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Vier Pfoten für ein Weihnachtswunder

Als Buch hier erhältlich:

Laura hasst Weihnachten! Eigentlich wollte sie in ihrem ruhigen Häuschen auf dem Land nur dem Glitzer und Trubel der Adventszeit entfliehen. Und jetzt hat sie sich plötzlich verliebt, in Lizzy, die kleine West Highland Terrier Hündin, in eine vollkommen chaotische Familie und, wenn sie ehrlich ist, auch in Justus, den Sohn ihres Chefs. Laura ist völlig überfordert und sieht nur eine Lösung: Sie muss so schnell wie möglich weg und auf keinen Fall zurückblicken …

»Mit großen Gefühlen und einem Hund als Weihnachtsengel, sorgt Petra Schier für beste Unterhaltung an gemütlichen Winterabenden.«
Tanja Janz


  • Erscheinungstag: 01.10.2018
  • Aus der Serie: Weihnachtshund
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 336
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955768522
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. Kapitel

»Huch! Du liebe Zeit, hast du mich jetzt aber erschreckt!« Hektisch griff Santa Claus, auch als Weihnachtsmann bekannt, nach mehreren Papieren, die auf seinem Schreibtisch umherflatterten, als ein Luftzug durchs Zimmer fuhr.

»Oh, entschuldige vielmals, das war nicht meine Absicht.« Das Christkind war zur Tür hereingeschwebt und schloss sie jetzt schnell wieder. »Ich wollte nur mal kurz bei dir hereinschauen und fragen, wie es dir geht.«

»Das ist aber nett von dir.« Santa Claus hörte auf, die Schriftstücke zu sortieren, und lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück. »Nimm doch bitte Platz.« Er deutete auf den Besuchersessel. »Kann ich dir etwas anbieten? Meine Frau probiert schon wieder neue Rezepte aus, diesmal für Honigkuchen. Der ist ganz hervorragend, sage ich dir. Ich esse ihn am liebsten mit Butter bestrichen.«

»Das hört sich verführerisch an, aber nein, danke, vielleicht ein andermal.« Das Christkind ließ sich auf dem Sessel nieder und faltete die Hände im Schoß. »Es geht dir also gut?«

»Aber sicher doch. Weshalb sollte es das nicht?« Der Weihnachtsmann legte den Kopf ein wenig schräg. »Hier ist alles beim Alten, würde ich sagen. Wir haben Anfang November, und das bedeutet, die heiße Vorbereitungsphase auf das Weihnachtsfest steht uns bevor. Ich habe schon eine beachtliche Anzahl von Wunschzetteln erhalten und auch schon meine Elfen darauf angesetzt, die schwierigsten Fälle auszusortieren, damit wir sie gesondert bearbeiten können. Elfe-Sieben hat sich da ein neues System ausgedacht, damit alles rechtzeitig erledigt wird. Sie ist wirklich sehr fleißig und einfallsreich.«

»Das ist schön.« Das Christkind lächelte erfreut. »Du hast also keinen Einbruch in der Zahl der Wunschzettel beobachtet?«

»Nein, überhaupt nicht. Du etwa?« Nun beugte sich der Weihnachtsmann neugierig vor. »Du siehst ein wenig besorgt aus. Stimmt etwas nicht?«

»Nein, ich meine: ja.« Umständlich räusperte das Christkind sich. »Ist dir noch nicht aufgefallen, dass immer weniger Menschen an uns glauben? Sogar die ganz kleinen manchmal schon nicht mehr. Ich habe bisher noch vergleichsweise wenige Wunschzettel erhalten, dabei trudeln sie bei mir meistens schon ab Oktober massenweise herein. Und dann fängt auch noch fast jeder zweite Wunschzettel an mit Ich weiß, dass es dich in Wahrheit gar nicht gibt, aber … Das lässt mich schon ein wenig besorgt zurück. Ist das bei dir nicht so?«

»Jetzt, wo du es sagst …« Nachdenklich rieb sich Santa Claus über den dichten weißen Rauschebart. »Es stimmt schon, auch bei mir kommen oft Wunschzettel an, in denen die Verfasser solche Worte benutzen. Ich habe mir nie etwas dabei gedacht, denn wenn sie nicht tief in ihrem Herzen doch an mich glauben würden, wäre es ja Unsinn, mir einen Wunschzettel zu schreiben.« Er hielt kurz inne. »Worauf willst du denn hinaus? Glaubst du, wir haben ein ernsthaftes Problem?«

Nach einem Moment des Schweigens nickte das Christkind. »Ja, das glaube ich. Die Welt wird immer schnelllebiger, die Menschen halten nur noch selten inne, um das Leben wirklich zu genießen. Und weil sie immer und überall Zugriff auf Daten und Informationen haben, hören sie allmählich auf, an das Magische zu glauben.«

»Das ist sehr traurig«, befand der Weihnachtsmann.

»Finde ich auch.« Das Christkind richtete sich ein wenig auf und ließ den hellen Kranz um seinen Kopf aufscheinen. »Ich fürchte, wenn das so weitergeht, wird es eines Tages niemanden mehr geben, der an das Christkind oder den Weihnachtsmann glaubt. Und was sollen wir dann tun? Kannst du dir eine Welt ohne uns vorstellen?«

»Nein.« Nun ebenfalls besorgt stand Santa Claus auf und ging neben seinem Schreibtisch auf und ab. »Was können wir dagegen unternehmen?«

Auch das Christkind erhob sich. »Ich habe, ehrlich gesagt, keine Ahnung. Wenn schon die Kinder von ihren Eltern nicht mehr angehalten werden, an uns zu glauben, wird es schwierig, das Rad zurückzudrehen.«

»Das Rad zurückzudrehen ist gar nicht möglich«, erklang von der Tür her die Stimme von Santas Frau. »Entschuldigt bitte, dass ich mich einmische, aber ich bin zufällig am Büro vorbeigekommen und habe gehört, worüber ihr sprecht. Guten Tag, liebes Christkind, ich freue mich, dich zu sehen.«

»Guten Tag, meine Liebe.« Erfreut stand das Christkind auf und umarmte Santas Frau. »Hast du vielleicht eine Idee, wie wir das Problem lösen könnten?«

»Nicht direkt.« Bedauernd schüttelte sie den Kopf. »Ich finde nur, ihr solltet nicht zurückblicken. Die Dinge sind, wie sie sind, und die Welt dreht sich weiter. Ihr könnt die aktuellen Entwicklungen bei den Menschen nicht rückgängig machen, aber vielleicht gibt es ja einen Weg, sie allmählich wieder an das Magische und den wahren Sinn der Weihnacht glauben zu lassen. Denn dass dieser nicht allein in den Geschenken besteht, die ihr alljährlich verteilt, und auch nicht aus den Wünschen, die ihr erfüllt, dürfte uns doch allen klar sein, nicht wahr?«

»Selbstverständlich ist das nicht der wahre Sinn der Weihnacht«, pflichtete der Weihnachtsmann ihr sofort bei. »Geschenke und erfüllte Wünsche sind nur schönes Beiwerk.«

»Aber wie«, mischte das Christkind sich ein, »sollen wir die Menschen dazu bewegen, wieder an die Magie und das wahre Weihnachten zu glauben … und damit auch wieder an uns? Wenn sie es nicht bald lernen, werden ihre Kinder und Kindeskinder uns bald ganz vergessen haben. Dann bleibt womöglich nichts mehr von uns übrig als irgendwelche bunten Werbespots im Fernsehen.«

»Das ist natürlich eine Herausforderung.« Santas Frau lehnte sich gegen die Kante des Schreibtischs. »Lasst mich überlegen … Also wenn das Problem ist, dass die Menschen nicht mehr an das wahre Weihnachten und seine Glücksboten glauben, dann müssen sie vielleicht etwas erleben, was sie in ihrem Glauben bestärkt.«

»Und was soll das sein? Ich meine, wir können doch jetzt nicht anfangen, mit Wundern um uns zu werfen.« Santa Claus zog die Stirn in Falten. »Das kann nicht Sinn der Sache sein.«

»Nein, auf keinen Fall.« Seine Frau tippte sich nachdenklich mit dem Zeigefinger an die Lippen. »Aber wenn ihr klein anfangt? Also vielleicht die ganz schwierigen Fälle findet und versucht, ihnen zu helfen?«

»Du meinst, so richtige Weihnachtshasser?« Die Miene des Christkinds hellte sich auf. »Das könnte funktionieren. Denn wenn die Menschen sehen, dass sogar diejenigen, von denen sie es am wenigsten erwarten, sich vom Geist der Weihnacht anstecken lassen, dann sind sie vielleicht bald selbst auch wieder bereit, uns eine Chance zu geben.«

»Und für die Weihnachtshasser selbst wäre es natürlich auch schön, wenn sie erkennen, dass Weihnachten auch etwas Schönes bedeuten kann. Menschen, die Weihnachten nicht mögen, sind oftmals nicht glücklich, fühlen sich einsam oder haben etwas Schlimmes erlebt, was ihnen den Glauben an uns oder an die Liebe genommen hat.«

»So etwas macht mich immer ganz traurig.« Verlegen wischte das Christkind sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Die Frage ist jetzt nur, wie finden wir solche Weihnachtshasser und überzeugen sie vom Gegenteil?«

Santas Frau lächelte leicht. »Das kann doch nicht so schwierig sein. Santa, du schickst deine Elfenbrigade zum Kundschaften aus und du, liebes Christkind, deine Engelchen. Ich bin überzeugt, dass sie alle zusammen ganz rasch die passenden Kandidaten für euch finden werden. Aber übertreibt es nicht. Ihr müsst das Blatt nicht in einem einzigen Jahr wenden. Sucht euch lieber nur ein paar wenige Personen heraus, von denen ihr auch wirklich sicher seid, dass ihr ihnen helfen könnt, sonst verzettelt ihr euch noch. Denn immerhin habt ihr ja trotz allem eine Menge andere Arbeit. Es gibt immer noch genügend Wünsche zu erfüllen.«

»Du Vernünftige.« Das Christkind umarmte Santas Frau herzlich. »Selbstverständlich hast du recht. Aber trotzdem können wir doch versuchen, schon dieses Jahr so viele Weihnachtshasser wie nur möglich umzustimmen. Das ist wirklich eine ganz ausgezeichnete Idee, die ganz bestimmt funktionieren wird. Ach, wird das schön, wenn wieder mehr Menschen an die wahre Botschaft des Weihnachtsfestes glauben! Und wer weiß, vielleicht greift die Liebe dann ganz bald weiter um sich! Ich glaube, ich mache mich gleich mal auf den Heimweg, um mit meinen Engelchen einen Plan auszuarbeiten.«

»Das werde ich mit meinen Elfen ebenfalls tun, und dann treffen wir uns in ein paar Tagen wieder hier und beraten uns. Einverstanden?« Santa hielt dem Christkind die rechte Hand hin.

