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Neues Glück in Willow Cottage

Beth hat das Cottage mit der knorrigen alten Weide im Vorgarten spontan auf einer Auktion gekauft - ohne es vorher gesehen zu haben. Ein Zufluchtsort für sich und ihren kleinen Sohn. Aber jetzt stellt sie fest: Es zu ihrem Zuhause zu machen wird sehr viel Arbeit werden. Dann lernt sie Jack kennen, der irgendwie immer da ist, wenn Beth Hilfe braucht. Doch sie merkt auch, dass es einfacher ist, ein Haus zu renovieren, als ein gebrochenes Herz zu kitten.

»Ich habe es geliebt! Wunderbar erzählt und eine zauberhafte Geschichte - ein toller Roman!« Leserstimme


  • Erscheinungstag: 04.01.2019
  • Seitenanzahl: 480
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955768607
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Danksagung

Ein Riesendank geht an Charlotte Ledger und Caroline Kirkpatrick, von denen die Idee zum Gerüst dieser Story kam, und die hervorragende Arbeit als Lektorinnen geleistet haben. Dank gilt auch meiner Agentin Kate Nash, die mich stets in die richtige Richtung lenkt. Mein besonderer Dank geht an Kim Leo und Alex Allden für das wundervolle Cover.

Außerdem bedanke ich mich ganz besonders bei meinen technischen Experten: Sarah Butt und Helen Cottingham, und bei allen vom Rugby Deaf Club für ihre Freundlichkeit und dafür, dass sie ihre Erfahrung mit mir geteilt haben. Dank auch an Charlotte Hancock für ihren Rat hinsichtlich der Grundschulrichtlinien sowie Eamonn Finnerty vom Belgrad Theatre, Coventry, für Informationen über in Gebärdensprache übersetzte Theaterstücke. Vielen Dank an Helen Phifer, die mich mit den Polizeiprozeduren vertraut gemacht hat, an Leo Fielding für Informationen über Notrufe sowie an Dr. David Boulton für die Beantwortung meiner medizinischen Fragen. Danke ebenfalls an Ruth Hooton, die meine irische Ausdrucksweise überprüft hat. Und besonderer Dank geht an meinen Minecraft-Guru Grace.

Mein von Herzen kommender Dank gilt all jenen, die mir ihre Erfahrungen mit häuslicher Gewalt geschildert haben – ich bewundere euren Mut.

Dank schulde ich auch meinem erstaunlichen Grammatik-Guru Chris Goodwin.

Ohne die Unterstützung meiner schreibenden Freunde von der Romantic Novelists’ Association (RNA), vor allem der Ortsgruppe Birmingham, wäre ich längst verrückt geworden – euch also auch vielen Dank dafür, dass erhalten bleibt, was noch von meinem Verstand übrig ist. Danke auch an meine andere Gruppe mich unterstützender Schriftstellerinnen von Gill Vickery’s Writing Fiction-Kurs. Noch mehr Dank an alle vom Boozy Book Club für eure Unterstützung und, natürlich, für Wein und Knabbereien.

Ein dickes Dankeschön geht an meine schreibende Patentante Katie Fforde, die stets zur Stelle war, wenn ich sie brauchte.

Dank und Umarmungen an die wundervolle Unterstützung der Blogger-Gemeinde, den unbesungenen Helden der Bücherwelt – ihr seid alle toll!

Ganz dolle Umarmung und Dank an meine wunderbare Familie, die immer für mich da ist und mir hilft, mich an der wirklichen Welt ebenso zu erfreuen wie an meiner erfundenen. Dank an meinen Mann und an meine Tochter, die sich nie beklagen und sich selbst versorgen, wenn ich »in der Zone« bin.

Zu guter Letzt danke ich all meinen lieben LeserInnen, die sich die Zeit nehmen, mein Buch zu lesen.

Erinnerung an eine wirklich erstaunliche Frau,
meine Grandma 1903–1993

1. Kapitel

Beth hatte den Tag umgeben von Leuten verbracht, die ihrer Meinung nach alle ganz genau wie ihre Passbilder aussahen – niemand hatte auch nur ansatzweise ein Lächeln auf den Lippen. Beth gähnte und streckte ihre Arme über den Kopf; sie hatte einen langen Tag gehabt.

»Geboten von der Dame rechts«, sagte der Auktionator und fuhr mit seinem Hochgeschwindigkeits-Zahlensingsang fort.

Beth schaute sich erschrocken um. Sie saß rechts, aber das konnte doch nicht sie gewesen sein, oder? Niemand um sie herum bewegte sich oder zeigte auch nur die leiseste Regung. Ihr Herz raste, und sie fühlte Panik in sich aufsteigen.

»Zwo-neunzig dort hinten«, sagte der Auktionator, und Beth seufzte erleichtert. Noch mal Glück gehabt.

»Bietet irgendwer mehr als zwo-neunzig?« Der Auktionator sah Beth an.

Auf was hatte sie eigentlich geboten? Sie nahm den Katalog und blätterte darin, vorbei an ihrer ersten Wahl an Apartments, die sie hatte kaufen wollen, was ihr Budget jedoch bei Weitem überstiegen hätte.

»Verkauft für zwo-neunzig«, verkündete der Auktionator und sah zu jemandem in den hinteren Reihen. »Grundstück 37, Willow Cottage, verkauft für zweihundertneunzigtausend Pfund.«

Beth fand Willow Cottage im Katalog und überflog den Text. Es klang nach einem Stückchen vom Paradies – ein Cottage mit Blick über eine Dorfwiese im Herzen Cotswolds. Sie biss sich auf die Lippe. Es war wie dieser Augenblick bei eBay, wenn einem etwas gefällt: Es ist nicht exakt das, was man gesucht hat, doch der Wunsch, dieses Schnäppchen zu bekommen und als Gewinner dazustehen, ist plötzlich stärker als alles andere.

»Verkauft für den Preis von zweihundertneunzigtausend Pfund, zum Ersten, zum Zweiten …«

Beth wedelte mit ihrer Bieterkarte. »Dreihunderttausend«, krächzte sie und fragte sich, was um alles in der Welt sie da tat. Sie sollte auf die Versteigerung der Apartments ihrer zweiten Wahl warten.

»Dreihunderttausend zu meiner Rechten, danke«, sagte der Auktionator. Er hielt einen Moment inne, um weiteren Bietern eine Chance zu lassen, und verkündete dann: »Verkauft an die Lady zu meiner Rechten mit der verkehrt herum hochgehaltenen Bieterkarte.« Der Hammer erzeugte einen dumpfen Laut, als er aufs Holz niedersauste.

»Sie haben Ihr Ziel erreicht«, verkündete das Navigationsgerät mit einer unumstößlichen Zuversicht. Beth hielt mit dem Mietwagen am Bordstein, stellte den Motor ab und sah sich um. Sie parkte neben einer großen Rasenfläche, auf der vereinzelt Bäume standen, und die eingefasst war von beeindruckenden alten Gebäuden unterschiedlicher Größe.

Beth nahm den Auktionskatalog, betrachtete das körnige kleine Foto und las die Beschreibung darunter noch einmal – Willow Cottage befindet sich in einer abgeschiedenen Lage, mit Blick auf die Dorfwiese des malerischen Dorfs Dumbleford in den Cotswolds. Günstige Gelegenheit, dieses frei stehende Haus zu erwerben. Grundstück circa 0,6 Hektar groß, mit einem Bach, der durch das Areal fließt. Renovierungsbedürftig.

Irgendwo in ihrem Hinterkopf erinnerte Beth sich daran, wie ein bestimmter Jemand gesagt hatte, er würde ums Verrecken nicht auf dem Land leben wollen. Jetzt kam ihr das wie eine zusätzliche Belohnung vor. Sie drehte sich zum Rücksitz um. Leo erwachte gerade, nachdem er die Fahrt über geschlafen hatte, und lächelte sofort, als er seine Mutter erblickte. Der Sechsjährige war eigentlich schon zu groß für seinen Kindersitz, sie würde ihn bald durch eine einfache Sitzerhöhung austauschen müssen. Doch vorerst wollte Beth ihren Sohn im sicheren Kindersitz lassen.

»Ich wünschte, du hättest mein iPad mitgebringt«, sagte Leo und streckte sich.

»Tut mir leid, ich konnte es nicht finden. Und ›mitgebracht‹ ist die richtige Vergangenheitsform von ›mitbringen‹. Okay?« Was lernten die Kinder auf diesen Privatschulen eigentlich? »Wollen wir uns mal unser neues Zuhause anschauen?« Sie wedelte aufgeregt mit dem Zettel, auf dem die Auktionsdetails standen.

Leo gähnte und streckte sich erneut. »Ich hab Hunger, Mum.«

Beth hatte damit gerechnet, kramte im Kofferraum nach einer kleinen Tüte getrockneter Mangostücke und gab sie Leo, als er aus dem Wagen stieg. Sie ging vor ihm in die Hocke und zeigte ihm das Foto von Willow Cottage auf dem Auktionsbogen.

»Jetzt müssen wir unser Cottage nur noch finden. Was meinst du, welches ist es?«

Sie betrachteten das kleine Foto. Zu sehen waren zwei der Außenwände, die in einem spitzen Winkel aufeinandertrafen. An der einen Seite des Cottage schien sich elegant eine Kletterpflanze hochzuranken. Im Vordergrund war ein großer Garten mit einem mächtigen Weidenbaum zu sehen. Das Foto war schlecht belichtet und deshalb nicht viel mehr darauf zu erkennen.

»Es kann doch nicht allzu schwer sein, ein Cottage mit einem solchen Baum im Vorgarten zu finden, oder?«

Leo schüttelte den Kopf, während er sich ein weiteres Mangostückchen in den bereits vollen Mund schob. Dann drückte er seiner Mutter die leere Packung in die Hand. Gemeinsam gingen sie über die Wiese, um sich jedes Haus anzusehen.

»Es gibt keine Schaukeln im Park«, bemerkte Leo.

Beth lachte. »Das ist kein Park, sondern die Dorfwiese. Die ist eher wie ein großer Garten.«

»Wem gehört der Garten?«, wollte Leo wissen.

»Er gehört niemandem und allen. Jeder darf ihn benutzen.«

»Ah«, sagte Leo und wirkte ein wenig perplex von dieser Idee und der vermutlichen Nutzlosigkeit einer solchen Fläche ohne Schaukeln.

Tatsächlich handelte es sich um ein wunderhübsches Dorf, fand Beth, während sie sich umschaute. Die Dorfwiese selbst war die größte, die sie je gesehen hatte. Sie war von ausgetretenen Pfaden durchkreuzt und mit verschiedenen uralten Bäumen bestückt, für deren Identifizierung sie Leos Naturbuch würde zurate ziehen müssen. Gepflegte Bänke, die keine einzige Spur von Graffiti aufwiesen, waren an exakt den Stellen platziert, die zum Verweilen einluden. Das ganze Gelände war von einem hübschen weißen Maschendrahtzaun eingefasst, der sich von einem Pfosten zum anderen zog. Ein gigantisches Gebäude im Pseudo-Tudorstil hatte eine herausragende Lage inne, mit Blick auf das Zentrum der Grünfläche; zu beiden Seiten dahinter, leicht zurückgesetzt, standen zwei sehr symmetrische Backsteingebäude, die so wirkten, als wüssten sie genau, wer wo seinen Platz hatte.

»Taube!«, rief Leo aufgeregt, als er eine Strohfigur auf einem der reetgedeckten kleineren Häuser sah.

Ein weiteres Zeichen dafür, dass ihr Sohn in London geboren und aufgewachsen war. »Nein, ich glaube, das soll ein Pfau sein«, erklärte Beth und betrachtete die seltsam geformte Figur mit dem langen Schwanz. Ein kleiner Teich war das Zuhause einer Handvoll fetter Enten und auch einiger Entenküken. Es gab eine Teestube, die eher aussah wie ein umgebautes Cottage. Der einzige Hinweis, der auf eine Gastwirtschaft in dem Gebäude vermuten ließ, war ein hin- und herschwingendes Schild in Form einer großen Teekanne. Vor jedem Fenster waren strahlend weiße Läden angebracht, wodurch es sich von den anderen, weniger schmucken Häusern abhob. Am anderen Ende der Grünfläche befand sich der Dorfladen mit Postfiliale, der die zweite Hälfte eines sehr hübschen Doppelhauses mit einem durch einen weißen Zaun begrenzten Vorgarten bildete. Beth betrachtete das kleine Foto noch einmal. Nein, Willow Cottage sollte ein frei stehendes Haus sein, und von einem Baum war dort auch nichts zu sehen. Neben dem Laden lag der Pub – Zum Blutenden Bären. Vor dessen Eingang war ein Schild zu sehen, das einem Sechsjährigen leicht Albträume verursachen konnte, weshalb sie schnell daran vorbeigingen. Als sie sich dem Mietwagen wieder näherten, wurde ihr klar, dass sie im Kreis gegangen waren. Sie schaute sich um und entdeckte ein verziertes Schild, auf dem klar und deutlich »DUMBLEFORD« stand, also befanden sie sich am richtigen Ort. Aber wo war Willow Cottage?

