×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Rosen, Tee und Kandiszucker«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Rosen, Tee und Kandiszucker« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Rosen, Tee und Kandiszucker

Für Ellie geht ein Traum in Erfüllung: In diesem Sommer darf sie die Teestube im wunderschönen Clavenham Castle mit Leben und dem Duft nach Tee und frischem Kuchen füllen. Doch der alte Lord Henry streubt sich gegen jede Veränderung. Hat Ellie sich doch zu viel vorgenommen? Reicht es einfach nur gut backen zu können, um eine Teestube zu führen? Sie muss es einfach schaffen und sich in das Herz des alten Griesgrams backen - und vielleicht sogar in das des gutaussehenden Verwalters Joe ...


  • Erscheinungstag: 08.05.2017
  • Seitenanzahl: 400
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955766399
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für meine wundervollen Freunde

Und für alle, die jemals einen Traum hatten.

1. Kapitel

Ellie

Da war jetzt wohl ein wenig Improvisation gefragt. Sie hatte nicht wirklich erwartet, zum Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden. Im Journal war sie auf die Anzeige gestoßen und da sie gerade von allem die Nase voll hatte, von ihrem Ex, diesem Vollidioten, von ihrem Job und vom Leben in der Stadt, hatte sie sich kurzerhand beworben. Sie brauchte Veränderung – ein neues Leben, eine neue Umgebung, eine neue Postleitzahl, irgendetwas in der Art.

Und hier war sie nun also und fuhr mit ihrem kleinen silbernen Corsa die Auffahrt zum Anwesen entlang, vorbei an jahrhundertealten Bäumen mit knorrigen Stämmen. Als das Schloss in Sicht kam, machte ihr Magen einen Purzelbaum: Massive Mauern aus gelbem und grauem Sandstein ragten vor ihr auf, vier Stockwerke mit großen Fenstern, die auf sie herabsahen – Claverham Castle. Gab es wirklich Leute, die hier wohnten? Hier arbeiteten? Es kam ihr vor, als befände sie sich am Set von Downton Abbey – oder in einem Märchen.

Die Frau, die im Torbogen des Eingangs stand, sah hingegen nicht gerade so aus, als käme sie aus einem Märchen. Sie war in eine dicke Fleecejacke eingemummelt, trug dunkle Jeans und Gummistiefel und rauchte verstohlen eine Zigarette. Als sie Ellies Auto vorfahren sah, ließ sie das lasterhafte Objekt hinter sich auf den Boden fallen, doch der dünne Rauchfaden, der in der kühlen Märzluft nach oben stieg, verriet sie.

Okay Ellie, tief durchatmen.

Noch ein schneller Blick in den Rückspiegel. Hoffentlich sah sie halbwegs passabel aus. Sie suchte in ihrer Handtasche nach dem Lippenstift und den Notizen für das Vorstellungsgespräch. Während sie die blassrosa Farbe auf ihre Lippen auftrug, versuchte sie sich davon zu überzeugen, dass sie genau die Richtige für den Job war. Vor zwei Wochen, als sie die Anzeige im Lokalblatt gelesen hatte, war es ihr wie die perfekte Gelegenheit erschienen: „Claverham Castle – Teestube für den Sommer zu verpachten“. Endlich eine Möglichkeit, auszubrechen und den Traum zu verwirklichen, den sie seit Jahren hegte: ein eigenes Café zu betreiben, nach Herzenslust zu backen und den Leuten dabei zuzusehen, wie sie genüsslich große Stücke ihres Schokoladenkuchens oder ihrer Erdbeer-Scones verschlangen. Da war sie, die Gelegenheit, ihr Leben zu verändern! Sie durfte sie auf keinen Fall vorbeiziehen lassen!

Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie die Autotür öffnete. Sie versuchte, selbstbewusst zu wirken, denn die Frau stand immer noch oben auf den Stufen … Flatsch! Sie fühlte etwas Klebriges unter ihren Sohlen und sah nach unten. Mist! Ihre schwarzen Wildlederstilettos steckten zentimetertief im Matsch. Ein riesiger kackeähnlicher Klumpen zierte die Spitze ihres rechten Schuhs … So viel zum ersten Eindruck.

Sie streifte ihre Schuhe dezent am Gras ab, zementierte sich ein Lächeln ins Gesicht und stöckelte zum Eingang des Schlosses. Ein schneidender Wind fuhr in ihr honigblondes Haar, das sie an diesem Morgen sorgfältig zu einem Knoten hochgesteckt hatte. In ihrem schwarzen Hosenanzug und der lindgrünen Seidenbluse war ihr bereits nach einigen Metern furchtbar kalt … Sie schlang die Arme um sich und steuerte auf die Eingangstür zu – ein riesiges Monstrum aus Holz und Eisen, zweifelsohne vor Jahrhunderten gezimmert, um gefährliche Räuber und Banditen abzuschrecken.

Als Ellie sich näherte, setzte die Frau ein strahlendes Lächeln auf. „Hallo, Sie sind wohl wegen des Vorstellungsgesprächs hier.“

„Stimmt.“ Sie streckte ihr eine zitternde Hand zum Gruß hin. „Ich bin Ellie Hall.“

„Schön, Sie kennenzulernen, Ellie. Ich bin Deana.“ Die Frau schüttelte ihr die Hand. Sie hatte ein nettes Gesicht und war wohl um die fünfzig; ihre grauen Haare trug sie in einem halblangen Bob. „Ich bin Lord Henrys Assistentin, nun ja, in Wahrheit wohl eher das Mädchen für alles. Entschuldigen Sie den Aufzug, bis die Saison wieder anfängt, bin ich eher leger unterwegs. Hier draußen kann’s verdammt kalt werden. Ach, kommen Sie doch rein, Schätzchen.“

Ellie entspannte sich ein wenig; zumindest Deana schien ja schon mal ganz nett zu sein. Sie folgte der Frau durch die massive Eingangstür, hinein in einen steinernen Innenhof, über den sich der azurblaue Himmel spannte. Wow, das sah ja aus wie eine Kulisse aus einem Disney-Film! Sie stiegen eine hölzerne Wendeltreppe nach oben – im Turm wurden sie sicher schon von Schneewittchen oder Rapunzel erwartet.

„Im Moment haben wir keine Gäste.“ Deana sprach in einem sanften nordenglischen Singsang. „Bis Ostern ist noch geschlossen. Deshalb ist es so ruhig. Aber sobald der Frühling da ist, herrscht hier wieder Hochstimmung. Na ja, zumindest Hochbetrieb“, fügte sie mit einem schiefen Grinsen hinzu, so als wären Besucher keine willkommene Abwechslung, sondern eine Notwendigkeit, mit der man sich abfinden musste.

Deana bat sie, auf einem verschlissenen rot-violetten Polsterstuhl neben einer geschlossenen Tür Platz zu nehmen, hinter der Ellie Lord Henrys Büro vermutete. Aus dem Zimmer drangen gedämpfte Stimmen, die sehr förmlich klangen.

Deana fragte sie, ob sie eine Tasse Kaffee wolle, meinte, dass sie gleich zurück sei und verschwand wieder in Richtung Treppe. Ellie hüllte sich fester in ihre Jacke; es war verdammt zugig in diesem Flur. Zugleich versuchte sie, ihre Nerven zu beruhigen.

Über ihr an der steinernen Wand hing neben einigen Schwarzweißaufnahmen vom Schloss etwas, was sie für einen ausgestopften Wieselkopf hielt. Er war fuchsrot, bleckte seine Zähne und sah ziemlich boshaft drein. In einer Glasvitrine neben ihr lag eine Pistole, die aussah, als hätte einst Robin Hood damit die Leute überfallen: „Geld oder Leben!“ Das hier war eine ganz andere Welt als ihr Versicherungsbüro mit den weißen Wänden und dem Schreibtisch mit der Holzfaserplatte. Es kam ihr vor, als habe sie eine Zeitreise in die Vergangenheit unternommen.

Das Geräusch von Stühlen, die über den Boden geschoben wurden, riss sie aus ihren Tagträumen. Sie hörte Schritte. Dann öffnete sich die Tür neben ihr und heraus trat eine korpulente Frau mittleren Alters, die in ihrem strassbesetzten Pulli wie ein geschmückter Weihnachtsbaum aussah. „Danke, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben“, sagte sie zu dem Herrn hinter ihr und fügte hinzu, dass sie hoffe, bald wieder hier sein zu können. Als sie Ellie sah, lächelte sie selbstgefällig. Lord Henry – zumindest vermutete Ellie, dass das der Mann war, der die Frau hinausbegleitete – lächelte ebenfalls. „Ja, es war schön, Sie einmal wiederzusehen, Cynthia. Ich war von der Arbeit, die Sie in der Vergangenheit für uns geleistet haben, immer sehr angetan. Sie werden in Kürze von uns hören!“ Er artikulierte die Worte sehr deutlich und sprach mit vornehmer, etwas affektierter Stimme, doch sein Ton war beinahe freundschaftlich. War die Entscheidung etwa schon gefallen? Ellie fühlte ihren Mut sinken. Hatte man sie nur aus Höflichkeit zum Vorstellungsgespräch eingeladen?

