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All You Wish For

Als Buch hier erhältlich:

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So geht es nicht weiter! Erst wird Evie von ihrem Date versetzt, und dann erhält sie nicht die gewünschte Beförderung. Als sie im Internet auf die kleine Buchhandlung »Much Ado About Books« stößt, die sie als Urlaubserlebnis mieten könnte, ist dies wie ein Wink des Himmels für den Shakespeare-begeisterten Bücherwurm. Spontan bucht sie das Angebot und fliegt nach England. Die Bewohner des kleinen Dorfes empfangen Evie mit offenen Armen, und schnell findet sie Freunde. Vor allem der sexy Farmer Roane bringt ihren Puls zum Rasen. Nur zu gern würde sie herausfinden, welche sinnlichen Gefühle er noch in ihr wecken kann. Aber einerseits hat Evie den Männern abgeschworen, und andererseits kann ein heißer Urlaubsflirt nur mit Herzschmerz enden, oder?



»[Youngs] Romane haben einfach alles – umwerfend geschrieben, sexy Charaktere, Herzschmerz – ich bin süchtig danach.«
SPIEGEL-Bestsellerautorin Vi Keeland

»Geheimnisvoll, überwältigend, einfach nur gut.«
Closer über Things We Never Said – Geheime Berührungen


  • Erscheinungstag: 27.12.2021
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745701937

Leseprobe

1. Kapitel

Chicago

Ich hatte seit zwei Jahren kein Date mehr gehabt.

Das erklärte auch die hektischen Schmetterlinge in meinem Bauch und das an Panik grenzende Gefühl, das sich in mir ausbreitete. Nervös tippte ich mit dem Fuß auf den Boden.

Ich nippte noch einmal an dem Wasser, das der Kellner mir gebracht hatte, und versuchte auszusehen, als mache es mir nichts aus, dass mein Date bereits eine Viertelstunde zu spät dran war.

Das ergab keinen Sinn.

Aaron und ich chatteten seit vier Wochen miteinander, aber es fühlte sich länger an. Wir hatten uns auf einer Dating-Seite kennengelernt, und als uns klar geworden war, wie viel wir gemeinsam hatten – Reiselust, eine Sucht nach Koch- und Renovierungsshows, eine aufrichtige Wertschätzung für Shakespeare, eine Liebe zu ruhigen Abenden zu Hause und gelegentlich einem nicht ruhigen Ausgehabend –, waren wir dazu übergegangen, einander Snaps zu schicken.

Seit vier Wochen unterhielten wir uns auf Snapchat.

Angesichts der Zurückweisung glühten meine Wangen. Mit dem Finger wischte ich über das Display meines Handys, um die App zu öffnen. Ich hatte lange Passagen aus Gesprächen zwischen uns gespeichert, weil die Wortgeplänkel zwischen uns so fantastisch waren und ich sie gern immer wieder las.

Ich betrachtete die Snaps von gestern Abend.

Ich

Nutzlos bis zum ersten Kaffee.

Ich

😂

Ich

Warum muss ich nützlich sein? Deine Priorität am Morgen ist doch wohl, dich bei mir nützlich zu machen. 😉

Ich

*schnaub* Ja, aber danke für den charmanten Hinweis.

Stirnrunzelnd legte ich mein Handy mit dem Display nach unten auf den Restauranttisch und sah erneut zur Tür. Zuerst war unser Flirt super gelaufen, doch je besser Aaron und ich uns kennengelernt hatte, umso heißer war die Sache geworden. Ich fühlte mich dabei wagemutig und gleichzeitig auch sicher, denn ich hatte ihn nie persönlich getroffen. Aber er war mir gegenüber so offen gewesen. Ich hatte eine Regel, mich nicht mit jüngeren Männern zu verabreden, da ich das ein paarmal versucht hatte und diese Beziehungen immer an der Unreife der Männer gescheitert waren. Aaron war achtundzwanzig – fünf Jahre jünger als ich. Trotzdem hatte ich innerhalb der ersten Woche alle Sorgen bezüglich seiner Reife abgelegt, denn er erzählte mir so offen und vertrauensvoll davon, wie abscheulich seine Ex sein Selbstwertgefühl untergraben hatte. Er hatte das Jurastudium aufgegeben, weil er unglücklich damit gewesen war, und hatte stattdessen neu angefangen und Tiermedizin studiert. Ich liebte Tiere, daher gefiel mir das an ihm. Seine Ex allerdings hatte ihn nie dabei unterstützt. Dann, als er seltener ins Fitnessstudio gegangen war, weil er so viel hatte lernen müssen, und sich nicht besonders gesund ernährt hatte, hatte sie sein Selbstvertrauen mit spitzen Bemerkungen über seinen Körper zerstört.

Aaron hatte mir Snaps von sich geschickt, und er war nicht dick. Er war nur einfach nicht wie ein Model auf den Titelseiten der Magazine gebaut. Aber wen interessierte das? Er schien ein toller Kerl zu sein. Aaron hatte beides: Offenheit und gutes Aussehen.

Dating war nicht gerade meine Lieblingsbeschäftigung, vor allem online, und ich hatte meterhohe Schutzwälle um mich aufgerichtet. Doch weil Aaron so auf mich zugekommen war, hatte ich ihm von meinen fortlaufend miesen Dates in den letzten fünf Jahren erzählt. Und dass ich an meinem einunddreißigsten Geburtstag verkündet hatte, mich erst mal mit niemandem mehr zu treffen. Die meisten meiner Freundinnen versuchten, verständnisvoll zu sein, allerdings bemerkte ich die Besorgnis in ihren Blicken.

Arme Evie. Sie ist über dreißig und immer noch Single. Sollte sie sich nicht größere Mühe geben, einen Mann zu finden, statt eine Dating-Pause einzulegen?

Nur meine beste Freundin und Seelengefährtin Greer bestärkte mich wirklich in meiner Entscheidung. Jedenfalls, bis ich vor ein paar Monaten dreiunddreißig geworden war. Da hatte sie erklärt, es sei Zeit, die Sache erneut anzugehen. Zwei Jahre Enthaltsamkeit waren für sie unvorstellbar.

Na ja.

Ehrlich gesagt, mein Vibrator war hundert Prozent leistungsfähiger als sieben der acht Kerle, mit denen ich bisher Sex gehabt hatte.

Aarons und mein Terminplan schienen einfach nicht zusammenzupassen; und der heutige Abend war der erste gewesen, an dem wir beide Zeit hatten. Nach vier Wochen fühlte es sich an, als redeten wir schon ewig miteinander, und Aaron flirtete inzwischen sehr explizit mit mir.

Ich hatte das Gefühl, mit Aaron reden zu können, wie ich das seit langer Zeit mit keinem Mann mehr gekonnt hatte. In meiner verzweifelten Hoffnung, vielleicht endlich jemanden gefunden zu haben, war ich viel zu offen gegenüber dem Mann gewesen, den ich nicht einmal persönlich kannte.

Einem Mann, der nicht zu unserem Date aufgetaucht war.

Erneut entsperrte ich das Handy und scrollte durch meine gespeicherten Snaps.

Ich

Ich habe viele Fehler … aber ich glaube, ich bin freundlich. Ich versuche, nett zu sein.

Ich

😳

Ich

Was magst du an dir am liebsten?

Ich

Selbsterkenntnis wird auch unterschätzt. Es gefällt mir, dass du dich selbstkritisch sehen kannst.

Ich

Niemand ist vollkommen. Wir haben alle unsere idiotischen Tage.

Ich

Wenn ich ehrlich bin, fühle ich mich in Bezug auf meinen Körper unsicher. Im Lauf der Jahre bin ich selbstbewusster geworden, doch ich habe immer noch Tage, an denen ich mich nicht so toll finde.

Ich

Danke. Aber ich bin nicht gerade klein, und ich bin nicht dünn. Ganz im Gegenteil. Ich habe bei ersten Dates eine Menge Bemerkungen wie »du bist groß für eine Frau« kassiert, wonach derjenige sich nie wieder bei mir gemeldet hat.

