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Was das Herz verspürt

Als er sie sieht, steht für einen Moment die Zeit still. Als Feuerwehrmann Mike Cavanaugh erfahren hat, dass noch jemand in dem brennenden Haus ist, hat er damit gerechnet, ein Leben zu retten. Aber nicht damit, dass diese Rettung ihn verändern würde! Denn für sich selbst völlig überraschend nimmt er die hübsche Singlemutter Christine kurz vor Weihnachten bei sich auf ... - und plötzlich erscheint ihm die Welt wieder fröhlicher und etwas bunter. Doch schon bald wird Christine wieder aus seinem Leben entschwinden. Kann Mike sie mit seiner Liebe halten?


  • Erscheinungstag: 01.11.2014
  • Seitenanzahl: 250
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955763961
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Robyn Carr

Was das Herz verspürt

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Barbara Minden

MIRA Taschenbuch ®

MIRA ® Taschenbücher

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg;

im Vertrieb von MIRA ® Taschenbuch

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2014 für dieses eBook bei MIRA Taschenbuch ®

in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Informed Risk

Copyright © 1989 by Robyn Carr

erschienen bei: Harlequin Books, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Covergestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Mareike Müller

Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

Titelabbildung: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

ISBN eBook 978-3-95576-396-1

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

1. KAPITEL

Chris hörte einen dumpfen Schlag. Der Ofen war angesprungen; bald würde Wärme das alte Häuschen erfüllen. Sie zog die Nase kraus und erinnerte sich daran, dass manche Heizgeräte am ersten Tag immer erst den Geruch von verbranntem Staub und Ruß verbreiteten. Schließlich wandte sie sich wieder der Tastatur ihres Laptops zu und konzentrierte sich auf das letzte Kapitel ihrer Geschichte über einen zwölfjährigen Jungen namens Jake. In dieser siebten Überarbeitung stand Jake nach 122 Seiten pubertärer Turbulenzen, die er in seinem ersten Jahr an der Highschool durchlitten hatte, kurz vor der rettenden Erlösung.

Es war ihr vierter Versuch, einen Roman für Jugendliche zu schreiben. Doch Chris wusste, dass sie ihrem Ziel allmählich näher kam. Bei der Beurteilung ihrer früheren Anläufe hatten Lektoren Wörter wie flott, lebendig, schlicht verwendet – und auch Begriffe wie unbeholfen, unfertig, stellenweise plump.

Sie hörte auf zu tippen und schnupperte. War es wirklich in Ordnung, dass es so schlimm roch? Sie hatte den Vermieter gefragt, ob der Ofen zuerst gereinigt oder repariert werden müsse, bevor sie den Thermostat einstellte; er hatte ihr versichert, dass alles gut sei. Natürlich hatte er gesagt, dass alles in Ordnung sei. So wie er auch behauptet hatte, dass die alte Rattenfalle, die sie gefunden hatte, keine Rattenfalle war. Tatsächlich hatte Chris zwar noch kein Nagetier gesehen. Allerdings hatte sie sehr wohl bereits jede Menge verdächtiger Kötel aufgewischt, die sie für Mäusedreck gehalten hatte. Die Fallen, die sie daraufhin selbst aufgestellt hatte, waren dennoch bisher – Gott sei Dank – unberührt.

Sie und die Kinder hatten es so lange wie möglich hinausgezögert, die Zentralheizung anzustellen. Heizkostenabrechungen hätten ihr Weihnachtsbudget schwer belastet, und wenn sie ganz ehrlich mit sich war, verdiente ihr sogenanntes Budget nicht einmal diese Bezeichnung. Aber heute Nacht konnten die Temperaturen leicht unter den Gefrierpunkt fallen, und die Schlafsäcke alleine würden ihre Kinder nicht ausreichend warm halten.

Sie blickte auf die Küchenuhr. Fast Mitternacht. Ihre Augen juckten, aber heute Abend musste sie das letzte Kapitel beenden. Um … endlich veröffentlicht zu werden? Ein Großteil ihres Antriebs kam von Jake selbst. Er war ein toller Junge, und seine Geschichte hatte ein Ende verdient, das weder unbeholfen noch stellenweise plump war. Das hatte sie nun geändert.

Was eine Veröffentlichung betraf, waren die Reaktionen, die sie bekommen hatte, jedes Mal ermutigender. Man hatte sie sogar gebeten, zukünftige Arbeiten einzuschicken. „Schreiben Sie über Dinge, die Sie kennen“, hatte ihr ein Schreiblehrer geraten. Und Chris war die Welt eines Zwölfjährigen nur allzu vertraut, der um Selbstbewusstsein rang, während er zugleich gegen das Gefühl der Unzulänglichkeit ankämpfte. Jetzt, mit siebenundzwanzig, war ihr dieses Dilemma sogar noch besser bekannt.

Der schrille Signalton des Rauchmelders riss sie aus ihren Gedanken. Mit einem Mal war ihr, als würde eine eiserne Faust ihr Herz umklammern. Erschrocken schaute sie von dem Stapel ausgeliehener Bibliotheksbücher, den fotokopierten Zeitschriftenartikeln und ihrem Laptop auf dem Küchentisch hoch. Durch die Küchentür spähte sie rasch in das kleine Wohnzimmer mit den beiden Sitzsäcken, dem alten Fernseher, den Secondhand-Spielsachen und dem Klapptisch, auf dem noch die Reste von den Makkaroni mit Käse standen, die sie den Kindern vor ein paar Stunden zum Abendessen gekocht hatte.

Und nun drang Rauch durch die Lüftungsschlitze am Boden.

Chris sprang auf, machte einen ordentlichen Satz, um das Heizgerät auszustellen, und stürmte in das Zimmer ihrer Kinder. Sie schnappte sich die zwei – die fünfjährige Carrie und den dreijährigen Kyle – und hob beide gleichzeitig auf die Arme.

„Es brennt“, sagte sie und lief mit ihnen durch den dichten Rauch in Richtung Tür. „Wir müssen raus, schnell.“ Als sie an den qualmenden Lüftungsschlitzen vorbeikam, betete sie, dass es nicht so schlimm war, wie es aussah. Vielleicht war es bloß Dreck? Ruß? Tote Käfer? Das hielt sie jedoch nicht davon ab, auf direktem Weg nach draußen zu rennen.

Erst nachdem sie sich in Sicherheit befanden, erlaubte sie sich, sich draußen umzuschauen. Das Viertel lag im Dunkeln. Schon im hellen Tageslicht ließ diese Gegend zu wünschen übrig, aber bei Nacht wirkte sie fast bedrohlich. Es gab nicht einmal eine winzige Gartenbeleuchtung. Ihr sieben Jahre alter Honda parkte am Straßenrand. Hastig öffnete Chris die Autotür, bugsierte die Kinder auf den Rücksitz und griff nach einer Decke. „Wickelt euch in die Decke. Hilf Kyle dabei, Carrie. Genau so – das ist mein Mädchen! Ich muss jetzt dafür sorgen, dass jemand die Feuerwehr ruft. Ihr zwei bleibt im Wagen sitzen. Egal, was passiert! Hast du gehört?“

Der kleine Kyle begann zu wimmern und rieb sich die Augen. Carrie breitete die Decke über ihren Bruder und nickte ihrer Mutter zu. Danach flüsterte sie Kyle mütterlich tröstende Worte zu: „Alles wird gut … Alles wird gut …“

Chris schloss die Autotür und eilte zum Haus nebenan. Genau wie ihr eigenes war es eine winzige, windschiefe Bruchbude, die dringend einen neuen Anstrich benötigt hätte. Niemand machte auf. Nach einer Minute, vielleicht auch zwei, gab sie auf und raste über die Straße. Sie klingelte, klopfte an die Tür und brüllte. Sie war in Panik. Wie lange musste man warten, bis jemand aufstand? Ungeduldig trat sie von einem Fuß auf den anderen und verfluchte ihre Entscheidung, den Handyvertrag zu kündigen, weil er zu viel Geld gekostet hatte. Auch hier blieb alles finster. „Komm schon! Komm schon! Ist jemand da?“ Schließlich ging das Licht auf der Veranda auf der anderen Straßenseite an, wo sie es zuerst versucht hatte. „Verflucht!“, murmelte sie. Chris wollte gerade hinüberrennen, als auch vor dem zweiten Haus die Beleuchtung eingeschaltet wurde. „Himmel“, stieß sie gepresst hervor und wandte sich wieder um.

