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Bitte nach Ihnen, Madame

Einer Dame die Tür aufzuhalten und sie vorausgehen zu lassen gilt als ritterlich. Und das zu Recht: Ursprünglich ließen die Ritter die Damen zuerst durch die Tür, weil dahinter Meuchelmörder lauern konnten. Begrüßungsrituale und Mimik, Tischsitten und Trinkgewohnheiten, Smalltalk und die Signale zwischen den Geschlechtern – das richtige Benehmen dient immer der Hackordnung, der Bündnisbildung und der Abgrenzung nach unten. Oft aus handfesten Gründen: Den Hut zu lüpfen ist zum Beispiel weniger ansteckend, als anderen Leuten die Hand zu geben. Ari Turunen und Markus Partanen haben die Kuriosa der Manieren über die Jahrhunderte hinweg zu einer überraschenden und amüsanten Kulturgeschichte verwoben.
  • Erscheinungstag: 26.09.2016
  • Seitenanzahl: 208
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312010127
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Über das Buch

Den Damen die Tür aufzuhalten und sie vorausgehen zu lassen, gilt als ritterlich. Und das zu recht: Ursprünglich ließen die Ritter die Damen zuerst durch die Tür, weil dahinter Meuchelmörder lauern konnten.

Nach Turunens erfolgreichem Buch über Arroganz, Könnte mir bitte jemand das Wasser reichen?, folgt hier die nächste kluge und unterhaltsame Kulturgeschichte, mit erstaunlichen Einsichten und amüsanten Details.

Zum Geleit

Dieses Buch über die äußeren Umgangsformen behandelt die Entstehung der europäischen Verhaltensregeln in verschiedenen Situationen, vom Gruß bis zum Gutenachtkuss. Die Reise durch die Geschichte der Manieren führt die Leser in eine faszinierend fremde, zugleich aber auch verstörend bekannte Welt.

Es wird sich dabei zeigen, dass man die formale Einhaltung der europäischen Benimmregeln nicht voreilig positiv bewerten sollte, denn viele Sitten, die heute als höflich gelten, haben einen fragwürdigen, wenn nicht gar skrupellosen Hintergrund. Tadelt man etwa die zur Gleichberechtigung erzogenen skandinavischen Männer dafür, dass sie nicht immer daran denken, Frauen zuerst eintreten zu lassen, so sollte man die zweifelhafte Entstehungsgeschichte dieses Brauchs nicht vergessen: Er wurde von den Rittern des Mittelalters erfunden, die befürchteten, in den verwinkelten Gängen einer Burg könnten Meuchelmörder lauern. Deshalb ließen die Ritter vorsichtshalber den Frauen den Vortritt … Auch für Manieren gilt: Nicht alles ist Gold, was glänzt.

Dennoch möchten wir unsere Leser an dieser Stelle in aller Form begrüßen und sie in unserem Buch herzlich willkommen heißen.

Helsinki, 31. Januar 2016

Ari Turunen und Markus Partanen

Inhalt

Einleitung
In der Einleitung geht es darum, dass die Aggressivität
des Menschen, seine Sexualität, seine Tischsitten und alle
Körpersekrete bis hin zu den Tränen schon immer unter
Beobachtung standen.

I  Haltung und Körpersprache
In diesem Kapitel üben wir Street Credibility und behandeln Regeln zu Haltung und Körpersprache.

II  Grussrituale
Die ursprüngliche Funktion des Grüßens bestand darin,
zu zeigen, dass man keine Waffe in der Hand trägt!

III  Tischsitten
Gemeinsame Mahlzeiten und insbesondere das Teilen des Essens zählen zu den charakteristischsten Besonderheiten der
Menschheit. Deshalb sind die Regeln, die Mahlzeiten betreffen,
in allen Gesellschaften von zentraler Bedeutung für die
Erziehung.

IV  natürliche Bedürfnisse und Körpersekrete
In diesem Kapitel erfährt man unter anderem,
dass es unhöflich ist, einen Menschen zu grüßen,
der gerade sein großes oder kleines Geschäft verrichtet.