Eine Glocke klingelte und kündigte an, dass die Tür des Dorfladens geöffnet wurde. Beth und Leo sahen eine von Kopf bis Fuß in Beige gekleidete Gestalt herauskommen, die einen karierten Trolley hinter sich herzog.

»Lass uns jemanden fragen«, sagte Beth und ging mit Leo auf die über den Trolley gebeugte Gestalt zu. »Entschuldigung, können Sie mir sagen, wo ich Willow Cottage finde?«

Die in Beige gekleidete alte Dame richtete sich unvermittelt auf und legte die Hand auf ihr Herz. Sie war kaum größer als ihr Trolley. »Ach du meine Güte, Sie haben mich vielleicht erschreckt!«, rief sie und fing an, in ihrem Trolley zu kramen. Sie brachte eine Flasche Sherry zum Vorschein, schraubte den Verschluss ab und trank einen großen Schluck. Beth wusste, dass sie sie vor Erstaunen gerade anstarrte, und sie hatte keine Ahnung, wie sie sich verhalten sollte. Leo hingegen war fasziniert. Die Lady schien die Flasche wieder verstauen zu wollen, besann sich dann aber und hielt sie Beth entgegen.

»Verzeihen Sie meine Manieren, Schätzchen. Möchten Sie einen Schluck?«

»Äh, nein, danke.«

Die Lady zuckte mit den Schultern und ließ die Flasche wieder im Inneren ihres Trolleys verschwinden, wobei sie dessen Klappdeckel liebevoll tätschelte. Dann richtete sie sich so gerade auf, wie ihre Größe es zuließ, und zeigte Beth ein mit falschen Zähnen geschmücktes Grinsen. Keiner von beiden sagte etwas. Beth lächelte unsicher zurück. Die Lady hob eine Braue und neigte sich auf den Zehen etwas nach vorn, als wollte sie etwas sagen. Beth und Leo sahen sie erwartungsvoll an.

»Willow Cottage?«, wiederholte Beth, als sie die Spannung nicht länger aushielt.

Die alte Dame fing an zu lachen; es war ein keckes Lachen, eher ein Kichern, das perfekt zu ihrer Größe passte. Sie trat einen Schritt nach vorn und gab Beth einen sanften Stups in den Bauch. »Ach, ich Dummerchen. Natürlich.« Sie hörte auf zu lachen und runzelte die Stirn. »Wer will das wissen?«

Beth schüttelte leicht den Kopf. Sie wusste nicht, was hier vor sich ging, und ein Unbehagen machte sich in ihr breit, das ihr gar nicht gefiel. Eigentlich hatte sie geglaubt, eine ganz einfache Frage gestellt zu haben, auf die eine ganz simple Antwort genügt hätte.

»Ich bin Beth …« Sie hielt einen Moment inne und entschied dann spontan, ihren Namen ein klein wenig zu ändern. »Beth Browne. Ich habe Willow Cottage gekauft.« Es laut auszusprechen entlockte ihr ein Lächeln. Es klang so perfekt. Es war das letzte Haus, das sie hatte kaufen wollen, als sie die Auktion besuchte, doch nachdem die vernünftig aussehenden Wohnungen ihr schon weggeschnappt worden waren, für mehr Geld, als sie hatte zahlen wollen, traf sie die spontane Entscheidung, auf ihr Herz zu hören. Das Ergebnis war Willow Cottage.

»Wie bitte?«, sagte die alte Lady und verzog das faltige Gesicht, sodass es aussah wie ein zerknülltes Pergament.

Beth gab ihr das Maklerblatt, zeigte mit einem makellos manikürten Fingernagel auf das Foto und wiederholte langsam: »Wil-low Cot-tage.«

Die kleine alte Lady betrachtete die Seite und fing erneut an zu lachen. Diesmal war es eher ein hysterisches Gekicher, das in Wellen aus ihr hervorbrach. Beim Lachen wippte ihr Kopf, sodass ihr Mopp aus unordentlichen weißen Haaren wie Rauch aufwirbelte.

»Mum, können wir gehen?«, flüsterte Leo und klammerte sich an die Hand seiner Mutter.

Doch die Lady war schon losgelaufen, kichernd und kopfschüttelnd, quer über die Rasenfläche. Toller Anfang, dachte Beth. Runde eins ging an die örtliche Obdachlose.

»Schon gut, Leo. Fragen wir mal im Laden nach.«

Die klingende Türglocke begleitete ihr Eintreten in den kleinen düsteren Laden, der bis oben hin mit Waren vollgestopft war. Beth glaubte, eine Bewegung im hinteren Teil gesehen zu haben, und ging mit Leo einen engen Gang entlang in Richtung des Lebenszeichens. Eine fröhlich aussehende, rundgesichtige Frau kam in Sicht. »Hallo, was kann ich für Sie tun? Wir haben sehr viele aktuelle Angebote.«

»Danke, aber ich hoffe, Sie können mir helfen.« Der fröhliche Gesichtsausdruck der Frau ließ deutlich nach. »Ich bin auf der Suche nach Willow Cottage.«

Die Augenbrauen der Frau schossen in die Höhe, und sie legte den Kopf schief wie ein wachsamer Cockerspaniel. Ihre gewellten braunen Haare unterstrichen diesen Vergleich. »Willow Cottage?«

Beth nickte. Schon wieder stieg dieses Unbehagen in ihr auf.

»Willow Cottage«, wiederholte die Frau. »Oh, Sie meinen Wilfs Haus?«

Leo sah seine Mutter an, die wiederum die Frau hinter dem Tresen anblickte. »Ich weiß nicht, wer vorher darin gewohnt hat, aber jetzt gehört es uns.«

Die Brauen der Frau hoben sich noch ein Stückchen, und ihre Miene spiegelte so etwas wie Mitgefühl wider. »Seitlich am Pub nebenan vorbei.«

»Aha. Danke.« Beth war froh, dass sie definitiv im richtigen Ort waren, aber wie sie das Cottage hatten verfehlen können, war ihr ein Rätsel. Sie erinnerte sich nicht daran, neben dem Pub etwas anderes als eine Einfahrt gesehen zu haben, von der sie angenommen hatte, sie führe zum Parkplatz des Pubs.

»Sind Sie sicher, dass ich Sie nicht für den Kauf von …« Die Frau suchte hektisch die Regale mit Blicken ab. »… heruntergesetzten Nudeln begeistern kann? Das Haltbarkeitsdatum ist erst kürzlich abgelaufen.«

»Nein, wir haben alles, danke. Aber ich bin mir sicher, dass wir schon bald hier Stammkunden sein werden.«

»Reizend«, sagte die Frau sofort wieder fröhlicher. »Oh, und viel Glück.« Da war der mitfühlende Cockerspaniel-Gesichtsausdruck wieder.

Beth und Leo verließen den Laden, erneut begleitet vom Klingen der Türglocke, und gingen nun gezielt seitlich am Pub vorbei. Leo starrte das Kneipenschild mit offenem Mund an – es zeigte einen Furcht einflößenden Bären in Ketten, der aus zahlreichen Wunden blutete. An der anderen Seite des Pubs führte ein Kiesweg vorbei. Am Ende der Zufahrt erkannte Beth einen wacklig aussehenden Gartenzaun, hinter dem hohes strohartiges Gras wuchs und eine Weide stand.

»Wir haben es gefunden«, sagte Beth und zerrte Leo beinahe hinter sich her. Je näher sie kamen, desto mehr konnten sie von der Weide sehen. Das war aber auch alles, was sie sehen konnten. Der Baum war riesig. Beth und Leo standen davor und betrachteten das sich sanft im Sommerwind wiegende Blätterwerk.

»Wow, das ist der größte Baum, den ich je gesehen habe!«, rief Leo und sah die Weide an, als wollte er sich jedes einzelne hellgrüne Blatt einprägen. Der Baum war beeindruckend, aber Beth brannte eher darauf, das Cottage zu sehen. Sie öffnete die Gartenpforte, die nur durch ein Band gehalten wurde, und unmittelbar ins Gras fiel, als Beth sie losließ.

Sie betrachteten die Überbleibsel. »Na ja, was soll’s«, sagte Beth, nach wie vor voller Hoffnung, während sie und ihr Sohn über die kaputte Pforte stiegen und um die Weide herumgingen. Der Anblick, der sich ihnen bot, ließ sie unvermittelt stehen bleiben. Beth schluckte; das war nicht das, was sie erwartet hatte.

Carly stand in der Küche ihrer kleinen Wohnung und las den Text erneut. Er war in drei Nachrichten unterteilt, weil ihr uraltes Handy keine langen Textnachrichten anzeigen konnte. Sie hatte eine unnatürliche Abneigung gegen Technik, weshalb sie ihr Handy auch nur jetzt erst eingeschaltet hatte.

Hi Carly, ich habe bei der Auktion ein Cottage gekauft – yeah! Es liegt ein bisschen weiter entfernt, als ich dachte – nämlich in den Cotswolds. Bitte sag noch niemandem etwas, damit es sich nicht bis zu Nick herumspricht. Die Übergabe müsste bereits in einigen Tagen erfolgen, weil ich bar bezahle und den gleichen Notar in Anspruch nehme wie der Verkäufer. Da ich es nicht abwarten kann, werden wir es uns morgen früh ansehen. Ich melde mich, sobald wir eine Unterkunft gefunden haben. Ich vermisse dich schon. Beth & Leo xx

Ein bisschen weiter weg? Die Cotswolds lagen irgendwo im Norden, oder? Carly war sich nicht sicher, sie wusste nur, dass es von Kentish Town, London ziemlich weit entfernt war. Sie stieß einen Seufzer aus, der ihren Lippen, wie bei einem prustenden Kind, ein laut flatterndes Geräusch entlockte. Sie vermisste Leo bereits, dabei hatte sie ihn vor drei Tagen erst gesehen. Carly liebte ihr Patenkind, und da sie in nächster Zeit wenig Hoffnung auf ein eigenes Kind hatte, war er ihr eine Art Ersatz. Sosehr Leo ihr fehlte, für Beth galt das erst recht. Sie verstand, weshalb Beth hatte abreisen müssen, leichter wurde es dadurch aber nicht.

»Die Cotswolds?«, murmelte sie. Das war ja nicht einmal eine Stadt, oder? Bloß ein riesiges Stück Landschaft irgendwo am Ende der Welt. Sie würde sich das später auf der Landkarte ansehen.

Carly schenkte sich ein großes Glas Chablis ein und ein weiteres für Fergus. Dann warf sie rasch einen Blick auf die Veggie-Pasta, die im Ofen goldbraun gebacken wurde und fröhlich blubberte.

Sie öffnete die Tür zum Gästezimmer. »Abendessen.«

Ein drangsalierter Fergus steckte den Kopf zur Tür heraus. »Gib mir zehn Minuten, ja?« Er warf ihr eine Kusshand zu und verschwand wieder.

»Der Nudelauflauf wird dir keine zehn Minuten geben, Idiot«, murmelte sie und trank einen großen Schluck Wein. Sie hatte die Nase voll. Sie liebte Fergus, aber sie hockten jetzt seit drei Jahren aufeinander, und es sah immer noch nicht danach aus, als würde er ihr einen Antrag machen. Sie hatte natürlich Anspielungen gemacht und sehnsüchtig in Juwelierschaufenster hineingesehen, doch er reagierte vollkommen unsensibel und bekam nichts mit. Carly wünschte, sie könnte den Gedanken an Hochzeiten und Eheschließungen fallen lassen und sich damit zufriedengeben, dass sie ein Paar waren, denn schließlich waren sie glücklich zusammen. Doch da sie bei ihrer Großmutter aufgewachsen war, hatte sie eine zutiefst traditionsbewusste Haltung zu diesen Dingen. Sie wünschte sich Kinder und wusste, dass es Fergus genauso ging. Aber sie wollte verheiratet sein, bevor sie über Nachwuchs nachdachte. Und mehr als alles andere wollte sie eine Braut sein. Nun, wer träumte nicht von der perfekten Hochzeit?