Das war die Wahrheit. Mit meinen eins achtundsiebzig war ich groß. Zusammen mit meinen zehn Zentimeter hohen Absätzen machte das eins achtundachtzig. Manche Männer allerdings schien das nicht zu stören. Ich hatte viel Oberweite, einen Hintern, Hüften, und obwohl ich eine Taille hatte, war ich nicht superschlank. Mit einem flachen Bauch konnte ich auch nicht dienen. Entweder mochten es die Kerle, dass ich groß und üppig war, oder sie stempelten mich als zu dick ab. Es gefiel mir überhaupt nicht, so bezeichnet zu werden. Ich zuckte dabei buchstäblich zusammen. Aber an manchen Tagen, meist um meine Periode herum, fühlte ich mich tatsächlich übergewichtig und fragte mich, wie sich jemand von mir angezogen fühlen konnte.

Ansonsten war ich allerdings ganz zufrieden mit mir, und ab und zu fand ich mich sogar sexy. Aber vielleicht hätte ich mit ein paar Zentimetern weniger und einer oder zwei Kleidergrößen kleiner noch mehr Selbstbewusstsein. Wer wusste das schon? Wünschten wir uns alle nicht manchmal, das Gegenteil von dem zu sein, was wir waren? Wenn solche Gedanken in mir aufstiegen, versuchte ich nachsichtig mit mir zu sein, denn an den meisten Tagen mochte ich mich, innerlich wie äußerlich.

Der Trick war, auf der Hut vor Menschen zu sein, die mir einreden wollten, wie ich mich wegen meines Aussehens zu fühlen hätte. Allerdings war mir ein Zusammenhang zwischen Phasen mit hohem Selbstwertgefühl, solchen mit niedrigem und dem Online-Dating aufgefallen. An oberflächlichen Männern verlor ich augenblicklich das Interesse. Doch das hieß noch nicht, dass ihre Kritik an meinem Äußeren sich nicht auf mein Selbstbewusstsein auswirkte.

Ich

Ich bin Redaktionsassistentin bei Reel Film, der Filmzeitschrift.

Ich

Nein, ich bin die Assistentin eines Redakteurs. Ich habe in der Verwaltung angefangen, aber in den letzten paar Jahren habe ich meinen Redakteur unterstützt und die Artikel der Journalisten redigiert.

Ich

Mein Redakteur geht in Rente, und seine Stelle wird frei. Wahrscheinlich kriege ich sie.

Ich

Vielleicht. 😳 Was stellst du dir unter feiern vor?

Ich seufzte aus tiefstem Herzen und versuchte, meinen nervösen Magen zu beruhigen. Seit zehn Jahren arbeitete ich bei Reel Film und war bei der Beförderung zur Redakteurin immer übergangen worden, aber endlich schien das lange Warten vorüber. Ich war aufgeregt deswegen, aber durch meinen Internetflirt mit Aaron auch abgelenkt. Er hatte meine Konzentration gestört, und dabei hatten wir uns noch nicht einmal persönlich kennengelernt. Unser Geplänkel könnte mich süchtig machen – ich fühlte mich dabei auf eine Art jung, wie ich es lange nicht mehr erlebt hatte.

Und jetzt … versetzte er mich?

Ich las den allerletzten Snap von gestern Abend.

Ich

Kann’s kaum erwarten, dich morgen zu sehen.

Ich sah, dass er die Nachricht erst vor ein paar Stunden geöffnet hatte.

Meine Finger verharrten über der Tastatur. Bei einem Blick auf die Handyuhr stellte ich fest, dass er inzwischen zwanzig Minuten überfällig war. Schnell schrieb ich ihm.

Ich

Sitze im Restaurant. Bist du aufgehalten worden?

Ein paar nervöse Minuten verstrichen; dann bemerkte ich, dass er die Nachricht geöffnet hatte.

Erleichterung stieg in mir auf.

Doch als aus einer Minute fünf wurden und keine Spur einer Antwort einging, wurde mir langsam übel. Aus fünf Minuten wurden zehn.

Was für eine Idiotin ich gewesen war.

Aber noch während ich dort saß, spielte ich verschiedene Szenarien im Kopf durch, wie man das so macht.

Jemand hatte ihm das Smartphone gestohlen, und er selbst hatte die Nachricht nicht geöffnet.

Vielleicht hatte er ja einen Unfall gehabt.

Er war jetzt schon verliebt in mich und fühlte sich ein wenig überfordert.

Bei diesem Gedanken schnaubte ich laut und ignorierte den verwirrten Blick, den das Paar am Nebentisch mir zuwarf.

Da spürte ich, wie sich der Kellner in meiner Nähe herumdrückte. Ich schaute nach links und lächelte ihm gezwungen zu. »Ich sollte den Tisch freimachen, oder?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, alles gut. Ich hatte nur überlegt, ob Sie etwas bestellen wollen.«

»Haben Sie ein Parallelwelt-Special auf der Karte? Also eine Welt, in der ich nicht versetzt worden bin?«

Der Kellner warf mir ein mitfühlendes Lächeln zu. »Bedaure, nein. Falls Sie sich dann besser fühlen, eine Menge Leute würden das bestellen, wenn wir es hätten.«

Laut lachte ich. »Ach ja? Sie erleben so etwas öfter, nicht wahr? Ich frage mich, was seine Ausrede ist. Das heißt, falls er mir überhaupt eine Erklärung gibt.«

»Vielleicht ist sein Hund gestorben.«

»Oder sein Hund hat seinen Goldfisch verschluckt, und er musste den Heimlich-Griff anwenden.«

Der Kellner grinste breit. »Einmal hat mich jemand versetzt und mir getextet, sein Visum sei abgelaufen und er hätte am selben Tag das Land verlassen. Zwei Wochen später habe ich ihn in Andersonville gesehen.«

»Nicht möglich.«

»Und ob.«

Bei dieser Erinnerung daran, dass ich nicht der einzige Mensch war, der versetzt wurde, fühlte ich mich ein wenig besser. Ich erklärte dem freundlichen Kellner, ich werde nach Hause gehen, und er lächelte mir aufmunternd zu, als ich das Restaurant verließ.

Obwohl ich darüber gewitzelt hatte, kam ich mir dumm vor, weil ich mich jemandem gegenüber geöffnet hatte, der mich versetzte.

Während ich eilig zur Hochbahn ging, schaute ich immer wieder auf mein Handy, um festzustellen, ob Aaron geantwortet hatte. Nichts. Ich versuchte zu verstehen, warum der Mann, mit dem ich seit vier Wochen stundenlang schrieb, so etwas tun konnte. Wenn er seine Meinung geändert hatte, wieso sagte er das nicht einfach? Er schien mir die Art Typ zu sein, der mir gegenüber einfach brutal ehrlich sein würde.

Kein Feigling.

Kein Idiot.

Ich zuckte zusammen.

Tja, er hatte mich gewarnt und geschrieben, er könne manchmal ein Idiot sein.

Aber ich hatte sein Eingeständnis für besonders aufrichtig gehalten. Ich hatte nicht weiter gedacht als bis zu unserem witzigen Wortgeplänkel und unserer gemeinsamen Liebe zu Shakespeare. Wir hatten über unsere liebsten Shakespeare-Tragödien diskutiert und uns darüber ausgetauscht, welche seiner Komödien die beste wäre. Er fand, das sei Zwei Herren aus Verona, und für mich war es Was ihr wollt. Ich hatte es ziemlich aufregend gefunden, jemandem zu begegnen, der in der heutigen Zeit meinen liebsten Dramatiker so gern mochte. Zusätzlich zu allem anderen war das wirklich zu schön gewesen, um wahr zu sein.

Anscheinend war es genau das gewesen.

Oder … Was, wenn Aaron gekommen war, mich gesehen und entschieden hatte, dass ich zu dick, zu groß oder zu …

Halt die Klappe, Evie! schrie ich mich im Stillen an.

Ich würde nicht zulassen, dass er mir das antat.

Wutentbrannt zog ich mein Smartphone hervor.

Ich

Du hättest wenigstens den Anstand haben können, mir zu schreiben, dass du nicht mehr an einem Treffen interessiert bist.

Mein Herz raste, und meine Handflächen wurden feucht, als ich sah, dass er die Nachricht sofort öffnete.