Das Christkind schlug ein. »Einverstanden.«

***

Mit einiger Anstrengung wuchtete Laura den riesigen Koffer aus dem Kofferraum ihres neuen schneeweißen SUVs und blies sich dabei eine Strähne ihres welligen roten Haars aus dem Gesicht. Das Ungetüm von Koffer knallte auf den geschotterten Zufahrtsweg zu ihrem vorübergehenden Zuhause, und eine Ecke erwischte Lauras Schienbein. »Aua! Verflixt.« Stöhnend rieb sie sich über die schmerzende Stelle. »Blödes Ding.«

Mehr schlecht als recht zog und zerrte sie den Koffer hinter sich her auf die Tür des Blockhauses zu. Die Rollen knirschten und blockierten immer wieder auf dem unebenen Untergrund. »Nun komm schon, ich will bei diesem Mistwetter keine Wurzeln hier draußen schlagen.« Mit zusammengebissenen Zähnen hievte sie den Koffer schließlich die drei Stufen hinauf bis vor die Tür, machte kehrt und schnappte sich den zweiten, etwas kleineren, aber nur unwesentlich leichteren Koffer und eine große Tasche und brachte sie ebenfalls bis zur Tür. Auch auf der Rückbank und auf dem Beifahrersitz stapelte sich Gepäck, doch jetzt wollte sie erst einmal ins Warme. Es regnete und stürmte bereits seit dem frühen Nachmittag bei Temperaturen nur unwesentlich über dem Gefrierpunkt. Auf der Autobahn hierher waren die Straßenverhältnisse alles andere als angenehm gewesen. Doch von Köln aus war es zum Glück nicht allzu weit. Allerdings war Laura viel zu spät aus ihrer alten Wohnung weggekommen. Bis zum letzten Moment hatte sie sich nicht entscheiden können, was sie von dort alles mitnehmen und was sie zurücklassen sollte. Sicher, sie konnte später immer noch Sachen holen, schließlich gehörte ihr die Wohnung, und sie hatte sich noch nicht nach einem Mieter umgesehen, aber allzu rasch wollte sie nicht in die Großstadt zurückkehren.

»Du willst dich verkriechen«, hatte es ihre Freundin und ehemalige Assistentin Angelique auf den Punkt gebracht, und sie hatte auch gar nicht vor, das zu leugnen. In Köln gab es zu viel verbrannten Boden für sie, zumindest in den Kreisen, in denen sie sich zuletzt bewegt hatte.

Gerechterweise musste Laura zugeben, dass sie selbst an ihrer Misere schuld war. Man ließ sich eben als stellvertretende Geschäftsführerin einer der führenden Marketingfirmen Deutschlands nicht auf eine Affäre mit dem Sohn des Inhabers ein. Auch nicht, wenn man wirklich glaubte, dass er es ernst meinte. Dass er das ganz offensichtlich nicht getan hatte, war ihr nach einem halben Jahr nur allzu bewusst geworden, als sie ihn, ganz klischeehaft, mit seiner Sekretärin in der Besenkammer erwischt hatte.

Leider konnte Laura nicht einmal öffentlich wütend auf ihn sein, weil sie selbst darauf bestanden hatte, die Beziehung zwischen ihnen geheim zu halten. Zufällig war deren Beginn nämlich strategisch ungünstig mit ihrer Beförderung zusammengefallen. Sie hatte die Karriereleiter einzig durch harte Arbeit und Können erklommen und sich die Beförderung ernsthaft verdient. Ganz sicher hatte sie es nicht nötig, dafür den Juniorchef zu umgarnen. Aber wie die Menschen nun einmal waren, hätten sie trotzdem die falschen Schlüsse gezogen. Laura war klar gewesen, dass ihre älteren und überwiegend männlichen Kollegen, die sich ohnehin schon übergangen fühlten, ihr Berechnung und den skrupellosen Einsatz der Waffen einer Frau vorgeworfen hätten. Dass Carlo, ihr nunmehr Ex-Geliebter, ihr jetzt vorwarf, sie habe sich nur auf ihn eingelassen, um den Posten der stellvertretenden Geschäftsführerin zu ergattern, machte die Situation nicht besser. Er war außerdem so unverschämt gewesen, ihr die Schuld für seine Affäre zu geben. Sie habe sich angeblich zu wenig um ihn gekümmert.

Laura konnte die gehässigen Kommentare beinahe hören, sich die Gemeinheiten bestens vorstellen, die sie erwartet hätten, wenn sie jetzt, wo alles raus war, nicht die Notbremse gezogen hätte.

Trotz allem war es Wahnsinn, diesen Posten so Knall auf Fall aufzugeben, das war ihr durchaus bewusst. Rodrigo Callas, Carlos’ Vater, hatte versucht, Laura mit allen Mitteln zum Bleiben zu bewegen. Er hatte ihr sogar eine beachtliche Gehaltserhöhung angeboten. Doch auch er hatte zu jenem Zeitpunkt noch nichts von Lauras Beziehung zu seinem Sohn gewusst, und sie war sich nicht sicher, ob er ihr jetzt noch genauso positiv gesinnt war, nachdem er vermutlich ebenfalls davon erfahren hatte.

Von außen sah es alles wirklich viel zu eindeutig aus, und Laura hatte in ihrer beruflichen Laufbahn schon genug erlebt, um zu wissen, dass sie dem Sturm, der sie in der Firma erwarten würde, nicht gewachsen wäre. Oder vielleicht war sie es, aber zu welchem Preis? Die Chefetage wurde von Männern dominiert, und alles, was sich auf den Ebenen darunter befand, war ein Haifischbecken voller ehrgeiziger jüngerer Kolleginnen, die ihr den Erfolg neideten. Da wollte sie gar nicht überleben. Das war es ihr nicht wert.

Als sie vor drei Wochen die Stellenausschreibung des Hotels und Wellness-Resorts Sternbach in der Zeitung entdeckt hatte – absolut zufällig beim Stöbern nach dem aktuellen Sudoku –, hatte sie sich spontan beworben. Der Job würde sie zwar in eine Kleinstadt führen, etwas, was sie leicht verunsicherte. Schon immer war sie ein Großstadtmensch gewesen, hatte in Berlin, Hamburg und zuletzt Köln gewohnt, aber das Sternbach besaß überregional einen ausgezeichneten Ruf.

Vier Sterne im Hotel- und zwei im Gastronomiebereich. Ein solides, erfolgreiches und immer noch aufstrebendes Familienunternehmen – und die Bezahlung stimmte ebenfalls. Zwar kannte sie sich nicht mit den spezifischen Anforderungen des Hotelgewerbes aus, aber neue Herausforderungen hatten sie in der Vergangenheit auch nicht aufgehalten. Laura hatte bereits Marketingkampagnen für einen Süßwarenhersteller, eine Firma für vegane Lebensmittel – und sie war weit davon entfernt, selbst vegan zu leben –, einen Regionalpolitiker und eine Schiffsbaugesellschaft gestaltet und war dann vor zweieinhalb Jahren bei Callas Marketing untergekommen. Ihre vielfältigen Erfahrungen, Fleiß und Ehrgeiz hatten ihr dort alle Türen geöffnet. Weshalb sollte es im Sternbach nun anders sein?

Falls sich herausstellen sollte, dass der Job doch nicht ihren Vorstellungen entsprach, würde sie sicherlich anderswo eine Anstellung finden. Seit bekannt geworden war, dass sie Callas verlassen hatte, waren ihre Mailbox und ihr E-Mail-Account beinahe von Jobangeboten übergelaufen. Sie hatte sich dieses Mal ganz bewusst für eine Stellung entschieden, die außerhalb ihres bisherigen Lebenskreises lag, um Abstand zu gewinnen und zur Ruhe zu kommen.

Dass ihre Entscheidung, in diese sicherlich hübsche Kleinstadt zu ziehen, auch einen großen Schritt aus ihrer Komfortzone bedeutete, schien ihr das ekelhafte Wetter heute mit Macht unter die Nase reiben zu wollen. Vielleicht hätte sie doch zunächst in ihrer Wohnung bleiben und jeden Tag die Dreiviertelstunde Fahrt auf sich nehmen sollen. Dann hätte sie jetzt keine ruinierte Frisur, von ihren schmutzigen Pumps ganz zu schweigen, und auch der blaue Fleck an ihrem Schienbein wäre ihr erspart geblieben.

Hans Sternbach, der Hotelinhaber, hatte ihr jedoch gleich beim Vorstellungsgespräch eine Wohnung ganz in der Nähe des Resorts angeboten. Oder vielmehr ein Haus, denn es handelte sich um eine massive und nicht gerade kleine Blockhütte. Sie sollte der Prototyp für eine von ihm geplante Ferienhauskolonie sein.

Nur aufgrund der Bilder, die er ihr gezeigt hatte, hatte Laura den Mietvertrag unterschrieben. Vielleicht hätte sie sich doch vorher hier umsehen sollen, denn so romantisch die Fotos von der Hütte auch ausgesehen hatten, waren sie doch irgendwann im Sommer aufgenommen worden. Davon, dass der Weg hierher nur geschottert war und durch einen dichten Wald führte, hatte sie nichts geahnt und auch nicht davon, dass sie hier wirklich mutterseelenallein und ohne jegliche Nachbarn wohnen würde.

Eilig schloss Laura auf und zerrte ihre Koffer über die Schwelle und sperrte dann schnell das schlechte Wetter aus, indem sie die Tür wieder hinter sich zu zog. Zumindest sollte es eine Zentralheizung, fließend Wasser und Strom und sogar ein gut funktionierendes WLAN geben. Ein Blick auf ihr Handy zeigte Laura, dass es sich bereits mit dem Internet zu verbinden versuchte. Hans Sternbach hatte ihr versprochen, die Zugangsdaten sowie alle wichtigen Unterlagen auf den Esstisch zu legen. Eigentlich hatte er darauf bestanden, sie persönlich zu begrüßen, aber da sie nicht sicher gewesen war, wann sie eintreffen würde, hatte sie sein Angebot freundlich abgelehnt.

Sie wollte ihm nicht unnötig Zeit stehlen, sicherlich hatte er viel um die Ohren. Außerdem wollte sie erst einmal ihre Ruhe haben, sich umsehen und eingewöhnen. Später würde sie Angelique anrufen, ihre einzige verbliebene Verbindung in ihr altes Leben. Sie hatte zwar viele Bekannte, jedoch keine engen Freunde – bis auf Angelique.

Angelique war bei Callas Marketing ihre Assistentin gewesen. Eine Seele von Mensch – und was das Organisieren selbst kompliziertester Terminkalender anging, einfach unschlagbar. Außerdem war sie jung, frech, temperamentvoll und stets gut gelaunt. Es war einfach unmöglich, Angelique nicht zu mögen. Es hatte nicht lange gedauert, bis die beiden Freundinnen geworden waren. Da Angelique obendrein einen sechsten Sinn besaß, was zwischenmenschliche Beziehungen anging, war ihr Lauras Verhältnis mit Carlo Callas nicht lange verborgen geblieben, auch wenn Laura versucht hatte, es auch ihr zu verheimlichen. Angelique hatte Stillschweigen gewahrt – und Laura gratuliert. Es gab kaum eine Frau innerhalb und außerhalb Kölns, die nicht scharf auf Carlos war. Er war unbestritten einer der begehrtesten Junggesellen weit und breit: gut aussehend, reich und charmant. Laura hatte mit ihm praktisch den Jackpot geknackt. Dass er vor allem aber ein gemeiner Betrüger war und seinen Status bedenken- und völlig herzlos ausnutzte, hatte Laura auf die harte Tour lernen müssen. Carlos war es nicht wert, ihm auch nur eine Träne nachzuweinen – und sie hatte es nicht getan. Auf keinen Fall würde sie sich von dieser Sache unterkriegen lassen. Niemals.

Seit achtzehn Jahren hatte Laura alle Schicksalsschläge tapfer und hocherhobenen Hauptes allein gemeistert. Sie vermied den Gedanken an jenen Tag, an dem sich ihr Leben für immer verändert hatte. Nicht zum Besseren, nein, ganz bestimmt nicht. Zumindest nicht, bis sie in der Lage gewesen war, das Zepter in die Hand zu nehmen und selbst zu bestimmen, wie es mit ihr weitergehen würde.