Ein verschlafen und wütend aussehender Mann öffnete die Tür. Er hielt seinen Morgenmantel über seinen Boxershorts zusammen. Das war der Moment, in dem Chris sich daran erinnerte, dass sie nur ein übergroßes T-Shirt, Mokassins und Unterwäsche trug. Pinkfarbene Seidenunterwäsche, um genau zu sein. Mehr nicht.

„Rufen Sie die Feuerwehr!“, bat sie ihren Nachbarn. „Das Heizgerät brennt. Meine Kinder sind im Auto. Beeilen Sie sich! Bitte beeilen Sie sich!“

Damit drehte sie sich um und eilte zu ihrem Wagen zurück. „Alles in Ordnung?“, fragte sie ihre Kinder, die sie wie zwei kleine Vögelchen mit großen Augen von unter der Decke aus anstarrten.

„Mommy, was ist mit Cheeks?“, wollte Carrie wissen.

„Cheeks ist im Garten, Süße. Ihm geht es gut.“ Sie hob den Kopf und lauschte. „Er bellt. Könnt ihr ihn hören?“

Carrie nickte, sodass ihre goldenen Locken wippten. „Darf Cheeks zu uns ins Auto?“

„Ich hole ihn sofort. Ihr rührt euch nicht vom Fleck. Versprochen?“ Sowie ihre Tochter erneut nickte, fügte Chris hinzu: „Ich bin gleich zurück. Die Feuerwehr ist unterwegs. Ihr hört sicher bald die Sirenen.“

„Brennt unser Haus ab?“

„Abbrennen?“, wiederholte Kyle.

„Es wird alles gut“, wiederholte Chris. „Bleibt, wo ihr seid. Ich bin in einer Minute wieder da.“

Chris war klar, dass es verrückt war, in ein brennendes Gebäude zurückzukehren: Bei so etwas waren schon viele Menschen gestorben. Aber unter diesen Umständen ist es nicht total dumm, dachte sie bei sich. Erstens hatte sie bloß Rauch gesehen und keinen weiteren Beweis für einen echten Brand. Zweitens war das Haus winzig: Der Küchentisch, auf dem sich der Laptop und ihre Rechercheunterlagen befanden, konnte unmöglich weiter als zehn Meter vom Eingang entfernt sein; außerdem würde sie die Tür offen stehen lassen, für den Fall, dass sie schnell wieder rausmusste. Und drittens würde sie gar nicht hineingehen, wenn es irgendwie gefährlich wirkte.

Aus der Ferne vernahm sie das Heulen einer Sirene. Die Feuerwehrwache war nur knapp eine Meile entfernt. Sie würde sich beeilen. Und die Situation kam ihr noch nicht so schrecklich vor: Der Qualm schien weder undurchdringlich noch beißend zu sein. Chris hatte eine Idee.

Sie füllte ihre Lungen mit sauberer Luft und schoss in Richtung Küche. Selbst wenn das Haus bis auf die Grundmauern abbrannte, würde der Kühlschrank intakt bleiben – genau wie die Badewanne bei einem Tornado, oder? Weil sie möglicherweise nicht alles Material und ihren Laptop auf einmal rausschaffen konnte, riss sie kurzerhand die Kühlschranktür auf und legte die Papiere hinein. Eigentlich wollte sie kein sehr dickes Buch schreiben. Wie war es dann dazu gekommen, dass sich so viel Zeug angesammelt hatte? Die Bücher – teure Nachschlagewerke – wanderten als Nächstes in eins der Fächer. Dabei landete ein Buch aus der öffentlichen Bücherhalle Sacramentos auf einem Teller Butter, aber für Pingeligkeit blieb ihr jetzt keine Zeit. Sie nahm einen Liter Vollmilch heraus, um für einen Stapel Fotokopien Platz zu machen – die Sirene kam näher –, und ersetzte eine Kanne Apfelsaft durch ein dickes altes Wörterbuch, das sie auf dem Flohmarkt erstanden hatte. Die Sirene schien nun leiser zu werden.

Plötzlich wurde Chris ganz schummrig. Der Laptop, dachte sie benommen. Würde sie es schaffen, ihn heil nach draußen zu bringen? Vor ihren Augen begann alles zu verschwimmen. Sie schaute zum Lüftungsschlitz. Aus dem Mistding drängte wirklich Rauch raus …

Der erste Löschzug hielt gerade hinter einem alten grünen Honda, da sprangen auch schon die Feuerwehrmänner herunter. Der Gerätewagen mit den Leitern und der Hydraulik kam gleich dahinter. Während seine Männer einen Schlauch zum Hydranten zogen, warf Captain Mike Cavanaugh einen Blick auf das brennende Haus und näherte sich schließlich einem Mann, der in Boxershorts und einem fadenscheinigen Bademantel an der Bordsteinkante stand. Der Heizofen, hatte man ihm gesagt. Mike sah ein paar Flammen aus dem Dach schlagen. Ein Heizofenbrand konnte im Erdgeschoss ausgebrochen sein; in diesen alten Häusern ohne Brandschutzmauern konnte sich das Feuer jedoch inzwischen bis zum Dachstuhl durchgefressen haben. Man fuhr die Leitern aus. Er rief nach hinten: „Nehmt den dünnen gelben Schlauch zum Sprühen. Anschließend machen wir das Dach auf.“ Danach wandte er sich an den Mann im Bademantel: „Ist noch jemand drin?“

„Das ist nicht mein Haus. Es gehört so einer Frau. Sie wohnt erst seit ein paar Monaten hier. Das da sind ihre Kinder.“

„Haben Sie uns angerufen?“

„Ja, sie hat an meine Tür geklopft und gemeint, dass ihr Heizgerät brennt und die Kinder im Auto sind.“

Mike spürte, wie etwas an seinem Ärmel zupfte, und schaute nach unten. Der Anblick erschütterte ihn und brach ihm fast das Herz. Direkt vor sich entdeckte er ein blondes Mädchen mit einem Engelsgesicht, das tief in seinem Inneren Erinnerungen zu wecken schien. Die Kleine trug einen Schlafanzug; neben ihr stand ein ähnlich gekleideter Junge, der sich mit einer Hand an eine Decke klammerte und mit der anderen an den Pyjama seiner Schwester.

