Widmung
Für meinen Mann, den ich seit meinem zwölften Lebensjahr liebe.
Du zeigst mir jeden Tag, dass es ein wahr gewordener Wunsch sein kann, sich in seinen besten Freund zu verlieben.
Dafür danke ich dir.
Prolog
Lieber Everett,
wenn Du das hier liest, bin ich tot.
Sorry, das ist wahrscheinlich nicht die beste Art, einen Brief an meinen besten Freund zu beginnen, nach meinem plötzlichen und furchtbar tragischen Tod. Du wirst es sicher nie überwinden, weil ich ein so toller Mensch war, doch so ist es nun einmal. Du weißt, ich habe nie ein Blatt vor den Mund genommen. Und wo wir schon beim Thema sind: Du bist ein Arschloch.
Es ist vier Jahre her, seit wir Dich zuletzt gesehen haben. VIER. Ich hab’s verstanden, glaub mir. Bei unserer ersten Begegnung, als Du zehn Jahre alt warst, sagtest Du mir, Du wolltest Arzt werden. Sechzehn Jahre lang habe ich Dich davon reden hören, dass Du etwas aus Deinem Leben machen wolltest, etwas, auf das Du stolz sein könntest. Wir sind alle stolz auf Dich, Everett. Stolz darauf, dass Du erreicht hast, was Du Dir in den Kopf gesetzt hast. Stolz darauf, dass Du Dein Leben in die Hand genommen und Dir einen Namen gemacht hast. Aber Du kannst nicht ewig fortbleiben.
Ich habe keine Ahnung, was zwischen Dir und Cameron am Abend Deines Abschieds vorgefallen ist, doch ich weiß, dass sie seitdem nicht mehr dieselbe ist. Das gilt für uns alle. Den drei Musketieren fehlt seit vier Jahren eines ihrer Mitglieder, und solltest Du noch nicht hier sein, wird es Zeit für Dich, nach Hause zu kommen.
Ja, ich rede Dir Schuldgefühle ein, damit Du nach Hause kommst, denn ich bin tot.
Gestorben.
Dahingeschieden.
Für immer im Jenseits.
Fühlst Du Dich jetzt schuldig? Das solltest Du auch. Denn Cameron vermisst dich, auch wenn sie es abstreiten würde. Ich habe mein Bestes gegeben, damit sie ohne Dich hier glücklich ist. Sie tut so, als kümmere es sie nicht weiter, dass Du so lange fort bist, aber ich weiß, dass sie lügt. Sie braucht Dich jetzt, mehr denn je. Du solltest endlich über Deinen Schatten springen, die Gründe vergessen, die Dich von uns ferngehalten haben, und zurückkehren.
Ich werde nicht da sein, um sie zum Lachen zu bringen, ihr die Tränen wegzuwischen oder sie anzufeuern, wenn sie etwas Tolles plant. Hiermit reiche ich den Stab offiziell an Dich weiter. Jetzt bist Du an der Reihe. Du bist um die Welt gereist, hast Leben gerettet und bist für Fremde ein verdammter Held geworden. Nun ist es an der Zeit, hier zu Hause, wo Du hingehörst, ein Held zu sein. Ohne Dich war es nicht dasselbe. Wir waren nicht dieselben ohne Dich, und jetzt, wo ich nicht mehr bin, kannst Du es wiedergutmachen, indem DU DEINEN HINTERN DORTHIN BEWEGST, WO DU HINGEHÖRST.
Und nur damit Du es weißt, ich habe Deine Wunschbox geöffnet und die Papiersterne angeschaut. Ja, jene Wünsche, die wir uns geschworen hatten, erst zu lesen, wenn wir alt und grau sind. Mann, ich bin tot, also kannst Du deswegen nicht mehr sauer auf mich sein. Doch ich bin so was von sauer auf Dich, auch aus dem Grab, weil Du mir nie von diesem Mist erzählt hast. Ich meine, ich hab’s gewusst, natürlich habe ich es gewusst. Ich bin ja nicht blind oder blöd. Aber in all den Jahren, in denen ich geglaubt habe, Du wärst einfach ein Idiot und würdest nicht zu Deinen Gefühlen stehen, oder sicher war, Du wärst inzwischen darüber hinweg, hast Du alles den verdammten Sternen gestanden! Ich bin Dein bester Freund, und nicht einmal mir hast Du es verraten. Bist Du deswegen vier Jahre weggeblieben? Falls ja, bist Du ein noch größeres Arschloch, als ich gedacht habe. Du musst endlich aufhören, Jahr für Jahr nur den verdammten Sternen von Deinen Wünschen zu erzählen, und stattdessen etwas dafür tun, Deine Träume auch zu verwirklichen.
Zieh Dich schon mal warm an, denn ich werde gleich ein paar Dinge sagen, die mich wie ein Weichei klingen lassen. Vergiss nicht, ich mache das für Dich, und ich bin immer noch so was von männlich.
Ich weiß, wie es ist, eine Frau anzusehen, und plötzlich ergibt alles einen Sinn.
Ich weiß, wie es ist, jemanden so vollständig zu lieben, dass man keine Ahnung mehr hat, wie man es vorher ohne sie geschafft hat.
Meine Liebe wurde zehnfach erwidert, und obwohl mir klar ist, dass ich es nicht verdient habe, habe ich alles getan, um es nicht zu vermasseln. Na ja, mal abgesehen von dieser Sterbesache, aber was soll man machen?
Versau es nicht, Mann. Cameron hat genug ertragen müssen. Sie wird nach meinem Tod noch mehr durchmachen, und Du musst ihr beistehen und ihr helfen, darüber hinwegzukommen. Ich will, dass Du ihr all das gibst, was ich ihr nicht mehr geben kann.
Ich finde es jammerschade, dass ich nicht mehr da sein werde, um zu erleben, wie Cameron Dir dafür, dass Du so lange weg warst, ordentlich in den Hintern tritt. Nimm Dich in Acht, sie hat sich im Lauf der Jahre einen üblen rechten Haken antrainiert. Aber sei nachsichtig mit ihr, Mann. Sie wird so tun, als sei alles in bester Ordnung und als käme sie schon zurecht … Du kennst sie ja. Stets mehr um andere besorgt als um sich selbst. Doch sie braucht Dich jetzt, mehr denn je.
Es tut mir leid, dass ich Dir bei unserem letzten Telefonat nichts von meiner Krankheit gesagt habe, aber wozu wäre das gut gewesen? Du hättest ohnehin nichts machen können, abgesehen davon, mir beim Sterben zuzuschauen. Ich wollte nicht, dass Du Dich so an mich erinnerst. Schlimm genug, dass Cameron für den Rest ihres Lebens dieses Bild von mir im Kopf haben wird – das wollte ich Dir nicht auch antun. Ich will, dass Du Dich an jenes unfassbar gut aussehende, perfekte Prachtexemplar eines Mannes erinnerst, das ich war. Ich will, dass Du Dich an die guten Zeiten erinnerst, an das Lachen, an unsere gemeinsame Zeit im Camp und an mich, wie ich voller Leben war, statt an dieses beschissene Bett gefesselt zu sein und kaum genug Kraft zu haben, diesen verdammten Brief zu schreiben. Wage es ja nicht, Dich schuldig zu fühlen, weil Du mich nicht retten konntest. Ich weiß, dass Du ein guter Arzt bist, aber manchmal gewinnt eben der Krebs.
Komm nach Hause, Everett. Komm nach Hause, und nimm endlich diese Wünsche in Angriff.
Mich kannst Du nicht retten, doch Du kannst heimkommen und unser Mädchen retten.
Aiden
1
Everett
Woher weiß man, dass der Punkt erreicht ist, an dem man nicht mehr kann?
Wenn man Kinder direkt vor den Augen ihrer Eltern sterben sieht?
Wenn man jemandem sagen muss, er sei krank, aber man habe keine Mittel, um ihm zu helfen?
