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Da hinauf

Als Buch hier erhältlich:

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Eine Bergtour. Ein schmelzender Gletscher. Tauender Permafrost.
»Da hinauf« ist die dramatische Geschichte zweier Frauen, deren Wege sich kreuzen, die sich aber nie kennenlernen.
Auf einer Bergtour entdeckkt Annina, eine junge Journalistin, eine Leiche, die der Gletscher freigegeben hat. Der Kleidung nach muss die Tote Jahrzehnte im Eis eingeschlossen gewesen sein. Die tote Frau ist Irma, die in den Fünfziger Jahren hier gewandert ist.
Irma und Annina begehen zeitlich verschoben denselben Weg. Ihre Wahrnehmung ist aber eine gänzlich andere, ihr Zugang zu sich selbst und der Landschaft unterschiedlich. Annina sucht ihren Platz in der Gesellschaft und muss sich selbst erst kennenleren, Irma handelt intuitiv, sie lebt und verteidigt ihre Ideale.
Die Gestalt des Gletschers hat sich von Irma zu Annina drastisch gewandelt – in den Fünfzigerjahren ist der Gletscher ein weißer Koloss, im Heute hören wir ihn tropfen, bröckeln. Nur einzelne Anhaltspunkte wie die Bergkulisse, eine Weggabelung oder ein markanter Felsblock in der Landschaft, auf die die beiden Frauen treffen, sind unverändert. Eine mal stille, mal akustisch präsente Natur umgibt die beiden Frauen.


  • Erscheinungstag: 14.03.2022
  • Seitenanzahl: 112
  • ISBN/Artikelnummer: 9783755600138
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Annina

Da hinauf will sie, ins Hochgebirge, ins Geröll, ins viele Nass. Annina wandert zum Gletscher. Setzt Fuß vor Fuß von Stein zu Stein. Die Gläser ihrer Sonnenbrille brechen die gleißende Helligkeit. Annina ist heiß. Die Brillengläser beschlagen. Sie denkt, dass sie den Anstieg bis zum Wegweiser ignorieren, sich auf die flache Steinplatte fokussieren muss. Die liegt mitten im Weg. Ein Podest. Dort dann anhalten, sich blenden lassen. Lieber als beschlagene Gläser, die ärgern und zusätzliche Wärme generieren, zu der Hitze, die nur schon Gehen verursacht. Aber Annina bleibt stehen. Stemmt die Arme in die Hüfte. Schnauft. Sie könnte heulen vor Anstrengung. Um sie herum nichts als grauer Fels. Monotones Hanggrün. Schroff. Abweisend.

Annina denkt an morgen. Montag. Ihr erstes Interview seit dem Start auf der Redaktion. Draußen im Park mit dem neuen Direktor der Stadtgärtnerei. Sie, die sich am Kugelschreiber festhält. Obwohl doch er nervös sein müsste. Ihre Fragen lösen Resonanz aus, den Redefluss beim Gegenüber, und dann läufts, sie überspringt auch welche, und schon bald erfindet sie dazu. Dinge will sie wissen, die ihr spontan einfallen. Sie würde ihn fragen, ob er die Arbeit an der frischen Luft nicht vermissen werde, oder ob man wegen des Klimawandels in Stadtpärken schon bald Kakteen antreffen könne. Auf der Redaktion beim Rapportieren wird sie sagen können, die Quotes sind brauchbar, das Gespräch ist gut gelaufen, und ihr Nicken wird ehrlich gemeint sein. Sie wünscht sich dahin. Wie sie nickt und man ihr sagt, schön, oder gut gemacht, und wie sie motiviert zu schreiben beginnt, weil ihre Leistung Anklang findet, sie dazugehört, weil sie zuallererst ganz einfach Annina ist, eine begabte Praktikantin und erst an zweiter Stelle Tochter der ehemaligen Chefredaktorin, die ihr die befristete Stelle vermittelt hat.