„Unsere Mutter ist noch drin“, erklärte das Mädchen. „Sie hat gesagt, wir sollen im Wagen bleiben.“

„Dann setzt euch besser wieder hinein“, erwiderte er. „Ich hole eure Mutter.“ Er hatte ganz ruhig gesprochen, begann nun allerdings zu rennen, wobei er das Mundstück seines Atemschutzgerätes hervorholte. „Da ist noch eine Frau drin“, informierte er den ersten Feuerwehrmann, an dem er vorbeikam. „Nummer 56 wird eine Rettungsaktion starten. Übernimm das Kommando.“

Sein Kollege Jim Eble wandte sich sofort ab, um die Nachricht weiterzugeben.

„Frauen“, grummelte Mike. Frauen dachten immer, es gäbe etwas, das es wert war, aus dem Feuer gerettet zu werden. Normalerweise eine Handtasche oder irgendwelchen Schmuck. Manchmal waren sie jedoch auch bescheuert genug nur wegen Schuhen oder eines Kleides zurückzugehen.

Trotz dieser Erfahrung war er nicht vorbereitet auf das, was er dann tatsächlich ein paar Schritte hinter der Tür vorfand: eine zierliche Frau. Ihr welliges Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie hatte nur Slipper und ein übergroßes T-Shirt und pinkfarbene – ja, pinkfarbene – Seidenunterwäschen an. Das mit der Unterwäsche wusste er, weil die Frau vornübergebeugt in einem Kühlschrank herumwühlte. Mitten in einem total verrauchten Haus.

Er tippte ihr auf die Schulter. „Was ist los? Haben Sie Hunger?“ Aufgrund seiner Atemmaske klang das in etwa wie: „Wsssn looo, hmmm sii Huuuä?“

Als sie sich zu ihm umdrehte, bemerkte er sofort ihre fahle Blässe und die glasigen Augen. Sie hustete, ihre Knie gaben nach, und er schlang den Arm um ihre Taille. Schließlich schulterte er sie wie einen Seesack. Vermutlich würde sie ihn vollspeien; es wäre nicht das erste Mal.

Er trug das mit der pinkfarbenen Seide bedeckte Hinterteil, das sich direkt neben seinem Ohr befand, zur Haustür. Inmitten des Chaos, das um ihn herum herrschte, hinterließ diese Frau einen tiefen Eindruck bei ihm.

Sobald er sie nach draußen gebracht hatte, ließ er sie am hinteren Ende des Löschwagens hinunter und nahm seine Maske ab. „Ist noch jemand im Haus?“, fragte er.

„Cheeks … ist im …“, presste sie keuchend hervor, „… Garten.“

„Cheeks?“

„Hund … Drahthaarterrier“, stieß sie aus. Dann fiel sie Jim entgegen, der sie an den Schultern festhielt und sie gegen die Ladeklappe des Fahrzeugs lehnte, damit sie dort Platz nehmen konnte.

„Ich hole den Hund“, meinte Mike zu seinem Freund. „Das Heizgerät steht im Erdgeschoss. Wir müssen runtergehen – mitten ins Haus. Und das ist kein neues Dach.“ Dann lief er in Richtung Garten.

„Hier“, sagte Jim und setzte Chris eine Atemmaske auf. „Mit etwas Sauerstoff werden Sie sich gleich besser fühlen.“

Chris fand diesen Feuerwehrmann bedeutend netter als den anderen, der sie auf dem Bürgersteig runtergelassen hatte. Aber seine Stimme schien immer leiser zu werden und von immer weiter weg zu kommen. Plötzlich wurde ihr schwindelig, und in ihrem Magen rumorte es. Abrupt drehte sie sich von ihm weg und erbrach ihr Abendessen und paar Tassen Kaffee auf der Straße. Sich mit der Hand an der Ladefläche festklammernd, erschauderte sie und seufzte.

Der Mann reichte ihr ein paar Mulltücher. „Manchmal fühlt man sich danach sehr viel besser.“ Er strich über ihren Rücken. „Ab jetzt ist alles gut. Nehmen Sie es nicht so schwer.“

Beschämt und peinlich berührt griff Chris nach den Tüchern und wischte sich Mund und Nase sauber, während sie sich wünschte, im Erdboden zu versinken. Auf wundersame Weise tauchte eine große grüne Mülltüte auf, mit der man die Sauerei bedeckte. Sie schätzte, dass das zum alltäglichen Geschäft der Feuerwehr gehörte.

„Ist unsere Mommy krank?“, fragte Carrie mit leiser Stimme.

„Mommy?“, echote Kyle.

Der Feuerwehrmann kniete sich hin und lächelte die beiden freundlich an. „Nö, halb so wild. Sie hat etwas zu viel Rauch gerochen, und da wurde ihr ein bisschen schlecht. Jetzt fühlt sie sich schon besser. Stimmt’s, Mom?“

Chris richtete sich auf und nickte mit geschlossenen Augen. Sie war noch nicht in der Lage, zu sprechen. Allerdings spürte sie, wie ihr erbsengrünes Gesicht allmählich rot wurde. Es war schon ironisch: Da brannte gerade ihr Haus ab, und sie sorgte sich bloß darüber, dass sie so gut wie nichts anhatte und sich mitten auf der Straße übergeben hatte.

„Unsere Mom wird sehr wütend sein, wenn ihr Buch verbrennt“, erzählte Carrie dem Feuerwehrmann.

„Na ja, wir können uns jederzeit neue Bücher kaufen, oder?“, gab er zurück. „Aber es wäre ziemlich schwer, eine andere Mommy zu finden, die so besonders ist wie diese. Deshalb gehen wir niemals in ein brennendes Gebäude zurück.“

„Unsere Mommy schreibt gerade ein Buch. Und das dauert ganz schön lange und ist ganz schön schwer“, hielt Carrie empört dagegen.

Als der Mann sie ansah, zog Chris sich das T-Shirt über die Schenkel. So langsam erholte sie sich. „Macht nichts, Carrie. Der Feuerwehrmann hat recht: Ich hätte nicht mehr zurücklaufen dürfen. Das war sehr gefährlich und sehr dumm.“ Dann wandte sie sich an den Mann: „Ich nehme nicht an, dass Sie etwas Wasser zum Trinken dabeihaben?“

„Nun“, sagte er und schaute sich um. „An Wasser kommt man gerade schlecht ran.“

Ihr fielen drei verschiedene Schläuche auf, die quer über das Grundstück bis zu ihrem Haus reichten. Sie schüttelte den Kopf.

„Ich frage einen Nachbarn“, schlug der Mann vor und entfernte sich.

Ungefähr eine Minute später kehrte er mit einem Pappbecher zurück. Erst nach einigen Schlucken bemerkte Chris, dass er ihr eine Decke hinhielt. „Danke“, sagte sie und tauschte das Wasser gegen die Decke. „Wenn ich gewusst hätte, dass Sie kommen, hätte ich mich angezogen.“

„Kein Problem“, entgegnete er. „Außerdem müssen Sie sich für diese Beine ganz bestimmt nicht schämen“, ergänzte er, während er sich dezent abwandte. Die Decke reichte ihr glücklicherweise bis zu den Knöcheln.

„Uaah!“, erscholl plötzlich ein Ruf in Baritonlage, gefolgt von einem lauten Krachen.

Ein Teil des Daches, an dem die Männer herumstocherten, war eingestürzt, und Flammen schlugen heraus. Zwei Feuerwehrmänner stürmten aus dem Haus, zwei weitere trugen eilig einen breiteren Schlauch hinein. Die Männer waren überall: drinnen, draußen, obendrauf.