Ein unangenehmer Duft wehte in Carlys Richtung, und sie rätselte einen Moment lang, was das war. Dann fiel ihr der Nudelauflauf wieder ein, und sie schnappte sich die Topflappen und stürzte zum Ofen. »Verdammter Mist!«

2. Kapitel

Willow Cottage stand in einer von der Sonne verdorrten Wildnis, die einst ein Vorgarten gewesen sein mochte, aber schon lange der Natur überlassen worden war. Beth arbeitete sich blinzelnd vorwärts; sie wünschte, es handelte sich um ein Hirngespinst oder wenigstens, dass es aus der Nähe ein bisschen besser aussah. Tat es nicht. Efeu und Waldrebe überwucherten die zugenagelte Haustür und zogen sich über die eine Seite des Cottage weiter über das Dach. Die Vorderseite des Hauses war ebenmäßig, was Beths Ordnungssinn ansprach. Doch wo vier Fenster hätten sein sollen, befanden sich große angenagelte Holzbretter. Auf einem Brett prangte der Schriftzug des Auktionators, zusammen mit dem Datum der Versteigerung. Ein anderes Brett schmückte ein sehr gelungenes Graffiti in Form eines pinkfarbenen Huhns.

Beth riss sich vom Anblick der vernagelten Hütte los, schaute sich das Foto auf dem Infoblatt des Auktionshauses noch einmal an, um den Blick sofort wieder auf die Hütte zu richten. Es war entweder ein gelungener Trick oder schlicht Betrug. Wie dem auch sei, sie war darauf hereingefallen.

Eine kleine Hand ergriff ihre, und sie sah auf Leo hinunter. Sein Blick ruhte auf dem, was vor ihnen lag, und wieder einmal hatte Beth das Gefühl, ihn enttäuscht zu haben.

Er grinste. »Das ist scheiße«, sagte er, und obwohl er vollkommen recht hatte, war sie geschockt von seiner Ausdrucksweise.

»Leo! Wo hast du denn dieses Wort gehört?«

»In der Schule. Und du hast es benutzt, als du mit Nick gestritten hast …«

»Tut mir leid, mein Schatz.«

»Können wir jetzt gehen, Mum?«, fragte Leo und zerrte schon an ihrem Arm.

»Noch nicht.«

»Können wir dann hineingehen?«

»Nein, im Augenblick nicht«, sagte Beth. Nicht jetzt und vermutlich nie, da es wahrscheinlich nicht sicher genug war.

Das hinderte Leo jedoch nicht daran, alles zu erkunden. Er ließ die Hand seiner Mutter los und stapfte mit großen Schritten durch das lange Gras, bis er die vernagelte Haustür erreicht hatte, die so zugewachsen war, dass man sie kaum sehen konnte. Beth folgte ihm, doch als sie näher kam, verschwand Leo in dem Dschungel neben dem Haus.

»Warte, Leo. Vorsicht!«, rief sie und wünschte, sie hätte etwas anderes als einen Rock und Schuhe mit hohen Absätzen angezogen. Leo quetschte sich zwischen der alten Mauer und der Kletterpflanze hindurch und war weg. »Leo! Autsch!«, rief sie, als sie mit ihrem nackten Bein unerwartet Brennnesseln streifte. Als sie es endlich geschafft hatte, sich ebenfalls durch die Lücke zu zwängen und sich ihre Ted-Baker-Bluse zu ruinieren, hielt sie sofort Ausschau nach Leo. Er beugte sich über einen niedrigen Drahtzaun, der eine Weide mit drei Pferden umgab, die ihn misstrauisch beäugten.

»Sieh mal, Mum, Pferde!«, sagte er und sprang vor Begeisterung auf und ab. Als er aufhörte zu hüpfen, stand Beth hinter ihm und umarmte ihn. Es war ein Ausblick zum Innehalten. Die Weide, auf der die Pferde standen, gehörte zu einem herrlichen, sanft hügeligen Stück Land, das sich hinter dem Cottage erstreckte. Man konnte meilenweit sehen. Ein kleiner Fluss plätscherte neben dem Haus; das natürliche Geräusch des Wassers beruhigte Beths Nerven sofort. Sie atmete die milde Luft ein, die einen Hauch von Lavendel mit sich brachte. Irgendwo in diesem zugewachsenen Garten musste es Lavendel geben. Der hintere Garten war deutlich kleiner als der Vorgarten, als sei das Cottage so weit wie möglich von der uralten Weide entfernt gebaut worden, ohne Rücksicht auf die beste Lage für die Bewohner. Vielleicht war dieser Ausblick aus den hinteren Fenstern in die Landschaft aber auch beabsichtigt.

Beth nahm Leo in den Arm, während er aufgeregt auf die Umgebung zeigte. Sie fühlte sich plötzlich überfordert mit allem. Was hatte sie sich eigentlich dabei gedacht, so weit von London wegzuziehen? Sie hatte nie auf dem Land gelebt, immer nur in der Stadt. Es sah ja alles sehr malerisch aus, aber Beth spürte bereits ein Kribbeln in der Nase, was womöglich auf Heuschnupfen schließen ließ. Sie wusste fast nichts vom Leben auf dem Land, und, falls das überhaupt möglich war, noch weniger von der Renovierung eines baufälligen Hauses.

Willow Cottage war von der Rückseite aus betrachtet nicht hübscher als von vorn. Hier gab es noch mehr zugenagelte Fenster und wild wucherndes Grünzeug. Beth setzte Leo wieder auf den Boden, der wie wild mit Grasbüscheln wedelte, um die Pferde anzulocken, die ihn sanftmütig betrachteten und ihr eigenes Gras kauten. Beth stand vor der Hintertür; es handelte sich um eine Stalltür, robust und aus zwei Teilen bestehend. Das war ungewöhnlich, aber es gefiel ihr. Sie trat zurück und betrachtete das alte marode Gebäude. Es war in keinem guten Zustand, aber möglicherweise sah es drinnen besser aus. Sie beschloss, noch nicht aufzugeben, und verspürte so etwas wie sanfte Zuversicht in sich aufsteigen.

»Komm mit, Leo, wir gehen irgendwo etwas trinken. Diese Teestube sah doch gut aus, und ich wette, da gibt’s leckere Scones.«

»Ja, Kuchen«, rief Leo, warf das Gras über den Zaun und zwängte sich wieder durch die Lücke neben dem Haus. Beth folgte ihm und nahm seine Hand. Als sie die Weide erreichten, teilten sich die buschartigen Zweige, und ein alter Mann kam auf sie zugestolpert. Sein Gesicht war gerötet, und er gestikulierte wild mit den Armen. Er sah mürrisch aus, wie ein kleines Baby, das man gerade aus seinem Nickerchen geweckt hatte.

»Ah!«, rief Beth, als Leo aufschrie und zu der Lücke im Gartenzaun rannte, an der sich die Pforte befunden hatte. Beth folgte ihm und drehte sich erst wieder um, als sie seine Hand in ihrer spürte und sie sich auf der sicheren Dorfwiese befanden. Leo fing an zu lachen. Angst und Adrenalin vermischten sich in Beths Innerem, und während sie gehetzt zur Weide zurückschaute, begann auch sie zu lachen.

»Wohnt der in unserem Garten?«, fragte Leo kichernd.

»Das hoffe ich nicht«, erwiderte Beth mitfühlend.

Sie lachten immer noch vor sich hin, als sie die Teestube betraten. Hier fanden sie auch den Grund dafür, dass sie bisher kaum Leute getroffen hatten – es war proppenvoll. Ein winziger Tisch links neben der Tür, auf dem die Gäste ihr benutztes Geschirr abgestellt hatten, war noch frei. Leo setzte sich, und Beth gab ihm automatisch ihr Handy, damit er darauf Spiele spielen konnte. Sie stapelte das Geschirr, so gut sie konnte, und kreierte dabei eine Art Teetassenturm, den sie, zusammen mit dem anderen Geschirr, auf dem nun beladenen Tablett zum Tresen brachte.

Gerade als sie sich umdrehte, ging die Tür auf und traf sie am Ellbogen. Das schwere Tablett neigte sich in Richtung ihres Sohnes, doch es gelang ihr, den Schwung umzulenken und die ganze Ladung auf der eintretenden Person landen zu lassen. Alles fiel spektakulär krachend auf den Boden.

»Oh, verdammt!«, rief der Mann, dem es nicht mehr gelungen war, rechtzeitig auszuweichen.

»Es tut mir schrecklich leid«, sagte Beth erschrocken und verlegen zugleich. Leo kicherte hinter ihr.

»Nun sehen Sie sich das an!«, meinte das Teetassenturm-Opfer, von dessen gebügeltem weißen Hemd nun Kaffee und Tee tropften. Beth betrachtete den Mann, der jetzt damit beschäftigt war, Kuchenkrümel von seinen Schuhen abzuschütteln. Er musste Mitte, Ende zwanzig sein, war glatt rasiert, und seine dunklen Haare schimmerten in einem eleganten kastanienbraun. Unter anmutigen dunklen Brauen leuchteten Augen vom blassesten Graublau, das Beth je gesehen hatte. Momentan funkelten sie jedoch wie Eiskristalle, während der Mann das Publikum anknurrte, das schweigend und aufmerksam die Darbietung verfolgte.

Eine Frau mit Hochsteckfrisur und geblümter Küchenschürze kam hinter dem Tresen hervor. »Ach, Jack, was ist denn passiert?«, wollte sie wissen und versuchte, seine Anzughose mit einem Schwamm abzutupfen.

»Deine neue Kellnerin hat ein Tablett nach mir geworfen.«

»Entschuldigung, aber ich arbeite hier nicht«, erklärte Beth und spürte, wie ihr vor Empörung noch ein wenig heißer wurde.

»Warum tragen Sie dann ein Tablett mit Geschirr?«, wollte Jack wissen.

»Ja, warum eigentlich?«, pflichtete ihm die Frau mit der Schürze bei.

»Ich wollte nur helfen …«, begann Beth mit leiserer Stimme als zuvor.

Jack gab einen verächtlichen Laut von sich. »Ja, großartige Hilfe.« Er schüttelte den Kopf und schaute auf die Frau mit der Schürze, die fortfuhr, seine Hose abzutupfen.

»Äh, Rhonda, das bringt nichts.«

Rhonda schien für einen Moment in ihrer eigenen kleinen Welt gefangen zu sein. »Oh, ähm, Verzeihung. Hier.« Sie hielt ihm den Schwamm hin.

»Könntest du mir bitte einen doppelten Espresso zum Mitnehmen machen? Ich bin in fünf Minuten wieder da, ich muss mich nur kurz umziehen.« Die letzten Worte sagte er in Beths Richtung, dann drehte er sich um und verließ das Teehaus.

»Ich werde dafür bezahlen, auch für das zerbrochene Geschirr«, bot Beth an.

»Ist schon in Ordnung, Unfälle passieren eben«, entgegnete Rhonda. Beth ging in die Hocke, soweit das in dem engen Rock möglich war, und fing an, das zerbrochene Porzellan aufzusammeln.

Sie war dankbar für Rhondas mitfühlendes Lächeln. »Keine Sorge, Maureen wird das aufheben.« Eine große Lady, die definitiv Anwärterin auf einen Käfigkampf 60 plus sein könnte, falls es etwas Derartiges gab, kam hinter dem Tresen mit Handfeger und Kehrblech hervor.

Beth ging zu dem kleinen Tisch zurück und ließ sich auf einen der Stühle sinken. Während Maureen sauber machte, widmeten sich die Gäste des Teehauses wieder ihren Getränken. Beth wartete geduldig, Leo ließ die Beine baumeln und gab genervte Laute von sich. Das Teehaus hatte auch im Innenraum diesen altertümlichen Charme, den Beth bereits von außen bewundert hatten. Das Geschirr passte nicht zusammen, und die schlichten Holztische und Stühle bekamen durch Bauwollkissen in verschiedenen Farben einen besonderen Reiz.

Aus dem Fenster hatte man einen guten Ausblick auf das Dorf; ein Wagen rollte vorbei und hielt, um die Enten die Straße überqueren zu lassen, ehe er über die Furt und aus dem Dorf hinausfuhr. Beth schaute auf die Uhr. Sie musste für sich und Leo irgendwo ein Zimmer für die Nacht finden, aber seit sie von der Autobahn abgefahren waren, hatte sie keine Hotels mehr gesehen.

»Was wollen Sie?«, erkundigte Maureen sich in mürrischem Ton und hielt Bestellblock und Stift bereit.

»Einen Cranberrysaft und eine koffeinfreie Cola, bitte«, antwortete Beth mit ihrem besten Es-tut-mir-leid-Lächeln.