V  Weinen und Lachen
Weinen in der Öffentlichkeit gehörte lange zum guten Ton. Dagegen war es nie schicklich, alleine zu lachen.

VI  Aggressivität
Der Mensch ist ein Herdentier, das um Macht und Freiheit kämpft. Je mehr Menschen um uns sind, desto dringender brauchen wir Regeln, die offene Feindseligkeiten verhindern.

VII  Sexualität
Der Mensch ist das einzige Tier, dessen Brunstzeit das ganze Jahr über andauert. Und genau das verursacht Probleme …

VIII  Das neue digitale Mittelalter
Das Internet und die sozialen Medien sollten Menschen
verbinden, bei der Verbreitung von Informationen helfen und neue Freundschaftsbande schaffen. Heute wird in dieser Welt posiert, kokettiert und randaliert; all das zeigt, dass das
hemmungslose Benehmen des Mittelalters in der virtuellen Welt eine neue Blüte erlebt.

Zum Schluss:
Der Vater und der ungezogene Sohn

Im letzten Kapitel wird gezeigt, dass die Jugend in den Augen
der Älteren schon immer verlottert war.

Literaturliste

Einleitung

Obwohl Europa das kleinste unter allen vier Teilen der Welt ist, so ist es doch um verschiedener Ursachen willen allen übrigen vorzuziehen. (…) Die Einwohner sind von sehr guten Sitten, höflich und sinnreich in Wissenschaften und Handwerken.

Zedlers Universal-Lexikon, Band 8, Spalte 2195, 1734

Europa ist seiner terrestrischen Gliederung wie seiner kulturhistorischen und politischen Bedeutung nach unbedingt der wichtigste unter den fünf Erdtheilen, über die er in materieller, noch mehr aber in geistiger Beziehung eine höchst einflussreiche Oberherrschaft erlangt hat.

Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände, Band 1, S. 373, 1847

Die Europäer brüsten sich seit Jahrhunderten mit ihrer Zivilisation und ihren Manieren, wie sich aus den Einträgen in den beiden deutschen Enzyklopädien schließen lässt. Europäertum war immer gleichbedeutend mit ganz bestimmten Verhaltensweisen und einer hervorragenden Kultur, die jeden Fremden beeindrucken mussten, sobald er nach Europa kam. Dieses Buch vertritt jedoch eine andere Ansicht, was die Vorzüge des Europäischen betrifft. Es kratzt frech am Glanzbild von Europa als einem Klub von Menschen, die sich richtig benehmen, bei offiziellen Essen nach allen Regeln der Kunst mit ihren Tischnachbarn plaudern, sich anständig kleiden und Wein genießen, ohne betrunken zu werden. All dies ist im Grunde noch kein gutes, sondern nur ein oberflächlich korrektes Benehmen. Bekanntlich wissen durchaus nicht alle Europäer, sich gut zu benehmen – man denke nur an Dominique Strauss-Kahn oder Silvio Berlusconi –, auch wenn sie in ihren Regierungspalästen in eleganten Anzügen formvollendete Trinksprüche ausbringen.

Dieses Buch möchte hinter die vordergründigen Posen dringen und die Frage erörtern, was gutes Benehmen eigentlich ist. Oder nein, eigentlich lautet die Frage: Gibt es überhaupt sogenannte gute Manieren, oder ist das, was wir so nennen, nur ein Mittel, alles Menschelnde zurückzudrängen, eine Art geistiger Käfig, der unser natürliches, tierhaftes Verhalten zähmt? Bevor man in der EU auf die Idee verfällt, eine Benimm-Direktive zu erlassen, ist es – nicht zuletzt in therapeutischer Hinsicht – ratsam, die Entstehungsgeschichte der europäischen Manieren zu untersuchen und die vermeintliche Tugendhaftigkeit so mancher strengen Benimmregel zu hinterfragen.