Sie hatte es aus eigener Kraft geschafft, und niemand, schon gar nicht ein Mann, würde jemals so viel Macht über sie gewinnen, dass sie von ihrem klar geplanten und vorgezeichneten Weg abweichen würde.

Jetzt sah sie sich erst einmal gründlich in ihrem neuen Zuhause um. Wenn sie es recht bedachte, war es ein Vorteil dieses Blockhauses, dass es so weit weg vom Ort lag. So musste sie zumindest nicht ständig weihnachtliche Lichter oder Dekorationen ertragen, wenn sie Feierabend hatte. Tagsüber kam sie meistens ganz gut damit zurecht, in der Vorweihnachtszeit überall fröhliche Gesichter, glückliche Familien, Lichterketten, Weihnachtsbäume, Glitzer und den ganzen Kitsch zu sehen. Doch wenn sie in ihren eigenen vier Wänden war, wollte sie davon nichts wissen. Seit jenem Tag, als sie gerade zwölf Jahre alt gewesen war, konnte sie all diese Dinge in ihrem eigenen Leben nicht mehr ertragen.

»Hübsch hier.« Sie sprach ihre Gedanken absichtlich laut aus. Auf andere wirkte diese Angewohnheit vielleicht etwas verrückt, doch sie half ihr, die Stille zu ertragen, die so oft in ihrem Leben herrschte.

Die Einrichtung gefiel Laura tatsächlich sehr gut. Rustikale Holzmöbel, vielleicht ein wenig klobig, aber doch gemütlich. Rechter Hand befand sich eine offene Küchenzeile mit Kochinsel, ein wenig seitlich davon stand ein großer Esstisch mit Eckbank und vier massiven Stühlen. Die Bank hatte es ihr gleich auf den ersten Blick angetan. Sie besaß eine besonders tiefe Sitzfläche und eine hohe Lehne. Die mit keltisch anmutenden Ornamenten bestickten und berüschten Kissen machten sie noch einladender und weckten in Laura den Wunsch, es sich sofort gemütlich zu machen. Die Vorhänge an den Fenstern waren mit demselben Muster verziert wie die Kissen.

Links von der Eingangstür gab es einen großzügigen Wohnbereich mit dunklen Ledersofas und einem schweren Couchtisch aus Eichenholz. Niedrige Schränke und ein überdimensionaler Flachbildschirm zierten die linke Wand. Zwischen den beiden Raumteilen führte eine breite Wendeltreppe ins obere Geschoss. Laura ließ die Koffer vorerst stehen und folgte ihr, um sich auch den ersten Stock anzusehen. Hier befanden sich neben einem Badezimmer auch zwei Schlafräume. Hans Sternbach hatte ihr versichert, dass es kein Problem war, wenn sie den kleineren davon als Arbeitszimmer nutzte. Er hatte ihr sogar angeboten, das Bett und den Kleiderschrank durch einen Schreibtisch und Aktenregale zu ersetzen.

Wieder unten angekommen, drehte Laura sich einmal um die eigene Achse und entdeckte dabei neben der Eingangstür den Zugang zum Keller, wo sich die Heizung sowie Waschmaschine und Trockner befinden sollten, und zu guter Letzt einen Wandschrank, der als Garderobe diente. Nahezu perfekt. Jetzt musste sie nur noch ihren restlichen Krempel aus dem Auto hereinbringen und sich einrichten.

Das unüberhörbare Rauschen eines schweren Regengusses vor den Fenstern hielt sie davon ab, den ersten Teil dieses Plans sofort in die Tat umzusetzen. Stattdessen knipste sie überall das Licht an und überlegte, ob sie die schweren Koffer wohl die Treppe hinaufschleppen konnte oder vorher teilweise ausleeren musste. Jetzt fiel ihr auch erst auf, dass es in der Hütte recht kühl war. Also drehte sie die Heizkörper auf und trat an den Esstisch. Wie versprochen fand sie dort das WLAN-Passwort, Schlüssel für die Garage und laut Anhänger ein Gartenhäuschen, das sich wohl auf der Rückseite der Hütte befinden musste. Außerdem auch noch einen Schlüsselbund für das Hotel in der Stadt und das Resort, Namensschilder und einige weitere Dinge, die sie bei ihrer Arbeit brauchen würde.

Obwohl sie direkt neben einem Heizkörper stand, spürte sie nicht, dass er wärmer wurde. Sie stutzte. »Oh nein, bitte nicht! Hoffentlich ist die Heizung nicht kaputt! Das wäre kein schöner Einstand.« Sie entdeckte eine handschriftliche Notiz, die unter dem Zettel mit dem WLAN-Passwort hervorlugte. Hans Sternbach hatte ihr in kantigem Schriftzug einen Willkommensgruß hinterlassen und wies sie außerdem darauf hin, dass die Zentralheizung des Blockhauses wie bereits in einer seiner letzten E-Mails beschrieben mit Scheitholz befeuert wurde. Er habe am Vormittag den Ofen für sie angemacht und bat sie, bei ihrer Ankunft Scheite aufzulegen, damit das Wasser im Pufferspeicher auf der erforderlichen Temperatur gehalten wurde.

»Ein Ofen?« Leicht irritiert runzelte Laura die Stirn und ging nach unten in den Keller, der aus einem Heizungsraum und einer Waschküche bestand, ganz wie sie es erwartet hatte. Aber sie war davon ausgegangen, dass hier mit Öl oder Gas geheizt wurde. Wie hatte sie den Hinweis auf den Holzofen übersehen können? Anscheinend hatte sie Sternbachs E-Mails nicht aufmerksam genug gelesen.

Laura hatte nicht die geringste Ahnung, wie man diesen Ofen zum Laufen brachte. Es handelte sich um ein fast mannshohes Ungetüm mit zwei Türen, mehreren Reglern und einem riesigen Pufferspeicher für Wasser auf der linken Seite.

Ratlos starrte sie auf den Ofen, an dem seitlich ein Metallkorb angebracht war, der Grillanzünder und Feuerzeuge enthielt. Links neben dem Pufferspeicher stand eine große Kiste mit Holzscheiten, die offenbar durch eine Klappe in der Wand von außen befüllt werden konnte.

»Wunderbar, jetzt muss ich erfrieren.« Leicht verzweifelt sah Laura sich weiter um und entdeckte neben der Tür ein kleines Regal, in dem Papiere lagen. Als sie sie näher inspizierte, stellte sie fest, dass es Bedienungsanleitungen für Waschmaschine und Trockner waren und – welch ein Glück – auch für den Ofen. Eifrig blätterte sie sie durch, musste jedoch feststellen, dass hier zwar die Funktionsweise des Ofens bis ins Detail beschrieben war, nicht jedoch, wie man das Feuer entzündete. Zumindest begriff sie, dass die Holzscheite wohl in das obere Fach gehörten und durch die untere Tür die Asche entfernt werden konnte. So weit, so gut.

Als sie die obere Tür öffnete, entdeckte sie Aschereste und verspürte eine leichte Wärme, weil der Ofen früher am Tag ja schon mal an gewesen war. Beherzt stapelte sie mehrere Holzscheite in das geräumige Fach, legte ein Stück von den Grillanzündern darauf und entzündete es mit einem der bunten Feuerzeuge. Dann schloss sie die Tür wieder und drehte, wie sie es auf den Abbildungen in der Bedienungsanleitung gesehen hatte, an einem der Regler, bis sie hörte, dass der Lüftungsventilator auf der Rückseite ansprang. Das klang vielversprechend, also nickte sie sich selbst zu und begab sich zurück nach oben, um sich erneut ihrem Gepäck zu widmen.

***

Hm, also mal sehen: Die Haustür steht offen, weil Elke irgendwelche komischen Sachen hereingetragen hat. Das Gartentörchen ebenfalls, wahrscheinlich weil Elkes Auto direkt davor parkt und sie die Sachen damit hergebracht hat. Eigentlich soll ich ja nicht raus, wenn niemand dabei ist, aber mein Frauchen Margit ist vom Einkaufen noch nicht zurück, und ich musste doch mal so schrecklich dringend. Ich übe zwar schon fleißig, es einzuhalten, weil die Menschen gar nicht glücklich sind, wenn man ihnen auf den Teppich oder in einen Schuh macht, aber hey, ich bin doch noch klein. Gerade mal sieben, jawohl, sieben Monate auf der Erde. Da kann doch wirklich niemand verlangen, dass ich es länger als zwei Stunden aushalte, bis jemand mit mir rausgeht, oder? ODER? Eben.

Außerdem muss ich zugeben, dass mich plötzlich die Neugier gepackt hat, als ich das offene Törchen gesehen habe. Es ist immer so aufregend, wenn Frauchen oder jemand anders aus der Familie mit mir da hindurchgeht, um einen Spaziergang zu machen. Da gibt es so viel zu entdecken und zu schnüffeln, und manchmal trifft man auch andere Hunde. Bloß vor den Autos muss ich mich in Acht nehmen. Frauchen hat immer große Angst, dass eines davon mich überfahren könnte, und so ganz geheuer sind diese riesigen rollenden Dinger mir auch nicht. Ich fahre zwar ganz gerne mit ihnen mit, das ist spaßig, aber wenn ich mir vorstelle, dass eines davon auf mich zukommt … Nein, das macht mir eindeutig zu viel Angst. Deshalb passe ich immer ganz doll auf, dass ich ihnen nicht zu nahe komme, wenn sie in Bewegung sind.

Bei uns hier draußen fahren allerdings gar nicht so viele Autos, da ist die Gefahr überschaubar. Wenn Frauchen mich mit in die Stadt nimmt, sieht das schon ganz anders aus. Da fahren so viele von diesen rumpelnden Gefährten, und manche sind geradezu so riesig, dass mir schon mal richtig angst und bange werden kann.

Nun ja, wie gesagt, hier draußen bei uns ist das nicht so schlimm, deshalb habe ich mich einfach mal getraut, mich ein Stückchen vom Haus zu entfernen und den spannenden Spuren zu folgen, die andere Hunde überall hinterlassen haben. Aber jetzt ist es schon ganz dunkel geworden, und es regnet. Warum ist mir das nicht eher aufgefallen? Ein ziemlich kalter Wind weht auch, und es ist total ungemütlich, und ich weiß, ehrlich gesagt, nicht mehr, wo ich bin. Irgendwo im Wald, so viel ist mal sicher, aber es ist so finster, und ich finde meine eigene Spur nicht mehr, weil der Regen sie weggewaschen hat. Ich bin sowieso noch nicht so richtig gut im Fährtenfinden. Wie gesagt, ich bin noch ganz klein.

Also was mache ich denn jetzt? Einfach so lange weiterlaufen, bis ich einen Menschen finde, der mich zurück nach Hause bringt? Ja, ich glaube, das mache ich, denn dann wird mir wenigstens nicht so schrecklich kalt.

Das Problem ist, dass hier gar kein Weg mehr ist. Irgendwann scheine ich davon abgekommen zu sein, und jetzt muss ich durch nasses, piksendes Gestrüpp kriechen. Das gefällt mir gar nicht, und irgendwie habe ich jetzt auch ein bisschen Angst. Was, wenn dieser Wald hier nie aufhört und ich niemals wieder einen Menschen zu Gesicht kriege? Muss ich dann etwa verhungern? Ich bin so allein! Kann mir nicht jemand helfen? BITTE!