Inzwischen war Deana wieder aufgetaucht, mit einem Tablett, auf dem eine Kanne und drei Tassen standen – wahrscheinlich war sie beim Vorstellungsgespräch auch mit dabei. Sie lotste Ellie in das holzgetäfelte Büro.

Nun ging es also los. Ellie atmete tief durch. Erst jetzt, da sie ahnte, dass sie nicht den Hauch einer Chance hatte, den Pachtvertrag für die Teestube zu bekommen, wurde ihr klar, wie gern sie dort arbeiten wollte. Es war die Art von Arbeit, die sie sich seit all den Jahren sehnlichst erträumt hatte, die sie schon in diesem riesigen, anonymen Büro eingesperrt war und am Telefon Fragen zu Versicherungspolicen beantworten musste. Sie liebte es, für ihre Freunde und ihre Familie zu backen. Der Kuchen für die Party ihres Cousins Jack – in Form eines Fußballs – war der absolute Hit gewesen, und ein Schokoladenkuchen in Form einer Champagnerflasche, den sie für Gemma, eine Freundin aus dem Büro, gebacken hatte, hatte dazu geführt, dass danach fast jeden Tag Leute mit speziellen Wünschen auf sie zukamen. Jeden Morgen bot sie an, für alle Donuts zu holen, nur um in der Schlange beim Bäcker stehen und genüsslich den Geruch frischen Brotes und köstlicher Kuchen einatmen zu können. Dann wünschte sie sich jedes Mal, hier statt in der Versicherung zu arbeiten.

Deana stellte das Kaffeetablett auf einen riesigen Mahagoni-Schreibtisch mit grüner Lederauflage. Er war so groß, dass man darauf bequem hätte Billard spielen können. Deana lächelte Ellie aufmunternd zu und verließ dann den Raum.

Lord Henry sah ein wenig erschöpft und sehr aristokratisch aus. Er mochte Mitte sechzig sein, trug beige Cordhosen, ein kariertes Hemd und eine Tweedweste. Er stand auf, um ihr über den Schreibtisch hinweg die Hand zu reichen. Seine Hand war schmal, sein Händedruck jedoch erstaunlich kräftig. „Lord Henry Hogarth. Bitte, setzen Sie sich, Miss …“ Er hielt inne. Ein unangenehmes Schweigen entstand.

Super, er wusste also noch nicht mal ihren Namen. „Hall … Ellie Hall.“

„Gut, Ellen, machen Sie es sich doch bequem.“

Sie war zu nervös, um ihn zu korrigieren.

Er goss zwei Tassen Kaffee ein, reichte ihr eine davon und fügte noch einen Schuss Milch aus einem kleinen weißen Porzellankrug hinzu. Ellie nahm einen Schluck; der Kaffee schmeckte kräftig und dunkel, definitiv kein Instantkaffee. Sie lehnte sich zurück und versuchte, den Eindruck einer gelassenen und in sich ruhenden Frau zu vermitteln, während sie innerlich fast zitterte vor Angst. Sie hoffte, dass ihre Stimme noch funktionierte. Während Lord Henry hinter dem Schreibtisch Platz nahm, probierte sie es mit dem Wort „Danke“. Puh, zumindest konnte sie noch sprechen, auch wenn ihre Stimme ein wenig höher klang als gewöhnlich.

„Also, wie lange arbeiten Sie schon in der Gastronomie, Miss Hall?“ Er lehnte sich ein wenig zu ihr vor, und seine braunen Augen musterten sie prüfend.

Sie erstarrte. „Äh … na ja …“ Ungefähr noch nie. Da half auch Improvisieren nichts mehr. Was zur Hölle wollte sie hier eigentlich? „Ja, na ja“, hüstelte sie in ihre Tasse. „Ich habe einige Jahre Erfahrung.“ Für die Familie backen, für Freunde, Geburtstagskuchen, Cupcakes, Victoria Sponge Cake und natürlich ihre Spezialität, den „Kaffeekuchen“, mit Kaffee und geschmolzenen Sahnebonbons. Und ja, sie kochte regelmäßig Kaffee und Tee für ihre Kollegen im Versicherungsbüro. „Ich war in einem Restaurant beschäftigt.“ Samstagabends Kellnern im Funky Chicken Express um die Ecke, um sich als Teenager ein bisschen was dazuzuverdienen. „Und ich war leitende Angestellte.“ Huch, woher kam das denn jetzt? Sie hatte einer anderen Kellnerin die Kunst des Tischabwischens beigebracht. Und ein Wochenende war sie für ihre Freundin Kirsty in der Sandwichbar eingesprungen, weil Kirstys Freund die Biege gemacht hatte.

Ellie erinnerte sich, dass diese zwei Tage der Auslöser für ihre Bewerbung hier gewesen waren. Sie hatte solchen Spaß dabei gehabt, das Essen vorzubereiten und sich leckere Zutatenkombinationen für die Panini auszudenken (ihr Sandwich mit Brie, Trauben und Cranberrys war bei den Leuten super angekommen). Danach war ihr die Idee gekommen, einen eigenen Laden aufzumachen. Stundenlang hatte sie sich in Tagträumen darüber verloren – natürlich müsste es etwas mit Essen zu tun haben, idealerweise mit Backen, und sie wollte ihr eigener Chef sein. Ihr großes Vorbild war ihre wundervolle Großmutter. Sie sah es noch vor sich, wie diese auf dem Stuhl in ihrer Küche gesessen und mit einem Holzlöffel Biskuitteig gerührt hatte. Ihre Großmutter hatte ihr über tausend Pfund vererbt – damit würde Ellie die Pacht ein paar Monate lang bezahlen können. In dieser Zeit konnte sie sich ausprobieren – hoffentlich mit Erfolg. Sie war sicher, dass ihre Großmutter sie bei ihrem Vorhaben unterstützt hätte. Ellie hätte sie gerne besucht und mit ihr bei einer Tasse starkem Tee und einem Stück selbst gebackenen Zitronenkuchen über ihre Idee mit der Teestube gesprochen. Doch in der Wohnung wohnte nun jemand anderes. Die Welt hatte sich weitergedreht, und ihre Großmutter war nicht mehr da. Sie vermisste sie wirklich sehr.

Ellie zwang sich zu einem Lächeln. Ihr wurde klar, dass sie noch ausführlicher von sich erzählen sollte, doch sie wusste nicht genau, was. Wie konnte man Träume in Worte fassen?

„Und wenn Sie die Teestube nun pachten würden, Miss Hall – wie gedächten Sie, das Geschäft weiterzuführen?“

„Nun …“ Denk nach, du hast die Antworten doch die ganze Nacht geübt. „Ich habe mir die derzeitigen Umsatzzahlen und Ausgabeposten angesehen und finde, dass es definitiv Raum für Verbesserung gibt. Ich würde sämtliche Kuchen und Plätzchen selbst backen. Ich würde mein genaues Augenmerk auf die Preisgestaltung, die Personaldecke und die Kosten richten. Ich würde gute Qualität zu einem fairen Preis anbieten, ohne die Gewinnerzielung aus den Augen zu verlieren. Doch vor allem würde ich mich darum bemühen, dass die Kunden sich wohlfühlen, sodass sie wiederkommen … und ich würde meine Zutaten gerne von Händlern aus der Umgebung beziehen.“

Lord Henry hob eine seiner buschigen grauen Augenbrauen. Zugegeben, das hatte jetzt wirklich etwas gestelzt geklungen.

Plötzlich hörten sie ein energisches Pochen. Die Tür ging auf und ein Mann spazierte herein. „Tut mir leid, dass ich zu spät bin.“ Wow, der war nicht von schlechten Eltern – groß, schlank und dunkelhaarig. Er streckte Ellie die Hand hin, als er an ihr vorbeiging, und grüßte Lord Henry mit einem Kopfnicken. Er sah aus wie Ende zwanzig, vielleicht Anfang dreißig. „Es gab ein Problem mit dem Traktor“, erklärte er, „Zum Glück hab ich ihn wieder zum Laufen gebracht, aber er muss bald generalüberholt werden.“

Der Mann hatte lange Finger und gepflegte Fingernägel. Sein Händedruck war fest.

„Miss Hall, darf ich Ihnen Joseph Ward vorstellen, unseren Gutsverwalter.“

„Hallo.“ Ellie lächelte nervös. Noch einer, der Fragen stellen würde.

Die dunkelbraunen Augen des jungen Mannes fixierten sie aufmerksam, so als ob er Ellie genau unter die Lupe nehmen wollte. Dann entspannten sich seine Züge. „Joe, nennen Sie mich einfach Joe.“ Die beiden Männer tauschten einen angespannten Blick. Ellie spürte eine gewisse Spannung in der Luft, die nichts mit ihr zu tun hatte. Joe zog einen Stuhl zum Schreibtisch heran. Irgendetwas an ihm erinnerte sie an einen Schauspieler aus Silent Witness, an Harry, diesen dunkelhaarigen Gentleman aus der letzten Staffel. Joe war über 1,80 Meter groß und sehr schlank, doch unter seinem blauen Baumwollhemd, das er mit hochgekrempelten Ärmeln und offenem Kragen trug, zeichneten sich deutlich erkennbare Muskeln ab. Er sah zugleich elegant und lässig aus.