In den oben zitierten deutschen Enzyklopädien wird Europa als bedeutender und zivilisierter Kontinent hervorgehoben, als einer der vier oder (nach der Entdeckung Australiens) fünf Kontinente. Diese Gliederung der Welt hat außerhalb Europas damals Verwunderung ausgelöst. Der chinesische Historiker Xu Jiyu schrieb in seinem 1848 erschienenen Buch, die «Menschen des westlichen Ozeans» teilten die Welt gern in verschiedene Teile, die sie als Kontinente bezeichneten. Diese Kontinente seien Europa, Afrika, Amerika und Asien. Jiyu fährt fort, nach Ansicht der Europäer gehöre China zu «Asien». Wenn das zutreffe, müsse man darüber nachdenken, wo die Grenze zwischen Asien und Europa verlaufe, meint Jiyu, denn in seinen Augen sei Europa eher die westlichste Halbinsel Eurasiens.

Jiyus Bemerkung ist durchaus begründet, denn niemand kann eindeutig angeben, wo die Grenzen Europas verlaufen. Das ist verständlich, da Europa kein abgeschlossener Kontinent ist, sondern auf der Eurasischen Kontinentalplatte liegt. Dennoch hat man versucht, anhand geografischer und kultureller Kriterien die Ostgrenze Europas so zu definieren, dass sie entlang des Bosporus über den Kaukasus zum Ural führt. Wenn wir allerdings in Istanbul mit der Fähre in östlicher Richtung den Bosporus überqueren, werden wir mit Sicherheit keine andere Atmosphäre vorfinden als auf der westlichen Seite in den Cafés am Taksim-Platz. Es ist unmöglich, bei den östlich des Urals lebenden Russen wesentliche Verhaltensunterschiede gegenüber den westlich des Urals lebenden Russen festzustellen. Ein Nord-Ossete im Kaukasus ist nach Ansicht der europäischen Geografen Europäer, ein Süd-Ossete dagegen Asiat. Wenn der Ural oder der Kaukasus die Grenze zwischen zwei Kontinenten bildet, könnten nach derselben Logik die Rocky Mountains Nordamerika in zwei Erdteile mit sich unterschiedlich verhaltenden Amerikanern trennen.

Der Eurovision Song Contest lockt die Europäer im Norden wie im Süden in größeren Scharen vor den Fernseher als die Europawahlen, bei denen die Wahlbeteiligung erheblich niedriger liegt als bei den nationalen Parlamentswahlen. Bei dem Eurovision-Sangeswettbewerb dehnt sich Europa zudem weiter nach Süden und Osten aus als in den Schulbüchern – und erst recht weit über die EU-Grenzen hinaus. Die südlich des Kaukasus liegenden Länder Georgien, Armenien und Aserbaidschan haben, ebenso wie Israel und die Türkei, regelmäßig am Song Contest der Europäischen Rundfunkunion (EBU) teilgenommen, doch zu den Verhandlungstischen, an denen über gemeinsame europäische Angelegenheiten entschieden wird, hatten sie bisher keinen Zutritt.

Mit Ausnahme der Währungseinheit Euro sind alle mit «Euro-» beginnenden Begriffe schwammig, wenn nicht gar verworren. Wissen wir eigentlich selbst, wo wir sind, wenn wir behaupten, in Europa zu leben? Wird Europa vielleicht durch das definiert, was wir nicht sein wollen?

Die in Europa bewunderten Denker der Aufklärung schufen die Vorstellung von einem zivilisierten Erdteil, der als Leitstern der geistigen Entwicklung galt und sich durch seine verfeinerte Kultur vom Rest der Welt unterschied. So schrieb etwa der Philosoph und Ökonom Adam Smith, in der Praxis seien alle außereuropäischen Länder barbarisch, unzivilisiert und wild. Eines der Kennzeichen für diesen barbarischen Zustand war Smith zufolge die Tatsache, dass man in diesen Ländern nicht auf die gleiche Art Handel zu treiben verstehe wie in Europa. Die Selbstgefälligkeit der Aufklärer mag man heute belächeln, doch nach wie vor wird das Wesen Europas in Diskussionen vor allem durch das definiert, was Europa nicht ist. Und so werden auch die Grenzen der EU-Erweiterung bestimmt.

