×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Baskischer Tod«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Baskischer Tod« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Baskischer Tod

Als Buch hier erhältlich:

Der Tag von Comisario Rafael Ibara beginnt ungewohnt dramatisch: Bei einem Routineeinsatz findet er die Leiche einer jungen Frau - gebettet auf Menschenknochen. Nach Jahren in Brüssel und Hamburg der Liebe halber im spanischen Baskenland gestrandet, kümmert sich der alleinerziehende Vater normalerweise um die Sorgen und Nöte argloser Touristen in den Küstenorten. Da scheint ein Mordfall eine Nummer zu groß für ihn. Und so schickt Rafas Chef eilig nach einem erfahrenen Mord-Ermittler aus Bilbao, der schnell einen Tatverdächtigen präsentieren kann - zu schnell für Rafas Geschmack. Und so beschließt er zusammen mit seiner Kollegin Casta Zamora, den Tod der jungen Frau und das Geheimnis der Knochen auf eigene Faust aufzuklären.


  • Erscheinungstag: 24.03.2020
  • Aus der Serie: Rafael Ibara Ermittelt
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 256
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959679381
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für meine Eltern,
weil sie immer da sind

PROLOG

Miren Imaculada Silbermann Herrero beobachtete die Fremde unter halb geschlossenen Augenlidern hindurch. Die junge Frau schlenderte in einem wehenden bunten Sommerkleid über den menschenleeren Platz und reckte dabei den Kopf neugierig in alle Richtungen. Hin und wieder blieb sie stehen, wippte dabei mit den Füßen in den flachen Sandalen, als ob sie abheben wollte. Dann schob sie die Sonnenbrille hoch auf die blonden Haare, hielt eine große Spiegelreflexkamera vors Gesicht, bückte sich und knipste konzentriert. Erhob sich wieder, betrachtete mit gerunzelter Stirn das Ergebnis – auf einem Display, vermutete Miren – und ging weiter.

Wie immer könnte Miren auf einer Liste abhaken, was die junge Frau alles mit ihrer Kamera einfing. Es waren stets dieselben Motive: die, die angeblich – oder tatsächlich – typisch waren für ein kleines verschlafenes Nest im Baskenland. Ein Hortensienbusch in voller Blüte; eine Katze, die faul im Schatten des Treppenabsatzes lag, der hinauf zum Eingang der kleinen Kapelle führte; eine Efeuranke in der sandfarbenen Natursteinmauer des nächsten Hauses. Nur der Himmel bot dieses Mal keinen interessanten Anblick, wolkenloses, langweiliges Blitzblau, von dem die Sonne stach, ungewöhnlich warm für diese Jahreszeit.

Miren streckte die Beine, bis ihre alten Knochen knackten, und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Sie saß im Schatten des einzigen Baumes, einer uralten Platane, die wie ein Wächter vor dem Tor stand, das in den Innenhof ihres Anwesens führte. Die hölzernen Torflügel waren schon lange verschwunden, und die rechte Seite der grauen Natursteinmauer war eingestürzt. Die losen Steine waren nachlässig auf einen Haufen geworfen worden, damit niemand darüber stolperte. Zwischen den Ritzen wuchs Moos. Daher hielten die meisten Touristen das Anwesen für verlassen, liefen hinein, ohne sich um das Verbotsschild zu kümmern, fotografierten die Überreste des Ziehbrunnens, die Fenster mit den verblichenen grünen Läden, weitere Hortensien, Bougainvilleen und Zierwinden, die Kanarienvögel, die zum Erstaunen der Besucher frei herumhüpften. Miren hatte einmal vor vielen Jahren versehentlich den Käfig offen gelassen, und seitdem lebte ein Dutzend gelber und orangener Vögel unter dem Dach des Hauses. Die Vögel waren zu klug oder zu käuflich, um weit davonzufliegen. Sie holten sich das Futter, das sie seitdem einfach auf die Fensterbank streute. So war es ohnehin hübscher für alle. Miren hatte ihre kleinen gefiederten Lieblinge, die Vögel fristeten ihr Dasein nicht in Käfigen, und die Touristen fanden niedliche Motive und konnten ihren Daheimgebliebenen erzählen, sie hätten wilde Kanarienvögel gesehen.

Die junge Frau würde sicher ebenfalls sorglos durch den Torbogen laufen. Aber zuvor steuerte sie das wichtigste Motiv auf dem Platz an: Alte Baskin vor den Natursteinfassaden im Schatten einer Platane. Miren unterdrückte den Impuls, sich ihr schwarzes Kleid zurechtzuzupfen.

»Buenos días!« Die junge Frau zeigte eine Menge blendend weißer Zähne. Immerhin, sie hatte Manieren und grüßte nicht mit einem schnöden international gedachten »Hello!« Sie nahm sogar ihre Sonnenbrille ab. Jetzt konnte Miren erkennen, dass sie noch jünger war, als sie aus der Ferne vermutet hatte, höchstens Anfang zwanzig.

Miren nickte gnädig zur Begrüßung und verzog ein winziges bisschen die Mundwinkel.

Das Mädchen atmete tief durch und sagte, untermalt von einer weiten Geste, etwas in ihrer Muttersprache. Miren verstand sie nicht. Was war das für eine Sprache? Irgendetwas Skandinavisches?