„Entschuldigung, ich wollte Sie nicht unterbrechen. Machen Sie einfach dort weiter, wo Sie stehen geblieben waren.“ Trotz seiner äußeren Erscheinung hatte er keinen Oberschicht-Akzent, sondern den typischen nordenglischen Singsang ihrer Heimatstadt in der Stimme. Er lächelte Ellie an.

Jetzt, da sie ihn genauer betrachten konnte, stellte sie fest, dass seine Augen tiefbraun waren, mit grünen Einsprengseln. Ihr Kopf war wie leer gefegt. Worüber zum Teufel hatte sie vorhin bloß gesprochen?

„Händler aus der Umgebung“, gab ihr Lord Henry das Stichwort.

„Ach ja, ich möchte meine Zutaten gerne auf den Märkten und in den Läden vor Ort einkaufen.“

„Das klingt gut“, pflichtete Joe ihr bei.

„Mrs. Charlton, die Dame, die bis vor Kurzem die Teestube betrieben hat, hat sich ziemlich kurzfristig in den Ruhestand verabschiedet“, sagte Lord Henry. „Sie hatte die letzten zwölf Jahre lang die Pacht inne. Wir hatten eigentlich gehofft, sie würde zum Beginn der Saison in einem Monat wieder antreten. Da Ostern dieses Jahr schon Ende März ist, bräuchten wir Sie also schon sehr bald. Wäre das ein Problem für Sie?“

„Nein, ich denke nicht. Ich würde bei meinem jetzigen Arbeitgeber sofort die Kündigung einreichen. Normalerweise gibt es eine einmonatige Kündigungsfrist, doch ich habe noch ein paar Urlaubstage übrig. Ich denke, die Firma ist da flexibel.“ Wollte Lord Henry sie etwa einstellen? Was war mit Cynthia, der Superköchin von vorhin?

„Wo sind Sie denn im Moment beschäftigt, Ellie?“ Joe schaute ihr direkt in die Augen, während er sprach, und brachte sie damit ganz aus der Fassung. Der wollte sie wohl auflaufen lassen! Verdammt, dabei war bisher alles so gut gelaufen.

Okay, tief durchatmen. Wie formulierte sie das jetzt am geschicktesten? „Ähm, nun ja, ich arbeite als Versicherungskauffrau. Aber wie ich Lord Henry bereits erklärt habe, habe ich über die Jahre hinweg einige Erfahrungen in der Gastronomie sammeln können. Meine Freundin besitzt ein Bistro, in dem ich regelmäßig aushelfe.“ Eine elegante Umschreibung für eine Sandwich-Bar. „Und ich habe auch schon in einem Restaurant gearbeitet.“ Ja, im Funky Chicken, Kellnerin auf Minijob-Basis, fügte die Nervensäge in ihrem Kopf hinzu. Sie fühlte sich, als würde sie bald den Verstand verlieren.

„Verstehe.“ Joe rieb sich das Kinn und dachte kurz nach. Er sah eindeutig nicht überzeugt aus.

„Ah ja.“ Auch Lord Henry schien ein wenig enttäuscht zu sein.

„Und welche formalen Qualifikationen besitzen Sie in diesem Bereich, Ellie?“, hakte Joe nach.

Ihr wurde flau im Magen. Keine, überhaupt keine. Ihre Stimme klang piepsig. „Außer dem standardmäßigen Gesundheitszeugnis besitze ich nichts Offizielles.“ Lüge, Lüge, das gibt ne Rüge. Na ja, sie würde sich dieses Zeugnis so bald wie möglich besorgen. „Zu meinem eigenen Bedauern habe ich keine professionelle Ausbildung als Köchin gemacht.“ Ein Kloß steckte ihr im Hals. Sie hätte nicht zu diesem Vorstellungsgespräch kommen sollen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Ihr Traum war gerade dabei, wie eine Seifenblase zu zerplatzen …

Sie musste sich noch irgendetwas einfallen lassen, ihnen zeigen, wie viel ihr diese Pacht bedeutete. „Ich will das hier mehr als alles andere. Die Stelle im Versicherungsbüro ist nur ein Job, den ich des Geldes wegen mache. Meine Leidenschaft ist das Backen. Ich mache fabelhafte Kuchen, Kekse und Scones. Und das ist nicht nur meine eigene Meinung – meine Familie und Freunde bitten mich ständig, für sie zu backen. Ich kann auch Suppen und Quiches machen. Seit ich ein kleines Mädchen bin, träume ich von einer eigenen Teestube.“ Die Worte sprudelten einfach aus ihr heraus. „Geben Sie mir ein Jahr. Geben Sie mir diese Saison, dann werde ich Ihnen zeigen, was ich kann. Ich kann das Geschäft wieder zum Laufen bringen, einen guten Gewinn erwirtschaften und gleichzeitig noch mehr Besucher reinbringen – mehr als jetzt. Wir könnten Thementage organisieren. Ich könnte zum Beispiel ein Mittelalter-Mahl kochen.“ Sie war sich nicht einmal sicher, was man im Mittelalter überhaupt gegessen hatte. „Oder Teenachmittage veranstalten. Mit den Wohlfahrtsverbänden vor Ort zusammenarbeiten, eine Benefizveranstaltung oder ein Sommerfest organisieren. Wieso nicht auch Halloween feiern? Gruselig genug sieht es hier ja aus.“ Nun ging ihr die Puste aus.

Joe lächelte sie schief an. Sie konnte nicht einschätzen, ob ihm das, was sie gesagt hatte, gefiel, oder ob er sie einfach nur für total übergeschnappt hielt. Wo waren diese Ideen nur hergekommen? Sie waren ihr ganz spontan eingefallen; letzte Nacht, als sie in Gedanken durchgegangen war, was sie sagen wollte, waren sie noch nicht da gewesen. Vielleicht war es ein allerletzter, verzweifelter Versuch, diesen Job doch noch zu bekommen. Sonst hieß es, bye, bye, ab nach Hause. Na gut, um ehrlich zu sein, war es zu Hause eigentlich gar nicht so übel – ihre Eltern waren super. Trotzdem war es ein eintöniges Leben, mit ihrer Doppelhaushälfte in Heaton und ihrem Bürojob in einem Vorort von Newcastle. Eine eigene Wohnung konnte sie sich nicht leisten, zumindest im Moment noch nicht. Diesen Traum hatte ihr der verdammte Vollidiot Gavin Mason versaut. Sie brauchte unbedingt einen Neuanfang. Und ein Schloss war sicherlich nicht der schlechteste Ort, um neu anzufangen.

Lord Henry und Joe starrten sie an. Eine unangenehme Stille breitete sich aus. Dann stand Lord Henry auf und signalisierte damit, dass es Zeit für sie war, zu gehen. „Nun, vielen Dank, dass Sie die Zeit erübrigen konnten, hierherzukommen, Miss Hall.“

Kein „Wir bleiben in Verbindung“, wie er es zu Super-Cynthia gesagt hatte. Joe fügte dann doch noch hinzu: „Wir werden uns nächste Woche bei Ihnen melden. Wir haben noch ein paar weitere Kandidaten. Möglicherweise laden wir einige von ihnen zu einem zweiten Gespräch ein.“ Er stand auf und streckte die Hand aus. Seine Finger schlossen sich warm um ihre.

„Natürlich, wir werden uns bei Ihnen melden.“ Lord Henrys Lächeln war unergründlich.

Draußen im kühlen Korridor traf sie auf Deana. „Wollen Sie sich die Küche und die Teestube vielleicht kurz mal ansehen? Damit Sie wissen, was Sie erwartet?“

„Okay, ja, wieso nicht.“ Ja genau, mach mir nur schön den Mund wässrig, zeig mir, welche Chance ich gerade vermasselt habe.

Sie stiegen die steinerne Wendeltreppe hinab. Ellie stellte sich vor, wie ganz oben im Turmzimmer ein altes Weiblein am Spinnrad saß, bereit, ein Mädchen in den Finger zu stechen und sie in einen hundertjährigen Schlaf zu versetzen. Und dann, irgendwann, würde ihr Retter in einer schimmernden Rüstung auf einem Pferd herangaloppiert kommen und sie wachküssen. In Märchen war so etwas möglich, oh ja! Diese heldenhaften Männer holzten im Zweifelsfall sogar ganze Wälder nieder, um ihre Angebetete zu retten. Wo konnte man nur heutzutage noch einen solchen Typen finden? Sie seufzte – offensichtlich hatte sie in ihrer Kindheit zu viele Disneyfilme geschaut.