Wenn man zuschauen muss, wie zahllose Leute sich an verunreinigtem Wasser infizieren, unter schrecklichen Bedingungen leben, und man nichts weiter tun kann, als ihnen Pillen zu geben und darauf zu warten, dass sie erneut krank werden?
Wenn man in jedes Land der Dritten Welt zu reisen versucht, bloß um nicht mehr nach Hause zu müssen, nur um dann zu erfahren, dass der eigene beste Freund, den man hatte, seit man zehn war, an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben ist?
Und weil man nicht wusste, dass er krank war, konnte man auch nicht dort sein, um ihm zu helfen. Hat nie die Chance bekommen, sich dafür zu entschuldigen, dass man so ein lausiger Freund war. Nie die Möglichkeit gehabt, Abschied zu nehmen.
Wie viel ist zu viel?
Ich trinke noch einen Schluck Wodka und lehne meinen Kopf an die Wand, während ich mich frage, wie viel mehr ich noch ertragen kann. Seit ich in die Staaten zurückgekehrt bin, versuche ich, den Schmerz mit Alkohol zu betäuben. Eine Weile hat es funktioniert. Der Wodka macht mich benommen und lässt mich alles für ein paar Minuten vergessen.
Ein paar Minuten Frieden.
Ein paar Minuten, in denen ich die Schreie der Babys nicht höre oder das Flehen der Mütter, ihre Kinder zu retten.
Ein paar Minuten, in denen ich nicht Aidens Gesicht vor mir sehe, wie er mich grinsend ein Arschloch nennt.
Ein paar Minuten, in denen ich nicht an sie denke.
Einhundertachtzig Sekunden, in denen ich meine Augen schließen kann und nichts fühle.
Auf dem Fußboden sitzend, die Beine gespreizt von mir gestreckt, mache ich die Augen zu und überlasse mich dem stillen Vergessen. Leider endet es wieder zu schnell. Es hält nie lange genug an. Nicht mehr. Nicht nach dem Brief, den er geschrieben hat.
Dem verdammten Brief.
Ich hebe die Lider, und mir bricht der kalte Schweiß aus beim Anblick des zusammengeknüllten Briefes, der ein paar Schritte von mir entfernt liegt. Ich habe ihn in den vergangenen drei Monaten wieder und wieder gelesen, seit er in meinem Briefkasten in Kambodscha gelegen hat, genau zwei Wochen nach Aidens Tod.
Mein Blick bleibt auf den Papierball geheftet. Aidens zittrige und ungleichmäßige Handschrift scheint mich aus der zerknüllten Seite förmlich anzuspringen. Ich nehme den Wodka wieder hoch und trinke an gegen den Schmerz und das Elend in mir. Der Alkohol brennt nicht einmal mehr in der Kehle, und beinah kann ich mir einreden, die Wasserflasche, in die ich ihn gefüllt habe, enthielte wirklich nur Wasser. Ich habe keine Ahnung, warum ich es jetzt noch zu verbergen versuche. Mein Bruder Jason hat all die leeren Wodkaflaschen entdeckt, die ich unter meinem Bett und draußen in der Garage hinter Regalen und Kartons zu verstecken probiert habe. Gestern fand er im Kofferraum meines Wagens einen ganzen Karton leerer Literflaschen, die ich eigentlich zur Mülldeponie hatte bringen wollen. Nur bin ich nicht dazu gekommen. Wahrscheinlich, weil ich zu betrunken war, um hinzufahren.
Ich lache, als ich daran denke, wie er mich gestern Morgen zur Rede gestellt hat. Er ging an meinen Kofferraum, weil er sich meinen Wagenheber borgen und vor der Arbeit einen Reifen wechseln wollte. Dabei stieß er auf den Karton mit den leeren Flaschen und ließ mich versprechen, mit dem Trinken aufzuhören. Er nahm mir das Versprechen ab, mir Hilfe zu suchen. Natürlich erklärte ich mich einverstanden. Er ist mein kleiner Bruder. Ich wohne hier bei ihm in dem alten Haus unserer Großeltern, bis ich wieder auf die Beine komme. Meine Großmutter überließ mir das Haus, als sie wegzog, und Jason war gezwungen, darin zu wohnen und sich darum zu kümmern, während ich ständig auf Reisen war. Er ist immer noch da und kümmert sich um mich und um das Haus, statt auszuziehen und sein eigenes Leben zu führen. Tag für Tag gibt er sich mit mir erbärmlichem Kerl ab, dabei verdient er etwas Besseres als einen ständig betrunkenen Bruder, der nichts mehr auf die Reihe kriegt.
Und ich hielt mein Versprechen. Fast vierundzwanzig Stunden lang rührte ich die letzte Flasche Tito’s nicht an, die ich im obersten Fach meines Kleiderschranks aufbewahrte. Die Zähne zusammengebissen, stand ich den Entzug durch und übergab mich nach jedem Schluck Wasser, den ich zu mir nahm. Aber ich schaffte es. Jason zuliebe hielt ich durch. Für meinen kleinen Bruder, der die gleiche erbärmliche Kindheit gehabt hatte wie ich, ihr jedoch nie hatte entfliehen können, so wie ich. Ich hielt das Zittern aus und die Kopfschmerzen und das Erbrechen und das Fieber, um diesen müden, enttäuschten Ausdruck in seinen Augen nicht mehr sehen zu müssen, wenn er wieder einmal von der Arbeit nach Hause kam und ich nutzlos auf seiner Couch herumhing.
»Du hättest nicht sterben dürfen!«, schreie ich den Brief an, der nach wie vor da liegt und mich lockt, hinzukriechen und die Worte darin erneut zu lesen. »Warum zur Hölle hast du es mir nicht früher erzählt?«
Die mit Wodka gefüllte Wasserflasche in meiner Hand dellt sich, als ich sie mit meinen Fingern fest umschließe, sie wütend an den Mund hebe und trinke, bis sie fast leer ist.
Aidens Stimme summt in meinem Kopf wie eine lästige Fliege, die man nicht verscheuchen kann. Sie ertönt immer wieder, bis ich nicht mehr kann und mir die Ohren zuhalten will, damit es aufhört. Der Alkohol hat nicht die gewünschte Wirkung. Aidens Stimme verschwindet nicht.
Du bist ein Arschloch.
Ich hoffe, du fühlst dich schuldig.
Komm nach Hause.
Komm nach Hause.
Komm nach Hause.
Ja, ich bin ein Arschloch. Und ich fühle mich wirklich schuldig. Und ich bin zu Hause. Ich nahm den nächsten Flug aus Kambodscha, gleich nachdem mich der verdammte Brief erreicht hatte. Ich rief nicht einmal daheim an, sondern wollte nur so schnell wie möglich dort sein, bevor es zu spät war. Ich handelte, ohne nachzudenken, und natürlich war ich zu spät. Zwei Wochen zu spät, um mich zu verabschieden, zu spät für die Beerdigung, zu spät, um irgendetwas wiedergutzumachen, zu spät, um irgendetwas anderes zu tun, als mir die Flasche zu schnappen und zu versuchen, all die Fehler, die ich begangen hatte, zu vergessen. Es ist jetzt auf den Tag genau drei Monate und zwei Wochen her, seit mein Freund im Schlaf gestorben ist, da sein Körper einfach nicht mehr kämpfen konnte. Drei Monate und zwei Wochen, seit er aufgehört hat zu existieren.