Den Inhalt konnte sie sich jedenfalls denken. Wie schön es hier war. Nun, wenn es warm und sonnig war, fand Miren, konnte es fast überall auf der Welt schön sein. Sie hatte jedenfalls noch nicht erlebt, dass Touristen sich hierher verirrten, wenn im November die Stürme reinpeitschten, sodass man im Regen das Salz des Atlantiks schmeckte.

Die Touristin hob die Kamera hoch und deutete abwechselnd darauf und auf Miren. Dabei redete sie sehr laut in ihrer Muttersprache. Maria nickte noch einmal und hob die runzelige Hand mit der Handfläche nach oben. Diese Knipserei störte sie nicht. Immerhin konnte sie durch das Geplapper jetzt die Sprache einordnen. Das war Niederländisch, ganz eindeutig.

Zufrieden mit der Erlaubnis machte das Mädchen sich daran, aus verschiedenen Winkeln zu fotografieren. Mehrmals versuchte sie, ihr Fotomodell zu einem Lächeln zu bewegen, aber darauf ließ Miren sich nicht ein. Das führte nur zu Enttäuschungen. Es gab zwei Luxusdinge in ihrem Leben. Das eine war ein künstliches Gebiss, ein sehr gutes und teures. Und eine Reihe makelloser Zähne passte nicht zu einem runzeligen, von grauem Haar umkränzten Gesicht.

Nach einem langen Blick auf das Display kam das Mädchen heran und hielt Miren die Kamera unter die Nase. Gehorsam schaute Miren und nickte, wobei sie nur verschwommene bunte Punkte erkennen konnte, eine weitere Folge des reifen Alters. Aber das störte sie im Gegensatz zu Zahnstummeln weniger.

Im nächsten Augenblick hielt sie eine Visitenkarte in den Händen, und die junge Frau verabschiedete sich mit einem »Adiós«. Miren beobachtete, dass sie wie erwartet auf den Torbogen zusteuerte, das Verbotsschild betrachtete, bedauernd mit den Schultern zuckte und abdrehte. Wenige Schritte später war sie in einer schmalen Gasse zwischen zwei Häusern verschwunden.

Miren blickte ihr bedächtig hinterher, eines der wenigen Male, in denen sie bedauerte, sich nicht mit der Besucherin unterhalten zu können. Das Mädchen war anders als die anderen Trampeltiere. Vielleicht hätte Miren es mit Deutsch versuchen können, die Sprache ihrer Mutter und ihre Muttersprache, bis sie zehn Jahre alt gewesen war. Zu spät.

Sie strich mit dem Daumen über den Rand der Karte. Sie wurde neugierig, wer diese Besucherin war, wo sie herkam, was sie hier machte. Sie würde hineingehen und ihre Lesebrille holen. So jung wie das Mädchen war, würde eine E-Mail-Adresse darauf stehen oder eine Internetseite. In dem Fall würde Miren Imaculada Silbermann Herrero ihren zweiten bescheidenen Luxusartikel zum Einsatz bringen, den sie dank ihres Neffen Esteban besaß: Ein iPad mit schnellem Internetzugang.

1.

Fluchend legte Comisario Rafael Ibara den Rückwärtsgang seines Seat Arona ein und setzte auf der schmalen Straße zurück. Er hatte keine Ahnung mehr, wo genau er sich befand, seit er in einen der winzigen Wege westlich von Donostia eingebogen war, die üblicherweise an einem Campingplatz oder einem agroturismo endeten. Alles sah gleich aus, eine kaum zwei Meter breite asphaltierte Straße inmitten des Küstenstreifens, abwechselnd Baumgruppen, Weiden und auch ein paar Maschendrahtzäune, die irgendjemandes Grundstück vor dem Rest der Welt abriegelten. Und immer wieder der Blick auf die Biskaya, der Atlantik heute in atemberaubendes Saphirblau gekleidet.

Normalerweise liebte Ibara diesen Anblick, das Farbenspiel am Horizont, wo Blau auf Blau traf, doch jetzt gerade raubte es ihm nicht den Atem, sondern den letzten Nerv. Er war im Dienst, und er wollte irgendwann noch einmal ankommen. Wo auch immer.

Er hatte rückwärts bis zur Kreuzung zurückgesetzt, wählte den einzig alternativen Weg und gab wieder Gas. Sein Smartphone klingelte. Das musste warten. Er konnte sich nicht auch noch auf ein Gespräch konzentrieren.

Beinahe hätte er die nächste Abzweigung verpasst. Er machte eine Vollbremsung und bog rechts ab, fuhr damit in die Düne hinein auf die Küste zu. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis der Weg endete.

Die Sträucher zu beiden Seiten wucherten immer dichter in Richtung Mitte, als wollten sie diese von Menschen gemachte Trasse mit aller Gewalt zurückerobern. Abgerissene Zweige und Reifenabdrücke an den lehmigen Banketten zeugten jedoch davon, dass hier häufiger jemand entlangfuhr. Dann tauchte ein Maschendrahtzaun linker Hand auf, von Schlingpflanzen und Farn überwuchert.

