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Aus nächster Nähe

hier erhältlich:

Das Leben war nicht immer gut zu Nessa Donati. Doch inzwischen konnte sie sich ihr eigenes kleines Glück aufbauen. Mit ihrem Mann John, ihrem Sohn Daltrey und dem Zurücklassen ihrer Vergangenheit. Doch plötzlich verschwindet John, und die Polizei befragt sie als Verdächtige. Kurz darauf beginnen die Attacken: erst im Internet, dann darüber hinaus. Sie fühlt sich verfolgt. Wer ist es, der sie mit ihren Geheimnissen quält? Und wie weit wird er gehen?


  • Erscheinungstag: 05.02.2018
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959676915
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Chloe

1. KAPITEL

Dienstag, 31. Mai

Nessa Donati würde ihr brandneues Auto wieder verkaufen müssen, und das nur deshalb, weil der Rückspiegel so angebracht war, dass sie aus dem Augenwinkel ständig ungewollt ihr eigenes Spiegelbild sah, wenn sie etwas vom Rücksitz holte. Normalerweise bereitete sie sich darauf vor, wenn sie in eine spiegelnde Oberfläche schaute. Geschah es aber unvermittelt, sah sie unweigerlich das enttäuschte Hexengesicht ihrer Mutter.

Nicht, dass ihre Mutter hässlich gewesen wäre. Genau genommen war ihre Mutter schöner, als Nessa jemals zu sein hoffen durfte. Nein, ihre Mutter hatte sie immer als Spiegel benutzt, ohne Nessa selbst je richtig wahrzunehmen.

Deshalb musste der brandneue schwarze Chrysler Pacifica wieder weg.

Kurz vor Sonnenuntergang parkte sie den Wagen am Crestview Drive unweit der Randolph Bridge, die nicht nur über den Big Blue River führte, sondern auch über die Nordspitze des Tuttle Creek Lake. Es war der letzte Stopp am Ende des viertägigen Campingausflugs, den Nessa mit ihrem dreijährigen Sohn Daltrey und ihrem Wheaten Terrier Declan MacManus unternommen hatte.

Sie warf einen prüfenden Blick auf Daltrey, der im Kindersitz schlief, mit offenem Mund nach Steuerbord geneigt. Sie konnte ihn ruhig ein paar Minuten allein lassen. Sie war froh, ihm nicht erklären zu müssen, was sie vorhatte. Sie kam sich auch so schon töricht genug vor.

Nessa und Declan MacManus stiegen aus dem Pacifica. Der Hund preschte sofort los, während Nessa noch die Tür verriegelte.

Sie ging die vielleicht hundertfünfzig Meter zum Flussufer unter der Brücke. Ab und an sauste oben ein Auto vorbei. Dann hörte sie das Geräusch, wenn die Reifen über die Nähte im Asphalt rollten. Nessa stand da und beobachtete den scheinbar gemächlich dahinfließenden Fluss, bis plötzlich in halsbrecherischem Tempo ein Ast vorüberrauschte. Declan MacManus schnüffelte aufgeregt herum und hielt jedes Mal inne, wenn er ein neues Objekt entdeckte und es markierte, indem er kurz das Bein hob.

Nessa sah sich um, um sich zu vergewissern, dass sie allein war, dann griff sie in die Tasche und holte den zwanzig Zentimeter langen Zopf ihres Ehemanns John heraus. Er hatte ihn sich vor ihrer Hochzeit abgeschnitten. Fünf Jahre war das nun her. Die ganze Zeit über hatte sie den Zopf in einer Schatulle aufbewahrt und sich nie träumen lassen, dass dieser Tag je kommen würde. Sie schaute zum Himmel auf, dann wieder aufs Wasser und entsann sich der vielen schönen Stunden, die sie und John am Fluss verbracht hatten. Es war der passende Ort, um sich von seinem Haar zu trennen.

Das Wasser umspülte ihre Tennisschuhe, während sie ausholte und den Zopf fortschleuderte. Sie beobachtete, wie er in hohem Bogen durch die Luft flog, mit einem kleinen Platschen ins rauschende Wasser fiel und verschwand. Sie sah noch einen Moment lang hin und weinte ein bisschen. Sie brauchte dieses Abschlussritual, um ihr Leben fortführen zu können. Es war, als hätte sie seine Asche verstreut. Nur dass John nicht tot war. Noch nicht.

Nessa trottete zum Auto zurück, hinter ihr tollte Declan MacManus herum. Sie entriegelte und öffnete die Tür, und der Hund sprang hinein und ließ sich auf dem Beifahrersitz nieder. Sie sah, dass sich Daltrey während ihrer Abwesenheit nicht gerührt hatte.

Nessa startete den Motor, legte den Gang ein und fuhr heimwärts.

Vierzig Minuten später parkte sie den Wagen in der zur Garage umgebauten Scheune hinter dem Haus und beschloss, die Campingausrüstung erst am nächsten Morgen auszuladen.

Declan MacManus sprang aus dem Auto und raste los, hielt hechelnd auf die Nebengebäude zu, auf die Hopfenstöcke und den angrenzenden Wald, während Nessa nach hinten kletterte und mit den Gurten an Daltreys Kindersitz rang. Sie hob den Jungen heraus und trug ihn ins Haus, geradewegs nach oben in sein Kinderbett. Sie zog ihm die Sandalen aus und küsste seine Füßchen, ehe sie ihn behutsam zudeckte. Gut. Daltrey würde heute nicht mehr aufwachen, er war geschafft. Sie ließ die Zimmertür angelehnt, ging nach unten und verließ durch die Hintertür das Haus, um ihren Koffer aus dem Pacifica zu holen.

Es war dunkel geworden, und der Wald war erfüllt vom Summen der Spätfrühlingsinsekten. Als sie die unterste Stufe der Verandatreppe erreichte, sah sie Declan MacManus zusammengerollt vor dem Nebengebäude liegen, das sie das Bootshaus nannten. Als er sie bemerkte, sprang er auf und bellte in ihre Richtung. Nessa verlangsamte ihre Schritte – warum bellte der Hund? –, aber sie ging weiter zur Garage und holte das Gepäck. Als sie wieder herauskam und die Garagentür schloss, bellte der Hund erneut.

Nessa blieb stehen und schaute ihn an, und er schaute erwartungsvoll zurück.

Dann bemerkte sie es. Das Schloss in der Holztür des Bootshauses war verschwunden. Stattdessen prangte dort ein splitteriges Loch, als hätte ein Riese seine Riesenfaust ins Holz geschlagen.

Nessa erstarrte. Ihr stockte der Atem.

Sie stellte den Koffer ab, und nach einem unschlüssigen Moment zog sie das Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer.

Marlon Webb sagte nicht Hallo, sondern nur »Habe gerade einen Studenten da«. Auf diese Weise pflegte er kundzutun, dass man ihn nur wegen eines sehr spezifischen Notfalls stören dürfe.

»Ruf mich zurück«, flüsterte sie. »Vielleicht sollte ich dieses Kontaktverbot doch beantragen.«

2. KAPITEL

Das Herz schlug Nessa bis zum Hals, das Blut rauschte ihr in den Ohren. Sie schaute über die Schulter zum Haus zurück, dann wieder zur beschädigten Tür. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. War John im Bootshaus, beobachtete er sie in diesem Augenblick durch das Loch in der Tür? Wollte er warten, bis im Haus die Lichter verloschen, um dann bei ihr einzubrechen?