Es ist beeindruckend, dachte Chris. Erst vor wenigen Minuten hatte sie ein bisschen Rauch entdeckt. Und mittlerweile war daraus erheblich mehr geworden: Glutrote Flammen fraßen sich durch ihr kleines Heim.

Aus der Dunkelheit tauchte der Feuerwehrmann, der ihr das Leben gerettet hatte, mit einem silbergrauen, knurrenden Fellbündel in den Armen auf. Er setzte Chris den Hund auf den Schoß. Cheeks, der sehr speziell darauf reagierte, wenn man ihn herumtrug, kläffte und schnappte bei der Übergabe um sich. Er war extrem übellaunig. Carrie und Kyle drückten sich enger an Chris, die sie beschützend umarmte, um ihnen ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln, das sie selbst nicht empfand. Als sie ihren Sohn auf die Ladefläche hob und ihre Tochter etwas dichter an sich heranzog, bemerkte sie die vielen Menschen. Alle Nachbarn, die sie bisher noch nie gesehen hatte, waren aufgestanden und schauten zu, wie ihr Haus abbrannte.

„Vielleicht sollten wir ein Nachbarschaftsfest daraus machen“, murmelte sie, während sie die Kinder nacheinander auf die Köpfe küsste und dabei die Zunge des Hundes an Mund und Nase spürte. „Igitt!“ Sie verzog das Gesicht.

„Haben wir noch einen zweiten Einsatz?“, fragte ein Feuerwehrmann den anderen.

„Ja“, antwortete dieser.

Rasend schnell bog nun ein vierter Löschzug um die Ecke. Die Sirenen waren wegen des Höllenspektakels um sie herum nicht zu hören gewesen: Geschrei, Motorenlärm, Funkgeräte, platschendes Wasser und dieses Zischen und Prasseln, mit dem alles zu Asche wurde, was Chris je an weltlichen Gütern besessen hatte.

Die Scheinwerfer des neuen Einsatzfahrzeugs blinkten wie die Augen eines riesigen Monstrums, und bald erhob sich eine Steigleiter wie ein steifer Arm über die Wipfel der Eukalyptusbäume. Ein Schlauch war mit nach oben genommen worden, und daraus schoss ein Wasserstrahl auf das kleine Haus hinunter.

Der Kampf gegen das Feuer verwandelte sich aus Chris’ Sicht in einen großen Abriss. Als Türen und Fenster eingeschlagen wurden, zuckte sie bei dem Geräusch von splitterndem Glas und berstenden Holzbalken zusammen. Sie betrachtete den immer dichter werdenden Verkehr. Polizeiautos blockierten die Straße, ein Rettungswagen war eingetroffen. Chris, ihre Kinder und der Hund saßen ruhig auf der Stoßstange des Löschwagens Nummer 56.

Tränen liefen ihr über die Wangen. Alles ging dahin. Und es war nicht einmal viel gewesen. Fünf Wochen vor Weihnachten. Sie war siebenundzwanzig Jahre alt, und es war bereits das dritte Mal innerhalb der letzten sieben Jahre, dass sie so dastand: hilflos und ohne Hoffnung, während sich alles, von dem sie gedacht hatte, dass es sie ausmachte, in nichts auflöste – vor ihren eigenen Augen. Das erste Mal, als ihre Eltern bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen waren. Damals war sie zwanzig gewesen und hatte als Einzelkind plötzlich niemanden mehr gehabt. Dann, als Steve sie ohne ein Abschiedswort verlassen hatte, nachdem er sie emotional ausgenutzt und jeden einzelnen Cent, den ihre Eltern ihr vermacht hatten, aufgebraucht hatte. Und jetzt das.

„Mommy, wo sollen wir denn jetzt schlafen?“

„Ich … ähm …Wir werden uns etwas einfallen lassen, Spatz. Mach dir keine Sorgen.“

„Mommy? Sind unsere Schlafsäcke verbrannt? Wie sollen wir ohne unsere Schlafsäcke schlafen?“

„Ach, Carrie“, stieß Chris seufzend aus, und ihre Stimme versagte, obwohl sie sich so bemühte, Stärke vorzutäuschen. „Haben wir bisher nicht immer alles h…hinbekommen?“

Das Haus war fünfundsechzig Jahre alt und ziemlich heruntergekommen, weil sich der Vermieter kaum um die Instandhaltung gekümmert hatte. Es dauerte nicht lange, bis nicht mehr als ein einziger großer schwarzer Klumpen davon übrig war. Chris hockte da und schaute zu. Für diese Verwandlung hatte es weniger als zwei Stunden gebraucht. Sie war sich nicht mal bewusst, wie kalt es draußen war.

Der Löschzug, der zuletzt eingetroffen war, verließ den Ort des Geschehens als Erstes. Die Nachbarn kehrten in ihre Häuser zurück, ohne Chris zu fragen, ob sie irgendetwas benötigte. Himmel, sie gingen in ihre Häuser zurück, ohne sich ihr auch nur vorgestellt zu haben. Ein Polizist nahm eine kurze Aussage von Chris auf: dass das Heizgerät angesprungen war, nachdem sie den Thermostat eingestellt hatte, und dass es dann gequalmt hatte. Da gab es nicht viel zu sagen. Er überreichte ihr eine Karte mit den Telefonnummern vom Roten Kreuz und lief zu seinem Auto zurück. Die Ambulanz war schon längst verschwunden. Ihr Sohn schnarchte leise, sein blonder Schopf ruhte an ihrer Brust. Sie hatte die Decke des Feuerwehrmannes um Kyle und Cheeks geschlungen. Carrie, die in eine eigene Decke gewickelt war, kuschelte sich an sie und beobachtete alles mit einer Mischung aus Faszination und Angst. Ihre Tochter saß ganz still, aber mit geweiteten Augen da. Es war nach zwei Uhr morgens, schätzte Chris. Hier hockte sie also auf der Stoßstange von Löschzug Nummer 56 und hatte keine Ahnung, was sie als Nächstes tun sollte.

Der Feuerwehrmann, der ihr das Leben gerettet hatte, stand vor ihr. Er schien ihr jetzt, da ihr Haus nur noch ein Haufen Schutt und Asche war, noch größer als vorher. Sein dichtes, braunes, lockiges Haar klebte ihm verschwitzt am Kopf. Schweiß rann ihm über das schmutzige Gesicht. Seine Augen lagen tief unter dichten Brauen, dennoch wirkte er ganz sympathisch.

„Falls Sie mir den Löschzug unter dem Hintern wegziehen, habe ich keinen Schimmer, wo ich sitzen soll“, meinte sie.

„Kennen Sie keinen Ihrer Nachbarn?“

Sie schüttelte den Kopf. Wenn sie zu erklären versucht hätte, dass ihre Nachbarn einfach so weggegangen waren, wäre sie vielleicht in Tränen ausgebrochen.

„Gibt es jemanden, den Sie anrufen können?“

Sie zuckte die Achseln. Gab es so jemanden? Sie war sich nicht sicher.

„Sie könnten zum Revier mitfahren, um von dort aus irgendwo anzurufen“, entgegnete er. „Oder wir könnten einen Nachbarn wecken, damit Sie dessen Telefon benutzen. Oder Sie könnten in die Feuerwache mitkommen und …“

„Zur Feuerwache“, unterbrach sie ihn. „Bitte.“ Sie konnte heute Abend keine Polizeistation ertragen. Oder ihre Exnachbarn. Als sie in diesem Moment zu dem Mann hochblickte, der sie aus dem brennenden Haus getragen und der sogar Cheeks gerettet hatte, beschlich sie das unheimliche Gefühl, dass er der Einzige war, auf den sie sich verlassen konnte.