Nach meiner Rückkehr bemühe ich mich, in jedem wachen Moment den Schmerz zu vergessen, den Aidens Tod in mir ausgelöst hat. Vor einigen Stunden fiel eine Schachtel mit Fotos aus dem obersten Schrankfach, während ich dort nach etwas suchte. Die Schachtel krachte auf den Boden, und lauter Erinnerungen an Aiden lagen verstreut um meine Füße herum. Aiden, wie er mich bei einem Basketballspiel anlachte, als wir zehn waren. Aiden, der in die Kamera lächelte, den Arm um eines seiner zahlreichen Dates gelegt, als wir zusammen die Highschool besuchten. Aiden, der grinsend sein College-Diplom hochhielt. Jedes Foto sickerte in mein Gehirn ein und presste mir das Leben aus dem Herzen, bis der verdammte Brief, den ich ganz hinten in meine Kommodenschublade geschoben hatte, mich höhnisch aufforderte, ihn ein weiteres Mal zu lesen. Fast konnte ich spüren, wie Aiden neben mir stand und mir sagte, ich hätte es verdient, mich elend zu fühlen, nach dem Mist, den ich gebaut habe. Ich habe versucht, es besser zu machen, doch er tauchte in meinem Kopf auf und provozierte und drängte mich, es wieder zu vermasseln und das Versprechen zu brechen, das ich meinem Bruder gegeben hatte, bis nichts anderes mehr zählte, als zu trinken. Damit ich all das wieder verdrängen konnte. Ich bin nach Hause gekommen, genau wie Aiden es gewollt hatte, und jetzt will ich nur noch weg.
»Willst du wirklich, dass ich mich um unser Mädchen kümmere, Aiden!?«, schreie ich zur Decke. »Ich wette, sie wird sich mächtig freuen, wenn ich in diesem Zustand im Camp auftauche.«
Ich lache über meine Worte und frage mich, ob der Alkohol schuld ist oder mein verkorkster Verstand, dass ich wie ein Irrer mit mir selbst rede.
»Du hättest nicht sterben dürfen. Du hättest immer da sein sollen«, murmele ich, und meine Kehle ist wie zugeschnürt, während ich erneut auf den Brief schaue.
Ich hielt alles für selbstverständlich und kann nur mich selbst dafür verantwortlich machen. Ich wandte mich von meinen beiden besten Freunden ab, weil ich ein Feigling war. Insgeheim habe ich immer gehofft, dass ich eines Tages in der Lage wäre, über meinen Mist, über meine Gefühle für Cameron hinwegzukommen. Dann würde ich nach Hause zurückkehren, und beide würden auf mich warten und mir verzeihen, dass ich ein Idiot war. Doch das wird jetzt nicht mehr passieren.
Aiden wird nie mehr da sein, mit diesem Grinsen im Gesicht und einer spöttischen Bemerkung auf den Lippen. Cameron wird mir nie verzeihen – dass ich nicht da war, als Aiden krank war, und nicht alles getan habe, um ihn zu retten. Und dass ich nicht gleich zu ihr gegangen bin, sobald ich wieder da war.
Ich hätte zu ihr gemusst. Wir hätten gemeinsam um Aiden trauern sollen, aber ich kam kaum mit meinem eigenen Schmerz zurecht. Wie hätte ich mit ihrem fertigwerden sollen? Meinen eigenen Schmerz habe ich immer noch nicht überwunden.
Niemand versteht, wie es ist, nach Hause zurückzukehren, nachdem man am anderen Ende der Welt gewesen ist und das Grauen erlebt hat, das hier niemand sieht oder sich auch nur vorstellen kann. Die Leute hier leben in ihrer glücklichen kleinen Welt, führen ihre glücklichen kleinen Leben und vergessen, dass es Männer, Frauen und Kinder gibt, denen es am Nötigsten fehlt, etwa an sauberem Wasser, um ebenfalls ein glückliches Leben zu führen.
Jason begreift das nicht, obwohl er sich bemüht.
Niemand versteht, wie es ist, wieder hier zu sein. Wie es ist, nichts mit seiner freien Zeit anfangen zu können und sich stattdessen ständig schuldig zu fühlen wegen der Menschen, die man in einem anderen Land nicht retten konnte. Oder wegen der Person, die man hier zu Hause nicht hatte retten können. Wie es ist, permanent wie in einem Albtraum gefangen zu sein, in dem jeder Gedanke und jede Erinnerung eine Filmrolle ist, auf der alles versammelt ist, was du je verbockt hast.
Ich bin es so leid, diesen Schmerz zu spüren. Ich will, dass es aufhört. Ich will überhaupt nichts mehr fühlen. Meine Lider werden schwer, und alles verschwimmt vor meinen Augen, bis süße Betäubung und Dunkelheit mich einhüllen wie eine warme Decke.
»Verdammt, Everett! Du Mistkerl …«
Ich höre die Stimme meines Bruders, und auch wenn sie gedämpft klingt und weit weg in meinem betrunkenen Hirn, bemerke ich doch die Wut darin. Ich habe nicht einmal mitbekommen, dass ich auf die Seite gesunken bin, bis ich spüre, wie Jason seine Arme unter mich schiebt, mich wieder aufrichtet und an die Wand lehnt.
»Mach die Augen auf! Mach deine verdammten Augen auf!«, schreit Jason dicht vor meinem Gesicht.
Die Dunkelheit um mich herum verschwindet, als ich blinzle, weil er mich gerade ohrfeigt.
Traurigkeit, Sorge, Kummer und Angst.
Das sehe ich in der Miene meines Bruders, der mich kopfschüttelnd betrachtet. Ich möchte mich bei ihm dafür entschuldigen, dass er mich in diesem Zustand vorgefunden hat, aber wozu? Seitdem ich wieder daheim bin, hat er mich oft in vergleichbaren Situationen angetroffen. Meine Entschuldigungen sind inzwischen nichts mehr wert.
Ich möchte ihm erklären, dass ich diese Krücke Alkohol nicht mehr will. Ich will sie nicht brauchen und das Gefühl haben, nur damit den Schmerz aushalten zu können. Den Schmerz in meinem Inneren, in meinem Kopf und den Schmerz in meinem Herzen. Wenn ich nicht trinke, holt mich alles ein, bis ich mir die Fingernägel in die Haut graben und mich heiser schreien will. Ich mache den Mund auf, aber die Worte wollen nicht heraus.
Er setzt sich neben mich und streckt genau wie ich die Beine aus.
»Was war’s denn diesmal? Flashback? Schlimmer Traum?«, erkundigt Jason sich leise, indem er all die Gründe auflistet, die ich ihm in den vergangenen Monaten genannt habe, sobald er Alkohol in meinem Atem gerochen oder mich bis zur Besinnungslosigkeit betrunken auf dem Sofa vorgefunden hat.
Ich beuge mich nach vorn, um nach dem Brief von Aiden zu greifen, doch der Raum dreht sich, sodass ich mich rasch wieder gegen die Wand sinken lasse, um mich nicht zu übergeben. Also hebe ich bloß den Arm und zeige darauf.
Jason schaut auf den zusammengeknüllten Papierball und stößt einen langen Seufzer aus, ehe er ihn holt. Schweigend beobachte ich, wie er ihn entfaltet und auf seinem Oberschenkel glatt streicht. Ich betrachte sein Gesicht, blinzle ein paarmal, um ihn im Blick behalten zu können, während er den Brief liest.
»Du lieber Himmel«, flüstert er schließlich. »Wo kommt der denn her?«
Ich räuspere mich und starre die gegenüberliegende Wand im Wohnzimmer unserer Großeltern an, bevor ich ihm antworte.
»Der kam, als ich in Kambodscha war. Zwei Wochen nach seinem Tod.«
Jason schweigt einige Minuten lang, und ich nutze die Zeit, um mich im Zimmer umzublicken. Ich habe dieses Haus in meiner Kindheit immer geliebt. Das alte Farmhaus am Stadtrand von Charleston war voller glücklicher Erinnerungen an gute Zeiten, das absolute Gegenteil des Zuhauses also, das wir mit unserer Mutter in New Jersey hatten. Ich habe mich stets darauf gefreut, den Sommer hier bei meiner Großmutter zu verbringen. Sie backte Kekse für uns, kochte und war für uns da. Sie liebte uns, kümmerte sich um uns und tat alles, damit wir glücklich waren.
Dieses Haus, das einst voller Träume war, empfinde ich jetzt als Hölle. Ich ertrage die Wände um mich herum nicht, fühle mich eingesperrt, gefangen im Schmerz und in den Erinnerungen.