Stotternde Barbaren

Die Philosophen der Aufklärung hatten mit ihrer Diskriminierung anderer Völker freilich nichts Neues erfunden, denn seit je grenzen sich alle menschlichen Gemeinschaften sowohl von den Tieren als auch von Menschen außerhalb ihrer Gemeinschaft ab. Alle Gesellschaften neigen auch unbewusst oder unverhohlen dazu, die Bedeutung des Begriffs «Mensch» auf die Mitglieder der eigenen Gruppe zu begrenzen: Man meint, die Außenstehenden seien andersartig, unzivilisiert oder gar roh und tierisch, was in ihrem schlechten Benehmen zum Ausdruck komme. Mensch-Sein bedeutet, sich anständig zu benehmen, die richtigen Gesten zu machen und die richtigen Worte auf die richtige Art zu sagen.

Der Gedanke, die eigene Kultur sei in jeder Hinsicht besser als irgendeine andere, ist uralt. Schon die alten Ägypter unterschieden sich ihrer eigenen Ansicht nach durch ihre Selbstdisziplin von anderen Völkern. Auf die alten Griechen geht der Begriff «Barbar» zurück: Fremde Sprachen klangen in ihren Ohren wie Hundegebell (barbar), und daraus schlossen sie, dass die Ausländer auf derselben Entwicklungsstufe stünden wie Hunde.

Auch die Inder bezeichneten Fremde mit dem Terminus barbara, und dieses Schimpfwort hat eine ähnliche Etymologie wie bei den Griechen: Es wurde für Menschen verwendet, die kein Sanskrit sprachen; als barbara wurde ein stotternder Ausländer bezeichnet, in dessen Sprache es zahlreiche r-Laute gab. Bald wurde das Wort auch zum Synonym für Ausdrücke wie «Clown» oder «Holzkopf». Frankreich hütet bekanntlich seine Kultur durch die Sprache. Diese wird mitunter mit einer Vehemenz verteidigt, die man außerhalb Frankreichs nahezu als rassistisch empfindet. Das französische Wort barbarisme veranschaulicht bis heute diese uralte Denkweise: Es ist die Bezeichnung für einen groben sprachlichen Fehler.

Es scheint für alle Kulturen typisch zu sein, Ausländer als minderwertig abzustempeln, weil sie «unsere» Sprache nicht beherrschen. Die Slawen nannten die Germanen «die Sprachlosen», und die Maya in Mittelamerika bezeichneten Nachbarstämme als «Stotterer». Auch nach Ansicht der Azteken waren diejenigen, die nicht ihre Sprache sprachen, Barbaren und Wilde.

Noch gewichtigere Gründe für die Verachtung von Ausländern waren jedoch deren Verhaltensweise und Aussehen. Beispielsweise meinten die Chinesen, die Europäer seien unzivilisiert und benähmen sich so schlecht, dass sie sich kaum gegenseitig ertrügen. In der Südsee wurden die Europäer cookies genannt, nach Kapitän Cook. Die Polynesier hielten die Europäer für «rothaarige und großnasige Barbaren».

Schein und Sein in Europa

Die Definition des Europäischen wird auch nicht gerade einfacher, wenn wir anstelle von äußerlichen Merkmalen und Sprachen sogenannte «höhere» kulturelle Eigenschaften heranziehen. Das heutige Europäertum ist ein Mosaik aus nationalen Identitäten, die zusammengehalten werden von … ja, von was? Von etwas, das man nicht genau zu benennen weiß. In zahlreichen Studien und Seminaren wurde bereits nach der gemeinsamen «europäischen Identität» geforscht, ohne dass man sich auf eine Antwort einigen konnte.

Auch der Begriff der jeweiligen «nationalen Identität» ist schon unscharf, schließlich bestehen die europäischen Gesellschaften zunehmend aus einem Gemenge unterschiedlicher Subkulturen. Historisch gesehen sind die nationalen Identitäten mit der Entstehung der europäischen Nationalstaaten in der Neuzeit verbunden: Als Bausteine der nationalen Identität fungierten unter anderem die gemeinsame Sprache, gemeinsame nationale Symbole und Zeichensysteme, die Volkssagen, der Volkscharakter sowie gemeinsame Verhaltenstendenzen und -gewohnheiten, auch gemeinsame Manieren.