„Haben Sie hier in der Gegend Familie? Einen Mann? Einen Exmann?“

„Oh, es gibt einen Exmann … irgendwo“, antwortete sie.

„Kenne ich Sie nicht?“, fragte er plötzlich.

Sie erstarrte.

„Iverson’s“, meinte er. „Der Lebensmittelladen.“

Natürlich, dachte sie. Bis zu diesem Abend hatte Chris über Feuerwehrleute nicht mehr gewusst, als dass sie immer in der Gruppe ihre Besorgungen zu erledigen schienen und wählerisch waren. Chris arbeitete bei Iverson’s an der Kasse. Es amüsierte sie jedes Mal, wenn sie das Feuerwehrauto auf dem Parkplatz entdeckte, aus dem fünf bis sechs große, durchtrainierte Kerle ausstiegen, um fürs Abendessen einzukaufen. „Ja. Klar.“

„Na dann müssen Sie doch einige Freunde in der Gegend haben.“

Wie er darauf kam, erschloss sich ihr nicht. Bedeutete es, dass man garantiert Freunde fand, wenn man in einem Lebensmittelladen an der Kasse arbeitete? Sie war erst Ende August, genau rechtzeitig zu Carries Schulbeginn, von Los Angeles nach Sacramento gezogen. Und natürlich hatte sie Arbeitskollegen. Deren Telefonnummern, die sie bisher höchst selten benutzt hatte, befanden sich allerdings irgendwo in dem großen Aschehaufen. Chris konnte auch niemanden in L.A. anrufen. Eher würde sie in einem Park zelten, als noch einmal dorthin zurückzukehren.

„Auf dem Weg zur Feuerwache wird mir schon jemand einfallen“, betonte sie. „Da gibt es vermutlich weniger Kriminelle als auf dem Polizeirevier.“ Sie sah an sich hinunter und betrachtete ihre Füße, die in Slippern steckten. „Ich bin heute Abend nicht richtig angezogen, um Verbrecher abzuwehren. Wie lange darf ich die Decke behalten?“

Zum ersten Mal dachte Mike wieder an den pinkfarbenen Slip und war froh, dass es dunkel war. Seine Wangen fühlten sich heiß an. Ihm war heiß. Es war ein unklares, vertrautes Gefühl, und er mochte es. „Bis Sie sie nicht mehr brauchen, schätze ich. Ein paar Klamotten können Sie vom Roten Kreuz kriegen. Ich bitte den Cop, Sie zur Feuerwache zu bringen. Wir dürfen Sie im Löschfahrzeug leider nicht mitnehmen.“

„Was ist mit meinem Haus?“, erkundigte sie sich.

„Nun“, setzte er an und schaute nach hinten. „Welches Haus?“

„Wird es nicht geplündert oder so?“

„Lady, da ist nicht mehr viel übrig, das geplündert werden könnte. Haben Sie Wertsachen, die das Feuer eventuell überstanden haben könnten?“

„Ja“, erwiderte sie und blickte zu den Kindern. „Gleich hier.“

Er grinste sie an. Es war ein schönes, spontanes Lächeln, mit dem er ein klein wenig gefährlich wirkte. Ein Lächeln, das kein Mitleid ausdrückte, sondern Menschlichkeit. Und durch das sich ein tiefes Grübchen bildete – auf der linken Seite. „Dann haben Sie das Beste gerettet.“ Damit drehte er sich um und ging.

„Der Kühlschrank“, sagte sie und sorgte so dafür, dass er zu ihr zurückkam. „Ist der Kühlschrank hinüber?“

„Na ja, er wird nicht mehr funktionieren.“

„Der Kühlschrank selbst ist mir egal“, erwiderte sie und merkte, dass sie schon wieder gefasster klang. „Ich habe meinen Laptop hineingelegt. Und meine Rechercheunterlagen. Auf dem Computer befindet sich ein Buch. Es ist so ziemlich das Letzte von Wert, das ich …“ Sie verstummte, bevor ihre Stimme versagte und sie anfing zu weinen. Sie drückte ihre Kinder noch fester an sich. In diesem Augenblick fühlte sie sich selbst wie ein kleines Mädchen. Wie ein schutzloses, verlassenes, mitleiderregendes Waisenkind. Würde bitte irgendwer etwas unternehmen? Warum, lieber Gott, warum hab ich so viel Pech? Und warum wird es von Mal zu Mal schlimmer? Immer wenn ich glaube, ich könnte es doch schaffen, geht etwas schief, und ich weiß einfach nicht, womit ich das verdient habe. Und meine Kinder. Oh, mein Gott, meine armen Kinder.

„Ist es das, was Sie wollten?“, fragte er sie.

Sie sah zu ihm hoch. Braune Augen? Nein, grüne. Mit Lachfältchen in den Augenwinkeln.

„Was … was dachten Sie denn, was ich wollte?“, wollte sie wissen.

Er griff in die Fahrerkabine des Löschzugs und holte eine Taschenlampe heraus. „Keine Ahnung. Ich werde jetzt mal nachschauen, ob der Kühlschrank überlebt hat.“

Sie erhob sich abrupt und bemühte sich dabei, Kyle und Cheeks festzuhalten. „Seien Sie vorsichtig.“

Die Schläuche wurden eingerollt.

Er kam zurück. Mit dem Laptop. Es existierte also doch noch etwas aus ihrem früheren Leben. Lächelnd präsentierte er ihn ihr. Er war nicht einmal angesengt. „Da ist ein bisschen Butter dran. Und etwas Rotes. Ich glaube, Ketchup.“

„Ich kann es nicht fassen“, stieß sie atemlos hervor.

„Nun, ich hoffe, das ist etwas Gutes. Immerhin hätte Sie dieses Ding beinahe bei Weitem mehr gekostet, als es wahrscheinlich wert ist. Wussten Sie denn nicht, dass man nicht in ein brennendes Haus …?“

„Und die Schlafsäcke? Spielzeug? Kleider?“

Ärgerlich schüttelte er den Kopf. „Es war wirklich keine Zeit mehr, irgendwas da drinnen zu retten. Wir haben es versucht, aber … Kommen Sie, wir bringen Sie jetzt in den Mannschaftswagen. Diese alten Häuser … Meine Güte.“

Chris setzte sich in Bewegung. Sie ging mit Kyle und Cheeks auf den Armen vor ihm her zum Polizeiwagen, während Carrie sich an einem Zipfel von Chris’ Decke klammerte.

Der Feuerwehrmann folgte ihnen mit dem Laptop. „Ich habe Frauen erlebt, die wegen ihrer Handtaschen zurückgegangen sind, allerdings konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, was Sie da am Kühlschrank zu suchen hatten! Das glaubt mir kein Mensch. Sie haben ganz schön Glück gehabt.“

„Ich fühle mich nicht so, als ob ich Glück gehabt hätte.“

„Sollten Sie aber. Diese alten Häuser brennen wie Zunder.“

Sie nahm ihm den kostbaren Computer ab und stieg ohne ein weiteres Wort ins Polizeiauto, das der Feuerwehr bis zur Wache hinterherfuhr. Der Cop brachte Kyle bereits hinein, während Chris die Aufgabe zufiel, ihren äußerst widerspenstigen Hund ins Gebäude zu tragen. Sie hatte alle Hände voll zu tun, den Terrier zu bändigen und dabei ihren Laptop nicht fallen zu lassen.