»Es tut mir leid, Everett. Dieser Brief ist … Scheiße. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Warum hast du mir nichts davon erzählt? Trinkst du deshalb ständig bis zur Besinnungslosigkeit, seit du wieder zu Hause bist?«, fragt Jason.
»Es ist, wie es ist.« Ich zucke mit den Schultern und ignoriere die Bemerkung über das Trinken. »Er hat recht. Ich bin ein Arschloch, aber daran kann ich jetzt auch nichts mehr ändern.«
Mein Bruder gibt einen spöttischen Laut von sich und steht auf, sodass er über mir aufragt. Mein Kopf schmerzt, als ich zu ihm hochschaue. Das Deckenlicht scheint mir in die Augen und erzeugt ein Stechen in meinem Kopf. Fluchend schütze ich meine Augen mit der Hand, um sein Gesicht erkennen zu können.
»Ich weiß, dass ich nie kapieren werde, was in deinem Kopf vorgeht. Ich weiß, ich werde nie nachvollziehen können, was du da drüben erlebt hast. Und mir ist auch klar, dass die Traurigkeit, die ich wegen Aidens Tod verspüre, nichts im Vergleich zu dem ist, was du fühlst«, erklärt Jason mir. »Doch genug ist genug. Du hast dort drüben das getan, was du geliebt hast, und du hattest keine Ahnung von seiner Krankheit. Selbst wenn du es gewusst hättest, du hättest nichts daran ändern können. Er hatte das beste Mediziner-Team, das man für Geld kriegen kann, eingeflogen von überallher. Was er hatte, hättest selbst du mit deinen außergewöhnlichen medizinischen Fähigkeiten nicht heilen können. Du aber lebst noch, also fang an, dich entsprechend zu verhalten. Es tut mir leid, dass der Brief dich verletzt hat, es tut mir allerdings nicht leid, dass Aiden ihn geschrieben hat. Er hat recht. Du musst langsam mal wieder klarkommen.«
Ich fühle, wie Zorn der Benommenheit weicht, und balle die Fäuste in meinem Schoß. Ich will diesen Blödsinn, der aus seinem Mund ertönt, nicht hören. Ich weiß, ich habe es verdient, will es aber nicht hören.
»Was ist aus dem Versprechen geworden, das du mir gestern gegeben hast?«, fragt er, reißt mir die Wasserflasche aus der Hand und schleudert sie quer durchs Zimmer.
Sie fliegt gegen die Vitrine aus Eiche, in der unsere Großmutter ihr gutes Porzellan aufbewahrt hat, und landet zu Boden. Die letzten Schlucke Wodka laufen auf den Holzfußboden aus.
»Es tut weh«, flüstere ich und schaue auf meine geballten Fäuste, weil ich ihm nicht mehr in die Augen schauen kann.
»Natürlich tut es weh, du Idiot! Es heißt nicht umsonst Alkoholentzug. Das soll sich nicht gut anfühlen. Aber ich nehme an, du willst es noch nicht einmal versuchen«, entgegnet er.
Jason geht neben mir in die Hocke und umfasst mein Kinn, damit ich ihn ansehe.
»Es tut mir leid, dass Aiden gestorben ist. Es tut mir leid, dass du traurig bist und dich schuldig fühlst, weil du ihn nicht retten konntest. Doch du Arsch bemühst dich nicht einmal, dir selbst zu helfen. Ich war zu jung, um mich an Dads Tod zu erinnern, aber mitzuerleben, wie Mom sich zu Tode trank, war schlimm genug. Du hast dich geschnitten, wenn du glaubst, du könntest mich jetzt auch noch verlassen. Wenn du dich schon meinetwegen nicht am Riemen reißen willst, mach es Cameron zuliebe. Schließlich hat sie Aiden ebenfalls verloren. Was meinst du, was passiert, wenn sie dich auch noch verliert?«
Damit richtet er sich auf und geht weg. Unter dem wütenden Trampeln seiner Arbeitsschuhe vibriert der Holzfußboden, sodass ich den Kopf in meine Hände sinken lasse, weil ich fürchte, er könne gleich explodieren.
Ich will zurück zu den Menschen, die mich brauchen, doch mein Arbeitgeber lässt mich nicht.
Ich will Aidens Stimme nicht mehr in meinem Kopf hören, aber sie verstummt nicht.
Ich will mich im Alkohol ertränken, aber mein Bruder lässt es nicht zu.
Niemand will mich einfach nur in Ruhe lassen.
Mein Bruder hat keine Ahnung, wovon er spricht. Cameron kommt gut ohne mich zurecht, genau wie in den letzten vier Jahren. Sie braucht mich nicht. Hat mich nie gebraucht.
Die sollen mich alle verdammt noch mal in Ruhe lassen.
2
Everett
Wünschen in der Vergangenheit …
Zehn Jahre alt
»Mein Name ist Aiden Curtis, ich bin zehn, und mein Dad ist reich«, verkündet der Junge, der gerade auf mich zugekommen ist.
Er ist so groß wie ich, wir haben die gleichen dunkelbraunen Haare und blauen Augen, aber seine saubere schwarze Anzughose und das schicke weiße Hemd beweisen, dass sein Dad wirklich reich ist. In meiner dreckigen, zerrissenen Jeans, die zwei Nummern zu klein ist, und dem mit Fett und Dreck beschmutzten T-Shirt fühle ich mich in seiner Gegenwart wie ein Penner.
Am liebsten würde ich ihm gleich eine reinhauen, aber Grandma sagt immer, ich darf nie als Erster zuschlagen, ich sollte mich jedoch verteidigen und immer der Letzte sein, der schlägt.
»Ist dein Daddy auch reich?«, fragt Aiden, schnappt sich den Basketball von mir und klemmt ihn sich unter den Arm.
Ich wünschte wirklich, dieser Junge würde mich endlich schlagen. Ist mir egal, dass seine Familie erst kürzlich in unsere Straße gezogen ist und seine Eltern mit Camerons Eltern befreundet sind. Das bedeutet, er wird die ganze Zeit hier im Camp sein. Ich will ihm immer noch eine reinhauen.
»Aiden! Sei nicht fies. Everett hat keinen Daddy mehr.«
Mein finsterer Blick, der Aiden gilt, verwandelt sich rasch in ein Lächeln, als Cameron zwischen uns tritt. Eigentlich mag ich keine Mädchen. Sie sind laut und nervig und kichern ständig. Aber Cameron ist in Ordnung, obwohl sie noch ein Baby und erst sieben ist. Sie ist immer schmutzig, hat immer Heu in den Haaren aus dem Pferdestall und kriegt immer Ärger, weil sie zu hoch auf die Bäume klettert. Außerdem schlägt sie mich bei fast allen Aktivitäten hier im Camp, selbst beim Bogenschießen. Eigentlich sollte es peinlich sein, dass ein kleines Mädchen besser mit Pfeil und Bogen umgehen, Basketball spielen und schwimmen kann als ich, doch aus irgendeinem Grund ist es das nicht.
»Du hast mal wieder Heu in den Haaren, Cam«, sage ich ihr und zeige lachend auf die Halme, die aus ihrem unordentlichen Pferdeschwanz herauslugen.
Sie zuckt bloß mit den Schultern, stemmt die Hände in die Hüften und dreht sich zu Aiden um.
»Du solltest dich bei Everett entschuldigen«, erklärt sie ihm.
Es kommt mir nicht einmal komisch vor, dass ich mich von einem Mädchen verteidigen lasse. Ich kenne Cameron schon, seit sie ein Baby war. Sie war noch kein Jahr alt, als meine Grandma mich zum ersten Mal in das Camp brachte, das Camerons Eltern gehört. In den letzten sieben Jahren habe ich jeden Sommer zusammen mit ihr verbracht. Aus irgendeinem Grund klebte Cameron immer an mir, obwohl Hunderte von Kindern hier im Camp sind. Und da sie gut in Sport ist und so, stört mich das nicht. Es ist eher so, als hätte ich ein kleines Mädchen als Bruder.
Aidens Grinsen verschwindet sofort, während Cameron ihn weiter finster anstarrt, dann schaut er mich traurig an.
