schwer“, sagte er. War er verrückt geworden? Er kannte diese Frau überhaupt nicht, und es bestand durchaus die Möglichkeit, dass sie echten Ärger bedeutete. Und doch bot er ihr an, in Jessies Haus zu wohnen, ganz allein. Sie könnte es ausräumen oder die Möbel verfeuern, wer weiß. Oder einen Drogenring organisieren. Oder eine Leiche unter den Dielenbrettern verstecken. Wow, vermutlich hatte er zu viele Krimis gesehen – er musste sich mal wieder ein Privatleben zulegen. „Ich könnte Ihnen das Grundlegende beibringen.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu. „Der Pferdeversorgung, meine ich.“

Hallie biss sich auf die Unterlippe. Ihr Interesse schien geweckt. Sie sah kurz zu ihren schlafenden Kindern. „Keine Bedingungen?“ Es war klar, was sie meinte.

Chance hielt ihrem Blick stand. „Keine Bedingungen“, versicherte er ihr.

Sie zögerte noch einen Moment, bevor sie sagte: „Na schön.“ Und dann fuhr sie mit frischer Energie fort, den Tresen abzuwischen.

Madge, ein Schutzengel in pinkfarbenem Nylon, stand in ihrem kleinen Büro, die Hände in die ausladenden Hüften gestemmt, und lächelte Hallie an. „Chance Qualtrough?“, fragte sie und senkte die Stimme zu einem Flüstern, obwohl die Tür geschlossen war und jemand im Lokal gerade die Jukebox angeworfen hatte. „Der ist in Ordnung. Seine Familie ist hier in Primrose Creek seit den Tagen der ersten Siedler ansässig. Die haben alle ihren Weg gemacht. Jessie ist eine berühmte Künstlerin, eine Weberin. Sie zeigt ihre Arbeiten überall auf der Welt. Und Sheriff Jase Stratton – er war vorhin kurz hier – gehört auch zu denen. Es gibt noch eine vierte, Sara Vigil, sie lebt in Hollywood und produziert Filme. Chance verpachtet ihren Teil des Landes.“

Hallie wischte sich die Hände an den Hosenbeinen ihrer ausgewaschenen Jeans ab und dachte an den Cowboy, der vermutlich noch immer auf demselben Hocker an der Bar saß. Er sah gut aus, mit seinen dunkelblonden Haaren und blauen Augen, und er machte keinen gefährlichen Eindruck. Aber Hallie hatte gelernt, vorsichtig zu sein. Besser gesagt, sie hatte es schmerzlich lernen müssen. Sie versuchte, den Anflug von Neid zu ignorieren, den sie empfand, als sie von seiner Familie und den Wurzeln in Nevada hörte. „Ist er oft hier?“

Madge lachte in sich hinein, es klang rau und zärtlich. „Nicht öfter als andere Stammgäste. Er frühstückt gern hier, und ich hab noch nie jemanden erlebt, der mehr Kaffee verträgt. Er besitzt eine hübsche kleine Ranch und ein paar Rinder. Er züchtet auch Pferde. Eine edle Rasse. Er hat einen ziemlich wertvollen Vollbluthengst.“

„Das ist beeindruckend“, sagte Hallie ein wenig widerwillig. Ja, sie war beeindruckt, aber nicht, weil Mr. Qualtrough Geld hatte. Sie wusste nur zu gut, dass Geld und Besitz ein schwacher Trost waren, wenn es mal richtig ernst wurde.

„Wie dem auch sei“, meinte Madge, „ich habe hier eine freie Stelle, wenn Sie gern ein paar Tage arbeiten wollen. Also zur Überbrückung. Bears Freundin Wynona soll nächste Woche mit dem Bus kommen und mithelfen, aber sie ist nicht sehr zuverlässig. Wenn Sie sich bis dahin gut anstellen, könnten Sie die Stelle fest haben.“

Hallie schluckte. „Danke“, sagte sie und fragte sich, wie lange sie es wagen würde, sich in Primrose Creek aufzuhalten. Sobald diese Jessie wieder da war, würde sie eine neue Unterkunft brauchen, selbst wenn sie als Kellnerin erfolgreich wäre. Zweihundertachtundzwanzig Dollar reichten auch in einer kleinen Stadt wie dieser nicht annähernd, um ein Haus oder eine Wohnung zu mieten. Vielleicht gab es ein Motel, in dem sie von Woche zu Woche ein Zimmer mieten könnte.