Doch es kam keine Antwort.

Was zur Hölle …?

Schmerz, Trauer, Zorn und Verwirrung – das alles brodelte in mir, als ich in die »blaue« Hochbahnlinie sprang, um zu meiner winzigen Einzimmerwohnung in Wicker Park zu fahren. All die Gefühle, die ich im Restaurant unterdrückt hatte, brachen aus mir heraus. Während ich das Apartment betrat, liefen mir Tränen übers Gesicht. Frustriert wischte ich sie weg und verfluchte mich, denn ich hatte nicht nur zugelassen, dass Aaron mich aus der Fassung brachte, sondern auch jemandem, dem ich noch nie persönlich begegnet war, so viel über mich verraten.

Was für eine naive Idiotin ich gewesen war! Eigentlich wusste ich es doch besser.

Nein. Ich schüttelte den Kopf. Das durfte ich mir nicht antun. Er war meine Tränen nicht wert. Und ich würde ihm nicht erlauben, mir das Gefühl zu vermitteln, ich hätte etwas falsch gemacht.

Wahrscheinlich war er nur ein weiterer langweiliger, voreingenommener Mistkerl auf der Suche nach einer Frau, wie sie außerhalb von Filmen und mit Photoshop bearbeiteten Bildern nicht existierte.

Klang das verbittert?

»Das klang verbittert«, murmelte ich vor mich hin.

Okay. Vielleicht war ich ein wenig bitter.

Genau deswegen datete ich nicht mehr. Obwohl ich über dreißig war, konnte mich so etwas zurückwerfen, bis ich mich fühlte wie eine Sechzehnjährige, die einen Korb bekommen hatte.

In meiner Handtasche summte mein Handy, und mir schlug das Herz bis zum Hals. Auf dem Display wurde eine Nachricht meiner besten Freundin Greer angezeigt. Enttäuschung stieg in mir auf und wich sofort einem furchtbar schlechten Gewissen.

Wie ist das Date gelaufen? Oder läuft es noch? 😉

Verächtlich schnaube ich. Mit zitternden Lippen drängte ich neue Tränen zurück und schrieb rasch zurück. Er ist gar nicht aufgetaucht. Ich habe ihm eine Nachricht geschickt, und er hat sie geöffnet, aber nicht geantwortet.

Diese miese Ratte! Soll ich vorbeikommen?

Das hätte sie glatt getan. Ich lächelte durch meine Tränen, schüttelte allerdings den Kopf. Mir geht’s gut, schrieb ich. Er ist ein Idiot. Es ist vorbei. Ich gehe einfach ins Bett. Morgen habe ich einen großen Tag vor mir.

Wieder summte das Smartphone in meiner Hand, aber dieses Mal rief Greer an. Ich war nicht in der Stimmung, mich während eines Anrufes zu verstellen, und zögerte eine Sekunde lang. Aber dann nahm ich ab. Das war schließlich Greer. Ich wusste, dass sie sich Sorgen um mich machte.

»Hey.«

»Erstens«, erklärte sie, »ist er wirklich ein Arsch. Vergiss ihn. Jeder Kerl, der behauptet, ein Shakespeare-Fan zu sein, aber Romeo und Julia hasst, ist nichts wert. Zweitens, ein Hoch auf morgen! Du musst mich sofort anrufen, wenn sie dir das verdammte Redaktionsbüro anbieten.«

Ich hasste es, dass Aarons ambivalente Signale dieser wichtigen Zeit in meinem Leben einen Dämpfer aufgesetzt hatten. »Wird gemacht.«

»Und drittens … Okay, ich wollte eigentlich warten, um dir das persönlich zu sagen, aber ich glaube, du kannst gerade eine Aufmunterung gebrauchen.«

»Okay.«

»Evie, Schätzchen … du wirst Tante!«

Ich versuchte, die Worte zu verstehen, und schüttelte den Kopf. »Ähm … wie jetzt? Ich habe keine …« Greer wusste doch, dass ich Einzelkind war.

»Oh mein Gott, bist du heute Abend schwer von Begriff. Ich bin schwanger, Evie! Hurra!«

Verwirrt blinzelte ich. »Machst du Witze? Um mich aufzuheitern?« Denn Greer hatte mir mehr als einmal erklärt, sie wolle keine Kinder. Und auch nicht heiraten. Sie war seit zwei Jahren mit Andre zusammen, allerdings führten die beiden eine sehr entspannte Beziehung.

»Nein!« Greer lachte. »Andre und ich reden schon eine Weile davon, und ich bin vierunddreißig und werde nicht jünger. Also … haben wir beschlossen, es zu versuchen. Und ich bin schwanger!«

Heilige Mutter Gottes.

Greer und ich gehörten einem Kreis aus sechs Freundinnen an, die sich an der Northwestern University kennengelernt hatten und nach dem Studium in Chicago hängengeblieben waren. Im Lauf der Jahre waren meine Freundinnen gefallen wie die Fliegen. Sie hatten geheiratet und dann Kinder bekommen, bis wir uns nur noch bei Taufen und Geburtstagsfeiern trafen. Abgesehen davon gingen wir alle paar Monate essen, wenn sie Babysitter fanden.

Das Wissen, dass Greer nie eine Familie gründen und Kinder haben wollte, hatte mich glauben lassen, dass wir uns das Gleiche wünschten und ich nicht allein war.

Aber jetzt war meine letzte Freundin, die noch die Stellung gehalten hatte, auch mit dem Babyschiff davongesegelt.

»Das ist großartig!« Ich zwang mich, einen fröhlichen Ton anzuschlagen, und verfluchte mich für meinen absoluten Egoismus. »Was für eine Überraschung!«

»Ich wollte es dir Samstag beim Mittagessen erzählen, aber ich dachte, du bräuchtest das jetzt.«

»Ich freue mich so für dich!« Das war keine Lüge. Ich wünschte Greer nichts als Glück. Allerdings stürzte mich ihre Nachricht in einen Konflikt. »Tja, ich haue mich mal aufs Ohr. Ich gebe dir morgen Bescheid, wie es gelaufen ist. Und das Mittagessen am Samstag steht noch, oder? Um deine Neuigkeit zu feiern. Richte Andre meine Glückwünsche aus.«

»Mach ich, Liebes. Und ja, Samstag steht auf jeden Fall. Um unsere beiden guten Nachrichten zu feiern.«

Wir legten auf.

Ich trat auf mein Bett zu, ließ mich auf den Rücken fallen und starrte die Risse in meiner Decke an. Leise konnte ich den Fernseher des Nachbarn über mir hören.

Greer war schwanger.

Wenn ich ehrlich war, hatte ich Angst davor, allein zurückzubleiben.

Wieder summte mein Handy, und als ich das Snapchat-Symbol sah, schlug mein Herz dreimal schneller.

Ich öffnete es.

Frische Tränen schossen mir in die Augen. Keine Ahnung, ob er die Wahrheit sagte, aber ich würde ein letztes Mal ehrlich sein.

Ich

Mir tut’s auch leid.

Ich bereute, vier Wochen lang meine emotionale Energie vergeudet zu haben.

Als das Icon anzeigte, dass die Nachricht eingegangen war, tippte ich auf sein Profil und bemerkte, dass ich seine Snapchat-Punkte nicht mehr sehen konnte. Er hatte mich von seiner Freundesliste gelöscht.

Tja, das war ziemlich endgültig.

Verzweifelt lag ich im Dunkeln und versuchte mir einen Reim darauf zu machen, ob ich traurig über diese neue romantische Enttäuschung oder nur mein Stolz verletzt war.

Wahrscheinlich beides.

»Morgen«, flüsterte ich vor mich hin. »Morgen wird alles besser.«

2. Kapitel

»Da sind Sie ja, Evie.« Patrick, mein Redakteur, hob den Arm, wedelte mit der Hand und bedeutete mir, ihm zu folgen.