»Das mit deinem Dad tut mir leid. Mein Dad kann dir alles kaufen, was du willst, wenn wir Freunde sind. Er hat ganz viel Geld.«
Ich denke an die Playstation, die alle meine Schulkameraden haben und von der meine Grandma meint, wir können sie uns nicht leisten. Mom weiß nicht einmal, dass ich mir eine wünsche. Sofort bin ich einverstanden, Aidens Freund zu sein. Es braucht nicht viel für einen Zehnjährigen, um jedes Interesse an einer Prügelei zu verlieren.
»Was willst du werden, wenn du groß bist?«, frage ich ihn.
»Reich!«, antwortet er lachend. »Was willst du denn werden?«
Ich schaue zu Boden und kicke mit der Schuhspitze einen Stein weg.
»Arzt, wie mein Dad. Aber das geht nicht. Meine Mom mag es nicht, wenn ich sage, ich will wie mein Dad werden«, füge ich leise hinzu.
Cameron kommt näher und legt ihren Kopf gegen meinen Arm.
Mein Dad war Arzt bei der Army. Seit er getötet wurde, als ich drei war, ist Mom nicht mehr dieselbe. Deshalb verbringe ich so viel Zeit bei Grandma, und die bringt mich zum Camp von Camerons Eltern. Meine Mom wird richtig sauer, wenn ich davon rede, dass ich Arzt werden will, genau wie er, selbst wenn ich ihr versichere, dass ich nicht in die Army will und nie sterben werde wie er. Ich will kein Soldat werden, doch ich will Menschen retten, genau wie er. Sie weint viel und schließt sich tagelang in ihrem Zimmer ein, daher rede ich nicht mehr darüber. Aber es tut gut, es jetzt laut auszusprechen und sich nicht gleich schlecht zu fühlen deswegen.
»Du kannst machen, was du willst, wenn du erwachsen bist. Ich kann’s jedenfalls nicht erwarten, bis ich groß bin und mir niemand mehr vorschreiben kann, was ich tun darf. Wenn du Arzt werden willst, solltest du Arzt werden. Du kannst Leuten Spritzen geben und sie aufschneiden. Du wirst supercool sein und reich. Ärzte verdienen viel Geld.« Aiden lächelt.
»Du findest, als Doktor werde ich cool sein?«
Aiden nickt. »Definitiv.«
Ich lächle ihn an. »Okay, wir können Freunde sein.«
»Yay!«, jubelt Cameron, klatscht in die Hände und hüpft dabei. »Aiden und ich spielen nämlich zusammen, wenn du nicht hier bist, und ich freue mich echt, dass ihr euch auch mögt. Jetzt können wir alle zusammen spielen! Ich werde heute Nacht einen Wunsch zu den Sternen schicken, dass wir für immer beste Freunde bleiben, und ich weiß, dass dieser Wunsch in Erfüllung geht!«
Aiden und ich lachen beide darüber, wie glücklich Cameron ist. Er gibt mir den Basketball zurück und fragt mich, ob wir spielen wollen, worüber Cameron sich gleich noch mehr freut. Aiden strahlt, während er Cameron dabei beobachtet, wie sie um uns herumtanzt und nonstop von all den Beste-Freunde-Sachen plappert, die wir zusammen anstellen werden, und wie sie es uns beim Basketball zeigen will.
Ich mag Sachen, die Cameron glücklich machen, und es sieht aus, als würde Aiden mir dabei ganz gut helfen können. Als er ihr den Arm um die Schultern legt, nennt er sie »Kid« und bittet sie, uns beim Basketball nicht allzu hoch zu schlagen. Und Cameron schaut zu ihm auf und lächelt glücklicher, als ich es je bei ihr erlebt habe.
Ich bin froh, dass wir einen neuen Freund haben, der auch noch findet, ich werde als Arzt cool sein. Aber irgendwie ist es auch komisch, die beiden da zusammen zu sehen, als Freunde und ohne mich. Also stelle ich mich schnell an Camerons andere Seite und lege ihr ebenfalls den Arm um die Schultern, sodass wir alle drei Seite an Seite dastehen.
»Versprecht mir, dass wir für immer beste Freunde sein werden, egal, was passiert«, verlangt Cameron und sieht zu Aiden hoch. Dann schaut sie mich an.
Aiden und ich tauschen über ihren Kopf hinweg einen Blick aus und zucken mit den Schultern.
»Klar, Cam. Wir werden beste Freunde bleiben, egal, was passiert«, verspreche ich ihr.
»Jap, egal, was passiert. Auch wenn du ein Mädchen bist«, fügt Aiden hinzu.
Cameron runzelt die Stirn, löst sich von uns und boxt ihn in den Magen. Ich muss laut lachen, da Aiden sich krümmt, den Bauch hält und vor Schmerz aufheult. Jetzt lächelt Cameron mich genauso an, wie sie vor ein paar Minuten Aiden angelächelt hat, und das komische Gefühl verschwindet, kaum dass sie die Hände ausstreckt und ich ihr den Basketball zuwerfe.
»Regel Nummer eins, Aiden. Ärgere Cameron nicht, sonst boxt sie dich«, erkläre ich ihm, klopfe ihm auf den Rücken und helfe ihm auf.
»Danke für die Warnung«, sagt er stöhnend und reibt sich den Bauch, während wir unsere Positionen vor dem Basketballkorb einnehmen.
Cameron, Aiden und ich verbringen den Rest des Tages mit Basketballspielen, und wie immer gewinnt Cameron jedes Spiel. Aiden beklagt sich nicht oder jammert, sondern fordert sie immer wieder zu einem neuen Spiel heraus, und es macht mir überhaupt nichts aus, Camerons Wunsch zu erfüllen, dass wir drei für immer beste Freunde sein sollen.
3
Cameron
Du hast mein Leben ruiniert.
Ich lese es laut und verdrehe die Augen über diese getippte Nachricht, die ich soeben aus dem nicht adressierten Umschlag gezogen habe. Er lag in dem Stapel Rechnungen, der gerade hereingekommen ist. Am liebsten würde ich das Blatt Papier zerreißen und in den Müll werfen, stattdessen lege ich es in eine Aktenmappe in der untersten Schublade meines Schreibtisches zu all den anderen Zetteln, bis ich Zeit habe, Kopien zu machen und sie der Polizei zu übergeben.
»Na ja, wenigstens ist dieser direkt und bringt es auf den Punkt«, sagt meine Freundin und Kollegin Amelia, die auf einem Stuhl vor meinem Schreibtisch sitzt. »Warum kann die Person nicht genauer sein? Und uns verraten, wie du ihr Leben ruiniert hast. Hast du ihr vielleicht die Vorfahrt genommen? Stand sie hinter dir in der Schlange im Supermarkt, wo du dich mit elf Teilen an die Höchstens-zehn-Teile-Kasse gestellt hast?«
Ich muss über ihren ernsten Gesichtsausdruck lachen. Das tut gut. In letzter Zeit hatte ich nicht viel zu lachen, aber ich kann mich immer darauf verlassen, dass Amelia mich aufheitert.
»Damit du’s weißt, ich habe mich nur ein einziges Mal mit mehr als zehn Teilen an der Kasse angestellt, und das war ein Notfall.«
»War das ein Wein-Notfall?«, fragt sie mit hochgezogener Augenbraue.
»Schon möglich …«, erwidere ich und lache erneut.
»Du hast momentan zu viel Stress in deinem Leben. Ich glaube, was du brauchst, ist ein Besuch von deinem speziellen Freund.«
Sie zwinkert mir wissend zu und formt mit den Fingern sogar Gänsefüßchen um die Worte »spezieller Freund«.
»Nennen wir es ruhig beim Namen. Grady ist eine Bettgeschichte. Ich brauche einen Besuch von meiner Bettgeschichte, und ich bin dir sogar einen Schritt voraus. Ich wollte ihm nämlich gerade eine Nachricht schreiben.«
Amelia hebt den Arm zum Abklatschen, und ich versuche, mich nicht schuldig zu fühlen, während ich den Text abschicke. Er kennt die Bedingungen und war einverstanden, also brauche ich mich auch nicht schuldig zu fühlen.