Maureen starrte sie an, und ein Muskel neben ihrem Auge zuckte. Sie klopfte auf die laminierte Karte auf dem Tisch. »Tee, Kaffee, heiße Schokolade, Limonade oder Sirup mit Wasser.«

»Oh«, sagte Beth eilig und machte sich mit der Karte vertraut. »Ist es zuckerfreie Limonade?«

»Nein.«

»Welche Geschmacksrichtungen gibt es vom Sirup?«

»Orange«, sagte Maureen. Am Auge zuckte es erneut.

»Heiße Schokolade, heiße Schokolade«, forderte Leo in einem Singsang.

»Hm.« Hastig las Beth die Karte noch einmal. »Dann nur zwei Eiswasser, bitte.«

Maureen machte sich nicht die Mühe, das aufzuschreiben. Sie schob ihren Block in die Schürzentasche und marschierte hinter den Tresen. Beth stieß einen Seufzer aus. Das lief nicht gut. Ein Paar ging nach vorn, um zu zahlen, und obwohl Beth die Unterhaltung nicht hören konnte, war sie sich ziemlich sicher, dass über sie geredet wurde. Mehrere verstohlene Blicke über die Schulter, begleitet von verstimmten Lauten, die Maureen von sich gab, bestätigten ihren Verdacht.

Die Tür ging auf, und Jack kam herein. Er trug einen ähnlichen, gut sitzenden dunklen Anzug und sah trotz der finsteren Miene sehr attraktiv aus. Entschlossen ging er an den Tresen, um seinen Espresso abzuholen. Als Beth ihn seine Brieftasche zücken sah, stürzte sie zu ihm.

»Das bezahle ich«, erklärte sie und öffnete ihre Handtasche. Als sie aufschaute, merkte sie, dass sie um ein Haar erneut mit Jack zusammengestoßen wäre. »Oh, Verzeihung.«

Jack schüttelte den Kopf. »Blöde Touristen«, murmelte er, ging an ihr vorbei und verließ die Teestube wieder. Verlegen bezahlte Beth mit einer Zehn-Pfund-Note, und Rhonda gab ihr schweigend das Wechselgeld sowie zwei Gläser Leitungswasser.

»Könnten Sie mir bitte sagen, wo ich das nächstgelegene Hotel finde?«

»Es gibt ein Bed & Breakfast an der Südseite der Dorfwiese, und dann wäre da noch der Pub Zum Blutenden Bären«, sagte Rhonda. »Im Bear gibt es ein großartiges Frühstück.«

»Aha. Danke. Und wo wäre wohl das nächste Hilton oder Marriott?«

Rhonda überlegte einen Moment. »In Tewkesbury, glaube ich, aber Cheltenham liegt näher, und da gibt’s Hotels.«

»Danke«, sagte Beth und kehrte mit den Gläsern zu Leo zurück.

»Was ist mit einem Scone, Mum?«, fragte er und sah völlig unbeeindruckt aus von dem Glas Wasser mit dem einsamen Eiswürfel darin.

»Nicht jetzt, Leo. Lass uns austrinken und gehen.«

Einige kurze Anrufe später wusste sie, dass dank eines Mittelalter-Festivals weder in Tewkesbury noch Cheltenham oder sonst wo in der näheren Umgebung ein Hotelzimmer frei war. In einem Bed & Breakfast zu übernachten würde nie die erste Wahl sein für Elizabeth Thurlow-Browne. In dem Dörfchen Dumbleford schien es jedoch nur äußerst begrenzte Möglichkeiten zu geben, und im Vergleich zu dem Bed & Breakfast klang der Pub Zum Blutenden Bären noch weniger verlockend, trotz des empfohlenen Frühstücks.

Glücklicherweise war die Vermieterin des B&B sehr freundlich und scharf darauf, Gäste für die Nacht zu gewinnen. Sie wuselte geschäftig umher und drückte Leo Faltblätter über die lokalen Sehenswürdigkeiten in die Hand.

»Morgen läuft der Morris-Wettbewerb auf der Dorfwiese. Das wird Ihnen gefallen!«, versicherte sie. Leo gähnte herzhaft.

»Morris? Sind das nicht diese lustigen kleinen Autos?«, fragte Beth.

Die Vermieterin lachte. »Nein, es geht ums Tanzen. Den Morris Dance. Der ist sehr beliebt hier in der Gegend. Vielleicht können Sie mitmachen, wenn Sie Glück haben!«

Etwas Schlimmeres konnte Beth sich kaum vorstellen.

Sie setzte Leo vor den kleinen Fernseher und lief hinaus zum Mietwagen, um ihren Koffer und Leos Rucksack voller Spielzeuge zu holen. Da es schon dunkel war, nahm sie außerdem ihren pinkfarbenen Einhorn-Onesie aus dem vollgestopften Auto und schob ihn sich unter den Arm. Der Wagen war weiter weg geparkt, als sie gedacht hatte, deshalb musste sie auf ihre Schritte achten, während sie sich gleichzeitig mit dem Gepäck in der Dunkelheit abmühte.

Den Hund sah sie zuerst. Ein riesiges muskelbepacktes Biest mit flatternden Lefzen, die lange weiße Zähne freigaben, als das Tier auf sie zustürmte. Beth versuchte, aus dem Weg zu springen, und entdeckte eine Gestalt im Kapuzenpullover, die dem Hund folgte. Beide stießen mit ihr zusammen und warfen sie um. Wäre Beth nicht so benommen gewesen, hätte sie einiges zu sagen gehabt.

»Wo kommen Sie denn auf einmal her, verdammt noch mal?«, hörte sie eine schroffe, vorwurfsvolle Männerstimme sagen, die ihr besorgniserregend bekannt vorkam.

»Könnten Sie bitte von mir heruntergehen«, war alles, was Beth herausbrachte, während ihre Worte durch den Schlafanzug auf ihrem Gesicht gedämpft wurden. Die große Gestalt im Kapuzenpullover war schwer, und Beth wurde auf ihren Koffer gedrückt. Der Mann ging in die Hocke, sprang auf und klopfte sich ab. Beth nahm den Onesie vom Gesicht und versuchte, den pinkfarbenen Stoff irgendwie zu verbergen. Sie schaute auf und erkannte ihren Angreifer trotz der Kapuze sofort – es war Jack.

»Ich würde sagen, wir sind quitt«, schlug sie vor, setzte sich auf und versuchte, zu sich zu kommen.

Der Hund musste zunächst weitergerannt sein und dann gemerkt haben, dass er allein unterwegs war, denn jetzt kam er in einem Affenzahn zurückgelaufen. Jack hechtete der Bestie hinterher und versuchte, sie am Halsband zu erwischen, verfehlte jedoch sein Ziel. Und wieder fand Beth sich auf dem Boden liegend, diesmal mit einem riesigen Hund über sich, der sie vollsabberte.

»Hilfe! Er will mich beißen!«, schrie sie.

»Seien Sie nicht albern. Doris würde niemandem etwas tun.« Jack bekam das Halsband zu fassen und zerrte den Hund weg. Die andere Hand hielt er Beth hin, um ihr aufzuhelfen.

»Ich schaffe das schon allein, danke«, erwiderte sie spöttisch. »Den sollten Sie an der Leine führen.«

»Sie sollten besser aufpassen, wo Sie gehen. Komm, Doris.« Jack wandte sich ab und joggte davon.

3. Kapitel

Carly hatte ihre Arbeit für heute erledigt und hielt auf dem Heimweg an einem kleinen Café. Sie trank einen schwarzen Chai-Tee und trug ihren neuesten Auftrag in den Terminkalender ein. Als Dolmetscherin für britische Zeichensprache war sie begehrt und erhielt viele Anfragen unterschiedlichster Art. Mit der Arbeit im Krankenhaus bestritt sie ihren Lebensunterhalt, aber sie nahm auch andere Projekte an, wenn sie interessant genug waren. Sie legte den Deckel zurück auf ihren halb ausgetrunkenen Becher mit Chai-Tee, schob die Unterlagen in ihre übergroße Handtasche und verließ das Café. Sie liebte ihren Job, doch manchmal kam es ihr vor, als sei sie die Erwachsene mit dem anständigen Beruf, während Fergus … nun, ein Erwachsener mit einem anständigen Job war er jedenfalls nicht.

Carly liebte Fergus, keine Frage, aber einige der Dinge, die sie an ihm liebte, waren genau die Dinge, die sie in den Wahnsinn trieben. Als sie die Wohnungstür öffnete, hörte sie ihn aufgeregt in seinem Spielzimmer plappern; er bezeichnete das umfunktionierte Gästezimmer etwas großspurig als sein Arbeitszimmer, aber da er den ganzen Tag darin nur Computerspiele spielte, fand sie ihre eigene Bezeichnung passender. Sie stieß die Tür ein Stückchen auf. Drinnen wurde es still, er schaute kurz in Richtung Tür und nickte dann zur Begrüßung.

»Hey C. Guter Tag?«, erkundigte er sich, den Gamecontroller zwischen die Schenkel geklemmt. Das ungekämmte dunkle Haar fiel ihm ins Gesicht.

»Du hast dich nicht angezogen.« Carly blies die Wangen auf.

Fergus schaute herunter auf seine Minecraft-Jogginghose und grinste. »Doch. Heute Morgen hatte ich die Batman-Hose an.« Die Tür schloss sich wieder. Für Fergus war jeder Tag ein Pyjamatag – wie er es schaffte, jeden Monat seinen Anteil der Rechnungen zu zahlen, war Carly ein Rätsel. Er hatte ein paarmal zu erklären versucht, wie das funktionierte, doch sie verstand es nicht, obwohl sie selbst auch gelegentlich das Internet nutzte. Es erstaunte sie immer noch, dass er Geld dafür bekam, Computerspiele für Kinder zu spielen.

Sie sah schmollend die geschlossene Tür an und hörte ihn wieder wie einen kompletten Spinner vor sich hin plappern. Die Redewendung seiner Großmutter kam ihr in den Sinn, die er gern mit seinem breiten irischen Akzent zitierte: »Dumm wie Dung, aber nur halb so nützlich.«

Carly schnitt Gemüse für ein Pfannengericht, was eigentlich immer eine angenehm entspannende Wirkung auf sie hatte. Heute jedoch wurde ihre Laune immer schlechter, je länger sie hackte und schnitt. Es war Mittwochabend, und da traf sie sich eigentlich immer mit Beth. Sie nahmen sich von irgendwo etwas zu essen mit, um in Ruhe miteinander zu schwatzen. Ein freier Abend, an dem sie ihre vom Dolmetschen in Zeichensprache schmerzenden Handgelenke ausruhen konnte. Das alles hatte sich geändert, seit Beth fort war.

Der Türsummer holte sie aus ihren Gedanken. Sie legte das Messer hin und ging nachschauen, wer das wohl war. Auf dem Bildschirm war eine gebeugte Gestalt zu sehen.

Carly drückte den Knopf, um zu sprechen. »Ja?«

»Carly, ich bin’s, Nick. Kann ich raufkommen?«

Carlys Herz schlug schneller. »Nein, kannst du verdammt noch mal nicht. Verzieh dich.« Sie lehnte sich hinüber und öffnete die Tür zum Spielzimmer. Fergus machte ein irritiertes Gesicht, bis sie auf den Bildschirm zeigte, auf dem Nicks Gesicht in Schwarz-Weiß zu ihnen hinaufspähte.

»Komm schon, Carly. Elizabeth hat völlig übertrieben reagiert. Ich möchte alles wieder in Ordnung bringen, aber das kann ich nicht, wenn sie meine Anrufe nicht entgegennimmt.«

Carly verspürte das Bedürfnis, laut zu werden. »Übertrieben reagiert?! Du Arsch hast sie geschlagen!«

»Carly, das ist eine Sache zwischen mir und Elizabeth. Verrate mir, wo sie ist. Ich will nur wissen, ob es ihr gut geht.«

»Ich weiß nicht, wo sie ist«, log Carly. »Aber es geht ihr gut, jetzt, wo sie von dir weg ist.«

»Was will er?«, erkundigte Fergus sich, und Carly übersetze in Gebärdensprache. »Richte ihm aus, er soll sich verpissen«, sagte Fergus.

»Habe ich schon versucht. Geh runter zu ihm.«

»In diesem Aufzug?«

Carly zuckte die Schultern; vielleicht bemerkte er jetzt die Vorteile, sich nicht immer nur in Jogginghose zu kleiden. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Nick.