Ibara fuhr höchstens noch fünfundzwanzig Stundenkilometer, als die Straße sich endlich auf einen sandigen Platz verbreiterte, der wie eine Waldlichtung erschien, da er von hohen Bäumen und Sträuchern eingerahmt wurde. Grasbüschel trotzten hier und da dem trockenen Untergrund. Gegenüber der Zufahrt befand sich am Ende des Platzes ein steinerner Tisch mit zwei Bänken, daneben eine gemauerte Feuerstelle. Mehrere Personen sahen ihm von dort neugierig entgegen.

Er scherte nach rechts aus, parkte neben dem Dienstwagen seiner Kollegin Casta Zamorra und stieg aus. Zwei weitere Autos parkten unter dem Blätterdach einer weit ausladenden Kastanie, ein VW-Bus mit Faltdach – ein T4, sofern Ibaras Kenntnis ihn da nicht trog – und ein älterer Ford Focus Kombi. Um die beiden Fahrzeuge lag ein Sammelsurium typischer Urlaubsutensilien.

Zamorra kam auf ihn zu, bevor er einen näheren Blick darauf werfen konnte. Im Gegensatz zu ihm trug sie die Uniform der baskischen Polizei Ertzaintza, eine rote Jacke zu einer blauen Hose. Sie streckte die Hand zur Begrüßung aus und legte den Kopf in den Nacken, um zu Ibara aufzublicken. »Rafa, das wird Zeit, dass du kommst. Ich wollte schon eine Vermisstenmeldung aufgeben.«

Er schüttelte ihr die Hand und lächelte kurz verlegen. »Hast du deswegen vorhin noch mal angerufen?«

»Ja. Dachte mir aber schon, dass du nicht rangehst.«

»Ich hätte ja nach dem Weg gefragt, wenn hier irgendwo eine Menschenseele zu finden gewesen wäre. Was ist denn los? Wildes Camping?«

Zamorra schnaubte belustigt. »Ich werde nicht ganz schlau aus den Burschen. Sie haben sich bei der Polizei gemeldet, weil sie meinten, wie wären heute Nacht bestohlen worden. Jetzt aber sagen sie, es wäre alles in Ordnung, ihr Zeug wäre nur hinter irgendwelchen Büschen. Wie gesagt, ich versteh es nicht, dabei ist das Englisch der Burschen ganz passabel. Vielleicht versuchst du es mal auf Deutsch?«

»Na klar.« Im Vorbeigehen schielte Ibara auf die Autokennzeichen: Der T4 war in Stuttgart zugelassen, der Focus in Karlsruhe. Die dazugehörigen vier jungen Männer warteten nach wie vor brav an der steinernen Sitzgruppe. Zwei von ihnen saßen auf den Bänken, einer auf dem Tisch, der Vierte lehnte lässig dagegen. Unauffällig musterte Ibara sie. Alle waren Anfang zwanzig, sportlich, braun gebrannt. Es war dieses merkwürdige Alter, in dem für manchen jungen Kerl das Abenteuer auf dem Lebensplan stand. Sie hatten sich an den Mädchen ausprobiert, vielleicht hatte der eine oder andere eine Freundin, die er im Urlaub mit den Kumpels möglichst häufig zu vergessen versuchte, denn feste Bindungen oder gar konkrete Zukunftspläne spielten gerade eine untergeordnete Rolle.

Kurz beneidete Ibara sie um das, was ihnen noch bevorstand, während er die ersten Enttäuschungen seines Lebens schon hinter sich gebracht hatte. Dann konzentrierte er sich auf die Einzelheiten, während er sie in akzentfreiem Deutsch begrüßte. Die Erleichterung war den vieren an den Gesichtern deutlich abzulesen, als sie ihre Muttersprache vernahmen.

»Buenos, mein Name ist Comisario Ibara. Was gibt es denn?«

Ein schlaksiger Blonder in bunten Hawaiishorts und einem weißen T-Shirt, das schon länger keiner Waschmaschine mehr nahe gekommen war, stand auf und zeigte auf die Fahrzeuge vor der Kastanie. »Mann, gut, dass Sie Deutsch sprechen. Wir versuchen es die ganz Zeit bei Ihrer Kollegin auf Englisch und mit Händen und Füßen, aber die Sache ist etwas komplizierter.« Er schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr.

»Sie sagte etwas davon, dass Sie einen Diebstahl gemeldet hatten?«

»Voll peinlich«, sagte ein Dunkelhaariger, der auf einer der beiden Bänke saß. Seinem Aussehen nach stammten Vater oder Mutter aus der Türkei, doch sein Deutsch hatte denselben leicht schwäbischen Singsang wie das des Blonden. »Wir wollten heute Morgen zusammenpacken und losfahren. Aber dann waren auf einmal zwei Surfbretter und ein Fahrrad weg. Wir dachten, man hätte uns die geklaut, aber in Wahrheit ist das Zeug hinter den Autos einen Hang hinuntergerutscht.«

»Es war dunkel gestern Abend, da haben wir uns das Gebüsch hier nicht genau angesehen«, warf der Bursche ein, der am Tisch lehnte. Dabei machte er eine unbestimmte Geste mit der Hand, die Ibara nicht deuten konnte.

»Und?« Er warf einen ratlosen Blick über die Schulter zu Zamorra. Trotz besserer Verständigungsmöglichkeiten war er noch keinen Deut schlauer als sie.