Wie high war er?

Fragen über Fragen, keine Antworten.

Die Polizei anrufen? Würg. Wieder endloser Papierkram. Wieder zwei vergeudete Stunden wegen unbedeutender Details. Aber wenn ihr Mann tatsächlich auf Crack war und einen Tobsuchtsanfall bekam, würde er sie womöglich mit dem Gegenstand angreifen, mit dem er das Türschloss herausgeschlagen hatte.

Verdammt.

Sie kehrte ins Haus zurück und verriegelte die Tür. Wählte 911, ihre derzeit meistbenutzte Telefonnummer. Ihr schien, als hätten die Wahltasten 9 und 1 schon leichte Vertiefungen.

»Was für einen Notfall melden Sie?« Der mechanische, beinahe gelangweilte Tonfall der Telefonistin ärgerte Nessa.

»Bei uns gab es wieder einen Einbruch«, sagte sie in den Hörer. Das entnervte Seufzen in ihrer Stimme erfüllte sie mit Selbstverachtung.

»Wir schicken einen Streifenwagen. Soll ich am Apparat bleiben, bis er eintrifft?«

Oh, das wäre wirklich lieb von Ihnen, dachte Nessa. Ihre warme, tröstende Stimme wird mir zweifellos helfen, die nächste grauenvolle Konfrontation mit meinem Ex durchzustehen. Aber das war natürlich unfair – die Frau tat nur ihren Job. Nur wäre es zu viel verlangt, ein bisschen Anteilnahme zu zeigen, etwas mitfühlender zu sein?

Nessa ging in die Küche und stützte sich am Rand der Spüle ab, den Blick auf das Bootshaus gerichtet.

Aus ihrem Telefon tönte »I’m Stuck in a Condo (with Marlon Brando)« von den Dickies, der Klingelton für Marlon.

»Hallo?«

»Es ist schlimm, immer recht zu behalten«, sagte er.

Nessa lachte. Sie hatte jetzt seine volle Aufmerksamkeit, was ihr für gewöhnlich etwas zu intensiv war, etwas zu tiefschürfend. Marlon, Ende dreißig, Maschinenbau-Professor, war während seiner Promotion alkoholabhängig geworden. Wodka war die Droge seiner Wahl gewesen, und nach einem beinahe tödlichen Autounfall unter Alkoholeinfluss hatte er sich mit sechsundzwanzig in eine Entzugsklinik begeben müssen. Er war jetzt seit zehn Jahren trocken und seit dreien Nessas Sponsor bei den Anonymen Alkoholikern. Sie hatten sich auf Anhieb gut verstanden, obwohl man es bei der Organisation nicht gern sah, wenn Betreuer und Betreuter unterschiedlichen Geschlechts waren.

»Er ist ins Bootshaus eingebrochen«, sagte Nessa und hoffte, die Polizeisirene, die jeden Moment ertönen musste, würde Daltrey nicht aufwecken; sie wollte ihn unbedingt vor dem Chaos abschirmen, das ihn umgab.

»Ist John auf dem Grundstück? Soll ich rüberkommen?«

»Nein, danke«, sagte Nessa. »Die Polizei ist unterwegs.«

»Du hast meine erste Frage nicht beantwortet.«

»Die Antwort lautet, ich fürchte ja.«

Sie füllte Wasser in den Teekessel und stellte ihn auf den Herd.

»Ich will ja nicht sagen, ich hätte dich gewarnt«, sagte Marlon. »Aber mir war von Anfang an klar, dass es so kommen würde. Du hättest dir die Unterlassungsverfügung besorgen sollen, sobald du ihm den Laufpass gegeben hast.«

»Ich weiß. Ich hatte keine Lust auf eidesstattliche Erklärungen, Gespräche mit der Polizei und Anwälten und den ganzen Mist. Ich wollte einfach, dass er von meinem Grundstück und aus unserem Leben verschwindet – aus meinem Leben.«

Traurig schaute sie aus dem Fenster über der Spüle auf die zwanzig Hektar Hopfenstöcke hinaus. Die Reben waren Teil der Geschäftsidee gewesen, die John verfolgt hatte, ehe er vor drei Wochen zum dritten – und für sie letzten – Mal rückfällig geworden war. Bis dahin hatten die Reben das Versprechen eines Neuanfangs versinnbildlicht, eines neuen Ziels. John hatte die Idee gehabt, Hopfen für die lokalen Bierbrauer anzubauen. Nessa hatte klargestellt, dass dieses Projekt sein Baby war. Sie selbst war voll ausgelastet mit ihrem Blog und ihrer Radiosendung. Nun aber musste sie jemanden anheuern, der sich um den Hopfen kümmerte, oder die Pflanzen würden verfaulen. Allein darüber nachzudenken machte sie müde.

»Du nimmst das besser gleich morgen in Angriff«, sagte Marlon. »Ich bezweifle, dass es Johns letzter Überraschungsbesuch war.«

»Mach ich«, sagte sie. Sie zögerte. »He, Marlon. Bitte, deine ehrliche Meinung. Ich habe doch das Richtige getan, oder?«

»Natürlich«, sagte Marlon. »Wenn jemand Crack bei dir raucht – egal ob es ein Landstreicher ist, dein Mann oder der Papst – und nebenan sitzt dein kleines Kind, dann schmeißt du ihn raus.«

»Ich habe ihm drei Chancen gegeben«, sagte sie.

»Ja. Was mehr als großzügig war.«

»Warum fühle ich mich dann so schuldig?«

»Weil du ein Herz hast.«

»Ihm zufolge nicht.«

»Unsinn«, sagte er. »Das ist eine Ausflucht. Man kann die Botschaft überbringen, verinnerlichen muss der Süchtige sie selbst.«

Nach sechs Jahren bei den Anonymen Alkoholikern kannte sie diesen Aphorismus aus dem Zwölf-Schritte-Programm längst auswendig – und all die anderen auch –, so wie andere Leute den Text der Rocky Horror Picture Show, aber es tat ihr gut, diese Worte von jemandem zu hören, der seit über einer Dekade trocken war.

»Anders gesagt, es ist nicht deine Schuld«, meinte er. »Du hast John nicht zu den Drogen gebracht. Nicht du bist dafür verantwortlich, dass er clean wird, sondern er allein. Du musst dich vorrangig um dich selbst kümmern – und um deinen Sohn.«

»Ich weiß«, erwiderte sie.

Sie schaltete den Herd ein, nahm einen Becher aus dem Schrank und legte einen Teebeutel hinein.

»Halte mich auf dem Laufenden, in Ordnung?«, sagte Marlon. »Und bewahre die Ruhe. Vergiss nicht, was wichtig ist. Nichts ist so schlimm, dass ein Drink es nicht noch schlimmer machen würde, stimmt’s? Geh zu den Treffen.«

»Mach ich – und du mach weiter, was immer du tust, wenn du mich nicht gerade aufmunterst.«

»Ich muntere dich nicht auf. Das erledigt Gott. Vergiss das nicht.«

Marlon verabschiedete sich und legte auf. Sie wandte sich vom Fenster ab und erschrak.

Vor ihr stand Daltrey und schaute aus seinen großen, braungrauen Augen ernst und wachsam zu ihr auf. Er war fast vier und hatte noch immer nicht angefangen zu sprechen.