Die Multikulturalität Europas hat durch die steigende Migration und die jüngsten Flüchtlingsströme weiter zugenommen. Sie wirft komplexe, politisch gefärbte Fragen auf, die gemeinsam, bedachtsam und sorgfältig beantwortet werden müssen. Die Einstellung zur Migration ist jedoch auch mit vielen Emotionen verbunden. Die Eigenheiten und das Verhalten von Menschen aus fremden Kulturen werden als bedrohlich empfunden, und man fordert von den Neuankömmlingen, dass sie sich den «Landessitten» anpassen. Viele Sozialphilosophen, darunter der Franzose Paul Ricœur, haben über die Empfindungen geschrieben, die die Begegnung mit der Multikulturalität bei manchen Menschen auslöst: Sie fürchten um den Erhalt ihrer eigenen Kultur und fühlen sich deshalb bedroht.

Diese Furcht ist jedoch nichts Neues unter dem Himmel Europas, denn schon seit dem Mittelalter gab es, sowohl zwischen verschiedenen Völkerschaften als auch zwischen den Angehörigen eines Volkes, immer wieder das Bestreben, eine scharfe Trennung zwischen den eigenen Gebräuchen und denen der «anderen» zu machen. Deshalb waren auch «richtiges» Verhalten und die Befolgung allgemein akzeptierter Benimmregeln immer wichtig. Schon Jahrhunderte vor der Entstehung der Nationalstaaten und des staatlichen Gewaltmonopols zähmten die Menschen in Europa ihre Aggressivität und ihre Ängste durch die Reglementierung des Verhaltens. So sind zum Beispiel viele heute selbstverständliche Grußrituale aus Gesten entstanden, die signalisierten, dass man nicht in feindlicher Absicht kam oder dass man keine Waffe bei sich trug.

Eine einheitliche Verhaltensnorm unter den Menschen erscheint zwar wünschenswert, ist aber durchaus keine Garantie für ein harmonisches und konfliktfreies Zusammenleben – das lehrt uns zumindest die Geschichte. Mit der Definition des «richtigen» Benehmens verband sich eben auch der Wunsch, deutliche Grenzen zwischen Menschengruppen und Gesellschaftsklassen zu errichten, so im 17. Jahrhundert zwischen dem höfischen Adel und dem aufsteigenden Bürgertum. Das Beherrschen gesellschaftlicher Manieren kann also durchaus als zweischneidiges Schwert gelten.

Dieses Buch enthält zahlreiche Beispiele, die zeigen, wie fragwürdig manche so alltäglichen, ursprünglich auf den europäischen Hofadel und die Bildungsschicht zurückgehenden Manieren sind. Tatsächlich wurde auch schon früh Kritik an den Benimmregeln geübt. Im 18. Jahrhundert kritisierte zum Beispiel der französische Graf Mirabeau die Etikette am Hof von Versailles als reine Äußerlichkeit. Mirabeau war der Ansicht, die Gelehrten seiner Zeit würden die Zivilisation falsch verstehen: Sie sprächen von der Verfeinerung der Verhaltensweisen und von Höflichkeit, doch seien diese Phänomene nur eine tugendhafte Maske, nicht das wahre Gesicht der Tugend. Mirabeau zufolge verändert die Zivilisation die Gesellschaft nicht im Geringsten, wenn sie sich nicht auch auf den Kern der Tugenden und auf die Ideale der Menschen auswirkt. Mirabeaus Kritik erwuchs daraus, dass die Verhaltensweisen am französischen Hof ein Teil des sozialen Spiels geworden waren, zu dem außerdem elegante Kleidung, Parfüm, Puder und Perücken gehörten. Alles – auch die Manieren – berührte nur die Oberfläche, wie man heute sagen würde. Dennoch verfolgten das restliche Europa und die Menschen außerhalb des Hofs das Schauspiel, das Versailles ihnen bot, mit Bewunderung und ahmten es nach.