Deana führte Ellie hinaus in den Innenhof und dann durch eine mächtige hölzerne Seitentür, die sich mit einem Knarzen öffnete. Die Küche war groß, sehr groß, mit grau gestrichenen Wänden. Hier konnte man bequem Essen für eine ganze Armee kochen. Bilder von riesigen Hochzeiten und Festen tauchten vor ihrem inneren Auge auf. Offensichtlich war die Küche für mehr als nur für eine Teestube gebaut worden. Sie fragte sich, ob es noch die ursprüngliche Schlossküche war. Allerdings schien es hier nichts zu geben, das aus der Zeit vor den Siebzigern stammte, keine alten Herde oder Kupferkessel, keine an den Wänden aufgereihten Glöckchen für die Bediensteten (sie hatte immer noch Downton Abbey im Kopf). Nur praktische Arbeitsoberflächen aus Edelstahl, ein Doppelspülbecken, einen riesigen Ofen, eine moderne Mikrowelle, einen Kühlschrank, eine Tiefkühltruhe und einen Geschirrspüler.

Deana schlenderte durch den Raum, zeigte ihr die Ausstattung und entschuldigte sich für den Zustand, in dem die Küche war. Sie erklärte, dass Mrs. Charlton, die ehemalige Betreiberin, am Ende der letzten Saison überstürzt abgereist sei und dann vor einigen Wochen verkündet habe, dass sie nicht mehr zurückkommen werde – anscheinend gab es eine Familienkrise.

Bei genauerem Hinsehen merkte sie, dass die Wände mit Fettspritzern verschmiert waren. Auf der Dunstabzugshaube lag teerartiger Ruß; sie musste mal wieder ordentlich geschrubbt werden. Aber Ellie machte ein bisschen Putzen nichts aus.

Deana betrat einen schmalen Gang, der von der Küche in die Teestube führte. Ellie folgte ihr. Im Gegensatz zur Küche landeten sie nun aber wirklich in der Vergangenheit: Der ganze Raum atmete Geschichte, von den hohen Steinwänden über die Bleiglasfenster bis hin zu dem gewaltigen Kamin – um den ordentlich zu befeuern, brauchte man wohl ganze Baumstämme. Über dem Kamin hing ein riesiges Geweih, das aussah, als hätte es einmal einer verdammt furchteinflößenden Bestie aus der Steinzeit gehört. „Wenn Gäste da sind, sieht hier alles ganz anders aus“, meinte Deana.

„Ist das echt?“, fragte Ellie und schaute hinauf zum Geweih.

„Ich glaube, das sind Nachbildungen, aber die Originale sind von einem echten Tier, dessen versteinertes Skelett man gefunden hatte. Ich kann Ihnen nicht sagen, aus welcher Zeit es genau stammt, aber es muss ein riesiger Koloss gewesen sein, nicht wahr?“

„Sie sagen es!“ Er musste ausgesehen haben wie Bambi auf Steroiden.

Der Gang hatte sie vom 20. Jahrhundert – die Küche war noch nicht ganz im 21. Jahrhundert angekommen – geradewegs zurück ins 16. Jahrhundert geführt. Die Teestube hatte auf jeden Fall ihren ganz eigenen Charme – sogar eine ganze Menge davon. Um die zehn Tische aus dunklem Holz herum waren Stühle mit zerschlissenen blumenbedruckten Sitzkissen gruppiert. Es war ein wundervoller Raum, nur ein wenig vernachlässigt sah er aus.

Trotzdem konnte Ellie sich gut vorstellen, wie hier ein Feuer im Kamin brannte und freundliche Kellnerinnen in schwarzen Röcken, weißen Blusen und Rüschenschürzen frische Blumensträuße auf die Tische stellten, während sie selbst in der Küche schwitzte und immer wieder wie die berühmte Fernsehköchin Nigella Lawson genüsslich den Löffel ableckte, weil sie natürlich all ihre Kuchen vorher selbst probieren musste – „Ellies Teestube“.

Ein paar Minuten später, als sie wieder im Auto saß, merkte sie, dass sie zitterte. Vielleicht lag es ja nur an der nordenglischen Märzkälte. Oder es war tatsächlich die Angst, dass sie diesen Ort zum letzten Mal gesehen haben könnte. Sie wollte diesen Job unbedingt.

2. Kapitel

Ellie

Vier Blocks entfernt vom Haus ihrer Eltern fand Ellie einen Parkplatz. Eine endlose Abfolge von Reihenhäusern erstreckte sich vor ihr. Die Gegend war nicht übel. Die Nachbarn waren freundlich, gleich um die Ecke gab es einige Cafés und Schnellrestaurants, außerdem einen Park, und in zehn Minuten war man mit der U-Bahn im lebhaften Stadtzentrum von Newcastle-upon-Tyne. Doch heute hatte sie einen Einblick in eine andere Welt bekommen. Ein Schloss, das Geschichte atmete, inmitten einer atemberaubenden Landschaft, darüber der weite Himmel Nordenglands, ja, diese Weite – so fühlte sich Freiheit an. Sie wollte noch ein wenig mehr davon kosten, sie leben, sie einatmen, darin schwelgen.

Heute hatte Ellie eine Vorstellung davon bekommen, wie ihre Zukunft aussehen könnte. Nun war sie umso erpichter auf den Job. Doch noch immer war sie sich sehr unsicher, ob das Vorstellungsgespräch nun gut gelaufen war oder nicht. Sie selbst hätte sich jedenfalls eine ziemlich schlechte Note gegeben.

Ellie stieg aus dem Auto, ging zu dem Haus mit der Nummer fünf und schloss die Tür auf. Es roch nach Putzmitteln und Gemüse. Ihre Mum, Sarah, schälte gerade Karotten in der Küche. Auf einem Brett neben ihr lagen Zwiebeln, Pastinakenwurzeln und ein großes, von Fettstreifen durchzogenes Stück Rindfleisch, bereit, in Würfel geschnitten zu werden.

„Hallo, Schatz … Wie ist es gelaufen?“ Sarah drehte sich mit einem vorsichtigen Lächeln zu ihr um.

„Ähm, weiß nicht genau, um ehrlich zu sein … auf jeden Fall ist es ein wunderschönes Anwesen … ein richtiges Schloss … mit einem riesigen Grundstück. Und alle waren ganz nett …“ Nun ja, Lord Henry war der Typ Mensch, der einen einschüchtern konnte, ohne dass er ein Wort zu sagen brauchte, aber man musste ihn wohl einfach nur besser kennenlernen. Deana war einfach nur liebenswert. Und Joe, dieser gut aussehende Typ … Irgendetwas an ihm beunruhigte sie, aber eigentlich schien er in Ordnung zu sein. Vielleicht ein wenig reserviert, aber schließlich hatten sie ja auch ein offizielles Vorstellungsgespräch geführt. Auf jeden Fall hatte er mehr nachgehakt als Lord Henry. Wenn man sie zu einem zweiten Gespräch bitten würde, müsste sie sich viel besser vorbereiten, eine Kalkulation erstellen, einen Businessplan ausarbeiten und irgendwie an dieses Gesundheitszeugnis kommen. Wenn … von diesem kleinen Wort hing ihr ganzes Leben ab. Ellie setzte schnell ein hoffnungsvolles Lächeln auf, als ihre Mutter kurz zu ihr hinübersah.

„Na ja“, meinte sie in schulmeisterlichem Ton, „Ein bisschen weit ab vom Schuss ist es da oben ja schon. Ich kann immer noch nicht verstehen, warum du dir eine Arbeit suchst, die so weit weg ist. Überleg nur mal, wie viel Benzin du da jeden Tag verbrauchst. Wie lange hat die Fahrt gedauert?“

„Ungefähr eine Stunde.“ Eine Weile der A1 nach Norden folgen, dann weiter in einen Irrgarten aus verwinkelten Landstraßen, in der Hoffnung, sich nicht zu verirren. Aber Ellie hatte nicht die Absicht, diese Strecke jeden Tag zu fahren, nein, sie wollte dorthin ziehen. In der Stellenanzeige hatte gestanden, dass dem Pächter eine Unterkunft zur Verfügung gestellt würde. Gegenüber ihren Eltern hatte sie das noch nicht erwähnt. Es hatte keinen Sinn, ihre Mutter zu beunruhigen, wenn am Ende doch nichts daraus würde.

„Bist du dir sicher, dass du diesen Job willst, Ellie? Ist das nicht nur so eine Laune von dir? Ich verstehe nicht, wieso du deine gut bezahlte Stelle in der Versicherung aufgeben willst. Was, wenn es schiefgeht? Du wirst nicht einfach so zurück in dein altes Büro spazieren können – schon gar nicht jetzt, in Zeiten der Wirtschaftskrise.“ Sarah sah von ihren Karotten auf. Ihre blaugrauen Augen waren dunkel vor Sorge.

„Vielen Dank für dein Vertrauen, Mum.“

„Ach, Schätzchen. Ich möchte nur nicht, dass du dir etwas vormachst. Dass du dir ein Traumschloss baust und dann auf einmal merkst, dass das alles gar nicht so ist, wie du es dir vorgestellt hast. Ich will einfach nicht, dass du am Ende ganz ohne Job dastehst.“ Sie trocknete die Hände an ihrer blumenbedruckten Schürze ab und tätschelte liebevoll Ellies Schulter.