Was hatte er gehört? An seiner Miene konnte sie es nicht ablesen, denn selbst wenn sie ihm eine Clownsnummer vorgespielt hätte, hätte er sie genau so angesehen. Sein Gemüt war das eines ernsthaften, gebildeten, mittelalten Mannes, dessen Gedanken vornehmlich um den Plastikmüll in den Ozeanen und das Loch in der Ozonschicht kreisten. Nur deshalb war sie froh, dass er noch nicht sprechen konnte, denn sie hatte keine Antworten auf die Fragen, die er ihr dann unweigerlich stellen würde und die bereits jetzt in seinem Blick lagen.

Mit dem Daumen tippte er sich zweimal an die Stirn, Gebärdensprache für »Daddy«.

Sie hob ihn hoch; sein strammer, kompakter kleiner Körper war viel schwerer, als er aussah. Sie drückte ihn an sich und küsste sein Haar. »Nein, das war nicht Daddy. Warum bist du aufgestanden?«

Er nahm ihr Gesicht in die Händchen und drückte seine Stirn an ihre.

»Es ist längst Schlafenszeit«, sagte sie.

Er nickte und rieb sich die Augen. Nessa trug ihn nach oben, legte ihn wieder ins Bett, gab ihm einen Kuss und schloss die Tür.

Er konnte schon selbstständig auf die Toilette gehen und hasste es, wenn er sich schmutzig machte. Er sprach nicht, aber ebenso wenig weinte oder brüllte er. Keine Wut- oder Trotzanfälle, keine epischen Sauereien. Manchmal lachte er sogar – für Nessa war es der schönste Klang der Welt, den selbst der größte Goldschatz nicht aufwiegen konnte.

Als sie die Stufen hinabstieg, hörte sie die Polizeisirene und sah die roten und blauen Lichter eines Streifenwagens.

Nessa atmete tief durch und ging durch die Hintertür nach draußen.

Declan MacManus jaulte, bis die Sirene verstummte. Dann bellte er, und als zwei uniformierte Polizisten ausstiegen und auf sie zugingen, sträubte sich sein Nackenfell. Nessa packte sein Halsband, während Declan knurrend versuchte, die Besucher zu beschnüffeln.

»Guten Abend, Mrs. Donati«, sagte einer der Polizisten.

»Hi«, sagte Nessa und versuchte, die Namensschilder der beiden zu entziffern.

Officer R. Michaels. Officer B. Watt. Genau.

Sie waren schon einmal hier gewesen, in der Woche, nachdem sie John vor die Tür gesetzt hatte, an dem Abend, als er im Vorgarten gestanden und herumgebrüllt hatte wie Stanley Kowalski in Endstation Sehnsucht.

Michaels und Watt traten näher und hielten Declan die Hände entgegen, damit er an ihnen schnüffeln konnte. Er wedelte mit dem Schwanz, erkannte ihren Geruch, und Watt kraulte ihn kurz hinterm Ohr. Nun wollte Declan alle zum Bootshaus führen und sprang aufgeregt vor den Polizisten und Nessa herum.

»Also, was ist passiert?«, fragte Watt.

»Das Schloss am Bootshaus wurde zerstört«, sagte Nessa.

»Ist er da drin?«, fragte Michaels und deutete auf das kleine Gebäude.

»Ich weiß nicht. Ich habe nicht nachgeschaut, sondern bei Ihnen angerufen.«

Michaels nickte, zückte seine Taschenlampe und schaltete sie ein.

»Wollen Sie nicht lieber im Haus warten?«, fragte Watt und zog seine Waffe.

Sie ging auf die Hintertür zu und pfiff nach Declan, aber er ignorierte sie. Nessa musste zurückkehren und ihn am Halsband ins Haus zerren. Sie verschloss die Tür und schaute aus dem Fenster, während der Hund neben ihr traurig jaulte, weil er die ganze Action verpasste.

»Polizei«, rief Michaels und ging auf das Bootshaus zu, das Taschenlampenlicht auf die Tür gerichtet. Watt zielte mit der Waffe darauf.

Nessa verkrampfte sich. Man konnte unmöglich vorhersehen, was John tun würde, wenn er auf Crack war und wütend bis in die Haarspitzen. Vielleicht hielt er noch den Gegenstand in der Hand, mit dem er die Tür aufgebrochen hatte, und würde versuchen, damit den Polizisten den Schädel einzuschlagen.

»Ist da jemand?«, rief Watt. Er hielt die Waffe mit beiden Händen und nickte Michaels zu, der die Bootshaustür aufstieß und mit der Taschenlampe hineinleuchtete.

Zähneknirschend beobachtete Nessa, wie die Männer hineingingen.

Nach einer scheinbaren Ewigkeit ging im Bootshaus das Licht an. Officer Michaels kam heraus, von hinten in Helligkeit getaucht.

Nessa öffnete die Tür.

»Niemand drin«, rief der Polizist. »Möchten Sie rauskommen und nachschauen, ob etwas fehlt?«

Auf zittrigen Beinen ging sie zum Bootshaus, erleichtert und gleichzeitig enttäuscht. Drinnen schnüffelte Declan an all den Stellen herum, wo zweifellos bis vor Kurzem John gestanden hatte.

Sie schaute sich um, aber alles sah aus wie immer. Johns Old-Town-Otca-16-Kanu hing fest verzurrt an der Decke. Sie hatte geglaubt, er würde es mitnehmen und verkaufen, denn es war einer ihrer wertvollsten Gegenstände. Die Werkzeugbank war unberührt.

Aber irgendetwas war anders, als hätte jemand die Luft ausgetauscht. Es roch falsch. Statt der gewohnten muffigen Geruchsmischung aus altem Holz und modernem Bodenbelag nahm sie einen anderen Geruch wahr. Einen Mix aus bitter und sauer. Außer der aufgebrochenen Tür war der Geruch der einzige Hinweis darauf, dass jemand hier gewesen war, der nicht hergehörte.

Beinahe hätte sie es erwähnt, aber sie hielt den Mund. Die beiden Polizisten mussten nicht noch mehr Unsinn von ihr hören. Schon jetzt mussten sie sich vorkommen, als würden sie hier draußen ständig auf Geisterjagd geschickt.

»Scheint alles in Ordnung zu sein«, sagte Nessa.

Watt nickte teilnahmsvoll. »Ich hole schnell mein Klemmbrett, dann füllen wir das Formular aus.«

»Nehmen Sie die Hintertür«, sagte sie. »Ich prüfe kurz ein paar Sachen im Haus, dann treffen wir uns in der Küche.«

Drinnen stieg Nessa die Treppe nach oben, ging ins Badezimmer und öffnete den Arzneischrank. Percocet und Vicodin waren noch da. Das Geldscheinbündel, das sie in der Kommode zwischen ihrer Unterwäsche aufbewahrte, war ebenfalls noch an Ort und Stelle. Wenigstens war er nicht ins Haus eingedrungen, sonst würden diese Dinge zweifellos fehlen.

Nachdem die Polizisten ihre Aussage aufgenommen hatten und verschwunden waren, zog Nessa ihren Schlafanzug an, wusch sich das Gesicht und putzte sich die Zähne. Aber sie wusste, dass sie nicht würde einschlafen können, deshalb ging sie wieder nach unten und holte ihre E-Zigarette. Es war das einzige Laster, das sie sich dieser Tage noch gestattete; normalen Zigaretten hatten sie beide abgeschworen, als sie mit Daltrey schwanger geworden war.