Madge entging nicht viel, das machte ihr freundlich abwägender Blick deutlich. Sie nahm Hallies Hand und tätschelte sie mütterlich. „Machen Sie einen Schritt nach dem anderen. Wenn Sie ein paar Tage auf Jessies Haus aufpassen, können Sie mal durchatmen und zu sich kommen. Hier können Sie ein bisschen Geld verdienen – nicht viel, aber das Trinkgeld ist ganz ordentlich. Vielleicht reicht es am Ende, um Ihren Wagen wieder flottzumachen.“

Für einen Moment fehlten Hallie die Worte. Keine Frage, sie steckte in großen Schwierigkeiten, aber es gab auch Grund zur Dankbarkeit. Vor wenigen Stunden noch war sie auf einem verschneiten Highway mit ihrem Pick-up liegen geblieben, mehr oder weniger obdachlos, mit zwei kleinen Kindern, einem billigen Koffer, vollgestopft mit ebenso billigen Kleidungsstücken, ausgewählt nach Größe und Preis in einem Discounter. Als der Wagen den Geist aufgab, hatte sie die Stirn aufs Lenkrad gelegt und tief eingeatmet, bis sie sicher war, dass sie nicht weinen würde. Dazu hatte sie im Stillen verzweifelt um Hilfe gebetet. Nach einer Zwei-Meilen-Wanderung durch die Kälte, auf der sie die Kinder abwechselnd oder sogar beide hatte tragen müssen, war sie in dieses Lokal gestolpert und hatte diese Leute hier kennengelernt. Kiley und Kiera hatten zu essen bekommen und schliefen nun sicher und geborgen. Heute Abend, morgen und für die folgenden Tage war alles in Ordnung.

„Nun?“, drängte Madge. „Habe ich eine neue Kellnerin oder nicht?“

Hallie lächelte und streckte ihr die Hand hin, um die Abmachung zu besiegeln. „Sie haben eine Kellnerin“, sagte sie. „Noch mal danke, Madge. Ich schwöre, ich werde Sie nicht enttäuschen.“

Madge war schon wieder ganz geschäftig und scheuchte Hallie aus ihrem kleinen Büro zurück ins Lokal. „Fein“, sagte sie. „Ich erwarte Sie morgen Vormittag gegen halb zwölf, falls das Wetter es zulässt. Sie können die Mittags- und die Abendschicht machen.“ Besorgt hielt sie inne. „Ich sag’s Ihnen lieber gleich: Das wird ein langer Tag werden. Manchmal kommen wir hier nicht vor Mitternacht raus, ich und Bear, aber Sie dürfen gegen acht Schluss machen. Essen ist natürlich gratis, und Sie können selbstverständlich die Kinder mitbringen, solange es nötig ist. Die scheinen sich ja gut benehmen zu können.“

Hallie empfand ein wenig Stolz. Vielleicht war sie doch keine so schlechte Mutter. Na schön, sie erhob sich nicht direkt wie der sagenhafte Phönix aus dem Aschehäuflein, zu dem ihr Leben geworden war. Doch sie konnte wenigstens schon ein schwaches Licht am Ende des Tunnels sehen. Es bestand Grund zur Hoffnung. „Es sind die besten Kinder der Welt“, sagte sie.

Madge lächelte. „Ich mache Ihnen rasch ein Care-Paket, das Sie mit zu Jessies Haus nehmen können. Sie würde sich wirklich freuen, wenn sie wüsste, dass jemand dort richtig wohnt und aufpasst.“ Sie stützte die Hände an den Türrahmen und spähte durch die Küchentür. „Wirf lieber schon mal deinen Pick-up an, Chance“, rief sie dem gut aussehenden Cowboy zu. „Lass die Heizung laufen. Ich will nicht, dass Hallie oder ihre Mädchen sich eine Lungenentzündung holen, noch ehe sie bei Jessie sind.“

Er nickte, setzte sich seinen zerbeulten Hut auf und tippte einmal an die Krempe, ganz echter Gentleman. Hallie empfand einerseits Vorfreude, andererseits Furcht bei der Vorstellung, dass sie gleich zusammen mit ihren Kindern wer weiß wohin fahren würde, noch dazu mit einem Fremden. Unter normalen Umständen wäre sie ein solches Risiko nicht einmal im Traum eingegangen. Aber in dieser verschneiten Oktobernacht blieb ihr gar keine andere Wahl.