In der Feuerwache führte man sie in einen kleinen Aufenthaltsraum, der mit zwei Sofas, ein paar Stühlen, einem Tisch, einem Telefon, einem Fernseher und sogar mit einer Tischtennisplatte ausgestattet war. Hier hielten sich die Männer wohl zwischen den Einsätzen auf.

Der große Feuerwehrmann erwartete sie dort bereits und stand mitten im Raum, als sei er das Begrüßungskomitee. Er hatte seine Jacke inzwischen abgelegt. Hosenträger hielten seine riesige Baumwollhose, und das eng anliegende T-Shirt spannte über seinem breiten Brustkorb und den muskulösen Schultern.

Carrie klammerte sich an sein Bein. „Unsere Mommy schreibt jede Nacht an ihrem Buch. Sie will nämlich Schriftstellerin werden, damit sie nicht mehr im Lebensmittelladen arbeiten muss.“

„Ach?“, erwiderte der Feuerwehrmann.

„Und es ist sehr viel wert“, informierte Carrie ihn stolz.

2. KAPITEL

Nachdem seine Kollegen zu Ende geduscht hatten, konnte sich auch Mike Cavanaugh endlich den beißenden Rauchgeruch von der Haut waschen. Während er sich die Haare shampoonierte, dachte er an seine in der Nähe lebende Mutter. Sie hatte vielleicht die Sirenen gehört. Möglicherweise lag sie wach und fragte sich, ob es ihrem Erstgeborenen gut ging. Mike wusste, dass es so war, weil sein Vater es ihm einmal gesagt hatte; seine Mutter selbst hätte so etwas nie zugegeben. Mike könnte sie jetzt anrufen, wie sein Vater es ihm vorgeschlagen hatte – was Mike zu der Annahme veranlasst hatte, dass seine Mutter nicht die Einzige war, die sich um ihn sorgte. Aber, verdammt noch mal, er war sechsunddreißig! Er würde seine Mutter nicht nach jedem mitternächtlichen Einsatz verständigen, damit sie beruhigt weiterschlafen konnte. Außerdem hätte es Folgen, wenn er das tat: Er wäre dazu verpflichtet, sie jedes Mal anzurufen, ob fünfzehn Minuten nach den Sirenen oder Stunden später. Und das wäre schlimmer, als sich einfach gar nicht bei ihr zu melden. Sie würde sich früher oder später an seinen Beruf gewöhnen müssen. Immerhin arbeitete er nun schon seit mehr als zwölf Jahren als Feuerwehrmann.

Tagsüber besuchte er seine Eltern jedoch häufiger. Und er hatte ihnen sogar einen Multifrequenzempfänger gekauft, damit sie den Funkverkehr abhören konnten. Er war gar nicht so stur, wie er tat.

Es war drei Uhr gewesen, als er sich im Gemeinschaftsraum von der Frau und ihren Kindern verabschiedet hatte – Christine Palmer, wie er erfahren hatte, als sie endlich einen Augenblick Zeit gehabt hatten, um sich vorzustellen. Er hatte ihr ein paar Kissen und Decken gegeben, damit die Kleinen es sich auf dem Sofa gemütlich machen konnten, und außerdem ein paar Kleidungsstücke für sie selbst: eine Trainingshose und ein Sweatshirt in den kleinsten Größen, die er hatte auftreiben können. Er hatte ihr erklärt, welche Leitung sie für ihre Anrufe nutzen durfte. Und dass sie, falls möglich, bald für eine Weile die Augen zumachen sollte; in ein paar Stunden würden die Männer aufstehen, um zu frühstücken, und um sechs Uhr war Schichtwechsel. Er hatte ihr vorgeschlagen, sich morgens von jemandem abholen zu lassen, damit die Kinder nicht noch einmal in ihrem Schlaf gestört würden.

Oben in den Schlafräumen war ein wenig gemeutert worden. Es war nicht üblich, obdachlose Brandopfer mit in die Feuerwache zu bringen. Das geschah tatsächlich nur sehr selten. Jim hatte gesagt, es würde ein schlechtes Beispiel abgeben. Hal hatte befürchtet, die Kinder könnten zu laut werden und ihnen das bisschen Schlaf rauben, das ihnen noch blieb. Und Stu hatte den Verdacht geäußert, dass Mike nur von dem winzigen pinkfarbenen Slip, den er aus dem brennenden Haus getragen hatte, dazu veranlasst worden sei, diesen außergewöhnlichen Schritt zu machen. Darauf hatte Mike bloß erwidert: „Legt euch schlafen, Mädels, und geht mir nicht auf die Nerven.“ In jener Nacht hatte Mike die Leitung.

Er konnte nicht aufhören, an die Frau zu denken. Es war nicht der pinkfarbene Seidenpopo, obwohl auch der ihm von Zeit zu Zeit durch den Kopf schoss. Es lag daran, dass sie mit ihren beiden Kindern völlig allein dazustehen schien. Er dachte, er hätte Trotz und Einsamkeit in ihren Augen erblickt. Blaue Augen, wie er sich erinnerte. Wenn sie das Kinn vorstreckte, verlieh das ihren eigentlich weichen Zügen einen Ausdruck von Zielstrebigkeit. Es war ungewöhnlich, dass die Opfer von einer für einen durchschnittlichen Mann oder eine durchschnittliche Frau so aufregenden Katastrophe wie einem Hausbrand nicht gleich von Menschen umringt wurden. Auch in nicht so guten oder freundlichen Gegenden geschah es nicht selten, dass jemand aus der Menge heraustrat und die richtigen Fragen stellte, die Familie unterbrachte, eine Kirche oder eine Hilfsorganisation für Brandopfer anrief. Die Heilsarmee. Aber Christine Palmer war total isoliert und schien sich alle Menschen vom Leib zu halten.

Auch Mike hätte die Heilsarmee verständigen können. Oder das Rote Kreuz. Stattdessen war er duschen gegangen. Seine erste spontane Reaktion war, sich von dieser kleinen Familie zu distanzieren; durch ihre Einsamkeit hatte er sich verletzlich gefühlt. Allerdings bemerkte er auch, dass ihn genau das anzog wie ein Magnet. Er beschloss, nach unten zu gehen und nachzusehen, ob Christine noch wach war. Er würde sie nicht stören, wenn die Lichter gelöscht waren. Oder wenn ihre Augen geschlossen waren. Aber er war einfach zu neugierig, um schlafen zu gehen.

Christine Palmer war faszinierend – und ganz sicher sehr attraktiv –, aber es war das reizende Engelsgesicht ihrer Tochter gewesen, das ihm unter die Haut gegangen war. Auch er hatte einmal eine Tochter gehabt. Und eine Frau. Sie waren inzwischen seit zehn Jahren tot. Joanie war erst dreiundzwanzig und Shelly drei gewesen, als ein Autounfall ihm die beiden gestohlen und ein großes Loch in seine Seele gerissen hatte. Und als die Shirley-Temple-Wiedergeburt ihn am Ärmel gezogen hatte, war es für ihn so gewesen, als hätte ihn ein Blitz getroffen. Was für ein Mädchen. Wenn er an die Kleine dachte, spürte er eine übermütige Leichtigkeit; gefolgt von einem vertrauten, unwillkommenen Schmerz.