Mein Chef hatte mich aus der Konzentration gerissen. Außerhalb meiner Arbeitszeit übernahm ich, um mein Einkommen aufzubessern, freiberuflich Bearbeitungen für Autoren, die ihre Bücher im Selbstverlag herausbrachten. Eine meiner Autorinnen schrieb Krimis. Einer meiner alten Freunde von der Northwestern arbeitete mit dem FBI zusammen, und ich hatte ihm vor drei Tagen ein paar Fakten geschickt, die ich überprüfen wollte. Die Autorin hatte sich ihre Informationen im Internet zusammengesucht, und ich wollte sichergehen, dass sie korrekt waren. Die Antwort meines Freundes hatte mich wenige Minuten, nachdem ich in die Redaktion gekommen war, erreicht. Ich war so fasziniert von seinen Informationen gewesen, dass ich ganz vergessen hatte, dass ich bei der Arbeit war.

Bei Patricks plötzlichem Auftauchen wurde mir vor Aufregung ganz schwindlig. Das Gefühl zerstreute den Rest meiner Melancholie. Rasch schritt ich durch das Großraumbüro, lächelte meinen Kollegen zu und ging zu Patricks Büro. Mein Schreibtisch stand vor dem Glaskasten, in dem er residierte.

Ich ging schneller und folgte ihm eilig nach drinnen.

»Machen Sie die Tür zu.«

Zwar konnten alle sehen, was sich in dem Büro abspielte, doch sobald die Tür geschlossen war, war der Glaswürfel schalldicht. Ziemlich cool. Ich schaute mich um. Patricks Schreibtisch stand in der Nähe der Fensterfront mit ihrem Ausblick über die East Washington Street in Downtown.

Überall standen Kisten mit den Habseligkeiten meines Chefs.

Ich arbeitete seit zehn Jahren für Patrick. Er war ein akzeptabler Vorgesetzter, der sich für meine Arbeit bedankte und mich zu schätzen schien. Wir hatten allerdings im Lauf der Jahre unsere Differenzen gehabt; größtenteils, weil er mich die drei Male, als bei der Zeitschrift eine Redakteursstelle frei geworden war, nicht unterstützt hatte.

Jetzt ging er in den Ruhestand, und da ich seine treue, langjährige Redaktionsassistentin war, hatten bei der Zeitschrift alle prophezeit, dass ich seinen Job übernehmen würde.

»Sie haben ja sehr früh zusammengepackt«, bemerkte ich. »Sie arbeiten doch noch sechs Wochen.«

Zerstreut nickte Patrick. »Setzen Sie sich, Evie.«

Sein Ton gefiel mir nicht. Langsam ließ ich mich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch sinken. »Ist alles in Ordnung?«

Wenn ich recht darüber nachdachte, war Patrick noch nie vor mir im Büro gewesen. Normalerweise fing ich jeden Tag mindestens eine Viertelstunde vor ihm an.

»Evie … Sie wissen, dass ich Sie für eine großartige Assistentin halte. Und Sie werden eines Tages eine verdammt gute Redakteurin abgeben … Aber die Chefetage hat beschlossen, einen erfahrenen Redakteur einzustellen. Junger Kerl, fünfundzwanzig, ausgebildeter Redakteur, arbeitet seit zwei Jahren in einem kleinen Verlag. Er fängt nächsten Montag an, damit ich ihn einarbeiten kann.«

Ich hatte das Gefühl, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen. »Moment mal … was?«

Mein Chef runzelte die Stirn. »Gary Slater. Er wird Ihr neuer Chef.«

Drehte sich der Raum wirklich um mich?

Oder war das nur der Zorn, der sich so heftig in mir zusammenbraute, dass ich ihn kaum beherrschen konnte? »Erfahrener? Ausgebildet?« Mit zitternden Beinen stand ich auf. Ich redigierte hier nicht nur seit sieben Jahren, sondern Patrick wusste genau, dass ich auch als freiberufliche Lektorin tätig war. Erfahren? »Ich habe einen Abschluss. Das wissen Sie genau.« Ich hatte die Stelle zwar mit einem Anglistikstudium angetreten. Aber ich hatte mich an der Graham School für Journalismus der Universität Chicago eingeschrieben und neben der Arbeit dort geschuftet, um den Abschluss zu machen. »Der Typ ist fünfundzwanzig. Ich mache diesen Job seit zehn Jahren, und die Leute wollen mir diesen Typen, der praktisch gerade vom College kommt, vor die Nase setzen?«

»Sprechen Sie leiser, Evie«, meinte Patrick tadelnd.

Mühsam beruhigte ich mich. »Soll das ein Witz sein?«

Er schüttelte den Kopf. »Leider nicht.«

»Und Sie.« Zutiefst enttäuscht verzog ich den Mund. »Haben Sie wenigstens für mich gekämpft?«

Patrick seufzte. »Natürlich. Ich habe erklärt, Sie hätten genug Erfahrung, aber sie wollten jemanden, der schon Redaktionserfahrung hat.«

»Ich habe Redaktionserfahrung. Und seit sieben Jahren redigiere ich Artikel, die eigentlich Sie hätten bearbeiten sollen. Aber das hat anscheinend nichts zu bedeuten, da mir das eine Anhängsel fehlt, das offenbar die Qualifikation eines Menschen erhöht – ein Schwanz!«

Mein Chef wurde blass. »Evie.«

War mir egal, dass ich ausrastete. Bei Reel Films gab es fünf Redakteure – keiner davon weiblich. Es gab nur eine Kritikerin. Und man brauchte nicht dreimal zu raten, welche Filme sie besprach.

Das war’s für mich, wurde mir klar.

»Ich kündige.«

»Evie.« Patrick schob seinen Stuhl zurück. »Ich weiß, dass Sie bestürzt sind, aber tun Sie nichts Unüberlegtes.«

»Unüberlegt?« Ich lachte laut, drehte mich um und öffnete seine Tür. »Seit zehn verdammten Jahren mache ich diesen Job, und das ist jetzt der Dank? Nein.«

Ich spürte die durchdringenden Blicke meiner Kollegen, doch ich ignorierte sie und warf meine gesamten Besitztümer in meine große Handtasche.

»Hören Sie doch mal auf, Evie.« Patrick trat neben mich.

Ich schloss meine prall gefüllte Handtasche, drehte mich um und starrte ihn aufgebracht an. Wir waren gleich groß und befanden uns auf Augenhöhe. »Ich hoffe, diese Zeitschrift, die in den Fünfzigerjahren steckengeblieben ist, geht den Bach runter, Patrick. Und was Sie betrifft … ein schöner Dank nach zehn Jahren.« Mit diesen Worten stürmte ich aus dem Büro, ohne jemanden anzusehen. Ich wollte nur noch weg von hier.

Als der Aufzug im Erdgeschoss hielt, zitterten meine Beine so heftig, dass ich schon dachte, sie würden mir einfach den Dienst versagen und ich der Länge nach auf den Marmorboden klatschen. Das wäre der perfekte Abschluss für die grotesken letzten vierundzwanzig Stunden gewesen.

Doch irgendwie schaffte ich es, aus dem Gebäude rauszukommen.

Ich lief einfach weiter.

Immer weiter.

Mir drehte sich der Kopf, als ich versuchte, mir einen Reim darauf zu machen, was ich jetzt mit meinem Leben anfangen sollte. Wie war ich bloß an diesen Punkt geraten – ohne vernünftige Zukunftsaussichten?

Als ich glaubte, meine Verzweiflung wäre bereits auf dem Höhepunkt, klingelte mein Handy. Ich zog es hervor und stellte fest, dass mein Stiefvater anrief. Ich liebte Phil, aber das war schlechtes Timing. Doch in Anbetracht dessen, dass er sich selten während meiner Arbeitszeit meldete – oder jedenfalls, wenn er vermutete, dass ich arbeitete –, fühlte ich mich verpflichtet, ranzugehen.

»Evie, Schatz, ich habe gerade in deiner Redaktion angerufen, und man hat mir gesagt, du hättest gekündigt.«

»Ja.«

»Warum hast du mir nichts davon erzählt?«

»Das ist … eine ziemlich neue Entwicklung.« Ich schaute mich um und stellte fest, dass ich mich im Millennium-Park befand, neben der Jay-Pritzker-Konzertmuschel. Eine Frau mit einem Sixpack rannte in Sportsachen an mir vorbei, und ein Typ kippte sich seinen Café Latte übers Hemd und begann, heftig zu fluchen.