Madge füllte eine Kiste mit Proviant – Brot, Milch, Käse, eine kleine Kanne Kaffee, Eier, ein Päckchen Frühstückswürstchen sowie einen halben Pekannusskuchen –, während Hallie die Zwillinge weckte und ihnen die Mäntel anzog.

„Wohin fahren wir denn?“, wollte Kiley wissen.

„Gibt es da ein Bett?“, fragte Kiera. „Mit echter Bettwäsche?“

Noch ehe sie auf die Fragen antworten konnte, war Madge da. „Ihr fahrt zu einem wirklich netten Haus mit vielen Betten, die alle Bettwäsche haben. Es gibt einen Hügel zum Schlittenfahren und sogar eine Scheune. Im Sommer könnt ihr dort im Fluss schwimmen und Forellen angeln.“

Hallie widersprach nicht, obwohl sie im Sommer längst weit weg sein würden, sie und die Zwillinge. Meilenweit weg von Primrose Creek, Nevada, mit einer neuen Identität ausgestattet, in einem neuen Leben. Oder aber sie wären wieder zurück in Scottsdale, falls sie großes Glück hätten. Allerdings würde sie Madge das nicht auf die Nase binden, so nett sie auch gewesen war. „Es gibt auch Pferde“, erzählte sie etwas angespannter. „Wir werden uns um sie kümmern.“

Der Ausdruck in Kieras Augen ließ sie sofort bereuen, die Pferde erwähnt zu haben. „Ehrlich?“, flüsterte das Kind ehrfürchtig.

„Wow“, sagte Kiley und schob Hallies Hände weg, um den Reißverschluss ihrer Jacke selbst hochzuziehen. „Kennen wir uns denn mit Pferden aus?“

„Wir werden es lernen“, antwortete Hallie, und dann war Mr. Qualtrough zurück vom Parkplatz. Sein Hut war mit Schneeflocken bedeckt, und er brachte den eisigen Wind mit ins Café.

Er führte sie nach draußen, wobei er Kiley auf dem einen Arm und die Lebensmittel auf dem anderen trug. Sein Pick-up parkte ein paar Meter von der Eingangstür entfernt. Der Motor brummte kraftvoll, und aus dem Auspuff stiegen weiß die Abgase auf. Das Licht der Scheinwerfer verwandelte den fallenden Schnee in einen Schauer aus Goldmünzen.

Obwohl er sehr groß war, bewegte der Cowboy sich anmutig. Er stellt die Kiste ab, öffnete die Beifahrertür, hob Kiley in den Wagen und half anschließend Kiera und Hallie hinein. Als alle angeschnallt waren, stellte er den Proviant hinter den Sitz, warf die Tür zu und stieg auf seiner Seite ein. Sekunden später bogen sie auf den noch immer nicht geräumten Highway ein und fuhren aus der Stadt heraus.

Hallie hielt Kiera auf dem Schoß und legte den Arm um Kiley, die sich an sie drückte. „Sind Sie sicher, dass Ihre Freundin nichts dagegen hat?“, fragte sie, hauptsächlich, um Konversation zu machen. Sie mochte die Einsamkeit, doch Stille konnte sie im Augenblick nicht gut ertragen. Dadurch kam ihr die Welt zu weit, zu gefährlich vor.

Chance drehte am Radio, fand einen Sender für Country-Oldies und konzentrierte sich wieder aufs Fahren, während Johnny Cashs raue, vertraute Stimme durch die Dunkelheit klang.

„Ich glaube, Jessie wird sich freuen“, sagte Chance.