»Na ja, als wir angerufen haben, dachten wir noch, das Zeug wäre geklaut. Eigentlich hätten Sie gar nicht kommen brauchen. Wir müssen jetzt nur überlegen, wie wir die Sachen wieder hochbekommen.«

Ibara nickte, als hätte er die Sachlage begriffen, doch er verstand immer noch kein Wort. »Am besten«, sagte er, »zeigt ihr mir dieses ominöse Gebüsch. Kann nicht schaden, oder? Wenn ich schon einmal hier rausgefahren bin.«

»Klar. Kommen Sie mit.«

Der Blonde mit den Hawaiishorts setzte sich in Bewegung. Ibara folgte ihm hinter die beiden Autos, wo ein ungefähr zwei Meter breiter Streifen Platz war, bis dichtes Strauchwerk eine natürliche grüne Wand bildete. Am VW-Bus lehnten zwei Mountainbikes. Ungefähr in der Mitte war das Gebüsch ziemlich zerfleddert, als hätte sich dort jemand durchgedrückt. Jetzt begann Ibara zu ahnen, was geschehen war. Er trat an die Lücke.

»Vorsicht. Wie gesagt, dahinter geht es steil runter.«

Genau so war es. Ibara sah Asphaltreste unter dem sandigen Boden, der in Richtung des Gebüschs ausfranste, wo Wurzeln und Unkraut sich ihren Platz zurückerobert hatten. Die grüne Mauer war weder so breit noch so solide, wie sie auf den ersten Blick erschien. Ibara bog ein paar Zweige auseinander und blickte in die Tiefe. Schon vor vielen Jahren hatte ein Erdrutsch einen steilen Grat entstehen lassen. Wie weit es hinter der Kante hinunterging, konnte er nicht erkennen, da alles zugewuchert war und im Schatten einiger dicht belaubter Bäume lag. Dennoch konnte er wenige Meter unter sich ein buntes Surfbrett mitten im Grün erkennen.

»Eure Sachen sind also da runtergepurzelt und nicht geklaut worden. Habe ich das richtig verstanden?«

»Genau so ist es. Wir haben es mehr durch Zufall gesehen.«

»Wie habt ihr das denn geschafft?«

Der Blonde grinste verlegen. »Wir sind seit drei Tagen hier, ist ein netter Fleck, und wir waren komplett ungestört.«

»Klar. Wildes Campen ist ja auch billiger, als auf einen Campingplatz zu fahren.«

»Hey, wir haben all unseren Müll im Bus, das können Sie überprüfen!«

»Schon gut. Die Surfbretter.«

»Also, die haben wir jeden Abend hier an die Büsche gelehnt. Und es scheint, dass die Zweige mit der Zeit nachgegeben haben. Sehen Sie hier? Da sind sie komplett umgebogen. Und gestern Abend war es dann wohl zu viel, und die Bretter sind über die Zweige einfach runtergerutscht.«

»Und das Fahrrad?«

»Mit dem war es vermutlich ähnlich. Wie haben es noch nicht gefunden.«

»Ernsthaft? Du weißt gar nicht, ob es da unten liegt?« Versehentlich war Ibara das Du herausgerutscht, aber der Blonde störte sich nicht daran.

»Ja, keine Ahnung.« Er verstummte.

Ibara lehnte sich vorsichtig ein wenig weiter nach vorne. Da unten lag definitiv ein Surfbrett, zwischen dem Grün erkannte er weitere Farbflecken. »Da war wohl Alkohol im Spiel, hm?«

Der Bursche räusperte sich und brummte etwas vor sich hin.

Ibara richtete sich auf und klopfte sich ein paar trockene Blätter von seinem Hemd. »Also gut. Habt ihr ein Seil?«

»Eben nicht. Ein paar kurze Stricke vom Surfen, aber die sind alle nicht lang genug.«

»Dann hole ich eins, und dann schauen wir zu, dass wir euer Zeug wieder hochbekommen.«

»Echt? Klasse, danke, gracias

Auf dem Weg zu seinem Seat winkte er Zamorra zu sich und erklärte ihr, was passiert war. Dabei öffnete er seinen Kofferraum und räumte ein paar Taschen zur Seite.

Sie schüttelte den Kopf. »Kein Wunder, dass ich das nicht verstanden habe. Das sind vielleicht Künstler.« Sie blickte an Ibara vorbei ins Wageninnere. »Wie immer hast du ein halbes Warenlager dabei. Was willst du mit der Holzkohle?«

Er strich sich eine schwarze Locke aus der Stirn und wühlte weiter. »Ach, die ist nur noch nicht ausgeladen. Aber hier ist das Seil. Damit kommen wir da runter und können die Surfbretter raufziehen.« Triumphierend zog er zwischen einem Eimer mit Gummistiefeln und einem Korb mit einem kleinen Feuerlöscher sowie einigen Päckchen gold-silberner Rettungsfolien ein Seil hervor, in das mehrere Knoten geschlungen waren, da es schon häufig zum Klettern genutzt worden war.

Gemeinsam gingen sie zurück zu der Gruppe, die sie mit neugierigen Mienen empfing. Ohne viel zu erklären, knotete Ibara das Seil an den nächsten Baum und ließ sich langsam ab. Die Bruchkante erschien zwar steil, aber eigentlich war der Abgrund eher ein Trichter, in den er auch ohne Hilfe hätte klettern können. Dunkle Erde und vermodertes Holz federten unter ihm. Der Hang lag nach Nordwesten, und die Sonne schien den feuchten Untergrund nur selten zu erreichen.