Als er die letzte Stufe der Treppe erreichte, vernahm er das erwartete Knurren. Dann hörte er die Worte: „Klappe, Cheeks.“

Sie war also wach. Mike stand im Türrahmen zum Gemeinschaftsraum und sah, dass Cheeks am Fußende des Sofas lag, auf dem der Junge sein Nachtlager errichtet hatte. Es gefiel ihm, dass der Hund die Kinder beschützte. Er hatte den Eindruck, dass diese Kinder so etwas brauchten. Die beiden schliefen fest; der Junge schnaufte leise. Christine Palmer dagegen saß mit angezogenen Beinen am Tisch. Sie hatte die Arme um die Knie geschlungen. Vor ihr lag ein altes Telefonbuch, und sie wandte ihm den Rücken zu.

Der Terrier versteifte die Vorderläufe, zeigte die Zähne und knurrte gefährlich. Chris drehte sich um und sah Mike hinter sich stehen. Kurz weiteten sich ihre rot geränderten Augen vor Überraschung. Dann wandte sie sich schnell ab und schnäuzte sich die Nase, als ob es ihr peinlich war, beim Weinen ertappt zu werden, nachdem ihre ganze Welt sich in Rauch aufgelöst hatte. „Klappe, Cheeks“, befahl sie streng. „Platz.“ Der Terrier gehorchte, behielt aber alles im Auge.

„Hat er eigentlich schon mal jemanden gebissen?“, fragte Mike und gab sich sehr viel Mühe, freundlich und nicht bedrohlich zu klingen.

„Nein“, erwiderte sie und wischte sich über die Augen, bevor sie sich im Sessel herumdrehte und ihn anschaute.

Sie hatte die Socken bis zum Knie hochgezogen und die Trainingshose hineingesteckt. Vermutlich wollte sie so die Hose an sich befestigen, in der sie, obwohl es die kleinste Hose war, die sie hatten auftreiben können, beinahe ertrank. Zierlicher Knochenbau, aber erkennbar zäh und drahtig. Sie war eine sehr hübsche Frau. Ihre blauen Augen blickten grimmig, ihr dichtes, hellbraunes Haar war gewellt und umrahmte in losen Locken das Gesicht. Wenn sie nicht gerade einen Brand hinter sich gehabt und er sie nicht beim Weinen ertappt hätte, hätte er sich gefragt, ob es Kontaktlinsen waren, die ihre Augen so intensiv und farbig erscheinen ließ.

„Cheeks ist bloß schlecht gelaunt“, sagte sie. „Er ist nicht gefährlich. Aber es macht mir nichts aus, wenn Fremde sich in Gegenwart meiner Kinder vorsichtig benehmen.“

„Weshalb haben Sie ihn Cheeks genannt?“

„Das liegt an seinem Schnurrbart. Als wir ihn bekamen, zog Carrie ihn an den Haaren an der Schnauze und sagte: ‚Mommy, guck dir mal seine süßen Wangen an.‘ Wangen heißen cheeks, und dabei ist es dann geblieben.“ Sie hob die Achseln und versuchte zu lächeln. Ihre Lippenränder waren rosafarben, ihre Nase lief. „Das alles ist mir sehr peinlich“, fügte sie hinzu und produzierte noch mehr Flüssigkeit.

„Hören Sie, das war ein schlimmes Feuer. Natürlich sind Sie fertig.“

„Nein …nein, das ist es nicht. Ich … ich habe niemanden, den ich anrufen könnte. Sehen Sie, ich bin neu in Sacramento. Ich bin erst Ende August hergezogen, kurz vor Carries Schulbeginn. Ich habe vor einem Monat angefangen, bei Iverson’s zu arbeiten. Ich kenne nur sehr wenige Menschen und habe von kaum einem die Telefonnummer, außer von Mr Iverson im Laden. Nach der Schule passt zwar eine Babysitterin auf Kyle und Carrie auf, aber sie hat …“ Sie stockte. Nichts war das nächste Wort. Die Babysitterin Juanita Jimeniz war die Mutter eines anderen Mitarbeiters aus dem Lebensmittelladen. Ihre Familie war selbst bettelarm. In ihrem Haus lebten mehr Familienmitglieder unter einem Dach, als es überhaupt Betten gab. Das war keine Hilfe.

„Ich könnte Sie nach meiner Schicht zur Bank mitnehmen, falls Sie …“

„Auf meinem Konto sind noch 12,95 Dollar.“

„Wo sind Sie denn hergekommen?“, erkundigte er sich und bewegte sich vorsichtig, um sich auf einem Stuhl in der Nähe des Tisches niederzulassen. Cheeks knurrte und ließ ihn nicht aus den Augen. Mike war keinesfalls davon überzeugt, dass er nicht beißen würde.

„Los Angeles.“

„Nun, das ist nicht weit weg. Vielleicht könnte Ihnen jemand ein paar Dollar schicken? Oder Sie einladen, noch mal zurückzukommen, bis Sie … na ja, Sie wissen schon, bis es Ihnen wieder besser geht?“ Er spürte, wie sich seine Brauen zusammenzogen, und er versuchte vergeblich, entspannt statt finster auszusehen. Seine Mutter hatte ihn gewarnt, dass er böse und unheimlich wirkte, wenn er diesen Blick bekam und die dichten Brauen über der Nasenwurzel zusammenfanden. Aber seine Stirn blieb gerunzelt, weil er verwirrt war.

Irgendetwas an Christine Palmer war seltsam. Sie schien mittellos zu sein. Mike hatte jedoch in der Vergangenheit bereits einige mittellose Familien an die Brandopferhilfe verwiesen, und sie passte nicht recht ins Bild. Leute, die keinerlei Rücklagen, Familie oder Freunde besaßen, weder zu einer Kirche noch zu einem Klub oder einer Gemeinschaft gehörten, rannten normalerweise nicht in brennende Gebäude zurück, um ein Buch zu retten, an dem sie gerade schrieben. Merkwürdig. Was stimmt an diesem Bild nicht?, überlegte er.

„L.A. war … auch bloß eine Zwischenstation“, erklärte sie knapp.

Ihr Zögern und die Tatsache, dass sie ihn dabei nicht anschaute, weckten in Mike den Verdacht, dass sie log.

„Mrs Palmer, stecken Sie in irgendwelchen Schwierigkeiten?“

Abrupt hob sie den Kopf. „Ja, mein Haus ist soeben abgebrannt, meine Autoschlüssel befinden sich irgendwo in den Überresten, ich habe kein Geld … Oh, ich hatte zweiundvierzig Dollar und ein paar Cent in meiner Tasche, mit denen ich den Rest der Woche bis zum Zahltag überbrücken wollte, aber ich vermute, die sind auch weg. Und das mit L.A. war gelogen, denn ich habe länger als drei Jahre dort gewohnt. Allerdings hatte ich mir da so viel von früheren Freunden geliehen, wie sie mir geben wollten …“ Sie brach ab und holte tief Luft, um sich selbst zu beruhigen. „Nun, es gab keine Abschiedsparty, okay? Dabei hatte ich eigentlich nichts falsch gemacht. Ich hatte nur … hatte nur eine Pechsträhne. Eine unerfreuliche Scheidung. Mein Ex ist ein … Halunke. Es wird manchmal recht rau.“

„Oh“, gab Mike zurück und tat so, als ob er verstehen würde. „Haben Sie sich inzwischen schon ans Rote Kreuz gewandt? Und an die Brandopferhilfe?“