Kurz nach Johns Abgang hatte sie ein Geschäft entdeckt, das früher vermutlich ein Headshop gewesen war, nun aber E-Zigaretten und das nötige Zubehör verkaufte. Ein Verkäufer mit tätowiertem Hals und Tunnels in den Ohrläppchen hatte ihr erklärt, wie so ein Gerät flüssiges Nikotin verdampfte, dann hatte er begonnen, ihr die verschiedenen Geschmacksrichtungen aufzuzählen. »Es gibt Piña Colada, Himbeere, Lemon-Lime …«

»Ich möchte einen Tabakgeschmack«, hatte sie gesagt.

»Aber wir haben …«

»Ich möchte keine Limetten und kein Vanilleeis rauchen. Ich möchte Tabak rauchen, und flüssiges Nikotin mit Tabakgeschmack scheint mir nach richtigen Zigaretten das Nächstbeste zu sein.«

»Alte Schule, was?«, hatte er mit leiser Verachtung gesagt, ihr aber dennoch das Gewünschte verkauft.

Nun saß sie im Dunkeln, nuckelte an ihrer E-Zigarette und schaute hinaus auf ihr wunderschönes Anwesen, das nach dem schweren Frühlingsregen dunkelgrün im Mondschein schimmerte. Sie und John hatten das Haus, die Nebengebäude und die fünfundzwanzig Hektar Land gekauft, nachdem zwei Dinge geschehen waren: Nessas Musik-Blog, Unknown Legends, hatte den ersten finanzstarken Sponsor gewonnen, und Altair Satellite Radio hatte bei ihr angefragt, ob sie nicht eine Sendung mit dem gleichnamigen Titel machen wollte, in der sie nachts zweimal wöchentlich obskure Songs präsentieren konnte. Natürlich hatte sie das Angebot angenommen. John hatte zu der Zeit eine Arbeitsstelle als Wartungstechniker am Manhattan Regional Airport gehabt – der Job, den er am längsten gehalten hatte –, deshalb hatten sie ihre erste Hypothek aufnehmen können.

Sie hatten große Pläne gehabt, als sie neun Monate zuvor das Land und das Haus gekauft hatten. Sie und John waren übereingekommen, dass er zu Hause bleiben und sich um Daltrey und den Hopfen kümmern würde. Er würde die Nebengebäude renovieren und am Haus einen Anbau hochziehen. Sie würden ein zweites Kind bekommen. Aber dann wurde John depressiv und reizbar. Begann mit Nessa zu streiten. Verschwand des Öfteren unter dem Vorwand, Farmgeräte kaufen zu wollen, kehrte aber jedes Mal mit leeren Händen zurück.

Dann erwischte sie ihn mit seiner Glaspfeife und einem Crack-Brocken im Bad. Er hatte das Gift in ihr Zuhause gebracht, wo ihr gemeinsamer Sohn schlief, das Gift, das er nach seinem letzten Rückfall vor vier Jahren niemals wieder hatte anrühren wollen; er hatte es ihr geschworen. Deshalb warf sie ihn ein letztes Mal raus.

»Ich würde Daltrey lieber tot sehen als bei dir!«, hatte er gebrüllt, während er neben seinem Truck stand und zusah, wie Nessa Müllsäcke mit seinen Klamotten auf die Ladefläche warf. Es waren die Drogen, die aus John sprachen und ihn in eine Bauchrednerpuppe verwandelten, denn er vergötterte seinen Sohn, liebte ihn über alles, würde nötigenfalls für ihn sterben.

»Du bist eine Scheißmutter«, hatte John weitergezetert. »Es ist deine Schuld, dass er noch nicht spricht. Du hast ihn impfen lassen.«

Nicht das schon wieder. Wegen der Drogen fiel er auf jede Verschwörungstheorie herein, die im Internet kursierte, vor allem auf die Impfgegner.

»Es ist deine Schuld«, hatte er gesagt. »Du bist innerlich verkommen und hast ihn mit deinem Dreck angesteckt.«

Sie hatte für sich behalten, was sie ihm eigentlich hatte entgegnen wollen – dass ihre Verkommenheit hinter ihr lag, während sie bei John just in diesem Moment ihr hässliches Haupt hob und seine Zellen und sein Hirn mit bösartigem Gift erfüllte.

»Du bist meine Frau«, hatte John gebrüllt. »Du kannst mich nicht von meinem Haus und meinem Sohn fernhalten.« Er machte eine ausholende Geste. »Das alles ist meins. Alles, was du siehst, gehört mir.«

Während sie seinem Gezeter lauschte, hatte Nessa an ihre Mutter denken müssen. Die hatte auch immer von ihren Sachen gesprochen, war extrem penibel gewesen, wenn es um den Schutz ihres Besitzes ging. »Du hast mein Glas kaputt gemacht. Du hast meine Bluse ruiniert. Du darfst mein Auto nicht benutzen.« Meins. Meins. Meins.

In diesem Moment war ihr ein Licht aufgegangen. Statt wie die meisten Frauen einen Mann zu heiraten, der ihrem Vater ähnelte, hatte sie einen Mann geheiratet, der wie ihre Mutter war.

»Das wird dir noch leidtun«, hatte John gebrüllt. »Dafür wirst du bezahlen.«

Nessa hatte sich nicht verkneifen können zu entgegnen: »Natürlich werde ich dafür bezahlen. So wie ich für alles bezahle.«

Sie war ins Haus gegangen und hatte ihn ausgesperrt.

Nun setzte sie sich an den Schreibtisch und fuhr den alten Computer hoch, den sie für ihr persönliches AA-Selbstoffenbarungsblog benutzte und auf dem noch Windows XP lief. Das Gerät war nicht mit dem Internet verbunden, deshalb konnte niemand außer ihr die passwortgeschützten Aufzeichnungen lesen.

Sie nahm das Blaue Buch der Anonymen Alkoholiker, schlug Seite vierundsechzig auf – Anfänge der Bestandsaufnahme des persönlichen Fehlverhaltens – und las wie immer den ersten Satz, obwohl sie ihn auswendig kannte: »Wir setzen uns mit unserem Fehlverhalten auseinander, indem wir es aufschreiben.« Sie seufzte und machte sich an die Arbeit.

3. KAPITEL

31. 5.

Hi, ich bin Nessa, und ich bin Alkoholikerin. Ich bin seit sechs Jahren, vier Monaten und zwölf Tagen trocken.

Hier sind einige der Dinge, die ich meiner höheren Macht anvertrauen muss: Ganz oben auf meiner Liste steht der Punkt, dass ich mir meine höhere Macht als meine Mutter, Joyce Gereben, vorstelle, wie sie hinter mir steht und mir über die Schulter schaut und alles, was ich tue, missbilligend beobachtet. Lächerlich, wenn man es sich genau überlegt. Mein Betreuer Marlon W. sagt, bei Leuten wie uns sei es weit verbreitet, Gott auf einen ausschlaggebenden und/oder abwesenden Elternteil zu projizieren, wenngleich dabei meistens der Vater gewählt wird. Ich kann mir Gott nicht als meinen Vater vorstellen, denn ich erinnere mich kaum an ihn. Er verließ uns, als ich ungefähr fünf war.

Tut mir leid, höhere Macht. Ich weiß, dass du nicht wirklich Joyce Gereben bist.