Das erste Surfbrett hatte sich an einem Busch verfangen. Ibara suchte Halt, schlang das Seil um das Brett, und die anderen zogen es hoch. Während er wartete, schaute er sich um und glaubte, das zweite Surfbrett gut drei Meter tiefer unter sich zu entdecken. Kein Fahrrad.

Die Neigung wurde sanfter, im Grunde handelte es sich, bemerkte Ibara, als er kurz darauf weiterkletterte, um eine Klamm. Vielleicht hatte Wasser den Erdboden vor einiger Zeit weggespült. Das kam immer häufiger vor, da Starkregengüsse in den letzten Jahren zugenommen hatten.

Er war auf dem Grund angekommen. Vor ihm ragte ein verwesender moosbewachsener Baumstumpf in die Höhe. Unter seinen Füßen klickte es, als er aufkam. Wenige Meter vor sich erblickte er einen blauen Müllsack. Offenbar waren die Surfbretter nicht das Erste, was hier – absichtlich oder versehentlich – gelandet war.

Das Surfbrett steckte senkrecht wie ein skurriler Totempfahl im Boden. Ibara umwickelte es mit dem Seil und rief den anderen zu, es hinaufzuziehen. In der Zwischenzeit beugte er sich über den Müllsack. Er musste sich schon längere Zeit hier befinden. Zumindest ließ das der Verwesungszustand des Inhaltes vermuten, der aus mehreren Löchern quoll, die vermutlich von kleinen Tieren ins Plastik gerissen worden waren. Eine Thunfischdose lag herum, so sauber, als wäre sie ausgeleckt worden, die Banderole vergilbt. Etwas weiter entfernt lag eine zerfetzte Kekstüte, daneben Papier, von der Feuchtigkeit des Bodens gewellt. Aus einem größeren Loch war ein halb leerer Eimer mit Dispersionsfarbe herausgepurzelt und aufgegangen. Weiße Farbspritzer leuchteten vor dem dunklen Untergrund, bereits getrocknet und hart. Ibara beruhigte der Anblick des Farbeimers, denn er war davon überzeugt, dass die jungen Männer kaum einen Eimer weißer Farbe mit in den Urlaub schleppen würden. Dazu schien der Müll schon ein paar Tage länger hier zu liegen. Die Deutschen hatten ihn also nicht angelogen.

Dann fiel sein Blick auf einen weißlich schimmernden Gegenstand seitlich des Eimers. Ibara stutzte. Mit dem Fuß schob er den Müllsack etwas zur Seite. Ein bleicher Knochen ragte ihm entgegen.

Ibara griff nach einer Efeuranke und zog sie mit einem Ruck weg. Dreck rieselte auf totes Laub am Boden und verursachte ein schabendes Geräusch, bei dem sich seine Nackenhaare sträubten. Oder war es der Anblick des wächsernen Gesichts, das ihm mit weit aufgerissenen Augen entgegenstarrte? Eine junge Frau, ein Mädchen in einem bunt geblümten Sommerkleid. Umrahmt von bleichen Knochen.

Unbehaglich starrte Ibara zurück, blickte sich um, während er gegen einen Anflug von Übelkeit anschluckte. Kurz schaute er nach oben und überlegte, ob er einfach rufen sollte. Doch das kam ihm pietätlos vor. Daher griff er nach seinem Smartphone und rief Zamorra an.

»Ich fürchte, die Herren aus Deutschland können noch nicht aufbrechen. Du solltest Verstärkung rufen. Hier unten liegt eine Frauenleiche. Inmitten von einem Haufen Knochen.«

2.

»Wie oft soll ich ihm das noch sagen? Was sollen wir denn tun? Wir können doch nicht beweisen, dass wir das nicht waren!« Tobias Rasch, der Blonde in Hawaiishorts, fuhr sich mit beiden Händen durch die strähnigen Haare und ließ frustriert das Kinn auf die Brust sinken. »Alter, das wäre doch wirklich der größte Schwachsinn, den ein Mensch sich ausdenken kann. Ich will nach Hause.« Den letzten Satz murmelte er mehr bei sich.

Ibara konnte es ihm gut nachfühlen.

»Was sagt er?«, fragte Miguel Arbós barsch.

»Das Gleiche wie seit Stunden«, erklärte Ibara geduldig. »Das, was sie alle vier sagen, dass sie mit der Toten nichts zu tun haben. Können wir vielleicht eine Pause machen?«

Arbós wischte sich mit dem Ärmel seines Jacketts über die Stirn. »Meinetwegen.« Er stand, ohne sein Gegenüber auch nur eines Blickes zu würdigen, von der Steinbank auf und stampfte auf seinen kurzen Beinen davon.

Ibara dagegen nickte dem Deutschen, der ihm innerhalb der letzten Stunde immer jünger vorgekommen war, freundlich zu. »Geh und trink was. Sonst kippst du hier noch aus den Latschen.«

»Mach ich.« Tobias schob sich mit einer linkischen Bewegung von der Bank und ging zu seinen drei Kumpanen, die unter einem Pavillon warteten, den sie zum Schutz gegen die Sonne vor dem VW-Bus aufgestellt hatten. Der Steintisch mit den Bänken war das letzte Fleckchen, das noch im Schatten lag – sah man von der Rückseite des VW-Busses ab, doch die hatte das Team von der Spurensicherung abgeriegelt und wimmelte dort immer noch herum.