Ich konnte mich nicht einmal daran erinnern, wie ich hergekommen war.

Ich stand kurz vor dem Überschnappen.

»… daher dachte ich, ich würde dich sofort anrufen«, sagte Phil gerade.

Was?

»Tut mir leid, Phil, was?«

»Deine Mutter«, erklärte er geduldig. »Ich habe eben mit ihr telefoniert. Ich hole sie nächsten Samstag aus der Klinik ab, und sie möchte, dass wir dich besuchen.«

Ich spürte, wie mein Magen sich überschlug, stolperte zur nächstbesten Bank und ließ mich darauf sinken.

Ich liebte meine Mom.

Aber das war jetzt eine schlechte Nachricht an einem ohnehin schon miesen Tag.

Ich würde es nicht ertragen, wenn sie mich noch einmal enttäuschte.

»Phil, ich kann im Moment nicht darüber reden. Ich muss Schluss machen.« Ich legte auf und hatte ein schlechtes Gewissen, weil Phil ein toller Kerl war. Aber ich konnte mich jetzt nicht auf meine Schuldgefühle konzentrieren.

Mein einziger Gedanke war, dass ich hier rausmusste.

Ich dachte an mein Geld, das auf mehreren Sparkonten lag; Geld von der Lebensversicherung, das ich nach dem Tod meines Vaters geerbt hatte. Einen kleinen Teil hatte ich für Studiengebühren ausgegeben, aber durch die Zinsen war es trotzdem eine stattliche Summe. Ich hatte das Geld zurückgelegt, um ein Haus zu kaufen; für den Tag, an dem ich endlich meinen verdammten Prinzen fand und eine Familie gründete.

Da mir das wie ein Traum vorkam, der niemals wahr werden würde, öffnete ich auf meinem Smartphone die Browser-App und tippte »Urlaub in England« ein. In Anbetracht dessen, dass ich keinen Vollzeitjob mehr hatte, war das idiotisch, und ich hätte mich wahrscheinlich darauf konzentrieren sollen, in Chicago eine neue Stelle zu finden. Außerdem bezweifelte ich, dass Patrick mir ein Empfehlungsschreiben ausstellen würde, sodass die Jobsuche viel schwieriger werden würde als üblich.

Doch in diesem Moment kam es mir nur darauf an, mein altes Leben hinter mir zu lassen.

Als Fan von klassischen Autoren – Jane Austen, Charles Dickens, Geoffrey Chaucer, Charlotte Brontë – stand England ganz oben auf der Liste der Orte, die ich in meinem Leben sehen wollte.

Ein wenig hektisch scrollte ich durch die Angebote, bis mein Blick an einem Link hängenblieb.

Much Ado About Books – Urlaub in einem Buchladen!

Die Shakespeare-Anspielung auf »Viel Lärm um nichts« brachte mich dazu, den Link anzuklicken.

Und als ich den Werbetext las, begannen meine Hände vor Aufregung zu zittern.

Much Ado About Books war eine kleine Buchhandlung in dem idyllischen Fischerdorf Alnster in Northumberland. Ich suchte danach und sah, dass es in Nordengland, nahe der Grenze zu Schottland, lag. Bei Much Ado About Books mietete man nicht nur die Wohnung über dem Buchladen, sondern die Besitzerin überließ einem auch die Geschäftsführung der Buchhandlung.

Ein Traumurlaub für eine Bücherfreundin.

Das könnte ich.

Ich könnte absolut aus meinem jetzigen Leben flüchten und einen Buchladen in einem kleinen englischen Dorf leiten, wo mich meine Sorgen und Nöte nicht erreichten. Und, bitte schön, jemand hatte diese Buchhandlung nach einem Shakespeare-Stück benannt. Das war Schicksal.

Anders konnte es gar nicht sein.

Keine Männer würden mir mehr Zweifel an mir einreden.

Kein Job mehr, in dem ich mich wie eine Versagerin fühlte.

Und mehr noch, ich könnte aus einem Leben flüchten, in dem mir das Gefühl vermittelt wurde, gescheitert zu sein.

Und ich würde auch nicht nur für zwei Wochen nach England fliegen.

Auf keinen Fall.

Mit zitternden Händen gab ich, nachdem ich die Vorwahl für Großbritannien nachgeguckt hatte, die Nummer ein, die in der Anzeige angegeben war. Es klingelte fünfmal, und dann ging eine Frau ran, die mit einem wundervollen englischen Akzent sprach.

»Much Ado About Books, was kann ich für Sie tun?«

»Ähm, ja, hallo, ich würde gern mit jemandem sprechen, bei dem ich einen Aufenthalt in dem Buchladen reservieren kann.«

»Oh … okay. Ja, ich bin die Besitzerin, Penny Peterson.«

In meinem Bauch erwachten Schmetterlinge zum Leben. »Hi, Penny, ich bin Evie Starling, und ich würde das Geschäft gern für einen ganzen Monat mieten. Ab nächsten Montag. Bitte sagen Sie mir, dass das möglich ist.«

3. Kapitel

Alnster, Northumberland

Wäre da nicht die etwas dunklere graue Linie am Horizont gewesen, hätte ich an meinem ersten Tag in England unmöglich erkennen können, wo sich Himmel und Meer trafen.

Und doch hatte ich nie etwas Schöneres gesehen als das Dorf am Hafen, in dem ich mich nun befand. Der Hafen selbst war klein; ein in die Küste eingeschnittener Halbkreis, dessen steinerne Mauern gekrümmt ins Meer ragten, bis sie beinahe zusammentrafen. Die Lücke dazwischen war gerade so breit, dass die kleinen Fischerboote durchfahren konnten, um das offene Meer zu erreichen.

Ein kleiner felsiger Strand führte zu einem Weg hinauf, hinter dem zur Linken eine niedrige Steinmauer eine Trennlinie bildete. Dahinter lag ein kleiner Garten neben dem anderen.

Der graue Tag wurde von einem Meer bunter Blumen und Pflanzen aufgehellt, die in den Gärten wuchsen. Jeder von ihnen hatte zwei schmiedeeiserne Törchen, die an einem Ende zum Hafen und am anderen auf die Straße führten. Ich vermutete, dass die Gärten zu den Reihenhäusern auf der anderen Straßenseite gehörten, denn kleine Schilder an den Toren kennzeichneten sie als Privatgrundstück.

Ich sah zu einem älteren Paar hinunter, das in einem über und über mit Blumenkübeln geschmückten Garten saß und aufs Meer hinausschaute, und überlegte, wie schön es sein müsste, so einen zu haben. Einen Ort, an dem man sitzen und den Hafen betrachten konnte, ohne dass Touristen in diesen Rückzugsort eindrangen.

Mein Blick schweifte zurück zum Meer, dabei schwankte ich ein wenig und stieß gegen den großen Koffer neben mir, den ich abgestellt hatte. Sobald das Taxi die idyllischen englischen Cottages passiert hatte und um die Kurve gebogen war, war das Meer am Horizont vor mir aufgetaucht … und da wusste ich es.

Ich wusste, dass ich hierhergehörte, und der Aufruhr, der seit meinem Abschied von Greer in mir geherrscht hatte, ließ endlich nach.

»Ich kenne dich besser, als du glaubst«, hatte Greer gestern Abend vor dem O’Hara-Flughafen erklärt und die Hände um meine Ellbogen gelegt. »Du hast das Gefühl, ich hätte dich im Stich gelassen, oder? Und jetzt drehst du durch und flüchtest nach England.«

Tiefe Sorge stand in ihrem Blick.