Als Erstes ein Geständnis. Als Officer Michaels die Tür zum Bootshaus aufstieß, hatte ich gehofft, John würde mit einer Waffe drinstehen, und der Polizist müsste ihn in Notwehr erschießen. Dadurch wären meine Probleme schlagartig gelöst gewesen. Was ist man nur für ein abgefuckter Mensch, wenn man sich so etwas wünscht?

Gleichzeitig überkam mich eine irrationale, lächerliche Fantasie: dass der richtige John, nicht der cracksüchtige Kerl, sich im Bootshaus versteckt, mit Luftballons und einem Sorry-ich-bin-für-alle-Zeiten-fertig-mit-den-Drogen-Banner, und dass ich in seine Arme renne … Ich darf mich nicht nach etwas verzehren, was nicht existiert, was meiner Psyche, meiner Seele und meiner geistigen Gesundheit schweren Schaden zufügt. Ich muss einen Tag nach dem anderen bewältigen, muss nüchtern bleiben und Daltrey großziehen.

Doch ich weiß nicht, wie mir das ohne John gelingen soll. Kindererziehung war etwas ganz Natürliches für ihn, für mich dagegen ist sie ein fortwährender Kampf. Natürlich liebe ich den Jungen über alles, doch nur wegen John habe ich überhaupt eine Vorstellung davon, wie ich mit Daltrey umgehen muss.

Das hätte ich nie von John gedacht, als wir uns nach meinem Umzug nach Denver kennenlernten und ich einen Job bei Wax Trax fand, dem Plattenladen. John besaß keine der Eigenschaften, die man sich bei einem künftigen Daddy wünscht. Er hing ständig im Laden herum, hatte diese Wahnsinnsausstrahlung. Große schöne braune Augen – Daltreys Augen –, langes Haar. Er stammte aus Russell, Kansas, und war früher cracksüchtig gewesen. Aber nun war er genauso süchtig nach den Narcotics Anonymous wie davor nach Crack, und das hätte mir eine Warnung sein sollen. Trotzdem habe ich mich Hals über Kopf in ihn verknallt. Ich habe nie auf meinen Instinkt gehört, wenn ich verliebt war. So geht es wahrscheinlich den meisten Leuten.

Wir waren noch nicht mal zwei Wochen verheiratet, als er das erste Mal rückfällig wurde. Wir hatten uns gestritten, und er war nach der Arbeit nicht nach Hause gekommen. Gegen zwei in der Nacht hielt ich es nicht mehr aus und setzte mich ins Auto, suchte ganz Denver nach ihm ab. Fünf Tage habe ich nach ihm gesucht, bis ich einen Anruf vom Denver Health erhielt. Man teilte mir mit, John sei nackt im Park aufgegriffen worden, voll auf Crack. Er wurde verhaftet und in die psychiatrische Abteilung gesteckt. Der Arzt erklärte, John sei bipolar, und diese Tatsache hatte John mir gegenüber nie erwähnt. Der Arzt sagte, der Hochzeitsstress könnte eine manische Phase ausgelöst und ihn wahnhaft gemacht haben. Und dann war er losgezogen, um sich Crack zu besorgen und den Wahn auf eine höhere Ebene zu hieven.

Nach seinem Krankenhausaufenthalt bekam John Medikamente und war total reumütig. Fürs Erste beruhigten sich die Dinge. John schwor, er wäre für den Rest seines Lebens fertig mit den – illegalen – Drogen. Aber dann wurde ich schwanger, und wir zogen nach Manhattan, Kansas, damit John den Job am Flughafen annehmen konnte.

Wenige Tage vor dem Entbindungstermin verschwand John dann erneut. Er kehrte erst nach neun Tagen zurück, als er wegen Trunkenheit am Steuer aus dem Gefängnis kam; da war Daltrey zwei Tage alt. John hatte seine Medikamente abgesetzt, weil sie ihn, wie er sagte, völlig plattmachten und er in diesem Dämmerzustand nicht hatte weiterleben wollen.

Nach dem Vorfall hatten sich meine Gefühle für John verändert, aber ich hatte nicht vor, ihn zu verlassen, denn ich wusste, wie es war, ohne Vater aufzuwachsen, und für einen Jungen muss es wahrscheinlich noch schwieriger sein. Ich war fest entschlossen, es mit John durchzustehen, ganz gleich, was geschehen war.

»Du kannst nicht mehr nur an dich selbst denken«, sagte ich zu John. »Du hast jetzt Frau und Kind. Es tut mir leid, dass die Medikamente dich so müde machen. Aber es kann nicht sein, dass du einfach verschwindest.«

Drei Jahre schluckte er brav seine Pillen, und ich gebe zu, ich ließ mich von einem trügerischen Sicherheitsgefühl einlullen. Heute weiß ich es besser und kann kaum glauben, dass ich so selbstgefällig wurde. Vermutlich nahm ich an, dass man in einer Kleinstadt wie unserer schwerer an Drogen kommt. Aber das war dumm – es ist eine Universitätsstadt –, und wo es Studenten gibt, gibt es auch Drogen.

Ich dachte wohl, Daltrey und ich seien für John Grund genug, künftig die Finger von den Drogen zu lassen. Aber ich bin sicher, dass Marlon recht hat – John kam nicht mit meinem Erfolg zurecht. Doch sein Rückfall hat nichts mit meinem beruflichen Erfolg zu tun. Auch ohne die Radiosendung und das Blog hätte er irgendeinen Vorwand gefunden, um wieder nach den Drogen zu greifen.

Würde ich alles noch mal genauso machen? Ja, denn ich habe Daltrey bekommen. Ich wünschte nur, John würde beherzigen, was im Blauen Buch steht: »Zeit, die man für Vergeltung vergeudet, kann man nicht verwenden, um im Leben voranzukommen.«

4. KAPITEL

Mittwoch, 1. Juni

Als Nessa erwachte, vernahm sie aus dem Garten Tschaikowskys Sinfonie Nr. 6. Sie zog sich an, dann ging sie nach unten, goss sich einen Kaffee ein und schaute aus dem Fenster über der Spüle. Daltrey stand auf einer Palette hinterm Haus und dirigierte mit einem hölzernen Kochlöffel als Taktstock ein unsichtbares Orchester. Er war angezogen und sah aus wie aus dem Ei gepellt. Nessa ging durch die Hintertür nach draußen und sah Isabeau Revie, ihre neue Nanny, die im Morgenlicht auf dem Rasen saß und auf einer imaginären Geige spielte. Dass sie mit ihrer abgeschnittenen Jeans im feuchten Tau saß, schien ihr nichts auszumachen. Sie trug ein Firefly-Tanktop, das lange blonde Haar war zum Pferdeschwanz gebunden.

Daltrey rannte zu Nessa und schlang kurz die Arme um ihre Knie, dann eilte er zu seinem Dirigentenposten zurück und fuhr fort, mit ernster, konzentrierter Miene den Kochlöffel durch die Luft zu schwingen.

»Du musst ihm einen Cardigan, eine Pfeife und ein Economist – Abo besorgen«, überschrie Isabeau die Musik, die aus tragbaren, mit ihrem Smartphone verbundenen Lautsprechern kam.

Nessa lachte laut auf, das erste richtige Lachen seit Johns Abgang. Isabeau grinste, sah zufrieden und überrascht aus, und Nessa begriff, dass ihre Nanny sie wahrscheinlich für einen mürrischen, humorlosen alten Drachen hielt.