Nach einigen Minuten des Schweigens lächelt Amelia sanft.
»Lass dich nicht davon fertigmachen. Manche Leute begreifen einfach nicht, was du hier tust.«
Amelia Sparks kam mit ihrem fünfjährigen Sohn vor drei Jahren zu uns ins Camp, weil sie Hilfe brauchte, nachdem ihr Mann von seiner Stationierung im Ausland heimgekommen war. Wir freundeten uns rasch an. Als Amelia dann letztes Jahr ihren Job in einem Restaurant verlor, bot ich ihr sofort den Posten des Freizeitmanagers an, der gerade frei geworden war. Sie erwies sich in vielerlei Hinsicht als ein Geschenk des Himmels, sowohl hier im Camp als auch in meinem Privatleben, besonders in letzter Zeit. Wenn ich sie jetzt nur ansehe, und das ist ein ganz anderer Anblick als bei unserer ersten Begegnung, weiß ich, dass es ihr genauso geht.
Als sie zum ersten Mal dieses Büro betrat, waren die langen braunen Haare zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden, sie hatte Tränensäcke unter den Augen, die vom Weinen blutunterlaufen waren, und war so dünn, dass ich sie gleich mit ins Haus nahm und ihr etwas zu essen gab. Sie sprach im Flüsterton und war zu verstört, um mir in die Augen zu sehen, als ich ein Gespräch mit ihr beginnen wollte. Es dauerte einen Monat, bis sie mir endlich erzählte, dass ihr Mann nach seiner Rückkehr nicht mehr zurechtkomme. Er sei ständig wütend und betrunken und lasse seine Schmerzen und seine Ängste an ihr und ihrem gemeinsamen Sohn Dylan aus. Mithilfe unserer Therapeuten fanden sie und Dylan Kraft und Zufriedenheit, trotz der Geschehnisse zu Hause. Amelia lernte, ihr Leben in die Hand zu nehmen, und verließ ihren Mann, der sich weigerte, Hilfe zu suchen.
Ihr braunes Haar mit den frischen hellen Strähnen fällt ihr in sanften Wellen auf die Schultern, ihr Make-up ist wunderschön und makellos, und das nach der Depression wiedergewonnene Gewicht verleiht ihr Rundungen, um die ich sie beneide. Sie lächelt unbeschwert und oft und gibt sich viel Mühe, mich aus meinem Unglück herauszuholen. Sie kostet ihr Leben aus und sorgt dafür, dass ich das Gleiche tue.
Das klappt nicht, was aber nicht daran liegt, dass Amelia sich keine Mühe gibt.
»Mir geht’s gut«, versichere ich ihr lächelnd und schiebe die untere Schreibtischschublade zu. »Es ist nicht die erste wütende Nachricht, die wir erhalten, und es wird sicher nicht die letzte sein.«
Jetzt, da meine Eltern nur noch in Altersteilzeit arbeiten und ich die Leitung des Camps übernommen habe, gebe ich diese Botschaften vorsichtshalber an die Polizei weiter, genau wie meine Eltern es immer getan haben. Bisher ist nie etwas Schlimmes geschehen, und ich bezweifle sehr, dass es je der Fall sein wird. Aber wenn man ein Camp voller Kinder führt, kann man nicht vorsichtig genug sein. Es ärgert mich nach wie vor, dass es irgendjemanden wütend machen kann, was wir hier tun. Ob es nun Leute sind, die prinzipiell etwas gegen dieses Camp haben, oder jene mit politischen Motiven, die alles hassen, was mit Krieg und Soldaten zu tun hat, oder wieder andere, die jemanden kannten, der hier bei uns war – wir haben schon alles erlebt.
Meine Eltern verwandelten die Plantage, auf der meine Mutter aufgewachsen ist, in das »Rylan Edwards Camp für Kinder von Veteranen und aus dem Auslandseinsatz zurückgekehrten Soldaten«. Als mein Vater aus dem Krieg heimkehrte, schien er die Qualen und die Gewalt hinter sich gelassen zu haben. Doch es ging ihm alles andere als gut. Monatelang blieb er in seiner eigenen Hölle in seinem Kopf gefangen, sah Dinge, die nicht da waren, und tat, als sei alles in Ordnung, um die Liebe meiner Mutter zurückzugewinnen. Sein einziges Ziel war, wieder zu der Frau durchzudringen, die er zurückzulassen gezwungen war, als er in den Krieg zog. Nichts anderes zählte für ihn, nicht einmal die eigene Gesundheit. Mit der Hilfe meiner Mutter lernte er, den Schmerz und die Vergangenheit loszulassen, wieder ins Licht zu gehen und ohne Reue zu leben. Sobald es meinem Vater wieder gut ging, wussten sie, dass sie ihr weiteres Leben damit verbringen wollten, einen sicheren Ort für Veteranen und deren Familien zu schaffen, dazu beizutragen, dass es diesen Menschen besser ging, und ihnen beizubringen, wieder zu leben, ohne Schmerz und Schuldgefühle.
Die Liebe und Unterstützung, die sie erhielten, war enorm. Leider kann man nicht jeden glücklich machen, daher gab es im Lauf der Jahre auch die eine oder andere verbitterte oder zornige Person. Es wird immer durchgedrehte Rechte oder unverbesserliche Hippies geben, die das, was wir hier tun, für ein politisches Statement halten. Und sie werden uns weiterhin deutlich zu verstehen geben, wie wenig sie das gutheißen.
Es wird auch immer Familienmitglieder geben, die nicht zu schätzen wissen, was wir ihren Angehörigen in Camp Rylan bereitstellen, egal, wie sehr jeder davon profitiert. Wir bieten Kindern von Armeeangehörigen, ob im Auslandseinsatz, verwundet oder aus dem Dienst ausgeschieden, nicht nur einen sicheren und glücklichen Ort, sondern auch Therapiemöglichkeiten. Mit der Zeit hatten wir ein paar Leute, die sich nach der therapeutischen Hilfe zur Trennung von ihren Partnern entschlossen haben, wie es bei Amelia und ihrem Mann der Fall gewesen war.
Manchmal werden solche Entscheidungen nicht von allen Beteiligten gut aufgenommen. Menschen werden wütend. Regen sich auf. Sie wollen irgendjemandem die Schuld geben. Ich versuche, die zornigen Briefe, E-Mails und Anrufe, die wir erhalten, nicht an mich heranzulassen. Denn ich weiß, wie sehr diese Leute im Grunde leiden. Ich weiß, wie schwer es ist, in den Krieg zu ziehen, dann heimzukehren und festzustellen, dass nichts mehr sein wird, wie es einmal war. Ich wuchs in einem sehr liebevollen Zuhause auf, aber meine Eltern gingen offen mit dem posttraumatischen Belastungssyndrom um, an dem mein Vater litt und mit dem er bis heute zu kämpfen hat. Obwohl es ihm deutlich besser geht, macht er gelegentlich noch schwere Zeiten durch. Es gibt immer noch schlaflose Nächte oder Nächte, in denen er schreiend aus einem Albtraum aufwacht. Ich kann mich aus eigener Erfahrung in die Situation aller Camper hineinfühlen, weshalb es mir umso schwerer fällt, damit umzugehen, wenn jemand unsere Hilfe nicht annimmt oder nicht an das glaubt, was wir tun.
Ich weiß aber, dass das Gute am Ende überwiegt, und die Dankbarkeitsbekundungen, die wir erhalten, sind viel zahlreicher als die üblen Nachrichten.
Aiden meinte immer, es sei ein undankbarer, entmutigender Job, und er verstand nie, wie ich das tagein, tagaus machen konnte. Er scherzte stets, er habe reichlich Geld und würde es liebend gern mit mir teilen, dann könnte ich ein Luxusweib sein und mehr Spaß haben, statt einer in seinen Augen deprimierenden Tätigkeit nachzugehen.