Im 18. Jahrhundert war das auf Sitten und Bräuche gemünzte Wort «Zivilisation» für manche bereits zum Schimpfwort geworden, und zum Beispiel Voltaire betrachtete die Zivilisation als gekünstelt im Gegensatz zur natürlichen Höflichkeit. Der Philosoph Pascal merkte zynisch an, man müsse zivilisiertes Benehmen einfach deshalb akzeptieren, weil es üblich sei, nicht etwa deshalb, weil es vernünftig oder gerecht wäre. Die Scheinheiligkeit guten Benehmens wurde auch schon früh völlig bewusst anerkannt, wie aus der Anleitung für den Kirchgang hervorgeht, die der Franzose Antoine de Courtin 1671 verfasste: «Wenn man aus mangelnder Gläubigkeit oder Trägheit vergisst oder keinen Wert darauf legt, vor Gott niederzuknien, sollte man es dennoch tun wegen der Schicklichkeit und auch deshalb, weil man in der Kirche hochrangige Menschen antreffen kann.» Nach de Courtin ging solche Heuchelei also durchaus als schickliches Verhalten durch.

Über das Benehmen werden seit je auch innerhalb einer Kultur Grenzen zwischen verschiedenen Gesellschaftsschichten gezogen. Die adligen Stände Europas entwickelten nicht zuletzt deshalb kultivierte Manieren, um sich von den anderen Ständen und der Landbevölkerung abzuheben. Entsprechend wurde der überwiegende Teil der Manierenbücher des 16. und 17. Jahrhunderts im Hinblick auf die höfische Erziehung verfasst (so Der Hofmann von Baldassare Castiglione 1527, der Galateus von Giovanni Della Casa 1558, das Neue Büchlein von der Höflichkeit von Antoine de Courtin und andere). Die Angehörigen der niederen Stände galten als tierhaft und wurden häufig als Esel oder Affen dargestellt. Eine solche Einstellung dokumentieren viele Gemälde von Hieronymus Bosch und Pieter Brueghel, die das einfache Volk und den Alltag ihrer Zeit offen und ungeschönt darstellen: An oder unter den Tischen sieht man Menschen ihren Rausch ausschlafen, und häufig herrscht eine tierische Karnevalsstimmung.

Die allmähliche Verbreitung der Etikette in den unteren Schichten der Gesellschaft nagte dann auch am Selbstwertgefühl des Hofes, und schon Ende des 17. Jahrhunderts erschienen Werke, in denen erörtert wurde, inwiefern die guten Manieren des Hofes besser seien als diejenigen des Bürgertums. Auch wenn die heutige Gesellschaft im alltäglichen Leben bedeutend «demokratischer» ist als im Mittelalter oder zu Beginn der Neuzeit, lassen sich verschiedene Mechanismen der Distinktion auch heute noch in vielen urbanen Sitten entdecken. War im 17. Jahrhundert der französische Hof richtungweisend, so dient als ein gewisses Modell heute die amerikanische Highschool, deren Werte ihre Zöglinge, die Erfinder der sozialen Medien, in der Welt verbreiten. Durch die sozialen Medien wiederum entsteht der Druck, beliebt, attraktiv und interessant zu sein. Normalität, Bescheidenheit und Stille werden in dieser Welt nicht geschätzt; vielmehr geben Berater sogar Hinweise, wie man sein Profil in den sozialen Medien durch professionelle und ansprechende Fotos verbessern kann. Der äußere Anschein und der Stil sind entscheidend – ob es sich um einen gezwungen lächelnden Freund auf Facebook handelt oder um einen Höfling mit Perücke in Versailles.

Das zivilisierte Tier

Als wichtige Inspiration für dieses Buch darf das Hauptwerk des Soziologen Norbert Elias gelten, die in den dreißiger Jahren verfasste Studie Über den Prozess der Zivilisation. In Elias’ Zivilisationstheorie geht es darum, wie der Mensch, insbesondere der europäische Mensch, im Lauf der Zeit einen strikten Verhaltenskodex entwickelt hat: Die schäbige Seite des menschlichen Wesens, das triebhafte Verhalten, hat sich als kontinuierlicher Risikofaktor im Leben menschlicher Gemeinschaften entpuppt. Da der Mensch seinen natürlichen Bedürfnissen und Körperfunktionen unterworfen ist, begann man, diese Bedürfnisse zu kontrollieren, indem man Verhaltensnormen schuf. So gerieten die Gewaltbereitschaft des Menschen, seine Sexualität, die Tischsitten und alle Körpersekrete bis hin zu den Tränen unter ständige Beobachtung.