Mist, mein Bellen hört doch bei dem Wind auch niemand. Was mache ich denn nur?

Halt, was ist das? Habe ich da etwa den Hauch von Abgasen in die Nase bekommen? Dann ist hier irgendwo ein Auto. Und wo ein Auto ist, da ist auch eine Straße, und dann sind da hoffentlich auch Menschen. Ja, ich glaube, ich wittere Menschen. Aber wo? Irgendwo dahinten? Oh ja, ich glaube, da ist ein Lichtschimmer. Ein Haus! Sehr gut, da muss ich hin, aber schnell.

***

Nach einem langen Blick auf die bleischweren Koffer entschied Laura, es lieber doch erst einmal mit dem schlechten Wetter aufzunehmen und den Kleinkram von der Rückbank zu holen. Der Regen hatte etwas nachgelassen, und es tröpfelte nun wieder nur noch leicht.

Also eilte Laura zu ihrem Auto, öffnete die hintere Tür auf der Beifahrerseite und zerrte den unhandlichen Karton hervor, in dem sie ihre Büroutensilien und Steuerunterlagen verstaut hatte. Warum sie Letztere überhaupt mitgebracht hatte, fragte sie sich mit zusammengebissenen Zähnen beim Schleppen. Um diese Jahreszeit würde sie sie doch sowieso noch nicht benötigen. Aber sie hatte wichtige Unterlagen immer gerne in Reichweite, und sie wollte nichts Wichtiges mehr in Köln wissen. Ihr Leben sollte sich dort nicht mehr abspielen und auch nichts davon mehr in ihrer Wohnung lagern. Deshalb hatte es ja so lange gedauert, bis sie sich entschieden hatte, worauf sie für eine Weile verzichten konnte, wenn sie es in der Wohnung zurückließ.

Am Ende war es nicht viel gewesen, was sie nicht mitgenommen hatte. Ihr Geschirr, Gläser, Töpfe und Pfannen zum Beispiel. Sie kochte sowieso nicht allzu oft, weil ihr die Zeit dazu fehlte, und die Küche in der Hütte war ja bereits voll ausgestattet. Das Einzige, was ihr in diesem Metier zuverlässig gelang, waren Aufbackbrötchen aus dem Supermarkt, und das auch nur, wenn sie nicht vergaß, die Eieruhr zu stellen. Deshalb hatte sie die auch noch schnell als Letztes mit in den Karton geworfen. Man konnte ja nie wissen.

Alle ihre Möbel waren ebenfalls in Köln geblieben, und ihre wenigen Grünpflanzen hatte sie Angelique geschenkt. Ihre Abendkleider wollte sie nicht mehr tragen, die würde sie bei Gelegenheit bei eBay verkaufen. Wenn es hier Abendveranstaltungen gab, konnte sie sich etwas Neues anschaffen. Deshalb waren auch etliche ihrer Schuhe und Handtaschen zurückgeblieben. Auch ihre DVD-Sammlung hätte sie beinahe dort gelassen, es aber dann doch nicht übers Herz gebracht. Auch auf ihre Bücher konnte Laura nicht verzichten. Die hatte sie dem SUV dann doch nicht zumuten wollen und sie deshalb zu Paketen verpackt und per Post hierhergeschickt. Vermutlich würden sie am kommenden Montag hier eintreffen. Alles andere steckte in Taschen und Kartons, die sich, ineinander verkeilt, auf der Rückbank und dem Beifahrersitz zusammendrängten. Eine Menge Zeug, aber am Ende doch nicht so viel, wie sie gedacht hatte. Sie mistete regelmäßig aus, deshalb gab es in ihrem Leben kaum überflüssige Dinge.

Die Kiste mit den Bürosachen knallte unsanft auf den Fußboden. Laura war versucht, ihr einen wütenden Tritt zu versetzen, stattdessen eilte sie rasch zurück zum Auto und zog den nächsten Karton zu sich heran.

Ein seltsames Geräusch hinter ihr ließ sie innehalten und sich umdrehen. Als sie den winzigen, vollkommen nassen weißen Hund zu ihren Füßen erblickte, erschrak sie dermaßen, dass sie zurückwich und beinahe rücklings in ihr Auto gefallen wäre. »Himmel!« Sie fasste sich an ihr heftig pochendes Herz. »Was ist das denn?«

Nicht was, sondern wer. Ich bin Lizzy. Hilfst du mir bitte, zu meinem Frauchen zurückzukehren? Mir ist so kalt, und ich bin nass und habe Angst. Du siehst wie ein netter Mensch aus, und ich weiß wirklich nicht mehr weiter.

Der Hund, es schien sich um einen dieser West Highland White Terrier zu handeln, die Laura aus der Fernsehwerbung für ein teures Hundefutter kannte, stieß ein klägliches Fiepen aus, bellte kurz und wedelte dann heftig mit dem Schwanz. Er schien noch jung zu sein, denn selbst für diese Rasse war er recht klein.

»Was willst du denn hier?« Laura trat vorsichtig zur Seite, weil sie nicht wusste, ob das Tier beißen würde. »Geh mal schnell nach Hause.«

Das würde ich ja gerne, aber ich weiß nicht, wo ich lang muss. Bitte zeig mir den Weg, oder sag meinem Frauchen Bescheid, dass sie mich holen kommen soll. Bitte, bitte!

Das erneute Fiepen ging in ein lautes Jammern über.

Lauras Herz zog sich mitfühlend zusammen. Suchend blickte sie sich um. »Bist du ganz allein hier unterwegs? Das kann doch gar nicht sein. Du gehörst doch bestimmt jemandem. Oder hat dich etwa so ein böser Mensch einfach hier draußen ausgesetzt?«

Was? Nein, ganz bestimmt nicht. Lizzy bellte empört. So was würde mein Frauchen niemals tun. Ich bin selbst schuld daran, dass ich mich verlaufen habe. Ich bin einfach losgesaust und habe nicht aufgepasst, wohin ich laufe. Und jetzt bin ich ganz allein.

Vorsichtig ging Laura in die Hocke, als der kleine Hund erneut jaulte. »Das ist ja so was von gemein! Wie kann man so etwas nur tun! So ein hilfloses winziges Wesen einfach hier draußen alleinlassen. Solche Leute gehören eingesperrt!«

Nein, nein, du verstehst nicht. Mein Frauchen ist total lieb, deshalb will ich ja wieder zu ihr zurück. Und zu meiner ganzen Familie. Bitte hilf mir, ja?

Beinahe wäre Laura erneut zurückgewichen, als das Hündchen auf sie zutappte und an ihrem Knie schnüffelte. »Ich hoffe, du beißt nicht.«

Was, ich? Nein, überhaupt nicht. Warum auch? Du bist doch nett. Hoffe ich jedenfalls.

Das Hündchen reizte Laura zum Lachen, als es versuchte, an ihr hochzukrabbeln. Gleichzeitig spürte sie aber die Nässe an ihrem Knie. »Igitt, du bist ja klitschnass!«

Sag ich doch. Und kalt. Ich will nach Hause!

»Nicht weinen.« Instinktiv streichelte Laura den Hund, als dieser wieder fiepte. »Weißt du was, ich nehme dich mal mit ins Haus und trockne dich ab, sonst erfrierst du mir am Ende noch!«

Gute Idee!

»Komm mal mit.« Laura erhob sich und klatschte leicht in die Hände. Als das Hündchen nur freudig mit dem Schwanz wedelte, runzelte sie die Stirn. »Mitkommen sollst du. Komm, komm!«

Kannst du mich nicht tragen? Ich werde so gerne getragen. Das Hündchen sprang an Laura hoch und hinterließ schlammige Pfotenabdrücke auf deren dunkelblauen Hosenbeinen.

»Och nö, nicht doch.« Laura seufzte. »So wird das wohl nichts. Lässt du dich vielleicht tragen?«

Ja, ja, ja!

Wieder musste Laura kichern, weil das Tier ihr praktisch in die Arme hüpfte, als sie versuchte, es hochzuheben. »Na toll, jetzt sehe ich aus, als hätte ich beim Schlamm-Catchen mitgemacht. Mein guter Pullover.« Leicht frustriert zupfte sie an der feinen hellblauen Wolle herum, musste sich dann aber ganz auf den Hund konzentrieren, der in ihren Armen zappelte und versuchte, ihr übers Gesicht zu lecken. »Halt, nicht so wild, sonst lasse ich dich noch fallen.«

Oh, entschuldige, natürlich. Ich halte still.

»So ist es besser.« Erleichtert eilte Laura in die Blockhütte zurück und warf die Tür hinter sich ins Schloss, damit der Hund nicht weglaufen konnte. Suchend sah sie sich um und entschied sich dann, das Tier nach oben ins Badezimmer zu bringen. Vorher zerrte sie noch ein Handtuch aus dem kleineren ihrer Koffer, weil sie nicht wusste, ob das Badezimmer ebenso gut ausgestattet war wie die Küche.

Sie stieß einen überraschten Laut aus, als sie das geräumige Badezimmer betrat. Zwar hatte sie auch von diesem Raum Fotos gesehen, aber vorhin nicht genauer hinschaut, nachdem sie erkannt hatte, wie die Aufteilung der Räume hier oben war. In Wirklichkeit wirkte es noch viel schöner als auf den Bildern. Cremeweiße Fliesen, unterbrochen von roten und gelben Mustern, ließen das Bad hell und freundlich wirken. Es gab eine riesige, ergonomisch geschwungene Wanne mit diversen Sprudeldüsen, eine separate Dusche mit Regenkopf und einen breiten Waschtisch mit zwei Becken. Die Toilette war durch eine halbhohe Trennwand vor Blicken geschützt. LED-Spots, die wie ein Sternenhimmel in die Deckenpaneele eingebaut waren, ließen den Raum in warmem Licht erstrahlen. Das Dachfenster befand sich direkt über der Badewanne, sodass man, wie Laura vermutete, abends die Sterne betrachten konnte, während man sich im warmen Wasser aalte. Ein verlockender Gedanke, doch im Augenblick musste sie erst einmal dafür sorgen, dass ihr kleiner Findelhund versorgt wurde. Vorsichtig setzte sie ihn in der Wanne ab und begann, mit ihrem Handtuch sein Fell trocken zu reiben.

Hach, tut das gut! Endlich nicht mehr so nass. Danke, danke, danke! Freudig leckte Lizzy über Lauras Hände.

»Warte mal, du hast ja ein Halsband mit einer Marke um, und … da ist ja auch ein Anhänger zum Öffnen!« Laura warf das Handtuch zur Seite und tastete nach der kleinen ovalen Kapsel. »Wurdest du vielleicht doch nicht ausgesetzt, sondern bist einfach nur deinem Herrchen ausgebüxt?«

Ja, ähm, bin ich, also meinem Frauchen. Tut mir jetzt auch total leid, aber hey, woher sollte ich denn wissen, dass ich mich verlaufe und der Regen meine Spuren wegspült?