„Sie ist geschäftlich auf Reisen?“

Chance nickte und sah angestrengt auf die kaum sichtbare Straße vor ihnen. „Jessie ist Stoffkünstlerin. Sie besucht Galerien, die meisten irgendwo im Osten, um Werbung für sich zu machen und neue Stücke auszuliefern.“

„Ich würde ihre Arbeiten gern einmal sehen.“ Sie überlegte, was sie sonst noch sagen könnte, um die Unterhaltung in Gang zu halten. „Ist Jessie verheiratet?“

Chance schüttelte den Kopf. „Sie ist eher der unabhängige Typ.“ Es klang weder bewundernd noch verächtlich. Sie krochen über eine Holzbrücke, die Hallie früher am Abend auf ihrem Weg in den Ort mit ihren Kindern zu Fuß überquert hatte. „Was ist mit Ihnen, Hallie? Haben Sie einen Ehemann?“

„Nein“, antwortete sie kurz lächelnd. „Ich bin auch mehr der unabhängige Typ.“

Er lachte in sich hinein. „Ich auch.“ Einige Minuten lang fuhren sie schweigend. Johnny Cash beendete „Walk the Line“, und es folgte Marty Robbins mit „El Paso“. Eine schneebedeckte Erhebung zeichnete sich draußen am Straßenrand ab. „Ist das Ihr Wagen?“, fragte Chance.

Hallie bestätigte es. Sie hatte ihre Sachen dort gelassen, weil sie nach der Panne mit den Kindern genug zu tun gehabt hatte. Sie erschauerte bei der Erinnerung daran, wie viel Angst sie gehabt und wie sehr sie gefroren hatte.

Chance hielt, ohne von ihr dazu aufgefordert worden zu sein, hinter dem zerbeulten Pick-up. „Ich nehme an, Sie haben noch Sachen da drin.“

„Einen Koffer“, sagte sie.

„Das ist alles?“

Kiley meldete sich zu Wort. „Elmo ist da auch noch. Ich wette, der friert.“

Ja, dachte Hallie. Elmo. Sie hatte ein Vermögen ausgegeben für dieses Stofftier, als sie im Wal-Mart für sich und die Kinder Kleidung gekauft hatte. Aber schließlich hatten Kiera und Kiley alles, was sie besaßen, zurücklassen müssen.

„Ganz sicher“, meinte Chance. Er stieg aus dem Wagen und stapfte durch den Blizzard zu dem anderen Pick-up. Er öffnete die Tür und verschwand für einige Minuten im Innern, ehe er mit Elmo und dem erbärmlichen Plastikkoffer wieder auftauchte.

„Ich werde morgen früh noch mal herfahren und mir den Motor ansehen“, versprach er, nachdem er Kiley das Stofftier überreicht und den Koffer hinter dem Sitz verstaut hatte. „Vielleicht bekomme ich ihn ja wieder zum Laufen.“

Hallie verstand überhaupt nichts von Automechanik, hielt den Pick-up jedoch für einen hoffnungslosen Fall, da sie sich an einige der Bemerkungen erinnerte, die Lou gemacht hatte, während er am Motor bastelte. Nur war sie zu müde, um etwas zu sagen, außerdem sollten die Zwillinge sich nicht unnötig noch mehr Sorgen machen. Ihre Welt war ohnehin schon genug aus den Fugen geraten.

„Okay“, sagte sie nur und fügte schnell hinzu: „Ich habe aber kein Geld für Ersatzteile oder Arbeitskosten.“

Er legte den Gang ein und fuhr wieder zurück auf den Highway. „Könnte doch sein, dass es nichts Ernstes ist.“

Die Frontscheibe war fast undurchsichtig, denn es schneite jetzt noch stärker. „Wie können Sie etwas sehen?“, fragte sie und kniff die Augen zusammen.

„Ich könnte diese Straße im Schlaf fahren“, erwiderte er. „Ich wohne schon mein ganzes Leben hier.“

Eine Reihe von Briefkästen tauchte aus dem undurchdringlichen Weiß auf, und sie bogen in einen holprigen Weg ein. Hallie konnte den Fluss nicht sehen, aber sie hörte ihn rauschen. Irgendwann blieben sie vor einem Gebäude stehen, das nach einem zweistöckigen Blockhaus aussah.