Elias ging es mit seiner Studie darum, den Prozess der «Selbstzivilisation» der europäischen Kultur transparent zu machen und aufzuzeigen, dass die Zivilisation nichts «Naturgegebenes» ist, denn er glaubte, dass viele Menschen ihr so eingeschüchtert begegneten wie die Völker des Mittelalters unerklärlichen Naturkräften. Es ist leicht, Elias hierin zuzustimmen, denn einem bekannten Spruch zufolge ist gutes Benehmen im besten Fall so selbstverständlich, dass der Einzelne es sich gar nicht bewusst macht. Andererseits kann die Befolgung unbewusster Regeln zu psychischen Konflikten führen, worauf die Populärpsychologie immer wieder hinweist.

Unbewusste Regeln des menschlichen Verhaltens hat vor allem der britische Zoologe und Verhaltensforscher Desmond Morris analysiert. Er interessiert sich für das, was die Menschen tatsächlich tun, nicht für das, was sie zu tun behaupten. Auf die Kritik, er sehe beim Menschen nur zahllose «tierische» Gefühle, entgegnet Morris, unser Verhalten sei nun einmal Teil unseres tierischen Erbes. Benimmbücher können seiner Ansicht nach nichts dagegen ausrichten: Unser Verhalten habe sich im Lauf der Zeit nicht wesentlich verändert, denn der Mensch als Spezies habe immer dieselben emotionalen Bedürfnisse und dieselben Mittel, sie auszudrücken.

Höfliche Verbeugungen und Knickse zum Beispiel gehen in diesem Sinne eher auf unser biologisches Erbe zurück als auf die Aneignung bestimmter Sitten: Bei Tieren haben eine kauernde Haltung und ein gesenkter Kopf die Funktion, die Wut des Anführers der Herde zu beschwichtigen sowie sich klein und damit weniger bedrohlich zu machen. Ebenso verbeugen sich die Menschen vor hochrangigen Herrschern oder knien vor ihnen nieder, um ihre Untertänigkeit zu demonstrieren.

Die Ausdrucksmittel der nonverbalen Kommunikation, die in unserer Körpersprache sichtbar werden – also Gesten, Mimik und Haltung –, sind somit ein biologisches, instinktives Verhalten, das man durch bestimmte Regeln zu kontrollieren und zu normieren versucht. Der Mensch gibt natürlich ungern zu, dass mindestens einige seiner Verhaltensmuster mit denen wilder Tiere identisch sind. Eher will man durch Zivilisiertheit und Manieren zeigen und unterstreichen, wie «weit weg» vom Tier sich der Mensch entwickelt hat.

Erasmus von Rotterdam - der Vater der europäischen Manieren

Das Benimmbuch De civilitate morum puerilium (Zuchtbüchlein vor die Jungen knaben) des niederländischen Humanisten Erasmus von Rotterdam aus dem Jahr 1530 ist in vielerlei Hinsicht ein Meilenstein in der Geschichte der europäischen Verhaltenskultur, denn es ist einer der ersten Vertreter des Genres und sicher der erfolgreichste aller Zeiten. Bereits Ende des 17. Jahrhunderts wusste die Enzyklopädie der Académie Française zu berichten, dass für einen Menschen, der an seinen alltäglichen Pflichten scheitert, die Redewendung geprägt wurde, er habe «das Zuchtbüchlein des Erasmus nicht gelesen».