Laura schmunzelte, als der Hund – oder vielmehr die Hündin, wie sie mittlerweile festgestellt hatte – leise bellte und wieder heftig mit der kleinen Rute wedelte. »Halt doch mal still, dann kann ich die Kapsel öffnen. Hoffentlich ist da die Adresse deiner Besitzer drin.«

2. Kapitel

»Oh nein, oh Gott, wie schrecklich! Was machen wir denn jetzt bloß? Margit wird mich umbringen. Oje, die arme Lizzy. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Justus, du musst kommen und mir helfen. Ich bin vollkommen verzweifelt.«

Justus Sternbach hielt sein Smartphone ein Stück von seinem Ohr weg. »Das höre ich, Elke. Beruhige dich bitte erst mal – und dann noch mal von vorn. Was ist mit Lizzy passiert?« Während er sprach, war er bereits auf dem Weg zu seinem Auto. Er benutzte das Treppenhaus des Wellness-Resorts, um nicht noch auf den Lift warten zu müssen.

»Lizzy ist verschwunden!« Seine Tante, Elke Sternbach-List, klang hysterisch. »Ich habe bloß die beiden neuen Stehlampen vom Auto hereingetragen, und bei der Gelegenheit muss sie durch die Tür entwischt sein. Normalerweise läuft sie ja nicht weg, aber diesmal eben doch. Ich habe schon überall gesucht, kann sie aber nirgendwo finden. Margit bringt mich um!«

»Das hast du schon erwähnt.« Justus bezweifelte, dass seine Mutter gleich einen Mord begehen würde, aber erfreut wäre sie ganz bestimmt nicht, wenn sie erfuhr, dass ihr geliebter West Highland White Terrier ausgebüxt war. Die kleine Lizzy war erst sieben Monate alt, und das nasse, kalte Wetter bekam ihr ganz bestimmt nicht gut. Also beeilte er sich. »Ich bin schon auf dem Weg, Elke. Bitte schau sicherheitshalber noch einmal überall nach – und ruf sie. Nimm ihre Lieblingshundekuchen mit. Und schimpf nicht mit ihr, wenn du sie findest, sondern lock sie zu dir – und lobe sie, damit sie keine negativen Eindrücke …«

»Ja, ja, natürlich. Ich weiß schon, dass man einen Hund nicht ausschimpfen darf, wenn man ihn anlocken möchte. Ich bin ja nicht dumm.«

»Das hat ja auch niemand behauptet, Elke.« Seine Tante war in solchen Situationen manchmal ein wenig übertrieben aufgeregt, aber er wusste, wenn er jetzt nichts unternahm, würde sie sich noch mehr hineinsteigern. Am Hinterausgang angekommen, lockerte Justus ein wenig seine Krawatte und fluchte, als ihn draußen schwere Regentropfen trafen und ihm gleichzeitig auffiel, dass sein Auto nicht auf dem Parkplatz stand. Anscheinend hatte eine seiner Schwestern, vermutlich Viola, sich den Wagen für eine Besorgung ausgeliehen. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als den kurzen Weg zu seinem Elternhaus zu Fuß zurückzulegen. »Hör zu, es dauert nur ein paar Minuten, bis ich da bin.«

»Joggst du etwa durch den Regen?«

Er verdrehte die Augen. »Nein, Elke, ich renne durch den Regen. Viola hat sich schon wieder mein Auto geliehen, ohne mich vorher zu fragen.«

»Du ruinierst dir aber doch deinen guten Anzug!«

»Willst du, dass ich dir beim Suchen helfe, oder nicht?«

Elke seufzte theatralisch. »Ja, natürlich. Danke, Justus, du bist ein Engel. Bitte beeil dich. Ich weiß nicht mehr, wo ich noch nach ihr schauen soll. Was, wenn der Kleinen etwas passiert? Wenn sie angefahren wird oder von einem wilden Tier gerissen …«

»In unseren Wäldern gibt es keine wilden Tiere, Elke. Zumindest keine, die einen kleinen Westie fressen wollen.«

»Aber es heißt doch, dass der Wolf zurückkehrt und so, und ich dachte …«

»Soweit ich weiß, gibt es hier noch keine Wölfe, und selbst wenn, würden die sich bei dem Wetter garantiert irgendwo verstecken, wo es trocken und warm ist. Wahrscheinlich tut Lizzy das auch gerade.«

»Aber wie sollen wir sie finden, wenn sie sich versteckt?«

»Das überlegen wir uns, sobald ich bei dir bin.« Justus sah sein Elternhaus bereits in wenigen Hundert Metern Entfernung vor sich liegen. »Hol die Hundekuchen, und schau noch mal überall nach. Vielleicht kommt sie ja von selbst zurück, wenn es ihr draußen zu ungemütlich wird. Ich kann …«

»Warte mal, Justus, da klingelt gerade das Festnetztelefon.«

Justus schüttelte resigniert den Kopf, als seine Tante die Verbindung einfach unterbrach. Er legte die letzten Meter in einem Sprint zurück und erreichte gerade die offen stehende Haustür, als aus der anderen Richtung der Wagen seiner Mutter in den Kiefernweg einbog und nur Augenblicke später hinter dem Wagen seiner Tante hielt.

Margit Sternbach stieg aus und eilte mit fragender Miene auf ihn zu. »Justus? Was machst du denn um die Zeit hier? Warum steht unsere Haustür offen? Und warum bist du ganz nass? Bist du zu Fuß hier?« Sie schüttelte in der für sie typischen Art ihr gepflegtes dunkelblondes Haar, das ihr in ordentlichen Wellen bis auf die Schultern fiel und sich weigerte, auch nur eine graue Strähne vorzuweisen.

Seine Mutter war mit ihren einundsechzig Jahren eine sehr attraktive, schlanke und elegante Frau. Schaudernd zupfte sie an ihrem hellen Kaschmirmantel, den sie über ihrem maßgeschneiderten Businesskostüm trug. »So ein ungemütliches Wetter! Wer das bestellt hat, gehört mit einem nassen Handtuch erschlagen.«

Beinahe hätte er gelacht, doch eingedenk der Tatsache, dass sie drinnen die hysterische Elke erwartete, riss er sich zusammen. »Hallo Mama. Warte mal.« Er hielt sie zurück, bevor sie eintreten konnte. Im Hintergrund hörte er Elke reden und … lachen? Er runzelte die Stirn.

»Was ist denn? Stimmt etwas nicht?« Margit sah sich um. »Wo ist denn mein kleines Schätzchen? Lizzy? Komm zu Frauchen, meine Süße.«

»Ja, äh, Mama, wir haben ein kleines Problem.« Justus wusste, dass es am sinnvollsten war, mit seiner Mutter gleich Klartext zu reden. »Lizzy ist Elke ausgebüxt. Deshalb bin ich hier. Sie rief mich eben an und bat mich, ihr beim Suchen zu helfen.«

»Was?« Margit sah ihn erschrocken an. »Meine Lizzy ist weggelaufen? Oh nein. Die arme Kleine. Bei dem Wetter. Meine Güte, warum hat Elke nicht besser aufgepasst? Wo …?«

»Oh, Justus, da bist du ja.« Das Telefon noch am Ohr, kam Elke aus der Küche. Die jüngere Schwester seines Vaters war ein wenig rundlich und trug zu schwarzen Designerjeans eine schreiend bunte Bluse. Ihr dunkelbraunes Haar fiel in einer perfekten Dauerwelle bis auf ihre Schultern. Als sie ihre Schwägerin erblickte, blieb sie wie angewurzelt stehen. »Margit! Du bist ja schon zurück.« Die Person am anderen Ende der Leitung schien etwas zu sagen, denn Elke hob beschwichtigend ihre Hand in Richtung Margit. »Ja, natürlich. Ganz, ganz herzlichen Dank. Sie sind ein Engel. Wir werden die Ausreißerin gleich bei Ihnen abholen. Dauert nur ein paar Minuten.« Mit einem strahlenden Lächeln schaltete sie das Telefon aus. »Hach, was bin ich erleichtert! Margit, es tut mir ganz furchtbar leid, aber mir ist Lizzy vorhin ausgebüxt, als ich die neuen Stehlampen für mein Zimmer hereingetragen habe. Ich bin untröstlich deswegen. Du kannst dir nicht vorstellen, wo ich überall gesucht habe. Aber die Kleine war wie vom Erdboden verschluckt.«

»Schon gut, schon gut.« Nun war es an Margit, beide Hände beschwichtigend zu heben. »Anscheinend hat jemand sie gefunden, oder wer war das am Telefon?«

»Was? Ja, natürlich. Das war Laura Stahlhoff, unsere neue Marketingchefin. Sie ist heute in Patricks Blockhaus eingezogen und rief eben an, um uns mitzuteilen, dass ihr Lizzy zugelaufen ist. Zum Glück habt ihr diesen Anhänger mit der Adresse an ihrem Halsband befestigt. Frau Stahlhoff sagt, der Kleinen geht es gut, sie sei nur ein bisschen nass geworden. Justus, wärst du so nett, sie abzuholen? Mein Auto muss leider in die Werkstatt. Das Ölkontrolllämpchen hat vorhin aufgeleuchtet.«

Justus bemühte sich, weder zu seufzen noch die Augen zu verdrehen. Eigentlich hatte er noch einen Berg Arbeit im Hotel. »Mein Auto ist mit Viola irgendwo auf Tour. Mama, willst du Lizzy nicht lieber selbst abholen?«

»Ja, selbstverständlich.« Margit nickte, schüttelte dann aber den Kopf. »Ich habe das Auto voller Einkäufe, die dringend in den Kühlschrank und die Eistruhe müssen. Könntest du nicht … Nimm einfach Patricks Wagen. Er braucht ihn ja doch nicht, solange er sich in seinem Arbeitsstudio einigelt.« Sie legte ihm eine Hand an die Wange. »Das ist furchtbar lieb von dir. Ich würde wirklich lieber selbst fahren …«

»Fahr doch mit Justus mit. Ich kümmere mich um die Einkäufe«, schlug Elke eifrig vor.

»Würdest du?« Margit lächelte erfreut, als Elke nickte. »Dann nichts wie los. Komm, Justus, ich will die arme Frau Stahlhoff nicht unnötig lange mit Lizzy belasten. Sie hat an ihrem ersten Tag hier sicher anderes zu tun, als auf einen kleinen Hund aufzupassen. Andererseits ist es ein netter Zufall, dass wir sie jetzt schon heute Abend kennenlernen können. Ich bin schon so gespannt auf sie. Dein Vater war ja sehr angetan. Sie muss sensationell in ihrem Job sein. Sehr intelligent, tough und elegant. Und jetzt auch noch tierlieb. Besser kann es ja kaum werden«, fügte Margit mit einem Augenzwinkern an.

***

»Deine Leute kommen dich gleich holen, Lizzy.« Erleichtert ließ Laura sich auf einen Sessel sinken und stellte fest, dass er sehr bequem gepolstert war. »Es dauert nicht mehr lange.«

Wunderwunderwunderbar! Ich freue mich auf mein Frauchen. Obwohl du auch sehr nett bist. Ich mag dich.

»Huch!« Laura kicherte, als Lizzy die Gelegenheit nutzte und mit Anlauf auf ihren Schoß hüpfte. »Du kannst ja ganz schön hoch springen.«

Aber hallo, meine leichteste Übung.

»Nicht schon wieder ablecken!« Vergeblich bemühte Laura sich, die feuchte Hundezunge abzuwehren. »Das kitzelt.«

Das scheint dir ja Spaß zu machen, weil du so lachst. Ich kann gerne noch ein bisschen mehr knutschen. So nennt mein Frauchen das immer. Lizzy wedelte eifrig mit der Rute und schleckte über Lauras Kinn, ihren Hals und ihre Hände.

»Nicht doch, Schluss jetzt!« Japsend wischte Laura sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel. »Was bist du doch für eine Süße!«

Oh, vielen Dank!