„Warten Sie hier“, sagte Chance. „Ich mache Licht an und drehe die Heizung ein bisschen auf.“

Hallie wartete. Sie hielt ihre Töchter fest in den Armen und genoss die Wärme, die unter dem eleganten Armaturenbrett aufstieg. Ein Licht ging im Haus an, dann noch eines, und etwas wie bittersüße Hoffnung glomm in ihrem Herzen auf. Unbewusst legte sie die Hand auf die Brust, als wollte sie dieses Gefühl daran hindern, zu fliehen.

„Wo ist das Pferd?“, wollte Kiley wissen.

Hallie lachte. „Im Stall vermutlich.“

„Darf ich es reiten?“, rief Kiera.

„Ich kann nichts versprechen“, antwortete Hallie.

Kiley seufzte in vorübergehender Resignation und kuschelte sich an ihre Mutter. Hallie genoss es, sie so nah bei sich zu haben, beide Kinder sicher in den Armen halten zu können. Überhaupt hatte sie in den vergangenen zwei Tagen die kleinen, einfachen Dinge schätzen gelernt.

Genau zur richtigen Zeit, nach zwei weiteren Johnny-Cash-Balladen und einem Patsy-Cline-Medley, kam Chance aus dem Haus zurück und öffnete die Beifahrertür.

„Es ist noch ziemlich kalt drinnen“, erklärte er. „Aber die Heizung läuft, also wird es wohl schnell warm werden. Für morgen früh habe ich schon das Holz für ein Feuer vorbereitet.“

Hallie war gerührt vor Dankbarkeit und Erleichterung. „Danke.“

Er hob Kiley auf den einen und Kiera auf den anderen Arm. „Mal sehen, ob das mit Ihrer Dankbarkeit anhält, nachdem Sie Trojan kennengelernt haben“, meinte er grinsend.

„Trojan?“, rief Hallie und trat buchstäblich in seine Fußspuren, als sie zum Haus stapften.

„Er ist ein Miniaturpferd, bei manchen auch bekannt als Jessies Macke.“ Er blieb auf der Veranda aus ungehobelten Holzbrettern stehen. „Sie hat auch große Pferde. Eine Stute namens Dolly und einen alten Wallach, den sie Sweet Pea nennt, Süße Erbse. Ein Wunder, dass der arme Kerl bei so einem Namen noch nicht vor Verlegenheit eingegangen ist.“

Hallie versuchte, sich vorzustellen, wie sie diese Tiere fütterte, die Boxen ausmistete und sie striegelte. Ihr wurde ein bisschen flau bei dieser Aussicht, da sie sich in ihrem bisherigen Leben nicht einmal um einen Goldfisch gekümmert hatte.

Dann waren sie im Haus mit dem über zwei Stockwerke hinaufreichenden Steinkamin, den gewebten Teppichen und rustikalen Möbeln. Bunte Webteppiche schmückten die ansonsten kahlen Blockbohlenwände, komplizierte und überaus kunstvolle Porträts indianischer Frauen, kunstvolle Darstellungen. Gegenüber vom Kamin befand sich ein Schreibtisch, auf dem unter einer Plastikabdeckung ein Computer stand.

Der Fußboden bestand aus glänzenden, von der Zeit ausgeblichenen Kiefernbrettern, und in einer Ecke, umgeben von lauter Fenstern, befand sich ein riesiger Webstuhl, der antik aussah. Eine Treppe führte hinauf zu einer Art Zwischengeschoss, auf dem es sechs Türen gab.

„Zur Küche geht es hier entlang“, sagte Chance und deutete zu einem Durchgang auf der rechten Seite. „Und dort neben der Treppe ist das Badezimmer. Die Schlafzimmer befinden sich alle im ersten Stock, dort gibt es auch ein weiteres Badezimmer. Im Wäscheschrank werden Sie Bettwäsche und Handtücher finden. Morgen früh müsste es auch warmes Wasser geben.“

Hallie drehte sich langsam um die eigene Achse, um alles aufzunehmen. Die einzelnen Fäden der Webteppiche schienen vor Energie zu vibrieren, und obwohl es im Haus erst langsam warm zu werden begann, empfand sie die Atmosphäre wie eine Umarmung.

Kiera ging zu den zum Garten hin liegenden Erkerfenstern. „Hier“, verkündete sie mit Bestimmtheit und breitete die kleinen Arme aus, „kommt der Weihnachtsbaum hin.“

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