»Vielleicht kleben wir ihm noch einen Bart an, bis ihm selbst einer wächst«, fügte Isabeau an. »Lange kann es nicht mehr dauern.«

Nessa lachte erneut, Daltrey lächelte. Sie wusste, dass er sie in letzter Zeit kaum hatte lachen sehen. Um seinetwillen musste sie dringend versuchen, ein bisschen lockerer zu werden.

»Wir haben schon gefrühstückt«, sagte Isabeau, die aus New Mexico stammte, ein Dauerlächeln im Gesicht trug und immer gut gelaunt war. Sie studierte Maschinenbau und war vier Jahre jünger als die fünfundzwanzigjährige Nessa und fünfzehn Zentimeter größer.

Sie war nicht genau das, wonach Nessa gesucht hatte, als sich die Notwendigkeit ergeben hatte, ein Kindermädchen einzustellen. Marlon hatte ihr eine seiner Forschungsassistentinnen an der Kansas State empfohlen, die einen Ferienjob brauchte – Isabeau. Nessa hatte eine effiziente, unpersönliche Arbeitskraft gewollt, die im Haus war, wenn Daltrey schlief und sie arbeitete.

Aber Daltrey hatte diesen Plan zunichtegemacht. Er hatte sich auf den ersten Blick in Isabeau verliebt – mit ihren weit auseinanderstehenden braunen Augen, dem Dauerlächeln, ihrer energetischen Verspieltheit und der weichen musikalischen Stimme. Er wollte keine andere Nanny außer ihr, deshalb sah Nessa sich genötigt, eine warmherzige, engagierte junge Frau einzustellen, die ungerührt in ihren privaten Bereich eindrang und anscheinend glaubte, dass sie alle beste Freunde werden würden. Zum Glück war ihr noch nicht aufgefallen, dass Nessa nichts Persönliches von sich preisgab. Isabeau dagegen erzählte ihr freimütig alle möglichen privaten Dinge. Schlimmer noch, Isabeau hatte ein überragendes Organisationstalent, das Nessas Leben in ungeahnter Weise leichter machte.

Isabeaus Laptop stand aufgeklappt auf der Computertasche im Gras, ihre Beine waren zu den Seiten ausgestreckt. Declan MacManus hatte neben ihr gelegen, bis Nessa erschien. Nun trottete er zu ihr, um sich ein paar Streicheleinheiten abzuholen.

»Gehen wir doch kurz die Termine für den Rest der Woche durch«, sagte Isabeau. Sie tippte auf die Tastatur. »Okay, hier steht, dass Daltrey heute Vormittag um elf einen Arzttermin hat. Geht es um eine Impfung oder –«

»Ich habe doch gesagt, darum musst du dich nicht kümmern«, sagte Nessa, stellte ihren Kaffeebecher ab und beugte sich vor, um etwas Unkraut aus dem Blumenbeet zu zupfen. Sie wollte nicht darüber reden, warum sie mit Daltrey schon wieder zum Arzt ging. Es war ihr unangenehm, dass sie sich wegen Daltreys Stummheit so große Sorgen machte.

Sie nahm an, es hing mit dem Chaos in ihrem Leben zusammen, mit der Gewalttätigkeit, die Daltrey mit angesehen hatte, als John mal wieder in einer manischen Phase seiner bipolaren Störung gesteckt hatte. Ebenso vermutete sie, dass ihre früheren Süchte und ihr unstetes Verhalten damit zu tun hatten, doch der Kinderärztin hatte sie diese Dinge bislang verschwiegen. Ihr war klar, dass sie es erzählen sollte, doch zu ihrer Schande hoffte sie, dass es für Daltreys Stummheit eine simplere Erklärung gab.

»Aber für mich ist es leichter, wenn ich genau weiß, was wann passiert«, sagte Isabeau.

Während Nessa in der Trauerphase wegen des Endes ihrer Ehe steckte, hatte Isabeau sich von der Nanny zur persönlichen Assistentin gewandelt. Es war sinnlos, sich dagegen zu wehren. Isabeau war eine Naturgewalt.

Sie las weiter vom Bildschirm ab. »Ich habe die Fakten in deinem neuen Beitrag über Wanda Jackson gecheckt. Die Frau war fantastisch! Ich hatte bislang noch nie von ihr gehört – wie überraschend. Wenn ich fertig bin, schicke ich dir den Text, dann kannst du noch mal rübergehen, ehe er morgen um neun automatisch online geht. Danach arbeite ich weiter daran, deine Musikbibliothek zu katalogisieren.«

Nessa fuhr fort, Gras und Unkraut aus dem Blumenbeet zu zupfen.

»Ich habe jetzt etwas mehr als die Hälfte von A«, sagte Isabeau und streckte die Arme über den Kopf. »Bin bei Arcade Fire, glaube ich. Echt jetzt. Ich kenne niemanden, der eine so riesige Sammlung besitzt wie du. Ich dachte immer, die meiner Schwester sei groß, aber verglichen mit deiner ist ihre mickrig. Wie hast du mit deiner Sammlung angefangen?«

»Mein älterer Bruder hat mich zu Highschool-Zeiten darauf gebracht.« Mist. Sie hatte es dahergeplappert, ohne zu überlegen. Sie sollte nie mehrere Sachen gleichzeitig tun. Warum plauderte sie so beiläufig private Dinge aus? Dies war die Wirkung, die Isabeaus fortwährende Gegenwart auf sie hatte. Nessa musste besser aufpassen, was sie sagte. Über das Ausmaß von Johns Problemen hatte sie kein einziges Wort verloren, und dies sollte auch für alle anderen Bereiche ihres Privatlebens gelten.

»Ich bin echt geplättet«, sagte Isabeau. »Was hast du …«

»Ich möchte, dass du heute früher Schluss machst«, sagte Nessa. Sie musste dem einen Riegel vorschieben. Sie hatte genug von sich preisgegeben. »Du arbeitest zu viel.«

»Okay«, sagte Isabeau fröhlich. »Falls du Hunger hast, wir haben Blaubeermuffins gemacht. Stimmt doch, Daltrey, oder?« Sie stellte die Musik lauter und gab sich mit neuem Elan dem Spiel auf ihrer imaginären Geige hin.

Sei dankbar, rief Nessa sich einen Leitspruch aus dem Blauen Buch ins Gedächtnis und beobachtete, wie dieses Paradebeispiel für Effizienz, das scheinbar aus dem Nichts in ihr Leben getreten war, ihren Sohn anspornte. Nessa ging zur Tür, dann wandte sie sich noch einmal um.

»Isabeau«, sagte sie. »Könntest du den Schlüsseldienst anrufen? Ich muss schon wieder die Schlösser austauschen.«

Isabeau schaute vom Computer auf. »Warum?«

Mit einem kurzen Blick versicherte sich Nessa, dass Daltrey nicht zuhörte. Sie senkte die Stimme.

»Als wir weg waren, ist John ins Bootshaus eingebrochen.«

Isabeaus Brauen schossen in die Höhe. »Tja, das erklärt es.«

Nessa spürte ein angstvolles Kribbeln. »Was erklärt es?«

Isabeau stand auf und ging zu Nessa. »Die ganzen Holzsplitter am Boden. Ich habe sie bemerkt, als ich heute Morgen hier ankam. Weil ich nicht wollte, dass Daltrey mit den Splittern herumspielt und sich verletzt, habe ich sie aufgehoben. Dabei fand ich das hier.« Sie griff in die Tasche ihrer Shorts und zog ein flaches schwarzes Dreieck heraus.