Ihre Mutter war eben vernünftig und vorsichtig, sie brauchte Ordnung und Beständigkeit. Manchmal machte sie Ellie damit verrückt. Natürlich war die Besorgnis ein Zeichen ihrer Liebe, doch in letzter Zeit hatte Ellie immer mehr das Gefühl, eine Schlinge um den Hals zu haben, die ihr die Luft zum Atmen nahm. Seit wann war es so schlecht und gefährlich, Träume zu haben? Ellie und ihre Mutter kamen recht gut miteinander aus, doch manchmal spürte Ellie, wie unterschiedlich sie und ihre Mutter doch waren. Sie sah die Welt mit anderen Augen. Ellie spürte, dass da draußen etwas auf sie wartete, etwas, was sie noch nicht gefunden hatte. Was machte es schon, wenn ihr Plan schiefging? Zumindest hatte sie es dann versucht.

„Jobs wachsen heutzutage nicht auf Bäumen, Eleanor.“ Gott, jetzt benutzte sie auch noch ihren vollen Namen. Ihre Mutter war gerade voll auf dem Vernunfttrip.

„Das weiß ich doch, Mum. Aber wenn es wirklich so weit käme, würde ich schon etwas anderes finden.“ Wenn es wirklich schiefging, würde sie eben kellnern oder Klos putzen, irgendetwas in der Richtung.

Sarah verdrehte nur die Augen und nahm den Fleischbrocken in die Hand.

Ellie seufzte. Großmutter Beryl hätte sie sicher verstanden. Doch sie war nicht mehr da, um Ellie zu unterstützen und ihr ihren Segen zu geben. Ellie fühlte eine schmerzhafte Leere in sich. Ihre Großmutter war eine so wundervolle Person gewesen, fleißig, lustig, liebevoll und weise, alles zugleich. Sie hatte Ellie als Erste zu diesen Back-Exzessen angestiftet: Ellie erinnerte sich daran, wie sie vor langer Zeit in Omas Wohnung immer die Rührschüssel hatte ausschlecken dürfen, sobald diese den Kuchen in den Ofen geschoben hatte. Sie hatte zugesehen, gelernt und sich nebenbei mit klebrig süßem Kuchenteig den Bauch vollgeschlagen – und sie hatte es geliebt. An einem geheimen Platz in ihrem Schlafzimmer bewahrte sie immer noch das zerfledderte alte Kochbuch ihrer Großmutter mit deren handschriftlichen Notizen und Zetteln mit Rezepten auf. Omas Kaffeekuchen war einfach unschlagbar – ein Traum aus Sahne und Schokolade. Schon nach einem Bissen fühlte man sich wie im Himmel.

Doch vor über einem Jahr war die Gute gestorben. Ellie vermisste sie so sehr, dass es wehtat. Sie hoffte, dass sie droben im Himmel immer noch ihre Kuchen backte und damit die Engel mästete und bei Laune hielt. Ja, sie war sich sicher, dass Oma sie in ihrem Vorhaben unterstützt hätte, sie ermuntert hätte, es zu versuchen. Fast konnte sie ihre Stimme hören, wie sie in ihrem warmen Geordie-Akzent zu Ellie sagte: „Ach, mein Mädel, um deine Mutter mach dir mal kein Sorgen. Die is schon so vernünftig zur Welt gekommen. Aber es is dein Leben, dein Traum.“

Ellie brauchte eine Veränderung, besonders nach der Sache mit diesem Blödmann Gavin vor einem halben Jahr. Ach nein, sie wollte jetzt nicht darüber nachdenken. Er war es nicht wert, dass man überhaupt nur einen Gedanken an ihn verschwendete.

Ellie hängte ihre Jacke in den Schrank unter der Treppe. Dann ging sie zurück in die Küche und bot an, die Klößchen für das Stew zu machen. Sie fragte ihre Mutter, wie ihr Tag gewesen sei, erleichtert, von sich selbst ablenken zu können. Sarah hatte einen Teilzeitjob im Bioladen um die Ecke, außerdem putzte sie manchmal in einer Arztpraxis. Sie plauderten ein wenig. Die Klößchen zu machen lenkte Ellie von ihren Sorgen ab. Sie vermischte das Mehl mit trockenen Kräutern, fügte Rindertalg und Wasser hinzu und rollte den Teig zwischen den Händen. Dann formte sie daraus geschickt kleine Bällchen und gab sie zum Eintopf dazu.

Zehn Minuten später wurde die Haustür aufgerissen und Keith, Ellies Vater, kam mit einem lauten „Hallo“ und einem breiten Grinsen im Gesicht herein. Er hatte gerade einen Achtstundentag als Klempner und Handwerker hinter sich. Schelmisch guckte er Ellie und Sarah an. „Da sind ja meine Damen! Na, Ellie, wie ist es denn gelaufen? Ham sie dich schon zur Chefköchin gemacht?“

„Nee, noch nicht“, sagte Ellie lächelnd. „Vielleicht werde ich zu einem zweiten Gespräch eingeladen. Mal sehen.“

„Da drück ich dir ganz fest die Daumen, mein Mädchen. Ich geh besser mal rauf und zieh mich um. Wie ich sehe, gibt’s heute Abend Stew?“

„Mh-hmm.“

„Großartig. Ich bin am Verhungern.“

In den letzten paar Jahren war Keiths Betrieb ein wenig ins Stocken geraten – die Wirtschaftskrise hatte das Baugewerbe ziemlich hart getroffen –, und so nahm er häufig auch außerhalb der normalen Arbeitszeiten noch Aufträge an. Immerhin habe er einen Beruf, da könne er sich glücklich schätzen, meinte er oft. Vergnügt pfiff er vor sich hin, während er nach oben ging, um seinen Blaumann auszuziehen.

Kurze Zeit später kam auch Jason, Ellies Bruder, nach Hause. Im Flur schleuderte er seine matschbespritzten Fußballschuhe von sich. Er war 17, also neun Jahre jünger als Ellie, und immer noch in der Oberstufe. Um seine Hausaufgaben drückte er sich, wo es nur ging; stattdessen machte er Sport – wenn er sich nicht gerade mal wieder neu verliebt hatte. Dieses Mal war es Kylie, ein Mädchen mit hellblonden Haaren und von zweifelhafter Herkunft, das ein paar Häuser weiter wohnte. Anscheinend sandte sie Jason immer noch uneindeutige Signale, was den Status ihrer Beziehung anging; an dem einen Tag setzte sie sich im Bus neben ihn und textete ihn zu, am nächsten kicherte sie die ganze Zeit mit ihren Freundinnen und ließ ihn links liegen.

„Jason, stell doch deine Schuhe bitte vor die Tür, nicht in den Flur. Sie verpesten sonst das ganze Haus. Ich weiß nicht, wie oft ich das noch sagen muss“, rief Sarah, bevor er nach oben in sein Zimmer verschwinden konnte. Die Luft war erfüllt von Jasons Fußschweißgeruch.

Eineinhalb Stunden später saßen sie alle um den Küchentisch. Jay war wie immer kurz vorm Verhungern und schaufelte seine Portion in sich hinein, als gäbe es kein Morgen. Den restlichen Abend verbrachte die Familie Hall wie gewohnt vor dem Fernseher, wobei Sarah die ganze Zeit Coronation Street gucken wollte und die Männer ständig zum nächstbesten Sender wechselten, auf dem ein Fußballspiel lief. Danach plauderte man noch ein bisschen, trank eine Tasse Tee, und dann hieß es ab ins Bett.

Ellie war ziemlich müde. Die lange Fahrt zum Schloss und das Vorstellungsgespräch hatten sie erschöpft. Als sie in ihrem Bett lag, in ihrem kleinen Kinderzimmer mit den rosa gestrichenen Wänden (eine kirschrot, die anderen drei kirschblütenpink – die Farben hatte sie sich selbst ausgesucht, als sie zwölf war), dachte sie über ihren Besuch auf Schloss Claverham nach. Hatte sie überhaupt auch nur entfernt eine Chance, genommen zu werden? Und falls, ja falls sie den Job bekäme – was beinahe außerhalb ihrer Vorstellungskraft lag – würden sie ihr dort ein Zimmer zur Verfügung stellen? Wie es wohl wäre, dort wirklich zu arbeiten, zu leben? Ihre Träume fühlten sich an wie Seifenblasen, die schimmernd am blauen Himmel schwebten. Doch zerplatzten Seifenblasen nicht unweigerlich, sobald sie auf dem Boden der Tatsachen aufkamen?

Ellies Gedanken drehten sich im Kreis, an Schlaf war trotz ihrer Müdigkeit nicht zu denken. Sie hätte sich besser vorbereiten, alles noch besser durchdenken sollen. Nicht einmal die Hälfte der Dinge, die sie sich in der Nacht zuvor im Bett zurechtgelegt hatte, hatte sie im Vorstellungsgespräch anbringen können. Vielleicht hatte ihre Mutter doch recht. Vielleicht war es tatsächlich nicht ratsam, Dinge aus einer Laune heraus zu tun. Dennoch – irgendeine Stimme in ihrem Inneren sagte Ellie, dass sie das Richtige getan hatte. Schon als sie die Stellenanzeige im Journal gelesen hatte, war sie ganz begeistert gewesen. Und dann hatte sie tatsächlich angerufen und eine Einladung zum Vorstellungsgespräch bekommen – diese Schritte auf dem Weg zu ihrem Traum war sie ganz allein gegangen. Sie konnte es schaffen, wenn man ihr nur eine winzige Chance gab! Ihr Traum hing an diesem kleinen Wörtchen „wenn“ wie an einem seidenen Faden. Das flaue Gefühl in ihrem Magen wollte nicht weggehen.