Ibara beobachtete, wie Tobias von seinen Kumpels ein Snickers und eine Flasche Wasser in die Hand gedrückt bekam. Er war mit zweiundzwanzig der Älteste von ihnen, BWL-Student im Abschlussjahr, leidenschaftlicher Surfer und so etwas wie der unausgesprochene Anführer der vier. Sein Kommilitone Enis Günal war einundzwanzig. Die anderen beiden waren Lukas, der drei Jahre jüngere Bruder von Tobias, und sein Kumpel Frido Dohlenburg. Alle vier, das war zumindest Ibaras Meinung, waren harmlose Touristen aus Deutschland, eigentlich auf dem Weg nach Portugal, die hier ein paar Tage hängen geblieben waren, weil sie nichts trieb außer dem Spaß an der Reise und dem Zusammensein. Bis ihnen ein paar Surfbretter abhandengekommen waren und ein baskisch-spanischer Comisario hinter ihrem Auto eine Frauenleiche entdeckt hatte.

Ibara ging zu seinem Auto. Zamorra saß auf der Kofferraumkante des Citroen Xsara und nutzte das bisschen Schatten, das die Heckklappe ihr bot. Wortlos reichte sie Ibara eine Wasserflasche. »Leider nicht sehr kalt.«

»Das macht nichts. Danke.« Er trank sie in einem Zug aus, während er die Szenerie betrachtete. Zeit war ein seltsames Phänomen. Es kam ihm vor, als wäre es gerade mal eine Viertelstunde her, dass er der Toten zwischen den bleichen Knochen in die Augen gesehen hatte. Tatsächlich waren sie schon über fünf Stunden hier, und es ging auf den Spätnachmittag zu. Weshalb auch Zamorra zunehmend unruhig wurde.

Ibara warf die leere Flasche hinter seiner Kollegin in den Kofferraum. »Wenn du willst, kannst du abhauen. Wir können hier sowieso nichts tun.«

»Wirklich? Ist das okay für dich?«

Nein, war es nicht. Ibara kam sich unbeholfen vor zwischen all den Fremden, die aus Bilbao gekommen waren und die Ermittlungen an sich gerissen hatten. Zamorra war das einzig vertraute Gesicht. Ibara war zwar halber Baske, doch aufgewachsen war er in Hamburg und Brüssel, hatte in Deutschland seine Ausbildung zum Polizeikommissar gemacht. Seine Mutter hatte mit ihm sein Leben lang Spanisch gesprochen, doch Baskisch konnte er kaum. Obwohl er seit sechzehn Jahren hier in der Nähe lebte, gab es Situationen, da fühlte er sich völlig fehl am Platz, und dies war so eine.

Zamorra war bereits aufgesprungen, sah ihn erwartungsvoll an.

Er seufzte. »Hau schon ab. Ich wünschte nur, du würdest mir eines Tages mal erklären, warum du neuerdings Dienst nach Vorschrift schiebst.«

»Mach ich. Versprochen. Bis morgen!«

Er trat einen Schritt zurück. Sie knallte die Kofferraumklappe zu. Kaum saß sie hinter dem Steuer, da fuhr sie bereits an und hinterließ nichts als eine Staubwolke in der Sonne.

Arbós kam auf ihn zugewatschelt. Der Mann war Ibara auf Anhieb unsympathisch gewesen. Er trug das Haar von einer Seite zur anderen über seine Halbglatze gelegt, darunter ein feistes Gesicht, konturlos bis auf das Doppelkinn. Dazu war er von sich selbst so überzeugt, wie er fett war. Zamorra hatte ihn Sancho Panza getauft, doch Ibara fand das unpassend, denn mit dem Sidekick Don Quijotes teilte dieser Comisario General nur die körperliche Fülle. Das Gewitzte und die praktische Art, Problemen zu begegnen, die der literarischen Figur nachgesagt wurden, ließ der Mann aus Bilbao völlig vermissen.

Selten fand Ibara es angenehm, wenn die Menschen zu ihm aufschauen mussten – was bei den meisten der Fall war. Doch in Arbós’ Fall war ihm das durchaus recht so. Der musste seinen Kopf sogar ganz schön in den kaum vorhandenen Nacken legen, um Ibara in die Augen zu blicken. Das machte die mögliche Aussicht darauf, in den nächsten Tagen unfreiwilliger Fremdenführer für den Ermittler spielen zu müssen, wenigstens ein kleines bisschen erträglicher.

»Comisario Ibara, was machen wir mit den Verdächtigen?«

Ibara blickte ruhig auf ihn herab. »Sind die vier Jungs denn verdächtig?«

»Machen Sie Witze? Die Tote ist im gleichen Alter, eine Nordeuropäerin. Ich wette, die vier wollten sich die Kleine vornehmen und sind dabei ein paar Schritte zu weit gegangen.« Arbós zog eine Grimasse, die vielleicht Empörung darstellen sollte, doch um seine Mundwinkel zuckte es, als fände er morbiden Gefallen an der Vorstellung. Er wischte sich mit dem Jackettärmel über die Stirn. Dabei entblößte er feuchte Flecken unter den Achseln, die sogar schon salzige Ränder auf dem billigen Anzug hinterlassen hatten. Scharfer Geruch nach altem Schweiß stieg Ibara in die Nase. Er unterdrückte den Impuls, einen Schritt zurückzuweichen. Dieser Mann war wirklich in jeglicher Hinsicht widerlich.