Nessa nahm es ihr aus der Hand. Es war ein Gitarrenplektrum von Fender in Medium-Stärke. Was hatte es hier draußen verloren? Sie drehte es um und sah den silbernen Aufdruck in Großbuchstaben: BIG.

Big and Rich? Big Bad Voodoo Daddy? War das Plektrum eins von Johns Erinnerungsstücken? Das musste es sein. Wahrscheinlich hatte er vorgehabt, es zu verscherbeln. Lachhaft. Achselzuckend steckte sie es ein.

In der Küche wusch Nessa sich die Hände, schenkte sich Kaffee nach und sah auf die Uhr. Ihr blieben dreißig Minuten, bis sie sich für den Arzttermin fertig machen musste, deshalb brachte sie ihr Laptop zum Küchentisch und loggte sich in ihr Blog ein.

Mit dem Musik-Blog hatte sie aus Spaß an der Freude begonnen, als eine Art Ventil für sich, als sie nach Daltreys Geburt nach Manhattan gezogen waren, in ein winziges dunkles Ein-Zimmer-Apartment in der Anderson Avenue, das sie »die Höhle« genannt hatten. Es hatte mit zaghaften Kritiken von Konzerten angefangen, zu denen sie und John gegangen waren, meist von unbekannten Bands aus der Gegend; Erinnerungen an Konzerte, die sie als Teenager besucht hatte, und Erläuterungen über obskure Schallplatten, die sie auf Flohmärkten abgestaubt hatte, rare Schellackplatten von Blues-Musikern und Marschkapellen, Acetat-Platten und Wachszylinder aus dem frühen 20. Jahrhundert. Bald schon aber hatte sie damit begonnen, ihre wahren Gedanken zu äußern. Und damit waren zwei Dinge gekommen – Internetruhm und ätzende Bemerkungen in der Kommentar-Sektion. Gott sei Dank hatte sie das ganze Soziale-Medien-Ding gemieden, sonst hätte es noch viel mehr von alldem gegeben.

Sie antwortete eigentlich nur auf positive Kommentare, für die Trolle formulierte sie lediglich in Gedanken schlagfertige Konter. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie begriffen hatte, dass es immer ein Fehler war, auf die Provokateure einzugehen. Am Anfang hatte sie noch gedacht, dass sich, wenn sie sich klar, ruhig und vernünftig erklärte, die Trolle bei ihr entschuldigen würden und alles wieder gut wäre. Aber so lief das nicht. Trolle waren wie Schulhofschläger – sie hielten immer nach Schwächen Ausschau, hatten nur Zerstörung im Sinn. Zum Glück für Nessa – und zum Leidwesen der Trolle – bedurfte es mehr als Worte, um sie zu zerstören.

Nessa sah sich den neuesten Kommentar eines Users an.

Ein Juwelier hat an meinen Cockring eine Änderung vorgenommen. Er hat ihn größer gemacht.

Gepostet von Anonymous / 1. Juni 8:17 Uhr.

Die Zeilen ließen sie lauter auflachen, als angebracht gewesen wäre. Manchmal schien es, als lebte ein zwölfjähriger Junge in ihrem Hirn, der von Zeit zu Zeit das Kommando übernahm. Wie viele verkappte Comedians gab es dort draußen, die die Kommentar-Sektionen benutzten, um ihren Unsinn unters Volk zu bringen – und wie viele Kerle, die der Welt unbedingt ihr Ding zeigen oder wenigstens kundtun mussten, wie groß es war?

Die schmale Bandbreite der Kommentare erstaunte sie immer wieder aufs Neue. Interessanterweise erhielt sie die persönlichen Kommentare erst, seit sie im Radio auftrat und alle wussten, dass sie eine Frau war. Bis dahin hatten ihre Blog-Leser sie für einen Mann gehalten und die negativen Vokabeln hatten sich auf alle möglichen Variationen von »Idiot« beschränkt. Seither hatte sie angefangen zu glauben, das Wort Schlampe all die Jahre falsch buchstabiert zu haben, denn die meisten Trolle schrieben Schlammpe. Und warum Musik als etwas galt, worüber vor allem Männer Bescheid zu wissen glaubten, war ihr schleierhaft.

Ihr Bruder hatte nie so empfunden, und er wäre wahnsinnig stolz gewesen, wenn er gewusst hätte, dass sie mit dem Wissen, das sie sich durch seine Hilfe angeeignet hatte, gutes Geld verdiente. Sie öffnete ihr AA-Blog, ohne ihren Sohn und die Nanny je ganz aus den Augen zu lassen.

1. 6.

Ich bin Nessa, und ich bin Alkoholikerin. Ich bin seit sechs Jahren, vier Monaten und dreizehn Tagen trocken.

Es geht nicht so sehr darum, dass ich Isabeau nicht erzählen möchte, dass ich einen älteren Bruder habe, sondern dass es wehtut, an ihn zu denken. Ich vermisse meinen Bruder. Wir haben alle möglichen lustigen und traurigen Dinge miteinander erlebt. Er ist dafür verantwortlich, dass ich so besessen bin von praktisch allem, was mit Musik zu tun hat. Wir waren auf unzähligen Konzerten. Als wir nach L. A. gingen, setzte er mich auf eine fortwährende Diät aus ausgezeichneter, seltsamer, wunderbarer Musik.

Er wäre so neidisch, wenn er wüsste, dass ich eine Radiosendung habe. Eigentlich müsste er sie moderieren. Alles, was ich weiß, weiß ich von ihm. Es wäre nur fair.

Ich halte mich über das Internet über ihn und meine Mutter auf dem Laufenden, kann die beiden auf diese Weise aus der Ferne beobachten. Brandon ist auf Facebook, hat alles auf öffentlich gestellt, und so kann ich heimlich seine Einträge lesen. Er sieht anders aus als früher, aber das gilt auch für mich. Er ist ganz schön aufgedunsen, sieht kränklich aus. Ich frage mich, ob der Krebs zurückgekommen ist.

Oft träume ich davon, mich mit ihm wieder zusammenzutun, wenn Mom das Zeitliche gesegnet hat, und mich mit ihm über allen möglichen Mist schlappzulachen. Er war nie nachtragend, wie könnte er sonst mit achtundzwanzig noch mit Mom zusammenleben? Ich denke, der Grund dafür ist sein Typ-1-Diabetes und der ganze Scheiß, den die Familie deshalb erlebt hat, andererseits gibt es viele Diabetiker, die im Leben Erfolg haben und nicht am Rockzipfel ihrer Mütter hängen.

Aber Joyce hat ihm von klein auf zwei Dinge eingetrichtert: dass er ohne sie nicht leben könne und dass er es ihr verdanke, überhaupt am Leben zu sein. In gewisser Weise ist es ja auch so. Was Recht ist, muss Recht bleiben. Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn mein Dad uns nicht gegen neuere Modelle eingetauscht hätte, gegen eine jüngere, bessere Familie, mit der er das Weite suchte. Mom sagte immer, Brandon sei zur Hälfte sie, zur Hälfte unser Dad. Das braune Haar von Mom, die Größe von Dad. Ein blaues Auge von Mom, ein braunes Auge von Dad. Das Gute von Mom. Das Schlechte von Dad.

Sie sagte, ich sei ganz mein Dad. Überraschung!

Brandon war ihr Sonnenschein, weil sein größtes Lebensziel darin bestand, Joyce zu gefallen. Sicherzustellen, dass sie nicht wütend wurde. Ihr immer zu erzählen, wie schön sie sei, wie begabt und so weiter.