»Du kannst meinetwegen bis Weihnachten da stehen. Du kommst jedenfalls nicht rein, und ich würde dir auch niemals verraten, wo sie ist … selbst wenn ich es wüsste.« Sie hängte den Hörer der Gegensprechanlage ein. Über den Bildschirm sah sie, dass Nick noch eine Weile hoch zur Kamera hinaufstarrte, dann probierte er mehrmals, die Tür zu öffnen, und drückte schließlich erneut den Klingelknopf. Carly ignorierte das Summen. Nick ließ den Knopf nicht los.

Carly fluchte und meldete sich. »Ich rufe die Polizei.«

»Ich muss mit ihr reden.« Nicks Stimme klang jetzt scharf.

»Das wird nicht passieren.«

»Ich werde sie finden, das garantiere ich«, warnte er sie und starrte wütend in die Kamera. Carly beobachtete ihn mit pochendem Herzen. Er probierte ein letztes Mal, die Tür zu aufzubekommen, bevor er sich umdrehte und wegging.

Fergus nahm Carly in den Arm. »Alles in Ordnung?«

»Nein, eigentlich nicht. Beth meinte, er würde auftauchen und nach ihr suchen. Allmählich beginne ich zu verstehen, warum sie so weit weggelaufen ist.«

Es war noch früh, als Beth in dem kleinen Doppelzimmer im B&B aufwachte und sich die pinkfarbene Tagesdecke bis zum Kinn hochzog. Seit vielen Jahre hatte sie nicht mehr nur in Bettlaken geschlafen, und auch wenn sie von solchen Tagesdecken viel gehört hatte, war dies ihre erste.

Sie zupfte gedankenverloren daran und lauschte Leos leisem Schnarchen. Sie hatte nicht viel geschlafen, weil die Reue über den Kauf des Cottage sie sehr beschäftigte. Was ihr während der Auktion wie eine romantische und spontane Entscheidung vorgekommen war, erschien ihr jetzt wie die größte Dummheit, die sie je begangen hatte. Trotz des schlechten Zustandes des Cottage hatte sie ein gutes Gefühl gehabt, als sie mit Leo den hinteren Garten erkundete. Doch ihr Plan, etwas zu kaufen, oberflächlich zu renovieren und zu dekorieren, es dann zügig einzurichten, um sich der nächsten Immobilie zu widmen, würde bei Willow Cottage nicht funktionieren. Hier waren größere Renovierungsarbeiten vonnöten, wahrscheinlich musste abgestützt oder auch eingerissen werden. Und sie hatte keine Ahnung, wo sie anfangen sollte.

Was machte sie hier nur? Sie war Geschäftsleiterin und kannte sich mit der Planung und Durchführung von Effizienzstrategien aus, mit der Einhaltung von Richtlinien und wie eine Frau sich in einer männerdominierten Welt behaupten konnte. Von Renovierungen verstand sie nichts und befürchtete, dieses Projekt könnte ihr ganzes Geld verschlingen. Der Großteil ihres Vermögens steckte in der Wohnung in London, deren Verkauf sie mit Nick in nächster Zeit nicht besprechen konnte. Es war ihm gelungen, ihren Zugang zum gemeinsamen Konto zu sperren, daher blieben ihr nicht mehr viele Möglichkeiten. Allein schon der Gedanke an ihn machte ihr Angst.

Leo regte sich, und Beth drehte sich auf die Seite, um ihn anzusehen – ihren wundervollen Jungen. Er hatte tief geschlafen. Es schien ihm gut zu gehen, obwohl er meilenweit fort war von London, aber zumindest war er in Sicherheit. Vielleicht war die Lage doch nicht so schlimm.

Beth relativierte ihre Aussage später am Tag, als ein weiterer Morris-Tänzer mit einem Taschentuch und einem übertriebenen Zwinkern auf sie zusprang. Leo tanzte und lachte, als hätte er einen Zuckerschock, was definitiv nicht der Fall war, da Beth sehr streng auf seine Zucker- und Fettaufnahme achtete. Es gab jede Menge Gehüpfe, Stöckerwirbeln und sich wiederholende Musik. Die Veranstaltung hatte einen fröhlichen Charakter, und Leo war begeistert. Es war alles ein bisschen verrückt, typisch Englisch eben, besonders, wenn alles auf einer Dorfwiese stattfand.

Nach einer Folienkartoffel zum Mittagessen in der hektisch betriebsamen Teestube, sie wurden von der nicht lächelnden Maureen bedient, beschloss Beth, sie sollten sich Willow Cottage noch einmal ansehen. Sie hoffte inständig, ihr Gehirn habe das, was sie gestern gesehen hatte, übertrieben dargestellt, und jetzt, im hellen Sonnenlicht, sähe alles nicht mehr so übel aus. Beth wollte außerdem dringend einen Blick hineinwerfen, denn wenn das Innere des Cottage besser aussah als das Äußere, würde ihr das wieder mehr Zuversicht geben. Also versprach sie Leo einen Apfel, wenn er sich mit ihr erneut das Cottage ansah. Ihr gefiel, dass sie Nick keine Rechenschaft schuldig war. Hier konnte sie tun, was sie wollte, und auch wenn der Kauf von Willow Cottage eine dumme spontane Entscheidung gewesen war, handelte es sich doch wenigstens um ihre ganz eigene Entscheidung. In dem Dorf tobte heute das Leben, und überall parkten Autos, während sich eine fröhliche Menschenmenge durch den Ort schob. Beth und Leo bahnten sich ihren Weg durch die Masse, doch als sie den Pub erreichten, hörten sie, wie jemand nach ihnen rief.

»Juhu! Hallo!« Es war die kleine ältere Lady mit dem Trolley. Beth schaute sich um, aber niemand sonst achtete auf die Frau, also musste sie wohl gemeint sein.

»Hallo«, erwiderte Beth, blieb stehen und wartete, bis die Frau bei ihr war.

»Nun, Schätzchen, wiederholen Sie das noch mal«, bat die Dame, ein wenig außer Atem von der Anstrengung der letzten paar Schritte.

»Verzeihung?«, erwiderte Beth verwirrt.

»Ich möchte nur sichergehen, dass ich richtig gehört habe. Was war das, was Sie mir gestern erzählt haben?«

Beth hob eine Braue. Die Obdachlose war tatsächlich etwas verrückt. Die arme alte Seele. »Ich habe Sie gefragt, wo Willow Cottage ist, weil ich es gerade gekauft habe.«

Die alte Lady brach in hysterisches Gelächter aus, sodass Beth und Leo nichts weiter tun konnten, als sie verstört anzusehen.

Irgendwann, nach mehrmaligem Handwedeln, kam sie wieder zu Atem und kicherte nur noch vor sich hin. »Du meine Güte. So habe ich nicht mehr gelacht, seit Maureen sich auf dem Erntedankfest in die Hose geschissen hat.« Die Erinnerung an dieses Ereignis schien sie erneut in Gelächter ausbrechen lassen zu wollen. »Mittens«, sagte sie, als fiele ihr etwas ein.

»Klar. Tja, hat mich gefreut, Sie wiederzusehen«, sagte Beth und setzte ihren Weg zögernd mit Leo fort.

»Sie ist witzig, Mum«, bemerkte ihr Sohn. »Sie hat ›geschissen‹ gesagt. Ist das die Vergangenheitsform von …«

»Leo!«, warnte ihn seine Mutter.

Heute wehte kein Wind, und die Weide sah prächtig aus, eine herrliche Kaskade in den verschiedensten Grüntönen. Lächelnd stieg Beth über die zerbrochene Gartenpforte; eine neue konnte so teuer nicht sein. Während sie in die Weide spähte, um herauszufinden, ob der Untermieter da war, wartete Leo geduldig bei den Überresten des Eingangs. Glücklicherweise waren sie alleine.

»Komm«, forderte Beth ihren Sohn auf, und ihre Laune besserte sich sofort, als sie Leos Hand nahm. Da er seine Hände zum Essen des versprochenen Apfels brauchte, entzog er sich ihrer Geste, während sie erneut gemeinsam das Cottage betrachteten. Sie hatte keine Ahnung, wonach sie suchte. Sie machte einige Schritte nach vorn, um sich das Mauerwerk genauer anzusehen. Bei näherer Betrachtung sah es zwar sehr alt aus, aber sie entdeckte keine größeren Risse. Wer weiß, wie es unter diesen Kletterpflanzen aussieht, dachte sie. Aber fürs Erste konnte sie sich über das, was sie nicht sah, auch keine Sorgen machen. Sie zwängten sich wieder seitlich am Haus vorbei, um in den hinteren Garten zu gelangen. Leo lief sofort zu den Pferden, die augenblicklich von seinem Apfel angelockt wurden.

Beth untersuchte die stalltorartige Hintertür, die tatsächlich sehr hübsch aussah. Sie rüttelte leicht daran und begann, sie zur Seite zu schieben, als sie feststellte, dass die Tür nicht allzu fest im Rahmen zu sitzen schien. Schließlich war das kein Einbruch, wenn es sich um das eigene Haus handelte, oder?

Hinter ihr schrie jemand, und Beth sprang erschrocken zurück, als gäbe es eine Alarmanlage. Furcht breitete sich in ihr aus. Der alte Mann, der sie gestern halb zu Tode erschreckt hatte, war anscheinend zurückgekehrt, um sein Werk zu vollenden. Nur dass Beth und Leo diesmal nirgendwohin fliehen konnten. Er versperrte ihnen den Weg seitlich am Haus vorbei. Beth wich zurück und drückte Leo an sich. Das Pferd, das sich dem Apfel genähert hatte, floh über die Wiese.

»Arghhhhh!«, schrie der Mann. Beth wusste nicht, was sie tun sollte. Gab es lauter Irre in diesem Dorf? Ihr Herz klopfte, und am liebsten wäre sie weggerannt.

Sie beschloss, es mit Vernunft zu versuchen. »Hören Sie, es ist alles in Ordnung. Wir sind keine Einbrecher. Dies ist unser Haus.« In seinen Augen flackerte kurz etwas auf; vielleicht erkannte er sie wieder. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, weiter zu brüllen. Leo hielt sich die Ohren zu und sah verängstigt aus. »Wir haben das Cottage gekauft«, erklärte Beth mit lauter und bestimmter Stimme. »Es ist unseres.« Sie zeigte auf das Cottage. Der Mann hörte auf zu brüllen.

»Nein. Es gehört Wilf«, widersprach er. Seine Worte klangen gedämpft, als habe er einen Sprachfehler. Beth erinnerte sich daran, dass die Frau in dem Laden gestern ebenfalls irgendetwas über Wilf gesagt hatte.

»Ja, es gehörte Wilf, aber es wurde an mich verkauft«, erklärte sie in einem, so hoffte sie, ruhigen und besänftigenden Ton. Leider hatte das den gegenteiligen Effekt, denn der Mann begann erneut zu brüllen.

»Arghhhh!«

Plötzlich begann es in der Kletterpflanze zu rascheln, und Jack erschien mit einer besorgten Miene. Beth spürte, wie die Anspannung in ihren Schultern nachließ. Sie war dankbar darüber, jemanden zu sehen, der kam, um sie zu retten.

»Ernie, was ist los?«, fragte er den schreienden Mann mit sanfter Stimme, aus der die Schroffheit verschwunden war, mit der er Beth bei ihrem Zusammenstoß bedacht hatte.

Ernie zeigte auf Beth. »Brechen ein!«

»Was glauben Sie eigentlich, was Sie hier machen?« Und schon klang er wieder schroff, als er sich an Beth wandte.

»Ich bin nicht eingebrochen.« Nun ja, ein bisschen hatte sie das vielleicht versucht, aber dies war nicht der Zeitpunkt, das zu gestehen. »Ich habe mir nur das Cottage angesehen, um in Erfahrung zu bringen, welche Arbeiten daran nötig sein werden.«

»Dies ist ein Privatgrundstück. Ich schlage vor, Sie gehen.«

Beth spürte, wie ihre Brauen sich unfreiwillig hoben angesichts der Entschlossenheit in Jacks Stimme.

»Ist Ihnen aufgefallen, was auf dem Holzbrett vorn am Haus steht?«, fragte sie und hatte das Gefühl, die Situation schon wieder etwas mehr unter Kontrolle zu haben, da sie dabei war, ihn mit seinem Irrtum zu konfrontieren.

Jack kniff die Augen zusammen, was ihn lächerlich aussehen ließ. »Da vorn auf dem Brett prangt das Bild eines Huhns.«

Beth wurde genervt. »Nicht das. Das, auf dem steht, wann die Auktion stattgefunden hat. Die war nämlich letzte Woche, und ich habe das Haus gekauft. Technisch gesehen befinden Sie sich also auf meinem Privatgrundstück, und Sie sollten gehen.«

Jack rieb sich das Kinn. »Der Verkauf kann noch nicht abgewickelt sein«, sagte er, während Ernie besorgt dreinschaute.