Erasmus schrieb sein schmales Büchlein ursprünglich als Leitfaden für die Erziehung des jungen Heinrich aus dem Burgunder Fürstenhaus, doch schon bald nach dem Erscheinen des Ratgebers zeigte sich, wie sehr dieser Themenkreis die europäische Oberschicht interessierte: Als Erasmus 1536 starb, war sein Werk bereits in der dreißigsten Auflage erschienen, und im 18. Jahrhundert erreichte die Zahl der lateinischen Auflagen bereits hundertunddreißig. Sein Benimmbuch wurde bald an den Schulen ganz Europas zum Lehrbuch für die Erziehung von Jungen. In englischer Übersetzung erschien es nur wenige Jahre später als das Original. Es wurde nicht nur in mehrere Sprachen übersetzt, sondern auch von zahlreichen Autoren unter eigenem Namen plagiiert.

Das Benimmbuch des Erasmus war ein Erfolg, weil es einem großen gesellschaftlichen Bedarf entsprach. Im ausgehenden Mittelalter und der beginnenden Neuzeit wurden gute Manieren zu einem wichtigen Instrument der sozialen Distinktion, und das Werk des Erasmus war ein hervorragender Leitfaden für «zivilisiertes» Benehmen. Durch ihn erhielt der lateinische Begriff civilitas eine neue Bedeutung, die später im Selbstverständnis der europäischen Gesellschaft eine zentrale Rolle spielte – eben das «zivilisierte Benehmen». In vielen Sprachen bildete sich dafür ein entsprechendes Wort: im Französischen civilité, im Englischen civility, im Italienischen civiltà und im Deutschen Zivilität.

Die Wichtigkeit von Erasmus und seinem Benimmbuch zeigt sich darin, dass die heutigen guten Manieren just in jenem «Zivilisationsprozess» entstanden sind, der zu seiner Zeit begann und bis heute anhält. Die Entwicklung verlief dabei nicht ohne Unterbrechungen, und es gab immer auch regionale Unterschiede, doch im Lauf der Zeit wurde die Grundlage des «richtigen Benehmens» so alltäglich, dass man ihre Existenz heute nicht einmal mehr wahrnimmt. Deshalb ist es in vielerlei Hinsicht erhellend, den kleinen Ratgeber von Erasmus – dem wichtigsten Geburtshelfer unserer heutigen Manieren – etwas genauer zu betrachten. Wir werden in der Folge immer wieder Zitate aus Erasmus’ Buch anführen und analysieren, doch an dieser Stelle sei das «Zuchtbüchlein» generell vorgestellt.

Das knapp fünfzig Seiten umfassende Opus besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil behandelt Erasmus das «gesittete» Äußere – etwa die Mimik, das Lachen, aber auch Spucken und Schneuzen – und gibt anschließend Anweisungen zu den «anderen äußeren Körperteilen», etwa zur richtigen Haltung und zur Verrichtung der natürlichen Bedürfnisse. Der kürzere zweite Teil des Buches widmet sich der Kleidungsfrage. Im dritten Teil schreibt Erasmus über das Verhalten in der Kirche, worauf der umfangreichste Abschnitt des Buches folgt, ein Kapitel über die Tischsitten. Es schließen sich ein Kapitel über die Gesten beim Grüßen und im Gespräch an, einige Ratschläge zu Spielen sowie ein kurzes Kapitel über das Verhalten in der Schlafkammer.

Viele Anweisungen, die Erasmus in seinem Ratgeber anführt, sind heute Verhaltensgrundregeln, die man bereits als kleines Kind lernt. Besonders die von Erasmus empfohlenen Tischsitten gelten größtenteils noch heute. Es gibt freilich auch Abweichungen: Wohl niemand würde heute noch raten: «Wenn du etwas genommen hast, was du nicht herunterschlucken kannst, wende dich ab und wirf es heimlich fort.» Das Buch gibt auch zu intimen Themen wie Stuhlgang oder Erbrechen Ratschläge, die man heute in der frühen Kindheit im Familienkreis erhält und nicht mehr in Benimmbüchern findet. Und manche Empfehlungen betreffen Verhaltensweisen, deren Bedeutung sich dem heutigen Leser nicht mehr sogleich erschließt. Worauf mag Erasmus wohl anspielen, wenn er darlegt: «Bey den Wahlen tretten etliche mit dem einen fuß auff den andern un stehen also schier auff einen fuß alleine wie die Störch, un das sol wol stehn, ob es jungen knaben gezym, das weis ich nicht»?

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