Beton, Stahl, Glas – Ellie war zurück in ihrer Versicherung. Es war Dienstag, der Tag nach ihrem Vorstellungsgespräch. Bereits auf dem Weg in das nüchterne Großraumbüro hatte sie sich ganz leer gefühlt. Sie wusste genau, wie ihre nächsten zehn Jahre hier aussehen würden – das Aufregendste würde noch die Beförderung zur Teamleiterin sein, was aber auch bedeutete: noch mehr Ziele, die zu erreichen, noch mehr Fristen, die einzuhalten, noch mehr Personal, das zu managen war.

Ihre Kollegen waren eigentlich ganz nett. In der Teeküche wurde sie von Gemma, ihrer Freundin, abgepasst; sie war die Einzige, der sie die Wahrheit anvertraut hatte.

„Na? Wie ist es gelaufen?“, wisperte sie.

Sie wusste, wie wichtig Ellie dieses Vorstellungsgespräch war. Vor ein paar Tagen hatte sie halb im Scherz vorgeschlagen, dass sie doch als Kellnerin für Ellie arbeiten könne, falls sie dann demnächst die Teestube übernähme. Doch Gemma war durch und durch ein Stadtmensch. Keine zehn Pferde konnten sie dazu bringen, aufs Land zu ziehen.

„Es war ganz okay … glaube ich zumindest“, flüsterte Ellie, platzierte den Plastikbecher unter die Düse des Kaffeeautomaten und drückte auf den Knopf. „Schwer zu sagen. Aber ich glaube, es gibt noch eine andere heiße Anwärterin auf die Stelle.“

„Ah, das kann man nie wissen. Viel Glück jedenfalls!“ Gemma lächelte sie aufmunternd an, ihre blaugrauen Augen strahlten. Sie war groß und schlank, fast knabenhaft gebaut und hatte kurze platinblonde Haare.

„Ich warte einfach mal ab …“, begann Ellie.

„Guten Morgen, die Damen.“ Weasley William, einer ihrer Kollegen aus der Kundenbetreuung, tauchte neben ihnen auf. Ellie zuckte zusammen.

„Morgen, Will“, erwiderte sie. Gemma zog nur die Augenbrauen nach oben. Will schien immer gerade dann aufzutauchen, wenn sie über etwas Unanständiges redeten: etwa Sex oder – in Gemmas Fall – Alkohol. Sie war sicher, dass er es mit Absicht tat. Ihre Theorie, über die sich die beiden Freundinnen schon so manchen Abend kaputtgelacht hatten, war, dass er entweder für die Geschäftsführung spionierte oder aber ein Perverser war – oder einfach nur bis über beide Ohren in Ellie verliebt.

Auf jeden Fall setzte seine Anwesenheit dem Gespräch ein jähes Ende.

„Na gut, ich geh mal besser wieder an meinen Schreibtisch“, sagte Ellie fröhlich und setzte sich mit dem Kaffee in der Hand in Bewegung.

„Bis später, El. Details dann beim Mittagessen. Ich reservier dir ’nen Donut“, rief Gemma grinsend.

Einige Stunden später war Ellie wieder zu Hause. Ihre Füße schmerzten – den schlaglochübersäten Weg von der U-Bahn-Station bis nach Haus in High Heels und inmitten einer Schar von Pendlern zu bewältigen, war sicher nicht ideal.

Schon als Ellie ihre Schuhe auf dem Fußabtreter abstreifte, rief ihre Mutter aus dem Wohnzimmer: „Da hat jemand für dich angerufen.“

Oh mein Gott. „Oh, okay, wer denn?“ Ihre Stimme klang ruhiger, als sie sich tatsächlich fühlte.

„Joe soundso … Ward, glaub ich.“

Ihre Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. Sie hatten also eine Entscheidung getroffen. Mussten die Absagen erteilen. Sie würde wohl auf absehbare Zeit weiter im Versicherungsbüro arbeiten müssen.

„Hat er eine Nachricht für mich hinterlassen?“ Tief durchatmen.

Ellie stand wie erstarrt im Flur, während ihre Mutter sich der gedämpften Stimme nach zu urteilen irgendwo im Wohnzimmer befand.

„Nur dass du ihn zurückrufen sollst. Er ist noch bis sechs erreichbar. Ich hab seine Nummer auf den Notizblock beim Telefon geschrieben.“

Und noch mal tief durchatmen. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Oh mein Gott – sie hatte nur noch zehn Minuten Zeit, um ihn anzurufen. Einerseits war sie natürlich neugierig, doch war es nicht besser, wenn sie die Wahrheit nicht sofort erfuhr? Dann konnte sie sich wenigstens noch diese Nacht an eine winzige Hoffnung klammern. Ihr Magen rumorte. Sie stand da wie festgewachsen.

Okay, Ellie May Hall, gab sie sich schließlich einen Ruck, denk an die drei Gs – gefasst, gelassen, gesammelt. Sie schleuderte ihre Stilettos von sich und bewegte die Zehen – was für eine Erleichterung! Aber jetzt schnell zum Telefon. Dieses Zögern hatte sie schon wertvolle Zeit gekostet. Sie schaute noch mal auf die Uhr: noch neun Minuten.

„Also dann“, versuchte sie sich selbst zu beruhigen, „bringen wir es hinter uns.“ Sie nahm Notizblock, Stift und Telefonhörer in die Hand. Nun musste sie nur noch die Nummer wählen. Schluck.

Sie brachte es nicht über sich. Was, wenn sie am Telefon zusammenbrach, nach dem „Es tut mir leid, aber …“ kein Wort mehr herausbrachte?

Und dann war da noch ein anderer quälender Gedanke, nämlich dass dies vielleicht das letzte Mal war, dass sie Joes Stimme hörte, dass sie ihn vielleicht nie wiedersehen würde. Warum machte ihr das so viel aus? Sehr merkwürdig. Nur noch sieben Minuten … vielleicht war er sowieso schon weg … Ruf ihn doch verdammt noch mal einfach an!

Sie begann zu wählen.

„Rufen Sie jetzt an und sichern Sie sich Ihren Traum … oder Ihren Albtraum.“

0-1-6-6-5 … mit jedem Tastendruck pumpten ihre Adern Adrenalin durch den Körper.

Tut – tut – tut. Ihr Herz hämmerte.

„Guten Abend, Claverham Castle, Deana am Apparat.“

Ah, Deana, Gott sei Dank.

„Hallo Deana, hier ist Ellie … ähm, ich rufe wegen des Jobs an. Ähm, ich glaube, Joe hat heute Nachmittag schon mal angerufen, als ich bei der Arbeit war.“ Sie redete schon wieder zu viel, das passierte jedes Mal, wenn sie nervös war. „Wie dem auch sei – ich wollte eigentlich nur fragen, ob er noch da ist. Könnten Sie mich mit ihm verbinden?“

„Ja, ich glaube, er ist noch in seinem Büro. Einen Moment, Ellie Schätzchen, ich verbinde.“

Pause. Ihre Träume hingen an einem seidenen Faden. Dann hörte sie seine Stimme. „Joe Ward am Apparat, hallo.“ Er klang förmlich.

„Oh, hallo … Sie hatten darum gebeten, dass ich Sie zurückrufe. Hier ist Ellie … es geht um den Job.“

„Ah, Ellie, hallo.“ Seine Stimme wurde sanfter. Wollte er sie auf eine Enttäuschung vorbereiten? „Nun …“

Eine weitere quälende Pause.

„Wir würden Sie gerne zu einem zweiten Gespräch einladen.“

„Wirklich?“ Aus irgendeinem Grund musste sie sich beherrschen, nicht in Lachen auszubrechen.

„Ja, diesen Donnerstag, wenn das bei Ihnen ginge.“

Übermorgen also.

„Könnten Sie um 11 Uhr hier sein?“

Natürlich konnte sie.

„Ja, selbstverständlich.“ Sie würde schon wieder blaumachen müssen, aber es musste sein. Gemma würde sicher für sie einspringen. „Alles klar.“ Oh mein Gott, dieses Mal musste sie sich gründlicher vorbereiten, sie musste sich sofort für eine Hygieneschulung anmelden und ein Gesundheitszeugnis beantragen und sich außerdem noch ein paar schlagkräftige Argumente ausdenken, warum sie genau die Richtige für den Job war … hm, nur welche Argumente? Egal, sie hatte zwei Tage Zeit, darüber nachzudenken. Google würde schon etwas Brauchbares ausspucken.

„Sehr gut. Sie haben uns beim Vorstellungsgespräch sehr beeindruckt.“ Es klang, als würde er am anderen Ende der Leitung lächeln.

Beeindruckt?