»Nein, noch nicht ganz, aber er wird bearbeitet, und in der nächsten Woche kommt es zum Abschluss.«

»Technisch gesehen dürfte also keiner von uns hier sein.« Jetzt wurde er pedantisch, und das machte sie wütend.

»Dann sollten wir wohl alle gehen. Komm, Leo.« Sie schob den Jungen durch die Lücke zwischen den Pflanzen und drängte sich so würdevoll, wie es mit Blättern in den Haaren eben möglich war, ebenfalls an der Hauswand entlang.

Während sie alle in den zugewachsenen Vorgarten stolperten, zupfte Beth sich Blätter und kleine weiße Blüten aus dem Haar und ging mit Leo davon. Ein Blick über die Schulter verriet ihr, dass Ernie unter dem Baldachin der Weide verschwand. Beth blieb so unvermittelt stehen, dass Leo beinah gestolpert wäre.

»Komm schon, Mum«, quengelte er.

»Warte.« Beth stemmte die Hände in die Hüften, als Jack erschien. »Wer ist dieser gefährliche Mann eigentlich?«, sagte sie und zeigte dabei auf den Baum.

»Das ist Ernie. Der ist nicht im Geringsten gefährlich. Er gehört zum Dorf, hat sein ganzes Leben hier gewohnt.«

Beth verstand den Wink mit dem Zaunpfahl; Jack akzeptierte Außenstehende also nicht so leicht.

»Er sollte nicht unter einem Baum wohnen.«

»Tut er auch nicht«, erwiderte Jack mit der Andeutung eines Lächelns auf den Lippen. »Er besitzt einen Bungalow in der Nähe der Schule.« Jack deutete am Bed & Breakfast vorbei.

»Warum hockt er dann in meinem Garten wie ein feindseliger Gartengnom?«

Jack schüttelte langsam den Kopf, als hätte er keine Lust mehr zu reden, und ging in Richtung des Pubs davon. Beth und Leo blieben zurück – nun verstanden sie gar nichts mehr.

»Verrückt. Die sind doch alle nicht ganz bei Trost in diesem Dorf.«

Beths Telefon klingelte. »Die Stimme der Vernunft! Hallo, Carls.«

»Wenigstens erwische ich nicht deine blöde Mailbox. Wie geht es dir, und wo zur Hölle steckst du?«

»Ich fühle mich erstaunlich normal in einem Dorf voller Bekloppter. Wie geht es dir und Fergus?«

»Nick kam gestern Abend vorbei. Wir haben ihm nichts verraten, aber er kündigte an, er würde dich finden.«

Unwillkürlich spürte Beth, wie sich eine eisige Angst in ihr ausbreitete, und sie musste an den Abend denken, an dem sie Hals über Kopf abgehauen war. Sie schaute sich um: Eine weitere Truppe Morris-Tänzer hüpfte mitten auf der Dorfwiese auf und ab, während eine andere Gruppe daneben fleißig übte. Geplauder und Lachen der Menschen erfüllte die Luft. Dies war eine ganz andere Welt als ihr Leben in London; hier gab es absolut nichts, was sie mit dem in Verbindung brachte, was sie zurückgelassen hatte. Und trotz des Zustandes von Willow Cottage erschien es ihr sinnvoll, vorläufig hierzubleiben.

»Hier wird er mich niemals finden.«

»Wo genau ist ›hier‹?«

»Dumbleford. Liegt westlich von Stow-on-the-Wold.«

»Klingt wie ein Ortsname aus Narnia. Wie ist es da?«

»Das Cottage, das ich gekauft habe, ist praktisch eine Ruine. Unter meiner Weide wohnt ein Mann, und der einzige Mensch unter fünfzig hier hält mich für eine Idiotin. Alle anderen sind irre, und heute veranstalten sie einen Morris-Tanzwettbewerb auf der Dorfwiese.«

»Ehrlich gesagt klingt das ganz nett, finde ich. Der Morris-Dance, alles andere nicht.«

Beth senkte die Stimme und entfernte sich einen Schritt von Leo, damit er nicht hörte, was sie sagte. »Unter uns: Ich glaube, ich habe einen Riesenfehler gemacht mit dem Cottage. Morgen werde ich mit dem Notar sprechen und mal schauen, welche Optionen ich habe. Ich halte dich auf dem Laufenden.«

Den Rest des Tages verbrachten sie damit, dem Morris-Dance zuzusehen und im Bed & Breakfast Bücher zu lesen. Beth räumte das kleine Zimmer zum zweiten Mal an diesem Tag auf. Na toll, unwichtige Sachen habe ich aus London mitgebracht und die wichtigen natürlich vergessen, dachte sie. Sie hielt eine Heißklebepistole in der Hand und wünschte sich, sie hätte stattdessen einen Föhn eingepackt.

Es gefiel ihr ganz und gar nicht, dass Carlys Information über Nick ihren ganzen Tag überschattet hatte. Es war alles seine Schuld. Hätte er sich nicht so vehement geweigert, die Wohnung zu verlassen, wären sie jetzt noch in London. Ihr fehlte London. Dort hatte sie viel mehr Möglichkeiten; sie bekam jede Art von Essen, das sie wollte, hatte eine riesige Auswahl an Hotels und konnte sich buchstäblich alles kaufen, wonach ihr Herz begehrte. Hier war das Essensangebot auf die Teestube und den Pub reduziert, Hotels gab es gar keine, und die Handvoll Läden verkauften Nippes, Souvenirs und Nudeln mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum. Wenn Nicks Äußerung, er werde sie finden, wohin auch immer sie fliehe, nicht so bedrohlich geklungen hätte, wäre sie vielleicht gar nicht hier gelandet.

4. Kapitel

Der Notar bestätigte, was Beth schon befürchtet hatte – sie war zum Kauf von Willow Cottage verpflichtet, und es gab keine Ausstiegsklauseln. Nicht einmal wegen des verfallenen Zustandes des Gebäudes. Es lag allein beim Käufer, sich vorab Informationen über das Objekt zu beschaffen, und das hatte sie einfach nicht getan. Also war sie selbst schuld. Weiterhin teilte der Notar ihr freudig mit, dass der Kaufvertrag früher als erhofft fertig sei und Beth den Haustürschlüssel in der Kanzlei in der Nähe von Stow am nächsten Morgen abholen konnte.

»Was müsste ich tun, um es wieder versteigern zu lassen?«, erkundigte sie sich seufzend.

»Oh, das könnte ich für Sie erledigen.«

»Sehen Sie, ich habe da möglicherweise einen Fehler gemacht, und ich muss es schnell verkaufen und das Geld zurückbekommen.«

Am anderen Ende der Leitung trat eine lange Pause ein. »Ich sollte Sie wohl darüber informieren, dass dieses Objekt zum dritten Mal bei einer Auktion zur Versteigerung stand. Es sucht seit sieben Monaten nach einem Käufer.«

»Sieben Monate?« Beth ließ sich auf dem Bett im B&B nach hinten fallen. Es federte stärker, als ihr bisher aufgefallen war.

»Ich fürchte ja.«

Beth schloss die Augen und verarbeitete diese Information. Sie fühlte, dass ihre Pläne gerade durchkreuzt wurden und sie hier in diesem Ort vorerst festsaß. Resignation machte sich breit. »Kennen Sie hier gute Handwerker?«

Die B&B-Vermieterin hielt Leo ganz gut bei Laune; ihre Enkelkinder lebten in Kanada, deshalb war es für sie etwas Neues, Kinder im Haus zu haben. Es war eine Schande, dass Leo seine eigenen Großeltern nicht sehen konnte, doch da Nick nach Beths Flucht dort als Erstes aufgekreuzt war, würden sie sie für eine Weile nicht besuchen können.

Beth nutzte die Gelegenheit, eine Baufirma aus der Gegend anzurufen und einen Termin für einen Kostenvoranschlag zu vereinbaren. Sie hatte die Idee, das Cottage wieder bewohnbar zu machen, was die Chancen auf einen Verkauf erhöhen und sie schnellstmöglich hier fortbringen würde. Ihr Plan war sowieso gewesen, sich irgendwo etwas zu kaufen, das Objekt zu renovieren und danach weiterzuziehen. So lange, bis Nick die Suche nach ihr aufgegeben hatte. Das war vielleicht nicht der beste Plan, aber als sie sich dabei erwischte, wie sie zum x-ten Mal in irgendeinem Hotel in London die Minibar anstarrte, wusste sie, dass sie irgendetwas verändern musste.

Beth holte wie geplant die Schlüssel zu Willow Cottage beim Notar ab und machte sich auf den Weg, den ersten Handwerker dort zu treffen, während Jean Leo zeigte, wie man Törtchen backte. Als sie am Pub vorbeiging, sah sie das Heck eines weißen Lieferwagens, der vor dem Cottage parkte. Das war schon mal ein guter Anfang. Dass Ernie durch die Seitenfenster auf der Fahrerseite in den Wagen hineinspähte, eher nicht. Beths Handy klingelte; da sie die Nummer nicht kannte, nahm sie den Anruf zwar entgegen, sagte aber nichts.

»Hallo? Hallo, Miss Browne? Hier spricht Kyle von Glancy Construction. Ich bin jetzt beim Haus, aber …«

Beth ging zur Beifahrerseite. Der junge Mann versuchte, sich von seinem Fenster wegzudrehen, da Ernies runzliges Gesicht ihm übergroß die Sicht versperrte. Sie klopfte gegen die Scheibe, was den jungen Mann erschreckte. »Hallo«, rief sie winkend.

Kyle reagierte nicht, sondern zeigte nur auf Ernie.

»Ach, das ist Ernie. Schon gut, der tut Ihnen nichts. Er ist nicht gefährlich«, sagte sie in ihr Mobiltelefon. Ganz überzeugt war sie nicht, ob das auch tatsächlich stimmte, aber sie musste Kyle irgendwie dazu bewegen, aus dem Van zu steigen. Kyle schaltete sein Handy aus und rutschte auf den Beifahrersitz, um dort auszusteigen.

»Hier entlang«, sagte Beth, entschlossen, die Ernie-Situation zu ignorieren.

»Ist er ein bisschen …« Statt den Satz zu beenden, tippte Kyle sich an den Kopf.

»Da bin ich mir nicht ganz sicher, aber er scheint gut hierher zu passen.«

Beth führte Kyle um das Cottage herum, und er sog bereits jetzt schon scharf die Luft durch die Zähne, ohne es überhaupt von innen gesehen zu haben. Beth probierte jeden der Schlüssel, die sie von dem Notar bekommen hatte. Alle waren entweder alt oder rostig oder beides, und keiner passte in das Schloss. Kyle war damit beschäftigt, am Mauerwerk herumzustochern und über das Dach den Kopf zu schütteln, daher probierte sie systematisch jeden Schlüssel noch einmal aus – wieder ohne Glück. Als sie zurücktrat, entdeckte sie ein weiteres Schloss an der unteren Hälfte der Stalltür.

»Ich frage mich …«, murmelte sie und ging in die Hocke. Der dritte Schlüssel, den sie probierte, ließ sich knirschend im Schloss drehen, woraufhin sich die untere Hälfte der widerspenstigen Tür knarrend öffnen ließ. »Ich bin drin!«, rief sie Kyle zu und ging in unangenehm gebückter Haltung hinein.

Es war dunkel und staubig. Beth kniff die Augen zusammen, konnte jedoch immer noch nichts erkennen. Plötzlich blendete sie ein Lichtstrahl, und Kyle kam mit einer Taschenlampe in der gleichen gebückten Haltung durch die Tür. Sie richtete sich auf und klopfte ihre Sachen ab, während Kyle umherleuchtete. Offenbar befanden sie sich in der Küche. Falls man ein Keramikspülbecken und einen alten Ofen als Küche bezeichnen konnte. Ein kurzer Blick auf den Boden verriet, dass er aus grob aussehenden Dielenbrettern bestand, die vom Schmutz dunkel gefärbt waren. Trotz der zugenagelten Fenster fiel Beth etwas auf, und sie zeigte in die entsprechende Richtung, damit Kyle dorthin leuchtete.

Offenbar hatte die Pflanze, die die Außenseite des Hauses dominierte, ihr Werk im Innern fortgesetzt. »Ach du Schande!«, rief Beth aus, als sie das Ausmaß der wuchernden Vegetation sowie das daran hängende Labyrinth aus Spinnennetzen erahnen konnte.