Schuldgefühle überkamen mich. »Nein, Greer. Ich liebe dich und wünsche mir nur, dass du glücklich bist …« Beschämt zuckte ich zusammen. »Okay, ich habe schon ein etwas komisches Gefühl dabei, dass du schwanger bist. Aber bei dem Baby geht es nicht um mich, sondern um dich und Andre. Ich kann nicht erwarten, dass alle mit mir auf der Stelle treten, nur weil mein Leben mit dreiunddreißig nicht so ist, wie ich mir das vorgestellt hatte.« Dann umfasste ich meinerseits ihre Arme. »Aber jetzt stehe ich nicht mehr still.«

Sie grub die Finger in meine Haut. »Und davonzulaufen ist die Lösung?«

»Ich weiß, dass es nach Flucht aussieht, und vielleicht ist es das momentan sogar. Aber ich habe darüber nachgedacht und beschlossen, dass es nicht dabei bleibt. Ich schaffe nur ein wenig Abstand zu meinem Leben in Chicago. Um eine andere Perspektive zu bekommen.«

»Andere Leute fliegen für ein paar Wochen nach Griechenland. Sie bezahlen nicht dafür, in England mitten im Nirgendwo den Laden von jemand anderem zu betreiben.«

Ich grinste über ihren trockenen Ton. »Ich bin nicht ›andere Leute‹.«

»Ich weiß.« Sie trat näher an mich heran, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Und deshalb liebe ich dich auch und habe … habe dieses schreckliche Gefühl, dass ich dich verlieren werde.«

Verständnis stieg in mir auf, und ich zog sie in eine feste Umarmung. Greer und ich hatten uns als Studienanfängerinnen am College kennengelernt. Wir waren seit fünfzehn Jahren befreundet, und sie hatte mir mehr als einmal erzählt, ich sei der einzige Mensch in ihrem Leben, bei dem sie darauf vertraute, dass er immer zu ihr stehen würde. Sie stammte aus einer zerbrochenen Familie, in der die Eltern ihre Kinder als Schachfiguren in ihrem Scheidungskrieg benutzt hatten. Ich hatte ebenfalls Familienprobleme, und das hatte uns zusammengeschweißt.

Doch auch ohne unsere Vergangenheit wären Greer und ich auf jeden Fall gute Freundinnen geworden. Es gibt einfach ein paar Menschen im Leben, denen man sich verbunden fühlt, und Greer gehörte für mich dazu. Bei unserem ersten Spaziergang über den Campus waren wir in freundschaftliches Schweigen verfallen. Wir hatten keinen Druck verspürt, verlegen vor uns hinzuplappern oder ständig Fragen zu stellen, um einander zu unterhalten. Wir hatten einfach wir selbst sein können. Wir schienen instinktiv gewusst zu haben, dass wir einander vollkommen vertrauen können.

Bei anderen Freunden und Freundinnen hatte es eine Weile gedauert, bis sich dieses freundschaftliche Schweigen und das Vertrauen eingestellt hatten. Aber bei uns war das sofort so gewesen.

Da war mir klargeworden, dass der Begriff »Seelenverwandtschaft« nicht nur für romantische Beziehungen galt. Ich wusste, dass man auch in einer Freundin eine Seelengefährtin finden konnte.

»Du wirst mich nie verlieren, Greer Bishop. Du bist meine Familie und die verdammte Liebe meines Lebens.«

Sie lachte, aber da sie gleichzeitig weinte, klang es zittrig. »Und du für mich.«

»Und bald …« Ich trat zurück, um auf ihren Bauch hinunterzusehen. »… werde ich Tante, und das kleine Baby Bishop wird auch die Liebe meines Lebens.«

Dankbar strahlte sie mich an. »Wirklich?«

Dass sie etwas anderes hatte denken können, ließ mich meinen Egoismus bitter bereuen. »Momentan habe ich eine komische Phase. Aber glaub keine Sekunde lang, dass ich dir nicht alles gönne, was dir Freude macht. Wenn das Andre und Baby Bishop sind, dann geht es mir gut damit, dass du bekommst, was du dir wünschst.«

»Ich wünsche mir das Gleiche für dich.« Betrübt lächelte sie mir zu. »Ich hoffe nur aufrichtig, dass du es hier findest und nicht viertausend Meilen weit weg.«

Ich lachte leise. »In vier Wochen bin ich zurück. Versprochen.«

»Nicht.« Greer nahm meine Hand und drückte sie. »Versprich nichts, was du nicht halten kannst.«

Sie befürchtete wirklich, dass ich in England bleiben könnte, aber mir kam das albern vor. Natürlich würde ich wieder nach Hause kommen. Doch ich konnte Greer nicht überzeugen. Daher blieb mir nichts anderes übrig, als sie fest zu umarmen und sie auf dem Straßenpflaster stehenzulassen. Wenn ich zurück wäre, würde sie sich schon wieder fangen. Einstweilen wollte ich meine vier Wochen in Nordengland genießen.

Sobald ich ausgeruht war. Im Flugzeug hatte ich noch Texte eines freien Autors, einer meiner treuen Kunden, redigiert und daher nicht geschlafen.

Jetlag war ein mieser Verräter.

Widerwillig wandte ich mich von der spektakulären Aussicht ab, nahm meinen Koffer und ging quer über die Straße auf die Reihenhäuser zu. Wie die Cottages hinter der Straßenbiegung waren sie aus Stein errichtet, aber ein Stockwerk höher. Die meisten hatten eine Vordertür und zwei der typisch englischen Schiebefenster, eins oben und eins im Erdgeschoss. Bei fast allen war der Dachboden ausgebaut, sodass aus dem mit grauem Schiefer gedeckten Dach ein Mansardenfenster hervorlugte.

Ein Haus war hellblau und das nächste ungestrichen, sodass das schöne naturbelassene Mauerwerk zur Geltung kam. Das daneben war weiß gestrichen und so weiter.

Am Ende der Häuserreihe befand sich ein frei stehendes Gebäude – ebenfalls aus Stein, aber neuer als die anderen und größer. Statt zwei kleiner Fenster hatte es zwei große; eins oben und eins unten. Über dem Fenster im Erdgeschoss hing ein Schild:

MUCH ADO ABOUT BOOKS.

Ich lächelte, zog meinen Koffer über den schmalen Gehweg an den anderen Häusern vorbei und blieb dann vor der Ladentür stehen. Anders als die massiven Holztüren der benachbarten Häuser hatte diese hier in der oberen Hälfte eine in den Rahmen eingelassene Glasscheibe, und dahinter hing ein Schild mit der Aufschrift GESCHLOSSEN.

Ich klopfte kräftig.

Ein, zwei Sekunden später sah ich, wie eine dunkelhaarige Frau hinter der Glasscheibe auftauchte. Sie lächelte, und dann hörte ich, wie der Schlüssel im Schloss gedreht wurde, und die Tür öffnete sich. »Evangeline?«

»Evie.« Trotz meiner Erschöpfung grinste ich.

»Ich bin Penny. Schön, Sie kennenzulernen.« Ihr englischer Akzent klang melodisch; anders als die Oberschicht-Aussprache in Downton Abbey und sogar anders als die Sprache der Schauspieler, die die Dienstboten darstellten. »Lassen Sie sich damit helfen.« Penny trat auf die Straße, nahm mir meinen Koffer ab und hievte ihn in den Laden, bevor ich sie daran hindern konnte.

Die Erschöpfung verlangsamte meine Reflexe.

»Er ist schwer«, erklärte ich verspätet und folgte ihr hinein. Penny wirkte robust, war aber etliche Zentimeter kleiner als ich. Und außerdem schätzte ich sie mindestens zwanzig Jahre älter, als ich es war, deshalb wollte ich nicht, dass sie sich mit meinem Gepäck den Rücken verrenkte.

»Sie bleiben schließlich vier Wochen; damit hatte ich gerechnet.« Wir blieben mitten im Laden stehen, und sie warf mir ein Lächeln zu. Sie sprach die Vokale anders, flacher aus, verschluckte die »g«s, und die letzten Silben ihrer Wörter klangen unbetont und kurz.

»Ihr Akzent gefällt mir.«

»Danke. Ich bin Geordie, aber ich wohne seit fast zwanzig Jahren hier, da ist mein Akzent ein wenig weicher geworden.«

»Was ist ein Geordie?«

Sie lächelte. »Jemand aus der Umgebung des Tyne-Flusses. Ursprünglich komme ich aus Newcastle upon Tyne.«

Vage ging mir durch den Kopf, wie nützlich es wäre, mich besser mit der Geografie von Nordengland auszukennen, aber das war gerade nicht meine oberste Sorge.

Müde. Bett. Schlafen.