»Aber sie sagten, sie wären erst seit drei Tagen hier«, widersprach er. »Und die Tote sah aus, als läge sie schon länger dort unten.«

»Ach? Sie kennen sich da aus? Haben Sie eine Ahnung, wie schnell der Verwesungsprozess voranschreitet? Wie viele Leichen haben Sie denn schon in der Wildnis gefunden?«

»Noch keine.« Ibara entschied sich, nichts weiter zu sagen, schon wegen des arroganten Tonfalls, den Arbós anschlug. Er mochte wirklich keine Ahnung vom Verwesungsprozess einer Leiche haben. Doch er kannte sich mit Müll aus, der einfach in der freien Natur hinterlassen wurde. Der Müllsack hatte auf der Toten gelegen, und das keinesfalls erst seit ein paar Tagen. Aber sollte ihm das doch die Spurensicherung sagen, das war schließlich deren Job.

»So oder so«, knurrte Arbós, »müssen diese Sonnyboys sich zu unserer Verfügung halten.«

»Das ist ja in Ordnung«, stimmte Ibara vorsichtig zu. »Trotzdem glaube ich nicht, dass ein hinreichender Tatverdacht besteht, der eine Untersuchungshaft rechtfertigen würde. Wir könnten sie auf einem der Campingplätze hier in der Umgebung unterbringen.« Außerdem waren es Deutsche. Das zog einen behördlichen Spießrutenlauf nach sich. Für nichts und wieder nichts, davon war Ibara überzeugt. Die vier hatten Pech gehabt, weiter nichts. Inzwischen bereute er sogar, dass er und Zamorra nicht einfach die Personalien der Jungs aufgenommen und sie dann fortgeschickt hatten, bevor die gesamte Mannschaft angerückt war.

»Damit sie sich bei nächster Gelegenheit davonmachen? Kommt gar nicht infrage.«

»Wir haben ihre Daten, Adressen, Personalausweisnummern. Alle vier haben einen festen Wohnsitz, studieren oder machen ihre Ausbildung. Der jüngere Rasch wohnt sogar noch bei den Eltern. Wo sollen die schon hin?«

Arbós schielte wütend zu ihm auf. »Sie kennen sich also nicht nur mit Leichen, sondern auch mit Täterprofilen aus, was? Verbrecher legen eine ziemliche Kreativität an den Tag, um sich vor der Polizei zu verstecken. Wir haben trotz aller politischer Schwankungen immer noch ein Europa offener Grenzen. Die sind im Handumdrehen in Portugal oder machen sich rüber in die Karpaten.«

Ibara presste die Lippen aufeinander, um keine Antwort zu geben, die er später einmal bereuen würde. Immerhin hatte Arbós den höheren Dienstrang und – zugegeben – auch die größere Erfahrung, dennoch kam ihm das alles ziemlich an den Haaren herbeigezogen vor. Wusste der werte Herr aus Bilbao überhaupt, wo die Karpaten lagen?

Die vier Jungs wirkten auf ihn wohlbehütet, eher bieder. Ibara würde darauf wetten, dass ihr größtes Verbrechen ein Joint oder ein paar Stundenkilometer zu schnelles Fahren auf der Landstraße war. Sie waren arglos, standen unter Schock. Arbós hatte sich jeden Einzelnen von ihnen insgesamt dreimal vorgenommen und sie mit Ibaras geduldiger Übersetzung vier Stunden verhört. Es hatte keinerlei Widersprüche gegeben, keine Unsicherheit, die über das hinausging, was zu erwarten war, weil sie als Touristen in der baskischen Wildnis von einem dicken Spanier befragt wurden. Wenn sie das Mädchen umgebracht hätten, so wiederholte vor allem Tobias Rasch ein ums andere Mal, dann hätten sie sich doch davongemacht. Was für einen Sinn hätte es gehabt, die Polizei mit der Nase auf die Tote zu stoßen?

Machtrausch, Demonstration von Überlegenheit, hatte Arbós angegeben, als Ibara in einer kurzen Pause dieselbe Frage gestellt hatte. Auch das fand er absurd, beziehungsweise könnte er sich das bei einem oder zwei Tätern vorstellen, aber nicht bei vier Burschen, die noch nicht trocken hinter den Ohren waren.

Zamorra war derselben Meinung gewesen. Ibara hätte sie gerade jetzt zu gern an seiner Seite, aber ihr war irgendein Privatkram wichtiger.

Er gab sich einen Ruck. »Was wäre, wenn ich die Verantwortung übernehme? Ich bringe die vier an einem Ort unter, wo wir sie unter Kontrolle haben.« Und ersparten sich die Peinlichkeit und den Aufwand, sie im Handumdrehen mangels Beweisen wieder aus der Untersuchungshaft entlassen zu müssen.

Zu diesem oder einem ähnlichen Schluss schien Arbós nach kurzem Nachdenken auch gekommen zu sein. Er nickte knapp, wobei sein Kinn schwabbelte. »Mir recht.«

3.