„Wir würden gern noch ein wenig mehr über Sie wissen. Über Ihre Erfahrungen, Arbeitszeugnisse und so weiter.“

Bei den letzten Worten verwandelte sich ihre Hochstimmung in Besorgnis. Sie fragte sich, ob Kirsty aus dem Café ihr ein Zeugnis ausstellen und ihre Tätigkeit gleichzeitig ein wenig ausschmücken konnte.

Ihre Mutter steckte den Kopf durch die Tür und zog die Augenbrauen hoch. Ellie reckte den Daumen nach oben und drehte dann den Kopf ruckartig zur Seite, um zu signalisieren, dass sie immer noch telefonierte und Sarah wieder ins Wohnzimmer gehen sollte.

„Nun, dann wäre das also geklärt, Ellie. Wir erwarten Sie am Donnerstag um elf.“

„Ja … und vielen Dank.“ Sie hörte es klicken, dann war Stille. Wenn schon kein endgültiges Ja, so war es doch ein definitives Vielleicht. Beeindruckt – das Wort wollte ihr nicht mehr aus dem Kopf. Und sie hatte befürchtete, dass sie wie eine Schwachsinnige herumgestammelt hatte.

Sie tanzte ins Wohnzimmer. Jason lag auf dem Sofa ausgestreckt, ihre Mutter tat so, als würde sie fernsehen. „Na, was gibt’s Neues?“

„Ratet mal, wer zu einem zweiten Gespräch eingeladen wurde!“, sang sie.

Jason überwand sich zu einem Nicken. „Cool.“

„Nun, das sind ja großartige Neuigkeiten“, sagte ihre Mum vorsichtig, nicht ohne mit einem wissenden Lächeln hinzuzufügen: „Aber mach dir trotzdem keine zu großen Hoffnungen.“

Ellie ließ sich davon nicht beirren, hüpfte hinaus in den Gang und stieß die Fäuste in die Luft. Doch dann fragte sie sich, wie zur Hölle sie nur den guten Eindruck aufrechterhalten sollte – ohne irgendwelche Erfahrungen oder Qualifikationen, die sie vorzeigen konnte. Sie hörte auf zu hüpfen.

3. Kapitel

Ellie

Nachdem sie erfolgreich einen weiteren Urlaubstag erbettelt hatte, war Ellie wieder nach Norden unterwegs. Sie fuhr von der A1 runter und ließ die Auto- und LKW-Schlangen hinter sich. Als die Straße kurvenreicher wurde, fuhr sie streckenweise nur mit einer Hand am Lenkrad; die andere hielt die Schachtel mit dem Kuchen neben ihr auf dem Beifahrersitz fest. Die Schachtel enthielt den Kaffeekuchen, den sie gestern Abend gemacht hatte, natürlich nach Oma Beryls Geheimrezept. In einer Wanne im Fußraum lagen eng aneinandergeschmiegt Kirsch-Mandel-Scones, die sie heute Morgen um halb sieben noch frisch gebacken hatte.

Ellie hatte ewig darüber nachgedacht, wie sie Lord Henry und Joe noch mal beeindrucken könnte, da es ihr „auf dem Papier“ ja an Erfahrung mangelte. Ihr war die Idee gekommen, dass sie ja eine Kostprobe ihrer Backerzeugnisse mitnehmen und mit den beiden sozusagen eine vorgezogene Teestunde abhalten könnte. Das war ihre einzige Trumpfkarte.

In der Stunde der Not hatte Ellie Omas Kaffeekuchen-Rezept hervorgeholt, hatte wie eine Verrückte Zutaten vermischt und Teig gewalzt, und das Ganze am Ende mit dicken Schokolocken und diesen wundervollen, mit schwarzer Schokolade überzogenen Kaffeebohnen (ihre eigene Rezeptvariante) dekoriert. Sie hatte bis in die frühen Morgenstunden hinein gearbeitet, da ihr der Kuchen beim ersten Versuch nicht so gut gelungen war. Irgendwann war ihre Mutter in der Küche erschienen, in Morgenmantel und Hausschlappen und mit verschlafener Miene, und hatte gefragt, was zum Teufel Ellie um ein Uhr morgens in der Küche verloren habe. Sie hatte befürchtet, dass Einbrecher im Haus seien. „Ja, genau“, hatte Ellie gescherzt, „Einbrecher, die mit Tortenspachtel und Schokobuttercreme bewaffnet sind.“

Egal, hier war sie also und flitzte recht gewagt die gewundenen Straßen entlang, während sie mit der einen Hand ihre wertvolle Fracht festhielt. Auf keinen Fall wollte sie riskieren, dass der Kuchen vom Sitz rutschte und als matschiger Haufen im Fußraum landete.

Endlich hatte sie wieder eine gerade Straße vor sich. Sie entspannte sich ein wenig. Vor ihr eröffnete sich ein herrliches Panorama: wogende grüne Felder, vereinzelte Schafe, hier und dort ein Cottage, die Ausläufer der Cheviot Hills. Träge grasten die Hochlandrinder auf den Weiden, hoben ab und an ihre zotteligen Köpfe und schauten über ihr Land. Könnte es auch ihr, Ellies, Land werden? Für jemanden, der in der Stadt groß geworden war, fühlte sie sich erstaunlich stark zum Land hingezogen. Als sie noch jünger war, waren sie mit ihrer Familie ein- oder zweimal im Jahr nach Ingram Valley zum Picknicken gefahren. Sie hatten das Auto direkt am abgegrasten Flussufer geparkt und den Tag in Shorts und T-Shirt verbracht, waren im eisigen braunen Flusswasser herumgeplanscht und hatten einen kleinen Bereich abgesteckt und gespielt, als wäre es ihr eigener Swimmingpool. Kaum waren sie aus dem Wasser gestiegen und hatten sich zähneklappernd in Handtücher gehüllt, mampften sie genüsslich Schinken-Käse-Sandwiches, gelb-weiß-pinke Biskuitkuchen und Mini-Apple Pies aus kleinen Plastikverpackungen (das Back-Gen hatte in ihrer Familie wohl leider eine Generation übersprungen). Oft lernten sie bei einem Spaziergang den Fluss entlang noch andere Kinder kennen, mit denen sie eine Runde Schlagball spielten. Am Abend fuhren sie wieder zurück nach Newcastle, müde und glücklich, und ließen die Schafe und das Farnkraut wieder in Ruhe.

Ellies kleiner Corsa wand sich eine enge Straße hinunter und fuhr durch ein hübsches Dorf. Sie kam an Cottages aus Stein und einem Dorfpub vorbei; ein alter Mann mit einem Hund nickte ihr freundlich zu. Ellie wettete, dass sich hier alle Bewohner mit Namen kannten. Bei dem Schild „Claverham Castle“ bog sie ab.

Plötzlich spielten ihre Nerven verrückt.

Wie zum Teufel sollte sie Lord Henry und Joe überzeugen, dass sie erfolgreich eine Teestube betreiben und die Pacht zahlen konnte, wenn sie selbst nicht davon überzeugt war? Sie besaß doch keinerlei Ausbildung auf diesem Gebiet. Zwar hatte sie sich mit Kirsty im Café über so manches unterhalten, und aus der Zeit, in der sie dort gearbeitet hatte, kannte sie einige grundlegende Hygiene- und Lebensmittelvorschriften, doch dann gab es ja auch noch die Arbeitsschutzvorschriften, die Regeln im Umgang mit Kunden, mit dem Personal – das Ganze schien ein einziges großes Minenfeld zu sein. Wenn sie nicht die halbe Nacht damit zugebracht hätte, diesen verdammten Kuchen zu backen und außerdem das „Ich hab’s dir ja gesagt“ ihrer Mutter im Ohr gehabt hätte, wäre sie jetzt wieder umgedreht.

Zum Glück übernahm ihr optimistisches Alter Ego das Steuer beziehungsweise Großmutter Beryl, deren Stimme durch ihren Kopf hallte: „Du hast es schon so weit geschafft, Mädchen, jetzt musst du dranbleiben. Gib einfach dein Bestes und schau, was dabei herauskommt.“ Das Aufflackern der Erinnerung an ihre Großmutter gab ihr die Kraft weiterzufahren. Als sie in die Auffahrt zum Schloss einbog, fuhr sie instinktiv langsamer, um dieses Mal alles bewusst wahrzunehmen. Krokusse und Schneeglöckchen säumten die Grasstreifen neben der Straße, dazwischen standen Narzissen mit noch fest geschlossenen gelbgrünen Knospen. Ellie hatte sie vor ein paar Tagen gar nicht bemerkt. Hohe, knorrige Bäume fassten die Straße ein, und die Sonne, die durch sie hindurchschien, warf ein schachbrettartiges Muster auf den Weg. Dann kam die majestätische Silhouette des Schlosses in Sicht. Aus mehreren Schornsteinen kräuselte sich Rauch nach oben, kleine Türmchen schmückten das Dach. Es war ein symmetrischer Bau, vier Stockwerke hoch und mit vier quadratischen Ecktürmen, die ihn stabilisieren sollten; das Eingangstor war genau in der Mitte eingelassen worden. Das Schloss sah aus wie ein Märchenschloss. So als wäre es von einem Kind gezeichnet worden. Ellie fragte sich, was innerhalb dieser alten Mauern im Laufe der Jahrhunderte alles passiert sein mochte – welche Freuden, welche Leiden, welche Lieben, Geburten und Tode mochten die Bewohner erlebt haben?