»Die Luft hier ist sehr frisch.« Benommen vor Erschöpfung sah ich mich in dem Laden um. »Besonders gute Luft haben wir in Chicago nicht, aber das ist mir erst hier aufgefallen.« Hinten links im Raum befand sich eine schmale Theke. Davor standen kleine Auslagen mit Artikeln, wie Touristen sie kauften: Schlüsselanhänger, Figürchen und Süßigkeiten. Auf dem Sims des großen Fensters zur Straße waren Bücher ausgestellt, und davor befand sich eine Fensterbank, auf die sich Kunden setzen und entspannen konnten.

Gleich links von der Tür entdeckte ich einen kleinen Kamin, in dem kein Feuer brannte, und zu beiden Seiten davon standen hübsche altmodische Sessel. Daneben befand sich ein breites Regal mit Büchern. Ein Schild informierte darüber, dass es sich um Neuerscheinungen handelte.

Die rechte Seite des Ladens wurde von hohen Bücherregalen aus Eiche eingenommen, zwischen denen so viel Platz war, dass die Kunden bequem dazwischen durchlaufen konnten. Es war zwar ein kleiner Buchladen, doch am Kopfende jedes Regals war angegeben, welches Genre dort zu finden war: LIEBESROMANE, KRIMIS, LYRIK usw.

Genau wie ich beim ersten Blick auf die Online-Fotos gehofft hatte, erinnerte er mich an den kleinen Buchladen in meiner Heimatstadt, in den meine Eltern mich als Kind jeden Monat mitgenommen hatten. Dort durfte ich mir immer ein neues Buch aussuchen, oder sie bestellten eins, wenn der spezielle Titel, den ich mir wünschte, nicht auf Lager war.

Ein schmerzliches nostalgisches Gefühl flackerte in meiner Brust auf, während ich den Raum weiter auf mich wirken ließ.

Die Regale mit der Vorderseite zum Fenster stellten besonders empfohlene Bücher aus. Diese hier hatten die Geschichte Northumberlands zum Thema, es waren Sachbücher und Erzählliteratur über die Gegend.

»Bücher, Bücher, Bücher«, murmelte ich, als der Raum zu schwanken schien.

»Frische Seeluft tut gut«, meinte Penny und lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. Ihre Miene wirkte amüsiert. »Aber sie kann einen auch müde machen, wenn man nicht daran gewöhnt ist … Dazu noch der Jetlag, und ich kann mir nur zu gut vorstellen, wie gaperig Sie sich fühlen müssen.«

»Gaperig. Das ist ein schönes Wort.«

»Und heißt nichts weiter als ›müde‹, Liebes. Ich finde, wir sollten uns morgen den Laden genauer ansehen. Jetzt kommen Sie erst einmal an.«

Ich kann mich kaum erinnern, die schmale Treppe im hinteren Teil des Hauses hochgestiegen zu sein, oder daran, dass Penny mir die Wohnung gezeigt hätte. Ich weiß allerdings noch, dass sie mir erklärt hatte, sie habe mir in der Küche ein paar Lebensmittel, Milch, Tee und Kaffee hingestellt, was schrecklich nett war. Doch dann war sie schon wieder verschwunden.

Ich erinnere mich nur noch daran, wie ich meine Schuhe abgestreift hatte und mit dem Gesicht voran auf das erste Bett gesunken war, das ich fand.

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Penny war so nett, mir eine Nachricht zu hinterlassen.

Ich komme um elf, um Ihnen alles zu zeigen. Im Anchor gibt es ein wunderbares englisches Frühstück. Es öffnet um halb acht. Hoffe, Sie haben gut geschlafen. Penny

Ich hörte ihre Stimme in meinem Kopf und beschloss, dass das mein neuer Lieblingsakzent war.

Der Jetlag war übel, und ich war um fünf Uhr morgens aufgewacht. Nachdem ich Kaffee gekocht und von den Keksen geknabbert hatte, die Penny mir hinterlassen hatte, packte ich meinen Koffer aus und machte es mir dann im Wohnzimmer gemütlich. Der Raum war offen gestaltet und umfasste sowohl die Küche als auch einen Sitzbereich. Durch ein großes, modernes Fenster sah man aufs Meer hinaus.

In der Ecke des Zimmers stand ein Holzofen, doch es musste noch eine andere Heizquelle mit Zeitschaltuhr existieren, denn trotz des trüben Wetters war mir nicht kalt. Nachdem ich Greer eine Nachricht geschickt hatte, um ihr mitzuteilen, dass ich angekommen war, sah ich eine Stunde lang verträumt aufs Meer hinaus und sprang dann in dem Bad, das vom Schlafzimmer abging, unter die Dusche. Als ich wieder herauskam, hatte die Sonne den Regen vertrieben, und das Dorf prangte von den Blumen in den Gärten am Hafen bis zu den bunt gestrichenen Fassaden vieler Steinhäuser in leuchtenden Farben.

Ich beschloss, Pennys Empfehlung zu folgen, föhnte mir das Haar, zog schmal geschnittene Jeans und ein T-Shirt an und schnappte mir die Handtasche. Ich konnte das Frühstück kaum abwarten; mein Magen war zutiefst schockiert über die Zeitumstellung und knurrte mir schon seit Stunden etwas vor.

Vom Meer her wehte eine ziemlich starke Brise, doch ich genoss den Wind und schaute über den Hafen hinweg auf die andere Seite. Auf der rechten Seite des Hafens stand ein großes Steinhaus mit Garten. Davor entdeckte ich leere Bänke und Stühle. Ich vermutete, dass es sich um das Anchor handelte, daher ging ich an der Hafenstraße entlang und folgte ihr, als sie steil nach oben anstieg. Schon jetzt wimmelten ein paar Menschen herum, von denen ich, so wie sie ständig mit ihren Handys fotografierten, annahm, dass es sich um Touristen handelte. Als ich beiseitetrat, um zwei Autos vorbeizulassen, fiel mir ein weiterer Pub namens Alnster Inn auf. Er schien ebenfalls geöffnet zu haben, und ich fragte mich, warum Penny ihn nicht empfohlen hatte.

Als ich die Kuppe des steilen Hügels erreichte, lag der Eingang des Anchor vor mir. Sein kleiner Parkplatz war schon vollgestellt, was ich als gutes Zeichen deutete. Auch hier standen Bänke und Sitzplätze, auf denen man im Freien speisen konnte. Aber warum sollte man auf dem Parkplatz essen, wenn man auf der anderen Seite des Gebäudes die Aussicht genießen konnte?

Ich ging hinein und musterte entzückt die rustikale Einrichtung. Das Lokal hatte alles, was ich mir unter einem traditionellen englischen Pub vorgestellt hatte; niedrige Decken und dicke Holzbalken. An der linken Seite des Raums verlief eine ausladende Theke, die rechte Seite wurde von einer Wand geteilt. In dem vorderen Raum standen Tische und Stühle so dicht beieinander, dass zwischen ihnen kaum ein Durchkommen war, und ein gewaltiger Kamin nahm fast die gesamte Rückwand ein. Eine Bank verlief unter den kleinen, altmodischen Fenstern mit ihren Butzenscheiben und Eisenbeschlägen an der Außenwand entlang, und vor der Bank stand eine Reihe von Tischen. Der vordere Raum war belebt, und einige Gäste blickten bei meinem Eintreten von ihren Tellern auf.

Ein leises Bellen zog meine Aufmerksamkeit auf sich, und ich sah, dass die Gäste, die am Kamin saßen, Hunde bei sich hatten.

Ja, genau so hatte ich mir einen Pub vorgestellt.

Ich lächelte der blonden Frau hinter der Theke zu.

»Tisch für eine Person?«, fragte sie.

Ich nickte. »Bitte.«

»Im hinteren Raum sind ein paar kleinere Tische frei.«

Ich bedankte mich, schlenderte den schmalen Gang entlang, der an der Theke vorbeiführte, und betrat den zweiten Gastraum. Er erweiterte sich zu einem viel größeren, moderneren Raum, an dessen einem Ende eine Reihe von Türen in den Freiluft-Essbereich führte, den ich vom Hafen aus gesehen hatte. Ich entdeckte in der Nähe der Türen einen freien Tisch, setzte mich und seufzte angesichts der Aussicht glücklich.