Mein Blick wandert zu einem gerahmten Foto von ihm auf der Ecke meines Schreibtisches, und plötzlich kämpfe ich mit den Tränen. Die Hände im Schoß, spiele ich mit dem Ring, den ich von Aiden habe. Vielleicht hätte ich ihn nach seinem Tod in einem Schmuckkästchen verstauen sollen. Er ist zu protzig und eigentlich nicht mein Stil, doch ich trug ihn ihm zuliebe, weil er ihn mir geschenkt hat. Jetzt will ich ihn nicht mehr abnehmen, denn wenn ich ihn betrachte und berühre, fühle ich mich Aiden näher.
Amelia erkennt, worauf mein Blick gerichtet ist, nimmt den Bilderrahmen und betrachtet lächelnd das Foto.
»Auf dem Bild seid ihr noch Kinder. Wie alt warst du damals? Zehn oder elf?«, fragt sie.
»Zwölf«, antworte ich sofort, und meine Stimme bricht vor Emotionen. »Die Jungs waren fünfzehn.«
Ich schaffe es nicht einmal, ihre Namen laut auszusprechen. Aidens Tod liegt neun Monate zurück. Der Schmerz ist nicht mehr so akut, wie er es anfangs war, aber er ist nach wie vor da und lauert unter der Oberfläche, sobald ich an Aiden denke. Es tut immer noch weh, dass er tot ist und mich hier allein zurückgelassen hat.
Er war der Mensch, der stets für mich da war; jetzt ist er fort, und ich werde das nie mehr haben.
»Sieh dir dieses Grinsen von Aiden an. Rotzfrech und großspurig, schon als Teenager«, meint Amelia lachend.
Ich stimme in ihr Lachen ein. Oft galt dieses Grinsen mir, und daher weiß ich genau, was Amelia meint. Aiden war immer so selbstsicher, er war sich seines Lebens und der Welt um ihn herum so gewiss, es kümmerte ihn überhaupt nicht, was andere von ihm dachten. Er hatte eine hohe Meinung von sich, das allein zählte. Auf die meisten Leute wirkte das snobistisch und arrogant, aber für jene, die ihn gut kannten, war es einfach nur Aiden. Hinter all diesem Selbstbewusstsein steckte ein Mann mit großem Herzen, der seine Freunde liebte und alles für sie getan hätte.
Meine Augen füllen sich mit Tränen bei dem Gedanken, dass ich dieses Grinsen nie wieder sehen werde. Nie mehr werde ich ihn über sein gutes Aussehen scherzen oder damit prahlen hören, wie viel Geld er in einem Monat an Provisionen verdient hat. Er wird mich nie mehr damit aufheitern, sich so sehr wie ein aufgeblasener Idiot aufzuführen, dass ich einfach lachen muss. Nie mehr wird er sich selbst übertreffen bei dem Versuch, mir der allerbeste Freund zu sein, und dabei immer zu wissen, dass mir tief im Herzen etwas fehlt, dass da eine Lücke ist, die nie gefüllt werden kann, ganz gleich, wie sehr er sich auch bemühte. Er tat, was er konnte, um mich vergessen zu lassen, dass einer der drei Musketiere fehlte und sich für mich deshalb alles falsch anfühlte. Seit Aiden gestorben ist, hat die Tatsache, dass Everett nicht hier ist und ich nicht mit ihm darüber sprechen kann, jeden traurigen Moment noch verstärkt. Und jeder glückliche Moment war getrübt durch das Bedauern darüber, dass Everett nicht hier war, um ihn mit mir gemeinsam zu erleben.
»Jedes Mal, wenn ich dich und Aiden zusammen gesehen habe, stellte ich mir vor, was für wunderschöne Babys ihr bekommen würdet. Mit seinem verwegenen Lächeln und seinem Sinn für Humor war er echt ein Hübscher«, sagt Amelia kopfschüttelnd, während sie weiter das Foto betrachtet.
»Na ja, du hast Everett nie persönlich kennengelernt«, murmele ich und hätte die Worte am liebsten gleich wieder zurückgenommen, kaum dass ich sie ausgesprochen habe.
Es kommt mir vor, als würde ich die Erinnerung an Aiden beflecken, wenn ich daran denke, wie viel attraktiver ich Everett fand. Bei Aiden fühlte ich mich stets geborgen und sicher. Everett hatte genau die gegenteilige Wirkung auf mich – als müsste ich mir Luft zufächern und meine Beine fest übereinanderschlagen.
»Du liebe Zeit, Everett sah schon mit fünfzehn toll aus. Ich fühle mich richtig verdorben. Aber nach allem, was du und Aiden mir über ihn erzählt habt, war er viel zu sehr der Bad Boy, zu grüblerisch und zu sehr ein Idiot. Muss er wohl sein, denn er hat sich in den letzten fast fünf Jahren nicht mehr groß um dich gekümmert oder einen weiteren Gedanken an dich verschwendet. Ich weiß, du hast mir mal erzählt, dass du früher in Everett verknallt warst, aber Aiden war eindeutig die bessere Wahl«, meint Amelia, stellt das Foto wieder auf meinen Schreibtisch und dreht sich zu mir um.
Ich will nicht hinsehen, aber ich kann nicht anders. Automatisch geht mein Blick zu dem Jungen auf dem Foto, der auf der anderen Seite neben mir steht. Aiden und Everett hatten beide kurzes braunes Haar und waren in etwa gleich groß, mindestens einen Kopf größer als ich damals, da ich drei Jahre jünger war als sie.
Damals sahen sie sich ähnlich, doch während Aiden viel lachte und fröhlich war, erreichte Everetts Lachen in all den Jahren, die ich ihn kannte, nie seine Augen. Es war ohnehin schwierig genug, ihm ein Lächeln zu entlocken, ganz zu schweigen von einem echten Lachen. Amelia hat recht. Er war grüblerisch, und er war ein Bad Boy. Aber ein Idiot war er nicht, als wir Kinder waren, jedenfalls nicht in meiner Gegenwart. Vielleicht fühlte ich mich deswegen so sehr zu ihm hingezogen, als wir klein waren. Ich wollte ihm helfen, ihn zum Lächeln und zum Lachen bringen. Ich wollte diejenige sein, die ihm den Schmerz über den Verlust seines Vaters in so jungen Jahren nahm, ihn über die Verzweiflung hinwegtröstete, dass er mit einer Mutter zusammenlebte, die sich nach dem Tod ihres Mannes nicht mehr um ihn und seinen Bruder kümmerte. Ich habe zu viele Jahre damit zugebracht, einem Traum hinterherzujagen und mir etwas zu wünschen, das sich am Ende als große Zeitverschwendung erwiesen hat. Everett wollte meine Hilfe nie. Er wollte nicht in Ordnung gebracht werden, und er wollte auch mich nie.
Seit fast fünf Jahren ist er nun fort. In der ganzen Zeit kam weder eine E-Mail noch ein Anruf. Nichts. All die Jahre gab ich mir die Schuld dafür, denn vielleicht hätte ich ihn in jener Nacht, bevor er ins Ausland ging, bitten sollen zu bleiben. Vielleicht habe ich den Eindruck erweckt, dass wir ihn nicht bräuchten und ganz gut ohne ihn zurechtkämen, dass wir ihn vergessen würden, sodass er beschloss, uns zuerst zu verlassen. Ich gab mir die Schuld, denn wegen etwas, das ich getan hatte, war ich nicht die Einzige, die ihn verlor. Auch Aiden verlor ihn.
Doch dann fand ich heraus, dass er gar nicht uns beide ignoriert hatte. Einige Wochen vor Aidens Tod erfuhr ich, dass er Aiden E-Mails schrieb, wenn er konnte, und ihn auch anrief, wenn er Zeit hatte. Er hatte nur mich verlassen. Ich war es, die ihm nach über zwanzig Jahren Freundschaft plötzlich egal war. Nur ich bedeutete ihm nichts mehr.