Eine halbe Stunde später bog Ibara auf den Hof westlich von Getaria ein. Seine Schwiegermutter und Hausherrin Finia Herrero Etxeverría erwartete ihn bereits, vielmehr kehrte sie den gepflasterten Platz vor dem großen Wohnhaus und würdigte die Wagenkolonne keines Blickes, ein sicheres Zeichen dafür, dass sie alles genauestens beobachtete.

Ibara ließ das Seitenfenster herunter und winkte den hinter ihm fahrenden Autos zu, ihm nach links an einer kleinen Wiese vorbei zu einem lang gezogenen Gebäude zu folgen. Dort parkte er. Tobias Rasch stellte den Bus neben ihm ab, Frido Dohlenburg folgte mit dem Focus.

»Passt auf«, sagte Ibara, nachdem die vier ausgestiegen waren. »Ihr könnt hier erst einmal euer Lager aufschlagen. Das flache Gebäude hinter euch ist eine ehemalige Scheune, das Tor ist gleich an der Seite. Macht euch da Platz, schlagt euer Zelt davor auf oder unter der Baumgruppe da vorne, wie ihr wollt. Neben dem Tor ist auch ein Wasseranschluss.« Er drehte sich einmal um und wies auf eine Kate links neben dem Wohnhaus. Beide Gebäude waren im typischen Stil der Gegend aus sandfarbenem Naturstein gemauert und teilweise weiß verputzt, die Fenster mit dunkelbraunen Balken abgesetzt. Das größere Haus war einigermaßen instand gehalten, allerdings konnten die hölzernen Fensterläden und die Tür einen Anstrich vertragen. Dagegen war das Häuschen daneben in einem erbärmlichen Zustand, der Putz abgebröckelt, die Dachschindeln lose. Im ersten Geschoss war sogar ein Fenster provisorisch mit Brettern vernagelt.

»Das Haus dort steht leer«, erklärte Ibara. »Ich gebe euch den Schlüssel, und ihr könnt dort Bad und Klo benutzen. Es ist weder sehr sauber noch komfortabel, aber da ihr in den letzten Tagen die Waldtoilette benutzt habt, solltet ihr damit klarkommen. Braucht ihr sonst noch was? Habt ihr Fragen?«

»Na ja.« Tobias legte die Hand in den Nacken. »Was wird das? Ich meine, wir können doch jetzt nicht hier … wie lange hängen wir hier fest?«

»Ich habe keine Ahnung. Bis Comisario Arbós einen anderen Verdächtigen findet.«

»Der meint das alles ernst, oder?« Enis trat heran, stellte sich neben Tobias und reckte herausfordernd das Kinn. »Was ist, wenn wir einfach abhauen?«

Ibara zog die Augenbrauen zusammen und musterte ihn streng von oben herab. Das reichte schon.

Enis zog den Kopf zwischen die Schultern. Es machte ihm sichtlich Mühe, den Blickkontakt zu halten, doch er schaffte es.

Ibara streckte sein breites Kreuz und verschränkte die Arme vor der Brust, wohl wissend, dass er damit noch größer wirkte. »Klar könnt ihr abhauen. Aber wenn wir euch dann erwischen, kann ich euch eine Untersuchungshaft sicher nicht ersparen.«

Tobias zupfte seinen Freund am Ärmel seines T-Shirts. »Lass gut sein. Die ganze Sache ist schon beschissen genug.«

»Rafa! Wer sind die?«, erscholl hinter ihnen eine erstaunlich tiefe Frauenstimme in schwerfälligem Spanisch. Finia kam um die Ecke auf sie zu, den Besen wie eine Lanze auf die vier Jungs gerichtet.

Ibara unterdrückte beim Anblick ihrer Mienen ein Grinsen. Sie schwankten zwischen Verblüffung und Unbehagen. Nach einer Leiche und einem fetten spanischen Inquisitor bekamen sie es jetzt mit einer baskischen Drachentöterin zu tun. Den Kontakt mit den Einheimischen hatten die Burschen sich sicherlich anders vorgestellt.

Finia ging auf die sechzig zu, doch sie war agil und wirkte um einiges jünger, was nicht zuletzt an ihrer schlanken Figur und ihrer Vorliebe für enge Jeans und karierte Blusen liegen mochte.

»Amama, das sind vier junge Gäste aus Deutschland«, erklärte Ibara auf Spanisch. »Sie werden eine Weile hierbleiben, bis die Polizei ihnen erlaubt, weiterzureisen.«

»Polizei? Du? Warum? Was haben die angestellt?«

»Ich bin sicher, dass sie gar nichts verbrochen haben. Sie campierten weiter östlich in den Dünen, und dort wurde eine Frauenleiche entdeckt.«

Finia verstummte und ließ den Besen sinken.

»Buenos días, Señora«, murmelte Lukas artig.

»Finia, diese vier hier waren zur falschen Zeit am falschen Ort. Du redest doch seit dem Frühjahr davon, hier auf dem Hof Zimmer zu vermieten. Jetzt kannst du ausprobieren, wie es ist, wenn hier ein paar Fremde herumlaufen.«

Finia verzog das runzelige Gesicht zu einem freudlosen Lächeln. »Bist du vollkommen übergeschnappt? Ich soll Mörder beherbergen?«

»Sie haben nichts getan, ich weiß es.«

Autor