Nach seinen Facebook-Einträgen zu urteilen, ist er noch heute so. Ständig postet er Memes wie Wenn ihr die tollste Mutter der Welt habt, klickt Gefällt mir. Teilt es, wenn eure Mutter euer Ein und Alles ist. Solchen Dreck eben. Da stellen sich mir die Fußnägel auf.

Brandon hat nie aufgehört, nach Moms Anerkennung zu gieren. Als Teenager habe ich ihn verachtet. Wenn wir stritten, nannte ich ihn Weichei, Muttersöhnchen und so; ich sagte ihm, er würde Brüste kriegen, wenn er sich nicht von ihr lossage.

Wenn Mom gerade keinen Liebhaber hatte, behandelte sie Brandon wie ihren Ersatz-Ehemann. Ich weiß noch, dass er ihr einmal die Fußnägel lackieren sollte, so wie Kevin Costner bei Susan Sarandon in Annies Männer. Damals habe ich es natürlich nicht kapiert, ich war zu jung. Ich wusste nur, dass bei uns irgendetwas nicht stimmte.

Deshalb tue ich alles, um jedes krankhafte Verhalten von Daltrey fernzuhalten, aber John machte mir einen Strich durch die Rechnung. Ich verachte mich, weil ich ihn immer noch liebe, obwohl ich ihn für das, was er uns angetan hat, hasse. Er hat unsere kleine Familie zerstört, und er hat mein persönliches Problem, nämlich dass mein Dad mich verlassen hat, aufgerührt, so als hätte man einen Schaumschläger in eine gefüllte Milchschüssel gehalten.

Nessa schaute auf die Uhr: Ihr blieben nur zwanzig Minuten, bis sie mit Daltrey zum Arzt aufbrechen musste. Mist. Sie leerte ihren Kaffeebecher, stellte ihn in den Geschirrspüler und ging nach oben, um zu duschen.

Fünfundvierzig Minuten später saß Daltrey am Boden des Behandlungszimmers und spielte mit einer Apparatur aus Drähten, Schnüren und Perlen, während Nessa abwesend in einer Zeitschrift blätterte.

Nach einem kurzen Anklopfen eilte Dr. Blatter herein und wusch sich die Hände.

»Hallo, Mrs. Donati«, sagte sie, während sie sich mit Papierhandtüchern die Hände abtrocknete. »Wie geht es dir, Daltrey?«

Er tippte sich mit dem Daumen an die Brust, die Finger ausgestreckt. Gebärdensprache für »gut«.

Dr. Blatter schaute in die Patientenakte, die die Arzthelferin ihr hingelegt hatte, und fragte: »Was führt Sie heute zu mir?«

»Na ja, ich dachte, wir könnten vielleicht einen Bleivergiftungstest durchführen«, sagte Nessa verlegen, aber entschlossen. Es war ihr neuester armseliger Versuch, die Schuld für Daltreys Stummheit von sich selbst abzulenken.

»Wie lange wohnen Sie jetzt in dem Haus?«, fragte Dr. Blatter.

»Neun Monate.«

»Wir können den Test machen, aber ich glaube nicht, dass die Ursache für …«

»Außerdem einen weiteren Hörtest, wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte Nessa.

»Ich bezweifle, dass sein Gehör sich seit dem letzten Test verändert hat – wann war der noch gleich? Vor drei Monaten?«

»Ich weiß, aber …«

»Mit seinem Gehör ist alles in Ordnung, und ich bezweifle wirklich, dass er eine Bleivergiftung hat. Sagten Sie nicht, der Bauinspektor habe im Haus nach Blei gesucht und nichts gefunden?«

»Ja, aber …«

Dr. Blatter setzte sich auf ihren Rollhocker. »Mrs. Donati, Einstein fing erst mit fünf an zu sprechen. Er war zu sehr mit Nachdenken beschäftigt, um zu reden.«

»Das ist ein Mythos«, sagte Nessa. Das beruhigende Gerede dieser ach so herzlichen Landärztin nervte sie furchtbar.

»Sind Sie sicher? Ich habe es oft gelesen.«

Die Bemerkung ärgerte und alarmierte Nessa. Hatte Dr. Blatter auch ihren Doktortitel von einer obskuren Website wie About.com gekauft?

»Ich finde es toll, dass Sie weiterhin Gebärdensprache benutzen, damit er kommunizieren kann, bis er etwas zu sagen hat.«

Beinahe hätte Nessa aufgelacht – was tat Daltrey denn anderes, als mit Gebärdensprache etwas zu »sagen«? Sie hatte an der Uni einen Kurs in Gebärdensprache besucht, und wenn ihr mal ein Wort fehlte, sah sie auf YouTube nach; es gab dort Tausende kurzer Videos, die Wörter und ganze Sätze in Gebärdensprache zeigten.

»Ja«, sagte Nessa. »Aber ich mache mir Sorgen, dass es seine Sprachentwicklung weiter verzögern könnte.«

»Ach was«, sagte Dr. Blatter fröhlich. Keine Erklärung, nichts, um ihre Worte zu untermauern.

Es mochte ja sein, dass Albert Einstein erst mit fünf Jahren zu sprechen begonnen hatte, aber das galt auch für zahllose andere Kinder, die sich spät entwickelten und als Erwachsene dann geistig minderbemittelt waren … Andererseits, konnten diese Kinder sich mit drei Jahren derart nuanciert und eloquent mit Mimik und Gebärdensprache ausdrücken wie Daltrey?

»Bitte, machen Sie den Bleitest, ja?«, sagte Nessa und hasste sich für ihren flehenden Ton.

Dr. Blatter seufzte. »Ich schicke die Arzthelferin herein. In Ordnung? Wir sehen uns dann in vier Monaten für seine U4. Ich wette, dann redet er wie ein Wasserfall.«

Als die Ärztin sich erhob, um das Behandlungszimmer zu verlassen, legte Nessa ihr eine Hand auf den Arm. »Können wir uns draußen kurz unterhalten?«

»Gern«, sagte Dr. Blatter.

»Mama und Dr. B reden kurz draußen, Daltrey«, sagte Nessa. »Ich bin gleich wieder da.«

Er nickte, ohne den Blick von seinem Spielzeug zu lösen.

Nessa folgte Dr. Blatter nach draußen und schloss die Tür hinter sich.

»Ich dachte, Sie sollten wissen, dass Daltreys Vater und ich uns scheiden lassen«, sagte Nessa mit gesenkter Stimme, für den Fall, dass Daltrey hinter der Tür stand und lauschte.

Dr. Blatter öffnete noch einmal Daltreys Akte und machte eine kurze Notiz. »Danke für die Information.«

»Daltreys Vater leidet an einer bipolaren Störung, und er – nun, er nimmt Drogen.«

Die Ärztin nickte, den Blick weiter auf die Akte gerichtet.

»Ich habe keine Hoffnung mehr, dass sein Vater sich wieder fängt … ich glaube, seine Anwesenheit war nicht gut für Daltrey. Wissen Sie, was ich meine?«

Dr. Blatter nickte erneut, und ihr Schweigen veranlasste Nessa weiterzureden.

»Meinen Sie, Daltrey spürt vielleicht, dass etwas aus den Fugen geraten ist? Dass das … ein weiterer Faktor dafür sein könnte, warum er noch nicht spricht?«

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