Das machte mich wütend, und es tat weh. Aiden ist seit neun Monaten tot. Ich bin traurig und vermisse ihn jeden Tag. Everett ist seit fast fünf Jahren aus meinem Leben verschwunden, und ich hasse es, dass es noch schmerzlicher ist. Ich hasse es, dass ich ihn mehr vermisse. Ich hasse es, dass es sich so anfühlt, als würde ich Aidens Andenken trüben, weil ich wegen der Abwesenheit eines Mannes, dem ich absolut nichts bedeute, noch trauriger bin. Wegen eines Mannes, den ich für meinen besten Freund gehalten und von dem ich mir viel zu oft gewünscht habe, er könnte eines Tages mehr für mich sein. Bis ich schließlich aufgeben und darüber hinwegkommen musste.
»Ich möchte die Stimmung hier ungern noch weiter runterziehen, aber hast du schon mit deinen Eltern gesprochen?«, fragt Amelia. Damit holt sie mich aus meinen deprimierenden Gedanken und lenkt meinen Blick von diesen verdammten Fotos ab.
»Nein, nicht außer den üblichen Wie-geht’s-wie-steht’s-Anrufen alle paar Tage. Ich kann ihnen nichts vom Ausmaß der Probleme erzählen, Amelia. Noch nicht. Dieses Camp ist ihr Lebenswerk. Ihr Traum. Ich bringe es nicht übers Herz, ihnen zu sagen, dass wir nach diesem Sommer womöglich schließen müssen. Ich kann ihnen jetzt, wo ich sie erst vor zwei Tagen dazu gebracht habe, in den ersten Urlaub seit einer Ewigkeit zu fahren, nicht das Herz brechen«, erkläre ich seufzend und fange an, den Stapel Rechnungen vor mir zu öffnen, vor dem ich mich eine Woche lang gedrückt habe.
Camp Rylan war seit der Eröffnung für Teilnehmer kostenlos. Meine Eltern wollten nichts davon wissen, Leute dafür bezahlen zu lassen, dass ihre Kinder eine Auszeit bekommen und mit anderen Kindern zusammen sein können, die ähnliche Sorgen haben wie sie. Mit großzügigen Spenden und Zuwendungen von Einzelpersonen und Unternehmen, zusammen mit der großen Wohltätigkeitsveranstaltung, die ich hier vor jeder Sommersaison organisiere, hatten wir bisher nie Probleme mit der Finanzierung des Camps. Unglücklicherweise ist unser größter Gönner, der mit seiner jährlichen Spende seit siebenundzwanzig Jahren das Camp fast allein am Laufen gehalten hat, vor Kurzem gestorben. Und seine Hinterbliebenen sind kaltherzige Arschlöcher, die alle seine wohltätigen Spenden eingestellt haben. Jack Alexander, der Gründer und Vorstandschef einer der größten Autofabriken in den Vereinigten Staaten, war für uns wie ein Familienmitglied. Nie ließ er seine jährliche Spende von einer Sekretärin per Post verschicken. Stattdessen setzte er sich ins Auto und fuhr selbst her, jeden Sommer den ganzen Weg von New York hierher, um an der Wohltätigkeitsveranstaltung teilzunehmen und den Scheck zu überreichen. Er würde sich im Grab umdrehen, wenn er wüsste, was seine Familie getan hat.
»Ich hoffe, mir fällt etwas ein, bevor sie für die Spendengala im nächsten Monat heimkommen. Ich habe ein paar Unternehmen angerufen und drücke uns die Daumen, dass ich bald etwas höre. Ein Mann hat gleich auf meine E-Mail reagiert. Ich habe mich über ihn erkundigt, er ist ein bisschen schräg. Er vergibt sein Geld nach strikten Regeln. Meine Eltern müssten hier sein, da er sein Geld nur glücklich verheirateten Paaren gibt, die Non-Profit-Organisationen leiten. Vielleicht ist er meine letzte Rettung, sodass ich sie gar nicht erst einweihen muss. Für alle Fälle habe ich ihm aber gesagt, wir könnten uns frühestens am Wochenende vor der Wohltätigkeitsveranstaltung treffen. Ich kann die Verabredung jederzeit absagen, wenn wir bis dahin jemand anderen gefunden haben«, erkläre ich Amelia.
Wenn ich ehrlich sein soll, wird es selbst mit staatlichen Zuschüssen und sonstigen Zuwendungen, die wir im Lauf des Jahres erhalten, nicht reichen, ein Camp wie dieses auf einer Plantage dieser Größe zu unterhalten. Alle eingehenden Summen würden kaum für Strom und Gehälter der hier arbeitenden Leute ausreichen. Jahrelang haben wir uns auf Jacks Spende verlassen, und jetzt muss ich jemanden finden, der genauso toll und großherzig ist, wie er es war. Aber zu diesem Zeitpunkt gleicht das der Suche nach der berühmten Nadel im Heuhaufen. Selbst das Geld, das Aiden nach seinem Tod dem Camp hinterlassen hat, jeder Penny, den er je gespart hat, fing unsere wachsende Schuldenlast nicht auf. Ich habe darüber nachgedacht, ob ich Aidens Eltern um Hilfe bitten soll. Aber ich möchte nicht, dass sie sich verpflichtet fühlen, etwas zu tun. Nach Aidens Tod sind sie weggezogen, weil sie die vielen Erinnerungen an ihn hier in Charleston nicht ertragen konnten, und ich möchte ihren Kummer nicht noch vergrößern, indem ich ihnen mitteile, dass Aidens Geld aus seiner Hinterlassenschaft nicht ausreicht. Ich bin über den Punkt, mir Sorgen zu machen, längst hinaus. Jetzt schiebe ich blanke Panik.
Nach Aidens Tod habe ich meine Eltern praktisch angefleht, alles auf mich zu überschreiben. Sie hatten ohnehin vor, es irgendwann zu tun, aber ich brauchte etwas, auf das ich mich konzentrieren konnte, nachdem er von uns gegangen war. Ich wollte mich mit etwas beschäftigen, um nicht ständig daran denken zu müssen, wie sehr ich ihn vermisse. Als sie schließlich nachgaben und mir alles überschrieben, wollte ich auch nichts Geringeres als die totale Kontrolle. Über das Camp, über alle Entscheidungen und über das Geld. Ihnen war klar, dass wir durch Jacks Tod Probleme bekommen würden, aber es gelang mir, sie lange über das Ausmaß der Schwierigkeiten im Dunkeln zu lassen. Ich will meine Eltern nicht enttäuschen. Ich will die Kinder und die Familien, die hierherkommen, nicht enttäuschen. Ich bin hier aufgewachsen, habe Aiden und Everett hier kennengelernt, meine glücklichsten Kindheitserinnerungen hängen mit diesem Ort zusammen. Ich will mich nicht von Gedanken an Everett Southerland ablenken lassen, wenn ich mir um etwas so viel Wichtigeres Sorgen machen muss. Er ist ein Teil meiner Vergangenheit, die ich loslassen muss, so sehr es auch schmerzt.
Und sosehr es mir das Herz bricht, dass ich nicht nur einen meiner besten Freunde, sondern gleich beide verloren habe – keinen von ihnen werde ich je zurückbekommen.
4
Cameron
Wünschen in der Vergangenheit …
Zwölf Jahre alt
Ich wische mir meine schweißnassen Handflächen an meinem Kleid ab, hole tief Luft und trete hinaus auf die Waldlichtung, die zu unserem Treffpunkt führt. Ich gehe erhobenen Hauptes und tue so, als sei es nicht total schräg, dass ich ein Kleid trage. Meine Beine fühlen sich nackt an ohne die dreckige Jeans mit den Löchern an den Knien, die ich sonst immer anhabe, wenn wir zusammen sind. Ich zwinge mich, nicht an die vielen blauen Flecken von unserem Basketballspiel neulich zu denken. Oder an die Schrammen und Narben, die ich habe, weil ich seit Jahren auf Bäume klettere und zu den Jungs gehöre.