Wie sich herausstellte, hatte ein englisches Frühstück nichts mit der Version zu tun, die ich zu Hause in Chicago gekostet hatte. Es war ungewohnt, aber letztendlich entschied ich, dass es mir schmeckte. Nachdem ich gegessen hatte, fühlte ich mich besser. Zögernd trank ich meinen Kaffee aus und trat an die Theke, um zu zahlen.

»Haben Sie eine Unterkunft in Alnster?«, erkundigte sich die Frau.

Ich brauchte einen Moment, um sie zu verstehen, denn sie sprach den Namen des Dorfs anders aus, als er geschrieben wurde. »Anster? Ich dachte, es hieße Alnster.«

Sie lachte leise. »Wenn es in dieser Gegend A-L-N buchstabiert wird, spricht man es normalerweise ›an‹ aus, mit einem stummen L. Und nur, um Sie noch weiter zu verwirren … Die Ws in Ortsnamen sind manchmal stumm.«

»Oh.« Dankbar lächelte ich ihr zu. »Na, da bin ich aber froh, das jetzt zu erfahren, bevor ich den Namen noch vor Kunden laut ausspreche.«

Sie zog die Augenbrauen hoch. »Ich habe mich im Much Ado About Books eingemietet«, erklärte ich daher.

Die Barkeeperin runzelte die Stirn. »Penny vermietet es noch immer?«

Verwirrt über die Frage zuckte ich die Achseln. »Sie hat es mir für vier Wochen überlassen.«

»Vier Wochen? Dann sehen wir uns bestimmt hier. Ich bin Milly Tait. Dieses Lokal gehört mir, zusammen mit meinem Mann Dexter.« Sie streckte mir die Hand entgegen, damit ich sie schüttelte.

Ich nahm sie. »Hi, Milly, ich bin Evie. Leben Sie schon lange hier?«

»Mein Granddad hat das Anchor vor fünfundsiebzig Jahren eröffnet. Damals war es nur eine Kneipe, aber Dex ist Profikoch und hat aus dem Lokal einen richtigen Gastropub gemacht.«

»Wie cool. Dann sind Sie hier groß geworden?«

»Geboren und aufgewachsen. Und woher in den Staaten kommen Sie?«

»Chicago.«

»Aha, eine Großstadtpflanze also?«, witzelte sie. »Da wird das Leben hier einen ziemlichen Tempowechsel bedeuten.«

»So etwas kann ich dringend gebrauchen.«

»Ich spüre, dass eine Geschichte dahintersteckt. Vielleicht kommen Sie ja heute Abend wieder und erzählen mir alles darüber.«

Ich hatte nicht gewusst, was ich von den Alteingesessenen erwarten sollte. Würden sie es übel nehmen, wenn Touristen kamen und einen ihrer Läden betrieben, sich gleichgültig zeigen oder solche Gäste freundlich aufnehmen? Ich war froh darüber, dass Milly so nett war.

»Sehr gern.«

Nachdem ich gezahlt und mich von Milly verabschiedet hatte, schlenderte ich in dem kleinen Dorf umher. Der Buchladen lag ganz am Ende des Küstensaums. Dahinter standen noch ein paar Häuser, aber dann war die Straße zu Ende, und die Felskuppen begannen. An den Klippen entlang verlief ein Weg, der im Laufe der Jahre ausgetreten worden war. Daher beschloss ich, mir irgendwann Zeit zu nehmen und ihn einzuschlagen. Doch das Zentrum von Alnster befand sich auf der anderen Seite des Dorfs, wo auch das Anchor lag. Dort standen auch das Alnster Inn, eine Poststelle, ein Lebensmittelladen, eine Metzgerei, eine Bäckerei, ein Andenkenladen, ein Café und eine Kunstgalerie, die auch Schmuck verkaufte. Anscheinend lagen immer zwei Ladenlokale in einem Gebäude, und zwischen den Häusern verliefen kleine Gassen. Ich schlug eine der kopfsteingepflasterten Nebenstraßen ein und entdeckte am anderen Ende idyllische, malerische Cottages.

Wieder auf der Hauptstraße angekommen, ließ ich den Ortskern hinter mir, und das Dorf verbreiterte sich zu einer Neubausiedlung. Hier wirkten die Häuser nicht so malerisch, aber sie hatten Seeblick. Oberhalb der Sanddünen lag auf der anderen Straßenseite ein Spielplatz.

Ich folgte dem sandverkrusteten Gehweg, der an den Häusern entlangführte, bog um eine Kurve und erkannte, dass die Siedlung weit am Ufer entlangreichte. Ich entdeckte zwar eine kleine Grundschule, aber nicht viel mehr, und schloss daraus, dass die Kinder, sobald sie eine weiterführende Schule besuchten, wohl mit dem Bus in eine nahe gelegene größere Stadt fahren mussten.

Dann ging ich zurück zur Hauptstraße und hatte gerade das Anchor hinter mir gelassen, als ein Hund an mir vorbeischoss und mich abrupt von der Betrachtung des Dorfs ablenkte. Als ich ihn sah, stockte mir der Atem, und ich lief ihm mit klopfendem Herzen nach.

»Duke?« Spontan kam mir der Name über die Lippen, obwohl ich wusste, dass das unmöglich war.

Taumelnd blieb ich stehen, als ich die große schwarze, elegante Deutsche Dogge entdeckte, die mit der Nase einer unsichtbaren Spur auf dem Gehweg folgte. Sie war ein Ebenbild meines Hunds Duke. Wir hatten Duke aus dem Tierheim geholt, als er ein Jahr alt gewesen war, und ihn gehabt, bis er mit neun an Altersschwäche gestorben war. Wir hatten ihn nur drei Monate nach dem Tod meines Vaters zu uns genommen, und Duke war kurz nach meinem fünfzehnten Geburtstag gestorben. Sein Tod hatte mir das Herz gebrochen und viele Erinnerungen wieder geweckt. Ich hatte das Gefühl gehabt, meinen Dad noch einmal zu verlieren.

»Shadow!«, brüllte eine Männerstimme hinter mir.

Ich wollte mich gerade zu der Stimme umdrehen, als die Dogge der Spur, die nur sie wahrnahm, mitten auf die Straße folgte.

Direkt vor der uneinsehbaren Kurve vor dem Hügel.

Unwillkürlich setzte ich mich wieder in Bewegung.

»Komm her, Shadow, Junge!«

Als ich das Motorengeräusch eines Autos hörte, beschleunigte ich meine Schritte. Plötzlich hob die Dogge den Kopf und sah in meine Richtung. Dann tauchte das Auto auf. Ohne weiter nachzudenken, rannte ich los und behielt sowohl den Hund als auch den Wagen im Blick.

Das Auto bremste nicht ab!

Das Herz schlug mir bis zum Hals. Ich stürzte auf die Straße, packte die verblüffte Dogge am Halsband und zerrte sie hinter mir her auf die andere Straßenseite. In letzter Sekunde blieb ich mit dem Fuß an etwas hängen und knickte mit meinem linken Knöchel ein.

Ich schlug lang hin.

Schmerz fuhr durch meine Knie und meine linke Hand, und ich schüttelte benommen den Kopf.

Als ich ein Schnüffeln an meinem Ohr wahrnahm, hob ich den Kopf und stieß gegen die kalte, feuchte Nase der Dogge. Der Hund sah mit gesenktem Kopf auf mich herunter und schaute mir fragend in die Augen, da bemerkte ich, dass ich ihn immer noch am Halsband festhielt.

»Herrgott, Shadow, jetzt sieh dir an, was du angestellt hast«, sagte eine tiefe Männerstimme in der Nähe. »Alles in Ordnung bei Ihnen?«

Ich drehte mich auf die Seite und wandte mich der Richtung zu, aus der die Stimme kam, weil ich davon ausging, dass ich wohl gemeint war. Ich legte den Kopf zurück, um hochzublicken.

Blinzelnd sah ich in den hellen Morgen auf und fragte mich kurz, ob das Auto mich überfahren hatte und ich im Himmel war.

Denn der schönste Mann, den ich je gesehen hatte, schaute auf mich herunter.

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