»Als Kind hatte ich auch mal einen Hund, der hieß Barney. Aber der war ein bisschen größer als du. Ein Beagle.« Laura schluckte, als die Erinnerung sie zu überwältigen drohte. »Leider konnte ich ihn nicht behalten, als … Sie haben ihn ins Tierheim gebracht, und ich weiß nicht mal, ob er eine neue nette Familie gefunden hat.« Sie hatte das Gefühl, als würde ihr die Luft abgeschnürt. Ehe sie jedoch weiter darüber nachdenken konnte, vernahm sie das Geräusch eines Automotors vor der Hütte.

Wie erlöst nahm sie Lizzy auf den Arm und erhob sich, um die Außenbeleuchtung einzuschalten. Zu ihrer Überraschung sah sie durch das Küchenfenster einen ziemlich verschlammten und nicht mehr ganz neuen Pick-up hinter ihrem SUV halten. Noch verblüffter war sie, als auf der Beifahrerseite eine ausgesprochen schicke Frau in einem hellen Kaschmirmantel ausstieg. Der heftige Wind zauste ihre Frisur leicht, doch das tat ihrer eleganten Erscheinung nicht den geringsten Abbruch. Den Fotos nach, die auf der Homepage des Hotels zu finden waren, handelte es sich um die Ehefrau des Inhabers, Margit Sternbach.

»Da ist dein Frauchen, Lizzy.« Rasch öffnete Laura die Haustür und musste prompt achtgeben, dass die Hündin ihr nicht herunterfiel, weil diese wieder heftig zu zappeln begann.

Mein Frauchen? Oh ja, ich rieche sie. Frauchen, Frauchen, Frauchen. Ja, ja, wiff, ich will zu ihr!

»Hey, hey, Kleine, nicht so wild!«

Doch, doch, doch, lass mich zu meinem Frauchen!

Lizzy stieß ein helles, lang gezogenes Fiepen aus.

»Lizzy, meine freche, kleine Lizzy!« Margit Sternbach hastete die letzten Schritte auf Laura zu und nahm ihr das zappelnde Bündel lachend ab. »Da ist ja meine kleine Ausreißerin. Wie bist du denn bloß hierhergekommen? So weit darfst du nie wieder weglaufen, versprochen? Schon gar nicht bei solchem Ekelwetter. Ach, du süße Maus. Bin ich froh, dass die liebe Frau Stahlhoff sich deiner angenommen hat.« Sie küsste die kleine Hündin mehrmals und wandte sich dann erst mit einem dankbaren Lächeln an Laura. »Entschuldigen Sie, Frau Stahlhoff. Guten Abend. Mein Name ist Margit Sternbach, und eigentlich hatte ich gedacht, dass wir uns unter formelleren Umständen vorgestellt werden. Aber unverhofft kommt oft, nicht wahr?« Während sie Lizzy im linken Arm hielt, reichte sie Laura ihre Rechte.

Laura ergriff die Hand automatisch und schüttelte sie. »Guten Abend, Frau Sternbach. Freut mich, Sie kennenzulernen. Lizzy stand einfach plötzlich hinter mir, als ich mein Auto ausladen wollte. Erst habe ich schon befürchtet, jemand könnte sie ausgesetzt haben, aber dann habe ich glücklicherweise den Anhänger mit der Adresse gefunden.«

»Ausgesetzt? Um Himmels willen, das würden wir niemals tun. Dazu haben wir Lizzy viel zu lieb. Eine alte Dame aus der Nachbarschaft, die kürzlich verstorben ist, hat mich gebeten, mich um Lizzy zu kümmern, als sie ins Krankenhaus kam, und, nun ja, jetzt haben wir die Kleine einfach geerbt. Aber das ist vielleicht ganz gut so, weil ich dadurch wieder jemanden zum Verhätscheln habe, nachdem mittlerweile alle meine Kinder erwachsen und aus dem Haus sind. Nun ja, ›aus dem Haus‹ nur technisch gesehen, denn irgendwie treiben sie sich doch dauernd bei uns herum.« Sie lachte herzlich. »Enkelkinder sind bei uns leider noch nicht in Sicht, deshalb ist es schön für mich, wieder jemanden zu haben, um den ich mich kümmern kann.« Sie warf einen kurzen Blick über Lauras Schulter. »Wie es scheint, hat Lizzy Sie jetzt ganz von Ihrer Arbeit abgehalten. So ein Umzug muss anstrengend sein. Ich hatte den letzten glücklicherweise vor etlichen Jahrzehnten, als wir in unser Haus eingezogen sind. Wenn Sie Hilfe benötigen, sagen Sie es ruhig. Wir haben genügend starke Männer zur Verfügung, die Ihnen beim Tragen helfen können.«

»Nein, schon gut. Das ist sehr nett, aber so viele Sachen habe ich gar nicht mitgebracht. Damit werde ich schon allein fertig«, wehrte Laura rasch ab.

»Wie Sie meinen. Ich danke Ihnen noch einmal von ganzem Herzen, dass Sie meine Lizzy aus der Kälte gerettet haben.«

Laura bemerkte, wie der Blick der eleganten Frau neugierig an ihr hinab- und wieder hinaufwanderte, und sie wurde sich der Tatsache bewusst, dass ihre Kleider ganz verdreckt und ihre Pumps schlammverkrustet waren. Mit einem Mal fühlte sie sich in Gegenwart ihrer neuen Chefin – denn nichts anderes war Margit Sternbach – äußerst unwohl und verlegen. »Ich fürchte, ich muss mich umziehen und frisch machen. Lizzy war ziemlich schmutzig, als ich sie hereingeholt habe, und …«

»Ach was!« Das herzliche Lächeln blieb unvermindert auf Margit Sternbachs Lippen bestehen. »Wenn man einen Hund besitzt, weiß man um die Malheurs, die einen bei solchem Wetter heimsuchen können. Machen Sie sich mal keine Gedanken darüber. Tatsächlich überlege ich gerade, ob es nicht nett wäre, wenn Sie gleich mit uns einen Kaffee trinken oder sogar zu Abend essen würden. Mein Mann musste vorhin noch mal ins Hotel in der Stadt, wird aber bestimmt bald zurückkommen und sich sicherlich freuen, Sie heute noch persönlich begrüßen zu dürfen.«

Laura wand sich. Mit so einer Einladung hatte sie nicht gerechnet, schon gar nicht am ersten Abend. »Ich wollte eigentlich …«

»Sagen Sie mal, haben Sie die Heizung noch gar nicht an? Aus dem Schornstein kommt kein Rauch«, wechselte Margit Sternbach unvermittelt das Thema. »Es muss doch kalt im Haus sein. Hans wollte den Ofen heute Morgen anmachen, aber wenn Sie erst so spät hier waren, ist er bestimmt wieder ausgegangen. Kennen Sie sich mit dem Holzofen aus? Warten Sie.« Sie drehte sich um. »Justus, komm mal bitte her!« Sie winkte dem hochgewachsenen braunhaarigen Mann im maßgeschneiderten grauen Anzug zu, der gerade aus dem Pick-up ausgestiegen war.

***

Insgeheim hatte Justus gehofft, seine Mutter würde sich beeilen, aber natürlich musste sie Lizzys Retterin noch in ein Gespräch verwickeln. Wenn sie eines konnte, dann war es reden, und das ziemlich viel und schnell. Er trommelte ungeduldig mit den Fingern aufs Lenkrad ein. Seine liegen gebliebene Arbeit im Büro konnte er wohl vergessen. Andererseits war natürlich auch seine Neugier geweckt, denn auch er war Laura Stahlhoff noch nicht persönlich begegnet. Als sein Vater sie so spontan eingestellt hatte, war er auf einer Tagung gewesen. Die Entscheidung, fürs Hotel und Resort zukünftig eine eigene Marketingchefin zu beschäftigen, begrüßte er sehr, und ebenso, dass sein Vater diesen Posten an jemand Fremdes vergeben hatte, der mit frischem Blick auf die Problemstellungen der Sternbach-Hotels blickte.

Selbstverständlich hatte er sich im Internet über Laura Stahlhoff informiert und dabei festgestellt, dass sie ausgesprochen hübsch war mit ihren leuchtend roten Haaren, dem hellen Porzellanteint und den katzenhaft grünen Augen. Wie er nun feststellte, besaß sie darüber hinaus auch noch einen ausgesprochen reizvollen Körper – schlank, aber dennoch an den richtigen Stellen verführerisch gerundet. Seinem Kennerblick entging nicht, dass das, was sich da unter dem hellblauen Pullover wölbte, in etwa Körbchengröße C war. Hier im Lichtschein der Außenbeleuchtung erkannte er auch, dass ihre Haare nicht einfach nur rot waren, sondern leicht golden schimmerten.

Um sie aus der Nähe in Augenschein nehmen zu können und weil er außerdem nicht unhöflich sein wollte, stieg er rasch aus dem alles andere als sauberen Pick-up seines Bruders aus. Er versuchte, darauf zu achten, sich neben dem durchnässten Anzug nicht auch noch seine Schuhe im Schlamm des aufgeweichten Weges zu ruinieren. Im selben Moment, als er die Tür ins Schloss drückte, drehte seine Mutter sich zu ihm um und winkte ihm zu. »Justus, komm mal bitte her! Sei so nett, und schau nach dem Ofen. Laura – ich darf doch Laura zu Ihnen sagen? Und bitte nennen Sie mich Margit! –, Laura hat es noch ganz kalt in ihrem neuen Zuhause. Ich bin nicht sicher, ob sie auf Anhieb mit der Feuerung zurechtkommen wird. Sieh mal bitte nach, ja? Ich fahre inzwischen mit Patricks Wagen voraus und kümmere mich um den Kaffee und das Abendessen.«

»Ich dachte, du fährst nicht gerne mit dem Pick-up.« Verwundert sah Justus seine Mutter an.

»Tue ich ja auch überhaupt nicht, aber wenn es denn sein muss … Ich wusste doch nicht, dass es in der Hütte noch so kalt und ungemütlich ist. Da fühlt man sich doch gar nicht willkommen. Also bis später dann. Komm, Lizzy, wir fahren mit dem großen dreckigen Auto nach Hause.« Sie winkte und drückte der Hündin gleichzeitig einen Kuss auf den Kopf.

Justus sah ihr leicht indigniert hinterher und schüttelte den Kopf, als sie sehr umständlich auf den Fahrersitz des Pick-ups kletterte. Dann wandte er sich endlich Laura zu, die etwas verwirrt und verunsichert wirkte. »Entschuldigen Sie bitte, Frau Stahlhoff. Meine Mutter ist … nun ja, meine Mutter, und wenn sie erst einmal loslegt …« Er streckte ihr lächelnd die Hand hin. »Justus Sternbach. Es freut mich, Sie kennenzulernen.«

Laura ergriff sie und drückte sie gerade fest genug, um ihm zu signalisieren, dass sie keineswegs schüchtern oder zurückhaltend war. »Guten Tag oder vielmehr guten Abend.« Sie blickte dem davonrollenden Pick-up nach. »Tut mir leid, ich bin ein bisschen …«

»Überwältigt?« Er lachte. »Diese Wirkung hat meine Mutter auf uns alle, das ist ganz normal. Das Wörtchen Nein existiert in ihrem Wortschatz nicht, weder dem aktiven noch dem passiven und ganz bestimmt dann nicht, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat.«

»Nein, ich meinte«, sie blickte an sich hinab, »ich war nicht auf eine Einladung vorbereitet und bin leider auch überhaupt nicht präsentabel. Außerdem wollte ich eigentlich …«

»Vergessen Sie es.«

»Was?« Verblüfft hob sie den Kopf.