Sie nickte. „Und an zwei Krisenberatungszentren, vier Frauenhäuser und eine Kirchengemeinde, die illegalen Einwanderern hilft. Wissen Sie was? Mein Haus ist in der ersten Frostnacht in Sacramento niedergebrannt. Anscheinend haben alle möglichen Leute gerade nach einem Unterschlupf gesucht – und ihn gefunden.“

„Kein Glück?“

Sie zuckte die Achseln. „Ich habe noch zwei Nummern hier. Das Opportunity Hotel und eine Stelle, die sich Totem Park nennt. Glauben Sie, Totem Park bedeutet, dass man draußen schlafen muss?“

„Das weiß ich sogar genau“, erwiderte er stirnrunzelnd. „Wir probieren es bei dem Hotel“, schlug er vor und zog das Telefon auf dem Tisch zu sich. Sie schob ihm den Notizzettel mit den Nummern darauf zu. Während er wartete, dass jemand abhob, betrachtete er die schlafenden Kinder. Ihre Schlafanzüge waren warm und frisch gewaschen. Man achtete offenbar sehr auf sie. Sie hatten eine gesunde Haut und gesunde Zähne. Strahlende, aufmerksame Augen, wenn sie wach waren.

Diese spezielle Einrichtung nannte sich Hotel, weil man dort ein paar Dollar von Menschen nahm, die entweder zu lange blieben oder es sich leisten konnten. Es war vermutlich der schäbigste Ort der Stadt, wie Mike wusste. Einige Leute zogen das Übernachten im Freien dieser Unterkunft vor; sich dort vor den anderen Obdachlosen zu schützen war schwer. Obwohl sie nichts mehr besaß, das man ihr hätte stehlen können, wirkte Christine Palmer nicht stark genug, um sich Kriminelle vom Leib zu halten. Er schaute wieder zu den Kindern. Noch immer war nur das Freizeichen zu hören. Er fragte sich, ob es dort Ratten gab.

Als endlich jemand abnahm, sagte er: „Hi, hier ist Captain Mike Cavanaugh von der Feuerwache Sacramento. Wir versuchen gerade, eine obdachlose Familie unterzubringen: eine Frau und zwei kleine Kinder. Haben Sie da unten einen Platz für sie?“

Der Mann am anderen Ende der Leitung bejahte.

„Oh, das ist schade. Trotzdem danke“, antwortete Mike, der eine spontane Entscheidung getroffen hatte, und legte auf.

„Ich rufe Mr Iverson gleich morgen früh an, sobald der Laden öffnet. Er ist ein ziemlich netter Mensch. Vielleicht gibt er mir einen Vorschuss auf mein Gehalt oder so.“

„Sind Sie total alleinstehend?“ Er wollte nicht so klingen, als ob er ihr nicht glaubte, aber er selbst stammte aus einer großen Familie und hatte Mühe, sich ein Leben ohne Verwandtschaft vorzustellen. Cavanaugh. Irische Katholiken. Sechs Kinder.

„Meine Eltern sind tot; ich bin ein Einzelkind. Es gibt noch eine unverheiratete Tante in Chicago, bei der ich aufgewachsen bin, aber sie hasst mich wahrscheinlich wie die Pest. Wir sind vor langer Zeit auseinandergegangen. Und das nicht gerade im Guten.“ Sie lachte kurz und bitter auf. „Eigentlich war das alles meine Schuld. Aber ich bin sicher, wenn ich zu Kreuze krieche, bettele und mich entschuldige, würde Tante Florence mich und die Kinder zu sich nach Hause holen. Chicago. Oh Gott. Ich kann schon die Vorstellung nicht leiden, klein beizugeben und total zerknirscht dorthin zurückzukehren.“ Sie knallte den Laptop auf den Tisch. „Dabei hatte ich wirklich vor, noch einmal hinzufahren, wissen Sie. Ich wollte die Dinge zwischen mir und Tante Flo in Ordnung bringen. Abgesehen von den Kindern ist sie schließlich die einzige Familie, die ich noch habe. Aber ich hatte sie erst später aufsuchen wollen – und zwar hoch erhobenen Hauptes und nicht mit eingekniffenem Schwanz.“ Etwas ruhiger fuhr sie fort: „Ich bin keine schlechte Autorin. Manchen Leuten hat meine Arbeit gefallen.“

„Das ist sehr viel wert“, entgegnete er, das kleine Mädchen zitierend.

„Ach, die Süße“, meinte Chris seufzend. Ihre Stimme klang sentimental und beinahe lieblich. „Carrie ist mein größter Fan. Sie ist außerdem das tollste Kind der Welt. Sie hat nie den Glauben an mich verloren. Nicht ein einziges Mal.“ Eine Träne rann über ihre Wange.

„Niemand, hm?“, fragte er.

„Ich bin mir sicher, morgen fällt mir etwas ein. Man hat mich schon einmal als einfallsreich bezeichnet. Sogar als mutig. Wahrscheinlich bloß eine nette Art, mir zu sagen, dass ich widersprüchlich bin und es nicht einfach ist, mit mir klarzukommen.“

Er lachte. Sie war nicht halb so hysterisch, wie sie es unter diesen Umständen hätte sein können. Auch nicht so ängstlich. Und er konnte sie verstehen: Auch mit ihm klarzukommen war nicht immer einfach.

„Oder um Ihnen Mut zu machen, damit Sie zurechtkommen“, meinte er.

„Vielleicht. Auf die eine oder andere Weise.“

„Diesmal sieht es allerdings nicht gut aus“, erklärte er.

„Nein, aber so ist das Leben, oder? Ich denke mir etwas aus. Hoffe ich.“

Vermutlich passiert es genauso wie in den Storys in den Sechs-Uhr-Nachrichten, dachte Mike. Ein nettes, kluges, sauberes, vernünftiges Individuum stieß auf ein unerwartetes Hindernis: Krankheit, Scheidung, Arbeitslosigkeit. Ein Feuer. Dann, ohne Geld für Miete, Grundversorgung, Kinderbetreuung oder Umschulung, lebte er oder sie plötzlich im Auto. Nach ungefähr drei Wochen im Auto würde kein Arbeitgeber diese Person mehr einstellen. Falls sie wie durch ein Wunder dennoch einen Job fand, würde sie nicht zur Arbeit gehen können, weil sie keine Möglichkeiten zum Duschen hatte, die Kinder nirgendwo unterbringen oder die Wäsche nicht waschen konnte. Ein sozialer Teufelskreis. Kein Geld, kein Job. Kein Job, kein Geld. Vergessene Menschen, die einmal Angestellte oder Ingenieure gewesen waren.

Die Presse meldete, dass die Situation der Obdachlosen von Jahr zu Jahr schlimmer wurde. Den Berichten zufolge waren deren Lebensumstände schrecklich. Hoffnungslos und widerwärtig. Die einzige Gemeinsamkeit all dieser Leute schien die Einsamkeit zu sein, die fehlende Familie. Mike hatte eine Familie. Junge, und was für eine!

„Wissen Sie was?“, setzte er an. „Vielleicht sollten wir die Medien auf Ihre Situation aufmerksam machen. Ein bisschen …“

„Was?“

„Na ja, wir könnten Kanal fünf bitten, einen Beitrag über das Feuer und die Auswirkungen auf Ihre Lebensumstände zu bringen.“

„Wovon sprechen Sie?“

„Spenden über ein Postfach, ein Bankkonto oder …“

„In den Nachrichten erscheinen?“

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