Kyle lief aus der Küche, sodass Beth nur zwei Möglichkeiten blieben: in der Dunkelheit bei den Spinnen zu bleiben oder ihm zu folgen. Beim Verlassen der Küche stolperte sie über eine kleine Stufe, doch zum Glück konnte im Dunkeln niemand ihr Erröten sehen, als sie versuchte, zu Kyle aufzuschließen. Unten gab es noch zwei weitere Räume; einer war vollständig leer, der andere hatte einen offenen Kamin mit einem großen Balken darüber. Soweit sie erkennen konnte, hatte das etwas Charakteristisches und versprühte einen gewissen Charme – vielleicht ließ es sich als Blickfang hervorheben. Als Kyle nach oben ging, glitt der Lichtstrahl über einen Gegenstand an der rußgeschwärzten Wand. Beth streckte die Hand aus, um es zu berühren, bevor das Licht wieder verschwand, doch durch die Berührung ihrer Finger fiel es krachend zu Boden.

»Warten Sie mal, Kyle. Leuchten Sie hierher, bitte.«

Kyle kam zurück und leuchtete ihr ins Gesicht. Mit fest zugekniffenen Augen zeigte sie auf den Boden, und der Lichtstrahl folgte ihrem Finger. Als sie die Augen wieder aufmachte, sah sie einen staubigen zerbrochenen Bilderrahmen am Boden. Beth bückte sich und zog vorsichtig ein Foto unter den Glasscherben heraus.

Sie hielt es hoch und konnte im Licht erkennen, dass es sich um eine Schwarz-Weiß-Fotografie handelte. An den Ecken des Fotos hatte die Zeit ihre Spuren hinterlassen, was darauf hindeutete, dass es sich nicht immer in einem Rahmen befunden hatte. Zu sehen war eine Frau mittleren Alters, trug eine Hochsteckfrisur, wie es in den Kriegsjahren üblich war. Sie lachte und hielt einen kleinen Jungen hoch, der in die Kamera strahlte. Beth musste lächeln und drehte das Foto um. Dort stand in geschwungener Handschrift geschrieben: Liebster Frank/Daddy, Alles Liebe zur Weihnachtszeit, Elsie & Wilf (Weihnachten 1944).

Kyle hustete, sodass der Lichtstrahl wackelte. »Wollen Sie hier unten bleiben, während ich mich oben kurz umsehe?«

»Nein, ich komme mit, danke.« Beth verstaute das Foto sicher in ihrem T-Shirt, damit es nicht beschädigt wurde. Die lächelnden Gesichter darauf beruhigten sie und schenkten ihr ein wenig Hoffnung, dass einst eine Familie hier glücklich gelebt hatte. Vielleicht konnte sie es ja tatsächlich für eine andere Familie renovieren, die in Zukunft hier wohnen würde.

»Seien Sie lieber vorsichtig, die könnte morsch sein«, sagte Kyle und deutete auf die Treppe. Er demonstrierte seine Vorsicht, indem er eine Stufe nach der anderen zuerst durch festes Auftreten testete, bevor er sie mit seinem ganzen Gewicht belastete. Auf halbem Weg verlieh Beth ihrem Unmut über das langsame Tempo durch ein genervtes Stöhnen Ausdruck.

Als sie endlich das obere Stockwerk erreichten, erkannte Beth, dass sie sich auf einem kleinen Treppenabsatz befanden, zu dem eine wunderschön geschnitzte Balustrade gehörte. Eine der Streben fehlte jedoch. Kyle öffnete eine Tür zu einem der grauenvollsten Badezimmer, die sie je gesehen hatte – hier hatten sich nicht einmal die Spinnen ausgebreitet. Die avocadofarbene Badewanne und Toilette sahen schrecklich aus in Kombination mit dem pinkfarbenen Waschbecken. Der sich an den Rändern wellende und dreckige Linoleumfußboden vervollständigte den grässlichen Eindruck. Bei den anderen beiden Zimmern handelte es sich um Schlafzimmer; beide hatten eine gute Größe, doch das eine war durch eine Dachschräge an der einen Seite besonders schön, auch wenn die einen großen braunen Fleck in der Mitte aufwies. Außerdem war das Zimmer durch eine Art Stufe auf zwei Ebenen aufgeteilt. Beth freute sich über diese Besonderheit und konnte sich gut vorstellen, was für ein schönes Kinderzimmer das werden würde. Der Gedanke an die dafür nötige Arbeit nahm ihr jedoch gleich wieder den Mut. Sie nahm sich zusammen und sagte sich immer wieder, dass sie das hier als ein rein geschäftliches Projekt betrachten musste. Dies würde schließlich nicht ihr dauerhafter Wohnsitz werden, und sie konnte momentan sowieso nicht allzu viel investieren. Sich diesem Haus mit Liebe und Aufmerksamkeit zu widmen, wie sie es bei ihrem eigenen Zuhause getan hätte, durfte sie nicht zulassen. Es musste lediglich renoviert und anschließend verkauft werden.

Beth war in Gedanken versunken, als ein Hämmern sie aufschrecken ließ. Kyle wirbelte herum und leuchtete zur Treppe, wo Ernie stand. Er hielt das Geländer mit finsterem Gesicht fest umklammert und befand sich nur eine Armlänge von Beth entfernt.

»Raus!«, schrie er mit tiefer rauer Stimme.

Beth ließ sich nicht einschüchtern, obwohl ihr Puls auf hundertachtzig war. »Ernie, bitte schreien Sie nicht. Lassen Sie uns hinausgehen, dann werde ich es Ihnen erklären.«

»Raus«, wiederholte er, allerdings weniger bösartig, während Beth ihn sanft hinunterführte. Unterdessen leuchtete Kyle ziellos mit der Taschenlampe über ihren Köpfen hin und her. Als sie die Hintertür erreichten, ließ Ernie Beth den Vortritt. Sie nahm wieder die gebückte Haltung ein und ging unter der oberen Hälfte der Stalltür hindurch.

Sie hörte Ernie gekonnt einen Riegel an der oberen Tür zurückschieben, und dann traten auch er und Kyle hinaus. Na, vielen Dank auch, dachte Beth und klopfte sich den Staub ab.

»Ernie. Dies ist jetzt mein Haus.«

Ernie schien nicht zu verstehen, denn er schüttelte den Kopf. »Nein. Wilfs Haus.«

Beth erinnerte sich an das Foto. Sie zog es unter ihrem T-Shirt hervor, was Ernie alarmiert beobachtete.

»Hier«, sagte sie und hielt ihm das Foto hin. »Wilf.«

Ernie beugte sich vor, um das Foto besser betrachten zu können, und ein breites Grinsen erschien auf seinem verhärmten Gesicht.

»Wilf«, wiederholte er.

Beth versuchte, ihm das Foto zu geben, doch er winkte ab.

»Ich werde hier mit meinem Sohn leben«, erklärte Beth, worauf Ernie wieder ein verwirrtes Gesicht machte. »So wie Elsie und Wilf früher.«

»Elsie?« Ernies Stimme klang sanft, und prompt traten ihm Tränen in die Augen. Beth fühlte mit ihm, und sie gab sich Mühe, es ihm verständlich zu machen.

»Ja. Leo und ich. Wir werden hier leben, genau wie Wilf und Elsie. Oh, und …« Sie schaute auf die Rückseite des Fotos. »Frank.«

Ernie wischte sich eine Träne mit dem Ärmel seines Pullovers ab. »Nicht Frank.«

»Oh, äh.« Beth wusste nicht, was sie sagen sollte, und sie konnte sehen, dass Kyle aufgehört hatte, sich mit einem sehr winzigen Bleistift Notizen zu machen, und nun versuchte, ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen.

»Frank ist gestorben«, sagte Ernie mit bebender Stimme.

»Das tut mir leid. Sollen wir …« Doch sie kam nicht dazu, den Satz zu beenden, da Ernie sich bereits wieder an der Seite des Hauses durch den Wildwuchs zwängte und im nächsten Moment verschwunden war.

»Welches Budget steht uns denn dafür zur Verfügung?«, erkundigte Kyle sich und sog erneut mit einem scharfen Laut die Luft durch seine Zähne.

»So billig wie möglich. Können Sie mir einen Kostenvoranschlag schicken? Tut mir leid, aber ich muss ihm hinterher und schauen, ob er in Ordnung ist.«

Ernie war nicht weit gegangen; Beth spähte zwischen den Zweigen der Weide hindurch und entdeckte ihn kauernd am Boden.

»Ach, kommen Sie, Ernie. Trinken wir eine Tasse Tee zusammen, dann können Sie mir alles über Elsie und Wilf erzählen, ja?«

Erneut wischte Ernie sich die Augen wie ein Kind mit dem Ärmel ab und schaute sie an. »Tee und Kuchen?«

Beth lachte. »Ja, wenn Sie möchten.« Sie bot ihm die Hand, um ihm aufzuhelfen, und er hielt sich mit seinen knochigen Fingern daran fest.

In der Teestube war es ruhig, deshalb setzte Rhonda sich zu ihnen, als sie die Bestellung brachte. Ernie lächelte, und Beth war sich nicht sicher, ob es dem Kuchen galt oder Rhonda.

»Hallo, mal wieder. Ich bin Rhonda.«

»Ich bin Beth.«

»Ich weiß. Sie haben also Wilfs altes Haus gekauft?«, fragte sie, verschränkte die Arme vor der Brust und beugte sich vor. Beth fühlte sich angesichts Rhondas überfreundlicher Art gleich unbehaglich.

»Wie Elsie und Wilf«, sagte Ernie, den Mund voll mit Kaffee und Walnusskuchen.

»Willow Cottage«, sagte Beth und hatte das Gefühl, auf der Hut sein zu müssen, um sich nicht zu viele Informationen entlocken zu lassen.

»Hab noch nie gehört, dass es so genannt wird. Muss sich wohl der Makler ausgedacht haben als Verkaufsanreiz«, meinte Rhonda und verzog entsprechend das Gesicht.

Man hat mich wieder hereingelegt, dachte Beth.

»Kein Partner bei ihnen?«, fuhr Rhonda fort und musterte Beths ringlose Finger.

»Äh, nein. Ich bin Single.«

»Feriendomizil oder auf Dauer?«

Beth überlegte. »Renovierungsprojekt.«

»Um drin zu wohnen oder zu verkaufen?«

Die rasch hintereinander abgefeuerten Fragen wurden Beth zunehmend unangenehm. »Verkaufen.«

Rhonda sah enttäuscht aus. »Wir brauchen neues Blut im Dorf. Junges Blut.«

Beth versuchte, nicht an Vampirfilme zu denken, während sie Rhondas blasses Gesicht betrachtete. Maureen stand hinter dem Tresen und gab einen spöttischen Laut von sich, sie verfolgte offenbar das Gespräch.

»Die Dorfschule kämpft ums Überleben. Ich glaube, es gibt nur noch zwanzig Kinder dort.«

»Pro Klasse?«, erkundigte Beth sich. Das war deutlich unter dem landesweiten Durchschnitt, was Leo die Eingewöhnung in eine neue Schule erheblich erleichtern dürfte, auch wenn er nur für ein Halbjahr dort wäre.

»Nein«, erwiderte Rhonda lachend. »Insgesamt! Sie mussten alle zusammennehmen, um eine Klasse voll zu bekommen. Und das, nachdem man auch aus den umliegenden Dörfern noch Schüler dazugenommen hatte.«

Ernie wischte sich den Mund mit einer Serviette ab und stand auf.

»Oh, Ernie, Sie wollen schon gehen? Sie wollten mir doch von Elsie und Wilf erzählen«, erinnerte Beth ihn.

Ernie blickte wieder traurig drein und schüttelte den Kopf. Er zeigte auf den leer gegessenen Teller, auf dem sein Kuchen gebracht worden war. »Danke«, sagte er und ging.

»Armer alter Ernie«, bemerkte Rhonda. »Hat sein ganzes Leben hier verbracht und das Dorf nie verlassen.«

»Er scheint sehr an Willow Cottage zu hängen.«

»Na ja, es gehörte früher Wilf, und er und Wilf waren wie Brüder. Ernies Mutter war schwanger, als sie aus London fortmusste, das während des Bombardements evakuiert wurde. Elsie nahm sie bei sich auf. Auch sie war auf sich allein gestellt. Beide Frauen warteten auf die Rückkehr ihrer Männer aus dem Krieg.« Beth nickte verständnisvoll, während sie, fasziniert von der nostalgischen Geschichte, auf ein Happy End wartete. »Die Sache war nur … es wurde eine schwierige Geburt. Das Baby steckte fest, weshalb Ernie so wurde, wie er jetzt ist. Seine Mutter starb bei der Geburt, und er wuchs bei Elsie auf.«

Beth schluckte und wartete immer noch auf das Happy End. »War ihr Mann damit einverstanden, als er aus dem Krieg zurückkam?«

»Oh, Frank kehrte nie zurück; er wurde erschossen. Es blieben nur Elsie und die Jungs. Ernie zog vor ein paar Jahren aus und wohnt in einem der neuen Bungalows, den Weg da hinauf.« Sie zeigte in irgendeine Richtung. »Aber das Cottage war immer sein Zuhause. Er und Wilf waren unzertrennlich. Wilf kümmerte sich um Ernie. Und seit Wilfs Tod ist Ernie mehr oder weniger ganz allein auf der Welt. So, aber jetzt muss ich dann mal wieder an die Arbeit.« Rhonda lächelte kurz, sammelte die leeren Teetassen ein und ging hinter den Tresen.