Er schmunzelte. »Was Sie eigentlich vorhatten. Vergessen Sie es. Meine Mutter wird mir die Hölle heißmachen, wenn ich Sie nicht innerhalb der nächsten halben Stunde zu uns nach Hause bringe.« Er hielt kurz inne und musterte sie eingehend und mit Wohlgefallen. »Abgesehen davon finde ich, dass Sie durchaus präsentabel wirken. Nun ja, bis auf das etwas eigenwillige Schlammpfotenmuster auf Ihrer Hose. Da es sich aber auf Ihrem Pullover wiederholt, könnten wir es als neuesten Modegag ausgeben.« Entzückt stellte er fest, dass ihre Wangen sich leicht rosig färbten.

»So kann ich unmöglich unter Leute gehen. Ich müsste mich erst umziehen und frisch machen, aber ich habe meine Koffer noch nicht einmal ausgepackt.« Ihr Blick wanderte zu ihrem Gepäck, das mitten im Wohnbereich stand.

»Tut mir leid, aber Sie müssen Ihre Pläne wirklich ändern, wenn Sie nicht wollen, dass meine Mutter mich über dem offenen Feuer brät. Wie wäre es mit folgender Vorgehensweise: Wir sehen jetzt erst einmal nach dem Ofen, danach trage ich die Koffer nach oben und die Kisten, die sie noch in Ihrem Auto haben, ins Haus. Währenddessen können Sie sich rasch umziehen. Damit ist uns allen geholfen, und Sie kommen noch dazu in den Genuss Ihrer ersten Sternbach-Familiensitzung.«

»Familiensitzung?« In Lauras Augen trat ein skeptischer Ausdruck. »Was muss ich mir denn darunter vorstellen?«

»Genau das, was Sie jetzt vermutlich befürchten. Mama wird innerhalb von fünf Nanosekunden die gesamte Familie zusammentrommeln und zum Abendessen einladen. Ein Wort des Weisen: Bringen Sie es am besten gleich heute hinter sich. Es wird nicht besser, wenn man es vor sich herschiebt. In der Firma Sternbach verschwimmt die Grenze zwischen Privatem und Beruflichem ein bisschen. Gehören Sie zum Unternehmen, dann gehören Sie auch automatisch zur Familie.« Er zwinkerte Laura schalkhaft zu und schob sich einfach an ihr vorbei ins Haus. Die Tür zum Keller war nur angelehnt, also war sie offenbar schon unten gewesen.

»Ich habe den Ofen angemacht.« Sie schloss die Haustür, und er hörte, wie sie hinter ihm eilig die Treppe hinabstieg. »Sie brauchen sich wirklich nicht extra …« Sie verstummte, als er die obere Tür des Ofens öffnete.

Er warf einen Blick in die Brennkammer und schmunzelte. Sie war bis zu drei Vierteln mit Holzscheiten gefüllt, von denen das oberste leicht angekokelt war. »Sie haben noch nie ein Ofenfeuer angezündet, oder?«

»Ich komme schon zurecht.« Ihre Stimme klang jetzt abweisend und leicht defensiv, was ihn noch mehr amüsierte. Er deutete auf das nicht vorhandene Feuer. »So wird das aber nichts.« Umstandslos begann er, die Holzscheite wieder aus der Brennkammer zu entfernen, bis nur noch zwei übrig waren.

Laura sah ihm mit verschränken Armen zu. »In meinen bisherigen Wohnungen gab es nur ganz normale Zentralheizungen.«

»Dies hier ist auch eine normale Zentralheizung, nur mit dem Unterschied, dass Sie sich täglich darum kümmern müssen, dass sie am Laufen bleibt. Kommen Sie her, und schauen Sie mir genau zu. Es ist ganz einfach.«

Zögernd machte sie ein paar Schritte in seine Richtung.

Er zeigte ihr, wie sie die unteren Scheite zurechtlegen, kleinere Holzstücke über den brennenden Grillanzünder schichten und schließlich noch weitere Scheite hinzufügen sollte. »Den Schieber haben Sie schon ganz richtig geöffnet, und der Regler ist auf der richtigen Position. Damit der Ofen anfangs richtig zieht, können Sie nachhelfen, indem Sie die untere Tür einen Spalt offen lassen. Sie müssen nur daran denken, sie wieder zu schließen, ebenso wie den Schieber, sobald der Ofen richtig brennt und Sie ihn ganz mit Scheiten befüllt haben. Bis dahin dauert es etwa zwanzig bis dreißig Minuten.« Er sah sie von der Seite an. »Die Zeit dürfte Ihnen zum Frischmachen ausreichen, oder?«

***

»Ja, selbstverständlich.« Laura trat ein Stück zur Seite. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass Justus Sternbach gerade überlegte, was sich in einer knappen halben Stunde sonst noch alles anstellen ließe. Sein Blick war vorhin schon in recht eindeutiger Weise über ihre Figur gewandert. Sie kannte den Ausdruck in seinen Augen. Er begegnete ihr unwillkürlich überall, wo sie sich in männlicher Gesellschaft befand. Schon als junges Mädchen hatte sie die Natur verflucht, die ihr einen in ihren Augen viel zu üppigen Busen beschert hatte. Ihre Oberweite zog nun einmal die Aufmerksamkeit auf sich und heizte die männliche Fantasie an. Immer wieder musste sie hart daran arbeiten, die Welt, insbesondere den männlichen Teil, davon zu überzeugen, dass sie aus mehr als einer pornofilmtauglichen Figur mit einem hübschen Gesichtchen bestand. Ihr leuchtend rotes Haar erschwerte die Sache noch um einiges. Sie hatte schon zur Genüge die entsprechenden anzüglichen Sprüche über sich ergehen lassen müssen. Bisher war es ihr jedoch stets gelungen, sich den Männern gegenüber zu behaupten und ihnen zu beweisen, dass mehr in ihr steckte. Justus Sternbach würde in dieser Hinsicht ganz sicher keine Ausnahme bleiben.

»Also, wollen wir?«

Irritiert sah sie ihn an. »Was?«

In seinen Augen glitzerte es amüsiert. »Wollen wir nach oben gehen und dafür sorgen, dass Ihre Habe den Weg aus Ihrem Auto ins Haus findet? Mit den Koffern fangen wir an, damit Sie an Ihre Sachen kommen. Die sehen nämlich auch aus, als wären sie nicht gerade Leichtgewichte.

»Ähm, ja, danke, das wäre sehr freundlich. Die sind wirklich schwer.« Laura hätte sich am liebsten geohrfeigt. Was war denn los mit ihr? Sie klang wie ein hilfloses Weibchen, das auf den großen, starken Mann angewiesen war. Vielleicht lag es daran, dass ihr Justus Sternbachs rein physische Präsenz bereits auf den Magen zu schlagen begann. Etwas an ihm veranlasste ihre Nackenhärchen, sich aufzurichten. Er war einen guten halben Kopf größer als sie, hatte dichtes mittelbraunes Haar, graue Augen und eine sportliche Figur. Mit dem kantigen, energisch wirkenden Kinn und den hohen Wangenknochen ähnelte er stark seinem Vater, der jedoch insgesamt weniger dominant und um die Körpermitte etwas rundlicher wirkte. Justus Sternbach war zwar kein klassisch schöner Mann, trotzdem aber hochgradig attraktiv. Er erinnerte sie von Gesicht und Ausstrahlung her ein wenig an einen keltischen Krieger. Wie genau sie auf diesen Vergleich kam, konnte sie sich selbst nicht erklären. Der maßgeschneiderte dunkelgraue Anzug mit der weinroten Krawatte hätte diesem Eindruck eigentlich entgegenwirken müssen, doch genau das Gegenteil war der Fall. Vielmehr wirkte er damit wie ein zwar gebändigter Krieger, bei dem die Gefahr eines temperamentvollen Ausbruchs jedoch ganz dicht unter der geschliffenen Oberfläche lauerte.

Laura beschloss, dass es ratsam war, einen solchen Ausbruch tunlichst zu vermeiden. Das letzte Mal, dass sie auf die Ausstrahlung eines Mannes hereingefallen war, lag schließlich noch nicht allzu lange zurück, und sie hatte ganz sicher nicht vor, diese unerfreuliche Erfahrung zu wiederholen.

Entschlossen wandte sie sich ab und stieg die Treppe wieder hinauf. Justus Sternbach folgte ihr rasch und schnappte sich ohne ein weiteres Wort den großen Koffer und eine ihrer Taschen, um sie ins obere Geschoss zu tragen. Mit einem Anflug von Neid bemerkte Laura, dass es aussah, als trage er ein Federgewicht. Rasch schnappte sie sich den kleineren Koffer und verdrehte die Augen, weil er kein Gramm leichter geworden war.

»Ich stelle Ihnen das Ding neben Ihr Bett«, rief er über die Schulter. »Was haben Sie da eigentlich eingepackt? Ziegelsteine?«

»Tut mir leid.« Laura schleppte ihren Koffer mit zusammengebissenen Zähnen Stufe um Stufe die Wendeltreppe hinauf. Als sie die Hälfte geschafft hatte, tauchte Justus vor ihr auf. »Doch wohl hoffentlich nicht zweihundertdreißig Paar Schuhe aus Gold.« Ohne auf ihren giftigen Blick zu achten, nahm er ihr lachend die schwere Last ab und trug sie ebenfalls ohne ersichtliche Anstrengung in ihr Schlafzimmer.

Sie beeilte sich, ihm zu folgen, und wäre in der Schlafzimmertür beinahe mit ihm zusammengestoßen. »Verzeihung.« Sie räusperte sich. »Danke. Fürs Tragen.« Wenn sie jetzt auch noch nur in Ein- und Zweiwortsätzen mit ihm kommunizierte, würde er sie vermutlich niemals für eine denkende, vernunftbegabte Person halten! »Das … ist ein sehr schönes Zimmer … und Haus.« Ihr Gehirn schien die Absicht zu haben, sie vollkommen dämlich dastehen zu lassen. »Ihr Vater hat mir erzählt, dass es ein Prototyp ist.« Erleichtert, dass sie endlich einen zusammenhängenden Satz von sich gegeben hatte, und mit ehrlicher Bewunderung ließ sie ihren Blick über das zwei Meter breite Boxspringbett mit der gequilteten Tagesdecke wandern. Der Kniestock war hier hoch genug, dass man trotz der Dachschräge fast im gesamten Zimmer aufrecht stehen konnte. Auch hier gab es zwei große Dachfenster, von denen das eine sich direkt über dem Bett befand, sodass man auch von dort aus den Sternenhimmel bewundern konnte. Natürlich nur, wenn es nicht gerade in Strömen regnete, so wie heute. Eine zweiflüglige Terrassentür führte auf einen großzügigen Balkon hinaus. Für die Kleidung war ein großer Einbauschrank mit verspiegelten Schiebetüren vorgesehen, außerdem gab es noch eine rustikale Kommode mit großen Schubladen und eine Tür, die direkt ins angrenzende Bad führte. Auf einem der Nachttische stand ein Strauß aus Strohblumen, und als Bettvorleger dienten helle gewebte Teppiche.