Und ihre eigene kleine Geschichte – würde sie hier ihre Fortsetzung finden? Konnte sie darauf hoffen, dass ihre Zukunft hinter diesen Mauern lag, zumindest für die nächste Zeit? Wie würde es sein, jeden Tag hierher zur Arbeit zu fahren, Kuchen und Scones zu backen, Sandwiches und Suppen zuzubereiten, Kunden zu bedienen, täglich Lord Henry und Joe zu begegnen? Ihr Herz machte einen kleinen Sprung. Wenn man ihr nur die Chance gäbe, es herauszufinden!

Ellie parkte ihren Corsa und fuhr sich kurz mit einer Bürste durchs Haar. Dann band sie es zu einem losen Dutt zusammen und steckte diesen mit einer Spange am Hinterkopf fest. Das Letzte, was sie wollte, war, dass eine Strähne ihres honigblonden Haares an der Schokobuttercreme ihres Prachtexemplars von Kuchen hängenblieb. Kleidungstechnisch hatte sie sich dieses Mal für einen dunkelgrauen Hosenanzug und flache schwarze Lederschuhe entschieden. Die High Heels hatten sich beim letzten Besuch als etwas heikel erwiesen, und dieses Mal musste sie ja auch noch den Kaffeekuchen und die Scones schleppen.

Keine Spur von Deana oder sonst irgendjemandem. Sie würde also ihre Mitbringsel allein hineintragen müssen. Sie warf noch einen letzten Blick in den Rückspiegel und trug ein wenig Lipgloss auf ihre Lippen auf. So, das musste genügen, es war schon zehn vor elf, also schnell aussteigen und hinein ins Vergnügen. Tief einatmen. Autotür öffnen. Das Gelände auf Matschpfützen sichten – so weit alles klar. Sätze, die sie einstudiert hatte, schwirrten ihr durch den Kopf. „Ich bin sehr organisiert“, „kann gut im Team arbeiten, habe aber durchaus auch Führungsqualitäten“, „bin gewohnt, die Initiative zu ergreifen“, „hatte die alleinige Verantwortung für ein Bistro beziehungsweise Café“, „besitze Unternehmergeist“ (sie hatte ihren Abschluss in Betriebswirtschaft gemacht und immerhin eine Zwei geschafft). So, jetzt die Beifahrertür öffnen. Zuerst die Tasche mit den Scones, dann die Kuchenschachtel – sehr vorsichtig. Die Beifahrertür mit einem leichten Hüftschwung schließen. Und jetzt langsam auf den Schlosseingang zusteuern.

Das Haupttor war geschlossen. An der Wand daneben war ein altmodischer Klingelknopf – doch wie sollte sie diesen drücken, ohne den Kuchen fallen zu lassen? Verwirrt stand sie da, als sich die mächtige hölzerne Tür plötzlich einen Spalt breit öffnete. Eine barsche männliche Stimme sagte: „H’lo??“ Der Spalt wurde größer und gab den Blick auf einen jungen Mann mit einem zahnlückigen Grinsen und raspelkurzem Haar frei. Er trug Jacke und Hose mit Camouflage-Print.

„Hallo, ich bin Ellie …“ Sie wollte gerade hinzufügen, dass sie wegen eines Vorstellungsgesprächs hier war, da tauchte Deana neben ihm auf.

„Ah, Ellie, wie schön, Sie zu sehen.“ Sie lächelte breit. „Nun steh nicht nur rum, James, sondern mach ihr die Tür auf. Und nimm ihr die Schachtel ab, du siehst doch, dass sie Hilfe braucht.“ Deana redete in einem strengen, aber nicht unbedingt unfreundlichen Ton mit dem jungen Mann; scheinbar musste man ihm genau klarmachen, was er tun sollte. Obwohl er äußerlich wie ein Erwachsener aussah, war da etwas in seinem Gesicht, in seinen Augen, das Ellie vermuten ließ, dass er geistig etwas zurückgeblieben war.

Er griff nach der Schachtel. Ellie wollte seine Hilfe nicht ablehnen, doch sie ermahnte ihn: „Vorsicht bitte, da ist ein Kuchen drin. Bitte waagerecht halten.“

Er nickte. Bei dem Wort „Kuchen“ leuchteten seine Augen auf. Er hielt die Schachtel vorsichtig in den Händen, wie etwas Zerbrechliches.

Deana lächelte wieder. „Wenn etwas übrig bleiben sollte, heben wir dir ein Stück auf, James. Ich hoffe, das geht in Ordnung, Ellie?“

„Ja, natürlich. Ich dachte, es wäre vielleicht eine gute Idee, Lord Henry eine Kostprobe von meinem Können mitzubringen, damit er einen Eindruck davon bekommt, was ich in der Teestube anbieten würde.“

„Na, das klingt doch gut.“

Sie folgten Deana in den Innenhof und betraten einen kleinen Raum im Erdgeschoss, der wie ihr Büro aussah. Er war vollgestopft mit Ordnern und Papierstapeln.

„Kann ich mal reinspicken?“, fragte Deana.

„Klar, nur zu.“

Deana wies James an, den Kuchen auf ihrem Schreibtisch abzustellen. Ellie hob eine Ecke des Deckels an und sie guckten alle drei hinein.

„Wow! Der sieht ja traumhaft aus! Falls Sie den Job bekommen, war’s das mit meiner Diät. Wer kann da schon widerstehen. Der sieht zehnmal besser aus als alles, was Cynthia Ende des letzten Jahres zustande gebracht hat, als sie für Mrs. Charlton eingesprungen ist.“

James stand mit weit aufgerissenen Augen da und starrte den Kuchen an. Er sah aus, als würde er gleich lossabbern.

„Ich bin sicher, dass ein Stück für dich übrig bleiben wird, James. Frag nachher einfach Deana.“

James grinste breit und entblößte dabei die Lücke zwischen seinen Vorderzähnen.

„Okay, ich rufe kurz Lord Henry an und frage ihn, ob er schon bereit ist, Sie zu empfangen“, sagte Deana.

Alles in ihr spannte sich an. Die Uhr an der Wand zeigte fünf vor elf. James stand regungslos da.

„James, wieso gehst du nicht zu Colin in den Garten. Er hat bestimmt ein bisschen Holz, das du klein hacken kannst.“

Der junge Mann nickte und verließ das Büro, nachdem er noch einen letzten sehnsüchtigen Blick auf die Kuchenschachtel geworfen hatte. Als er außer Hörweite war, erklärte Deana: „Ein netter Junge. Wohnt unten im Dorf. Als er noch klein war, hatte er einen Unfall auf einem der Bauernhöfe, seitdem ist er – nun ja. Aber er arbeitet sehr hart. Lord Henry schaut immer, ob er etwas für ihn zu tun hat.“

Wie nett von ihm! Schlagartig hatte sie eine bessere Meinung von dem Lord. So furchterregend schien er ja gar nicht zu sein.

Während Deana versuchte, Lord Henry zu erreichen, sah sich Ellie im Büro um. Auf dem Boden stand ein tragbarer Gasofen, der aussah, als stammte er noch aus den Siebzigern. Ellie erinnerte sich daran, dass ihre Großmutter vor Jahren einen ähnlichen gehabt hatte. Ein Liebesroman lag aufgeklappt, mit dem Umschlag nach oben, auf dem antiken Schreibtisch. Deana hatte wohl gerade darin gelesen, bevor Ellie aufgetaucht war. Außerdem standen dort ein Mobiltelefon, ein Monitor und ein kleines gerahmtes Foto, auf dem Deana und wohl ihr Mann abgebildet waren, sowie eine halbleere Kaffeetasse mit einem pinken Lippenstiftabdruck am Rand. An der Wand hinter Deana hing eine historische Tuschezeichnung des Schlosses, und in einer Glasvitrine saß ein ausgestopftes rotes Eichhörnchen. Der Raum beherbergte ein kurioses Sammelsurium aus alten und neuen Gegenständen.

„Hallo, ich wollte nur Bescheid sagen, dass Ellie Hall hier ist.“ Gedämpftes Murmeln am anderen Ende der Leitung. „In Ordnung, dann schicke ich sie hinauf zu Ihnen.“

Deana streckte den Daumen nach oben und legte den Hörer auf.

„Toi, toi, toi, meine Liebe. Soll ich Ihnen mit dem Kuchen helfen? Ich koche auch noch Tee und bringe ihn hoch, okay? Gehe ich richtig in der Annahme, dass der Kuchen und die Scones nicht nur zum Anschauen, sondern auch zum Probieren da sind?“

„Ganz genau. Vielen Dank, Deana, das ist sehr nett von Ihnen. Wenn Sie vielleicht die Scones nehmen könnten, dann trage ich den Kuchen.“ Sie wollte einen Unfall in letzter Minute unbedingt vermeiden.

Autor