Beth war den Tränen nahe. Es gab kein Happy End zu dieser Geschichte. Sie legte das Foto auf den Tisch und betrachtete erneut die Gesichter. Sie sahen so fröhlich aus.

5. Kapitel

Carly plapperte ununterbrochen am Telefon, und es war schwierig für Beth, sie zu beruhigen.

»Mach mal langsamer, Carls. Ich kriege nur jedes dritte Wort mit, und das ist, als würde ich versuchen, eine codierte Nachricht zu entschlüsseln«, beschwerte Beth sich.

Carly holte tief Luft und versuchte, ihre Aufregung im Zaum zu halten. »Also, zusammengefasst glaube ich, dass Fergus mir einen Heiratsantrag machen wird! Hilfe!«

Beth hielt das Telefon vom Ohr weg. »Ach komm, entspann dich, das Thema hatten wir doch schon. Erinnerst du dich an das große Weihnachtsgeschenk, das wochenlang unter dem Baum lag? Du hast dir eingeredet, es sei wie eine Matroschka, diese russische Steckpuppe, und bestünde aus immer kleiner werdenden Schachteln, bis zu einem Juwelierkästchen mit einem Ring drin.«

Carly seufzte und biss sich bei der Erinnerung daran auf die Lippe. »Es hätte ja sein können …«

»Und was war in der großen Schachtel?«, fragte Beth in erzieherischem Ton.

»Ein neuer Schlafsack.«

»Ganz genau. Ich sage nur, sei auf der Hut. Mach dir nicht zu viele Hoffnungen.«

Carly hielt einen Moment inne, dann erfasste die Aufregung sie von Neuem. »Diesmal ist es anders. Er bat mich, ihn vor der Eros-Statue am Picadilly Circus zu treffen! Wie romantisch ist das denn?«

»Das befindet sich auf einer viel befahrenen Kreuzung.«

»Sei doch nicht eine solche Spielverderberin. Überleg doch mal. Picadilly Circus liegt sehr nah am Ritz. Vielleicht führt er mich dorthin aus, zum Nachmittagstee, um mir einen Antrag zu machen.« Sie stieß einen weiteren, diesmal gedämpfteren Seufzer aus. »Du meine Güte, ich muss mich noch umziehen!«

»Nein, musst du nicht. Du ziehst dich immer ziemlich gut an zur Arbeit.«

Carly schaute an sich herunter. Jetzt war es etwas völlig anderes, als wenn sie sich morgens vor der Arbeit im Spiegel begutachtete. »Ich trage ein Kleid, aber mit flachen Schuhen!« Sie gab Beth nicht die Chance, etwas darauf zu erwidern. »Und Tiffany’s ist nicht weit vom Ritz entfernt. Ach du Schande, Beth, ich muss Schluss machen …« Und dann war die Leitung tot.

Beth stöhnte. Sie hoffte wirklich sehr, dass Carly diesmal richtiglag und am Ende nicht wieder bitter enttäuscht wurde.

Beth saß am Tisch im B&B und studierte die verschiedenen Angebote, die sie erhalten hatte. Es sah nicht gut aus. Vorrang vor allem anderen hatte die Stromversorgung, daher blieb ihr nichts anderes übrig, als diese zuallererst in Auftrag zu geben – was schon eine beachtliche Summe verschlingen würde. Im Grunde musste alles gemacht werden, und es würde mehr Geld kosten, als sie besaß. Da sie ihren gut bezahlten Job in der Stadt gekündigt hatte, standen ihr nur noch ihre geringen Ersparnisse zur Verfügung, bis sie Willow Cottage hoffentlich mit Gewinn verkauft hatte. Beth fühlte sich verloren, während Leo sich einen Zeichentrickfilm auf dem kleinen Fernseher anschaute und Jean um sie beide herum Staub wischte.

»Warum gehen Sie heute Abend nicht in den Pub? Es ist Quiz-Abend«, schlug sie vor. Beth konnte sich kaum etwas Schlimmeres vorstellen. Doch, Bingo. Bingo wäre noch schrecklicher.

»Zuerst spielen sie Bingo, da könnten Sie auch noch mitmachen, wenn Sie rechtzeitig da sind.«

Beth seufzte. »Ich glaube, das lasse ich ausfallen, danke.«

»Die Leute hier sind freundlich, wissen Sie. Wenn Sie eine Weile hier sein werden, wäre es gut für Sie, sich ein paar Freunde zu machen. Ist nur ein gut gemeinter mütterlicher Rat.« Jean kicherte in sich hinein und brachte die Teller in die Küche. Beth wollte sich hier keine Freunde machen. Dies war doch nur ein vorübergehender Aufenthalt, also brauchte sie keine neuen Freunde. Sie hatte Carly und … ihr wurde klar, dass sie mit niemandem aus ihrem alten Leben mehr in Kontakt stand. Das lag daran, dass niemand ihre neue Handynummer hatte. Sie hatte zu viel Angst gehabt, Nick könnte sie irgendwie herausfinden.

Noch etwas, für das sie ihn verantwortlich machen konnte. Sie hatte nicht nur ihr Leben zurückgelassen, das sie sich in London aufgebaut hatte, ihren Job, ihre Eltern und alles, was sie umgab, sondern auch ihren gesamten Freundeskreis verloren. Bei genauerer Betrachtung musste sie einräumen, dass das nicht von heute auf morgen passiert war. Rückblickend erkannte sie, dass sich die Situation mit Nick schon lange vor jenem einschneidenden Tag verändert hatte. Nicks lockere Art verschwand und wurde ersetzt durch eine dominierende und manipulierende Art, die Beth dazu brachte, das zu tun, was Nick wollte. Die ständigen scheinbar beiläufigen Bemerkungen über Beths Freundeskreis trugen dazu bei, dass er nach und nach mehr Kontrolle über Beth hatte. Ihr soziales Umfeld reduzierte sich so lange, bis nur noch Carly am Mittwochabend übrig blieb. Mittlerweile waren Carly und Fergus ihre einzigen Freunde.

Es war jetzt mitten am Nachmittag, und Carly war, obwohl sie noch einmal nach Hause gefahren war, um ihre Schuhe zu tauschen, ihr Make-up aufzufrischen und sich die Haare zu machen, fünfzehn Minuten zu früh an der Eros-Statue. Für eine aufwendige Frisur hatte die Zeit nicht gereicht, doch ein kurzer Durchgang mit dem Glätteeisen wirkte manchmal Wunder. Sie nahm ihren transparenten Lipgloss und trug ihn – nur für alle Fälle – ein zweites Mal sorgfältig auf. Sie wollte sich unwiderstehlich fühlen und auch so aussehen, wenn er ihr einen Heiratsantrag machte. Erneut schaute Carly auf ihre Uhr – noch fünf Minuten. Ihr Magen rumorte und fühlte sich an, als wäre er voller hungriger Raupen anstatt fliegender Schmetterlinge.

Während sie in den belebten Straßen stand, hielt sie Ausschau nach Fergus. Er war groß und ziemlich schlaksig und daher in einer Menschenmenge meistens leicht auszumachen. Aber bisher war von ihm noch nichts zu sehen. Die Minuten vergingen, während sie das geschäftige Londoner Treiben um sie herum beobachtete: der Verkäufer von Big Issue, einer Obdachlosenzeitschrift, auf der einen Seite, und ein junge Mann mit einem riesigen Schild auf der anderen Seite, der versuchte, Kunden in einen Schuhladen zu locken; ihr fiel auf, dass der Big-Issue-Verkäufer weitaus enthusiastischer wirkte als der Schild-Halter.

Und wieder sah Carly auf ihre Uhr. Jetzt kam Fergus zu spät. Ständig musste sie Touristen ausweichen, die Fotos von Eros schießen wollten und Selfies von sich machten, auf denen sie das Gesicht verzogen oder sich vor der Statue küssten. Allmählich wurde das nervig. Sie beobachtete verliebt und glücklich aussehende Paare, die Hand in Hand in das Restaurant Criterion gingen. Leute, die sich zum Abschied küssten, während sie aus Taxis stiegen. Andere saßen auf den Stufen vor der Statue und sahen sich das bunte Treiben um sie herum an.

Fergus war fünfzehn Minuten zu spät. Carlys Füße fingen an zu schmerzen. Diese High Heels sahen toll aus, aber sie waren nicht dafür gemacht, herumzustehen oder größere Strecken zu gehen. Sie dachte daran, ihm eine Nachricht zu schreiben, aber er spürte selten sein Handy vibrieren, deshalb war es vermutlich ohnehin sinnlos. Im Augenblick bestand auch die Gefahr, dass sie einen Text schrieb, der die Stimmung für einen romantischen Heiratsantrag, mit dem sie nach wie vor fest rechnete, ruinieren könnte.

Carly entdeckte einen Mopp wuscheliger dunkler Haare, der auf sie zu hüpfte, und entspannte sich. Es war Fergus. Er kam zu spät, aber er war da. Als er aus der Menge auftauchte, sah sie sein grinsendes Gesicht. Er wirkte sehr selbstzufrieden, was schon mal ein gutes Zeichen war. Außerdem war er richtig angezogen, was sie als weiteres Plus deutete. Zwar trug er Jeans und ein Star-Wars-T-Shirt – nicht ihre erste Wahl für einen erinnerungswürdigen Heiratsantrag –, aber dies war nicht der richtige Zeitpunkt, allzu pingelig zu sein.

Fergus küsste sie. »Tut mir leid, dass ich zu spät bin.«

»Ist schon okay.«

»Der Blog-Chat nahm überhand«, erklärte er, doch Carly achtete gar nicht darauf – das war jetzt nicht wichtig.

»Wohin gehen wir?«, wollte sie wissen, und ihre Augen leuchteten vor freudiger Erwartung.

»Wart’s ab.« Er nahm ihre Hand und führte Carly in die U-Bahnstation. Ihre Begeisterung ließ schlagartig nach. Sie hatte sich mit dem Ritz oder Tiffany’s anscheinend geirrt und versuchte, die Bilder der wunderschönen Ringe, die sie in Zeitschriften gesehen hatte, wieder aus dem Kopf zu bekommen. Ihre Füße fanden es gar nicht gut, in diesen Pumps die Treppe zur U-Bahn hinuntergehen zu müssen, trotzdem bemühte sie sich, eine positive Einstellung zu bewahren.

Einige schweißtreibende Minuten später stiegen sie an der Station St. Paul’s aus, und Carly überlegte, welche Restaurants es in der Nähe gab, die für einen Heiratsantrag geeignet waren. Nur fiel ihr keines ein. Es gab nur die Londoner Börse und St. Paul’s Cathedral, deren hoher weißer Dom inmitten der grauen Bürohäuser stets zu sehen war. Fergus schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln. Vielleicht spürte er ihre Aufregung. Aber wusste er auch, wie wichtig ihr dieser Moment war? Carly träumte vom perfekten Heiratsantrag und einer Märchenhochzeit, seit sie als Mädchen Monica und Chandler in Friends gesehen hatte.

Fergus führte sie durch die Straßen, vorbei an St. Paul’s Vorderseite und hinein in die prachtvolle Kathedrale durch den Touristeneingang. Carly war als Kind hier gewesen, erinnerte sich jedoch kaum noch an das riesige, Ehrfurcht einflößende Innere, das einem tatsächlich den Atem raubte.

Fergus zog sie an sich und drückte sie. Sie hielt den Atem an. »Hier entlang.«

Die Treppenstufen in der U-Bahn waren nichts im Vergleich zu denen, die Carly jetzt vor sich hatte. Das Schild informierte sie darüber, dass es genau 528 Stufen bis zur Golden Gallery waren. Sie schluckte, zeigte auf das Schild und dann auf ihre Schuhe.

»Kein Problem, wir gehen nicht bis ganz nach oben«, erklärte Fergus mit einem Grinsen, das seine Grübchen zum Vorschein kommen ließ.

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