»Mein Bruder hat es gebaut«, erklärte Justus. »Er ist dabei, sich als Bauunternehmer zu etablieren. Das Hotelgewerbe liegt ihm nicht sehr. Er ist eher der handwerklich begabte Typ und will sich auf Holz- und Blockhäuser spezialisieren. Unser Vater hat nun die Idee, westlich vom Resort eine kleine, aber gediegene Ferienhauskolonie aufzubauen. Viel Komfort zu erschwinglichen Preisen, hauptsächlich für Familien mit Kindern und Haustieren. Er hat bereits alle verfügbaren Wald- und Wiesengrundstücke hinter dem alten Campingplatz gekauft. Der Spatenstich soll kommendes Jahr im Mai sein. Dieses Haus hier«, er machte eine ausholende Bewegung, »ist sein Pilotprojekt – und vor allem das meines Bruders. Patrick wollte unbedingt beweisen, dass er in der Lage ist, allen Ansprüchen unserer Eltern gerecht zu werden. Ich schätze, die Aufgabe hat er mit Bravour gemeistert. Wenn man ihn kennt, überrascht das aber auch nicht. Er ist sehr ehrgeizig und kann stur wie ein Panzer sein, wenn er sich etwas in den Kopf setzt. Darin ähnelt er unserer Mutter sehr.«

Laura runzelte die Stirn. »Ist Ihr Bruder Patrick nicht adoptiert?« Sie erschrak, sobald sie die Worte ausgesprochen hatte. »Entschuldigen Sie, das geht mich gar nichts an. Ich meine nur, es irgendwo gelesen zu haben.«

»Das ist richtig. Wir machen gar keinen Hehl daraus. Patrick und seine Zwillingsschwester Ricarda sind adoptiert. Sie kamen zu uns, als sie zwölf waren. Na und?« Fragend blickte er auf sie hinab, und sie begann, sich unbehaglich zu fühlen.

»Nichts. Ich meine ja nur, weil Sie sagten, er würde Ihrer Mutter ähneln.«

»Im Verhalten, ja. Finden Sie das ungewöhnlich? Wie ich schon sagte, Margit Sternbach übt eine nicht geringe Wirkung auf die Menschen in ihrer Umgebung aus. Für Patrick war es in gewisser Weise die Rettung, dass er sich an ihr orientieren konnte.«

Überrascht lauschte Laura seinen Worten. Als er jedoch nicht weitersprach, hüstelte sie. »Ich denke, ich sollte mich rasch umziehen.«

»Ja, natürlich. Ihre Autoschlüssel?« Er streckte die Hand aus.

»Oh, ja.« Sie zog den Schlüsselbund aus ihrer Hosentasche und reichte ihn ihm. »Aber es ist gar nicht nötig, dass Sie mir helfen, die Sachen hereinzutragen. Das schaffe ich schon selbst.«

»So wie bei dem Koffer?« Spöttisch hob er die Augenbrauen, dann grinste er. »Ist schon in Ordnung, ich helfe Ihnen gerne. Und anschließend sehen wir noch einmal gemeinsam nach dem Ofen. Denken Sie daran, regelmäßig Holz nachzulegen. Etwa alle sechs Stunden, sodass ständig Glut übrig bleibt, dann müssen Sie ihn nicht immer wieder neu anmachen. Sobald der Pufferspeicher voll durchgeheizt ist, können Sie ihn auch etwas herunterregeln, dann müssen Sie noch seltener Holz nachlegen. Den Dreh haben Sie schnell heraus.«

»Ja. Danke.« Sie kam sich unsagbar unbeholfen vor, dass sie nicht einmal ohne Hilfe diesen verdammten Ofen anbekommen hatte, aber das war nun leider nicht mehr zu ändern.

»Bis gleich.« Er zwinkerte ihr noch einmal zu und lief dann die Treppe hinab zurück ins Erdgeschoss.

Laura hörte, wie er die Haustür öffnete, und beeilte sich, in ihrem Koffer nach einem passenden Outfit für den bevorstehenden Abend zu suchen.

3. Kapitel

»Oyoyoyoyoy, was ist denn das für ein Lärm hier?« Elfe-Sieben, die Assistentin des Weihnachtsmanns, legte rasch den Stapel Post, den sie aus dem Briefkasten geholt hatte, auf dem Schreibtisch ab und hastete zum Gefühlsradar in der Zimmerecke, das ein ohrenbetäubendes Schrillen von sich gab. Eilig regelte die Elfe die Lautstärke herunter und warf einen Blick über die Schulter auf die große Wand mit den unzähligen Videobildschirmen, um zu prüfen, welcher der darauf angezeigten Wunscherfüllungsvorgänge den Alarm ausgelöst hatte. Überrascht, weil sie keinen Anhaltspunkt finden konnte, wandte sie sich erneut dem Gefühlsradar zu. »Was ist denn los? Was zeigst du uns denn hier an? Da ist doch gar nichts los auf der Erde …« Sie tippte auf dem Bedienfeld herum, richtete das Radar neu aus, was aber nur dazu führte, dass der Alarm wieder lauter wurde. Elfe-Sieben setzte sich an den Schreibtisch des Weihnachtsmanns und schaltete dessen Computer ein. Sobald sie per WLAN das Gefühlsradar mit der Arbeitssoftware verbunden hatte, poppte ein neuer Videostream auf, den sie noch nicht kannte. »Nanu, wen haben wir denn da?« Sie sah sich die Vorgänge auf dem Video-Livestream eine Weile an und überprüfte die Verknüpfung mit der Software. Dabei stellte sie fest, dass Santa Claus offenbar eine Suche gestartete hatte. Prompt ging ein Strahlen über das Gesicht der Elfe, und sie drückte den Knopf der Gegensprechanlage. »Santa Claus? Bist du noch in der Geschenkefabrik?«

Es knisterte in der Leitung, dann erklang die Stimme des Weihnachtsmanns. »Ja, Elfe-Sieben, ich bin hier. Wir sind gerade dabei, die Laufbänder neu zu justieren.«

»Können das nicht Elf-Vier und Elf-Fünf allein machen? Du musst unbedingt ins Büro kommen. Es wurde ein neuer Weihnachtshasser gefunden. Oder vielmehr eine Weihnachtshasserin, und soweit ich es auf den ersten Blick beurteilen kann, dürfte sie ein besonders lohnendes Ziel für deine Bemühungen sein.«

»Tatsächlich? In Ordnung, ich bin gleich da.« Wieder knackte es in der Leitung, als der Weihnachtsmann die Verbindung unterbrach.

Elfe-Sieben wandte sich erneut dem Videostream zu und legte ihn auf einen der verbliebenen freien Bildschirme an der Wand. »Das ist ja wirklich hochinteressant«, murmelte sie dabei vor sich hin. »Lass mal sehen, wen wir da überhaupt haben.« Mit ein paar Klicks hatte die Elfe sämtliche verfügbaren Hintergrundinformationen zu der jungen Frau, die die Software entdeckt hatte, in einer Datei zusammengefasst. Elfe-Sieben druckte sie aus und speicherte sie zusätzlich in dem Ordner ab, den Santa Claus für sein neuestes Projekt angelegt hatte. Dann begann sie zu lesen.

»Nanu, was ist denn mit dir los?«, fragte der Weihnachtsmann verblüfft, als er nur wenige Minuten später sein Arbeitszimmer betrat. »Du weinst ja, Elfe-Sieben!«

»Ja, entschuldige, aber ich kann nicht anders. Das ist so eine furchtbar traurige Geschichte, da muss ich einfach weinen.« Verlegen wischte die Elfe sich über ihre Augen, dennoch rollten weitere Tränen ihre Wangen hinab. »Sieh nur mal, was das Gefühlsradar zusammen mit deiner Suchsoftware zutage gefördert hat.«

»Was haben wir denn da?« Nachdem die Elfe ihm Platz gemacht hatte, setzte Santa Claus sich auf seinen Bürostuhl und betrachtete eine Weile den Videostream, dann die Daten auf dem Ausdruck. Seine Miene wechselte von neugierig zu betroffen. »Das ist ja entsetzlich.«

»Na, das sag ich doch.« Elfe-Sieben nickte so heftig, dass ihre spitze Mütze ins Rutschen geriet. Hastig rückte sie sie wieder zurecht. »Ich kann kaum glauben, dass wir nicht schon früher auf die Idee gekommen sind, nach Weihnachtshassern zu suchen. Wenn da nur solche traurigen Geschichten dahinterstecken, werden wir eine halbe Ewigkeit damit zu tun haben, diesen Menschen zu neuer Hoffnung und Liebe in ihrem Leben zu verhelfen.«

»Nun ja, aus nichtigen Gründen werden die Menschen ja wohl nicht zu Weihnachtshassern.« Nachdenklich strich der Weihnachtsmann sich durch den Bart.

»Aber!« Auf dem Gesicht der Elfe erschein plötzlich ein strahlendes Lächeln.

»Was aber?« Santa Claus sah sie verwundert an.

»Aber«, die Elfe hüpfte mit neu erwachter Freude auf und ab, »es braucht vielleicht nur die allereinfachsten Mittel, um diesem Menschenkind hier zu helfen. Nun ja, ein Kind ist sie nicht mehr, aber du weißt schon, was ich meine.«

»Na, na, sei mal nicht zu zuversichtlich.« Santa Claus sah sich erneut den Livestream an. »Immer wenn wir glauben, irgendwas würde ganz sicher einfach laufen, gibt es die allergrößten Komplikationen.«

»Jetzt klingst du schon wie deine Frau.« Elfe-Sieben kicherte. »Normalerweise ist es doch immer sie, die uns skeptisch zurückpfeift.«

»Ganz unrecht hat sie ja meistens nicht.«

»Aber sieh doch nur mal.« Die Elfe deutete aufgeregt auf das, was sich auf der Erde tat. »Die Voraussetzungen könnten besser nicht sein. Hast du schon bemerkt, wo diese Laura sich gerade befindet? Kommt dir der Ort nicht bekannt vor?«

»Sicher kenne ich diese kleine Stadt. Dort haben wir immerhin schon sehr viele Wünsche erfüllt.«

»Siehst du, und deshalb eignet sie sich geradezu perfekt für dein Weihnachtshasser-wird-Weihnachtsliebhaber-Projekt. Das Christkind wird dir ganz bestimmt zustimmen, sobald wir ihm die Bilder und Daten gezeigt haben.« Die Elfe hüpfte erneut auf und ab. »Überhaupt, hast du die hier schon gesehen? Ist das nicht eine absolut Süße?« Sie spulte das Video ein Stück zurück und deutete auf einen winzigen weißen Hund. »Wenn eine Fellnase im Spiel ist, kann doch eigentlich gar nichts mehr schiefgehen.«

»Ha, das ist ja wirklich ein toller Zufall.« Nun erschien auch auf dem Gesicht des Weihnachtsmanns ein hoffnungsvolles Lächeln. »Also gut, dann lauf mal los, und such Elf-Zwei und Elfe-Acht. Die beiden sollen sich sofort auf den Weg machen und die Sache bis ins Detail auskundschaften. Ich schreibe derweil eine Textnachricht an das Christkind. Wir wollten sowieso bald eine Lagebesprechung einberufen. Da passt es doch perfekt, wenn wir gleich eine weitere Weihnachtshasserin präsentieren können, die wir vom Gegenteil überzeugen wollen.«

»Alles klar, Santa.« Elfe-Sieben salutierte zackig und lachte dabei fröhlich. »Bin schon unterwegs. Hach, wird das schön, wenn wir dieser Laura das wahre Weihnachten und die Liebe in ihr Leben zurückbringen. Sie wird so was von glücklich sein!«

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