Aber vorher wird Annina den Montag beginnen müssen. Noch kann alles anders kommen. Sie könnte sich verspäten, der Gesprächspartner wäre gereizt. Das Interview würde platt. Annina verzichtete darauf, zu rapportieren. Sie schriebe brav ihren Text. Sie bliebe unsichtbar. Oder sie wäre zwar pünktlich, vermasselte aber das Interview dennoch. Weil sie nicht wirklich präsent wäre, ihr die Spontanität fehlte. Sie sich abgekoppelt fühlte vom Ganzen. Manchmal passiert das bereits auf dem Weg zur Arbeit, wenn sie den Einstieg in den Tag verpasst. Annina geht den Ablauf in Gedanken durch:

Vor dem Interview ins Büro. Sie sieht sich morgens den Bahnhof durchqueren. Dem Verkehrschaos in der Innenstadt ausweichen. Die Wahl haben zwischen verstopften Straßen und überfüllten Perrons. Pendelnde zwischen Bettwärme und Bildschirmen. Züge, die einfahren und abfahren. Da ist der meist pünktlich ankommende Intercity, wenn sie die Rolltreppe hinab in die Bahnhofshalle nimmt, um beim Ostausgang ins Stadtzentrum zu gelangen. Die Türen des Intercitys öffnen sich asynchron. Nach einem kurzen Moment, in dem nichts passiert, quillt es aus ihm heraus, der Zug entledigt sich der Menschen, die in ihm gefahren sind. Annina schon bald mittendrin in dieser Masse, die sich über das Perron ergießt, beim Abgang in Schubsen und Stoßen verfällt, einen Strang zieht es hinunter, sonst drängt sie vorwärts, Annina mittendrin, über plattgedrückte Kaugummis, Gratisblätter, vielen Zielen entgegen über die Granitplatten zwischen den Gleisen, sie pflügt eine Schneise in die entgegenkommende Woge von Jacken und stummen Gesichtern. Bleiche Hände, die Koffer ziehen, Taschen tragen, sich an Plastiksäcken festhalten. Manche Menschen, ungeschickt im Ausweichen, verursachen Stockungen, rauben dem Fließen seine ureigene Bestimmung, voranzubringen, und in der Masse verziehen sich Gesichter. Im Quietschen des nächsten einfahrenden Zuges glaubt Annina zu hören, wie die Gesichter schnauben und sieht in ihnen Blicke, die töten könnten. Blicke von Menschen, die sich fürchten, ihr Ziel aus den Augen zu verlieren. Das macht Annina manchmal Angst. Was ist ihr konkretes Ziel? Sieht man ihr an, dass sie ihr Ziel nicht kennt? An solchen Tagen bleibt sie außen vor.

Annina erreicht den Wegweiser, eine Metallstange mit Höhenangabe, 2.856 Meter über Meer. Keine eigentliche Verzweigung, der Weg führt weiter hinauf, direkt an den Gletscher und über den Pass. Auf der flachen Steinplatte eine Wegmarkierung mit drei aufgemalten Linien, Weiß-Blau-Weiß. Kriegsbemalung. Wie die Indios am Amazonas. Annina, im letzten Herbst, im Halbrund der versammelten Dorfgemeinschaft. Sie versucht sich an die Bedeutung der Zeremonie zu erinnern. Der Guide hatte ihnen alles erklärt. Seine Fistelstimme. Sein fehlendes Talent zu erzählen. Was ihr geblieben ist: das Weiß der Augen, das Aufblitzen von Schalk unter der Schminke. Die Hitze über allem.

Annina geht weiter. Folgt dem Weg in den Hang.

Höhe überwinden. Distanz zurücklegen. Sie, passionierte Bikerin, jetzt hier, auf Bergtour. Ihre Füße haben ihr ganzes Körpergewicht zu stemmen. Ein Rad rollte rund und über alles hinweg, es brauchte dazu nur einen Impuls: das Rad, die Muskelkraft, sich ergänzend, potenzierend. Sie wäre mit dem Bike unterwegs, wenn sie nicht auf Melli gehört hätte. Melli wollte hier hinauf, Melli wollte Wandern, bitte schön, Annina wandert.

Annina weiß, wie sehr sich Melli auf den heutigen Tag gefreut hat, nun liegt sie unten krank im Bett. Annina macht die Tour trotzdem.

Annina erreicht den Standort, von dem aus man in das Hochtal sieht. Gleich unter ihr erstreckt sich das Gletschervorfeld. Eine riesige Fläche von mehreren Fußballfeldern, auf der vereinzelte Sträucher wachsen. Der Gletscher selber liegt weit hinten mitten im Schutt. Er ist bedeckt von einer schmutzigen Schicht aus Kohlestaub, Wüstensand, Partikeln. Das Gletschertor wirkt mickrig. Nur an den Flanken des Bergmassivs, im Einzugsgebiet, wo er entspringt, glänzender Schnee, von Spalten zerrissenes Geprunke. Er hängt dort in der Sonne nass am Berg.

Sonst? Da ist sie. Mit Pochen im Kopf. In grüner Jacke, mit einem Daypack. Auf ihrem T-Shirt steht »Abercrombie«. Und da ist der rauschende Bach, unzählige Rinnsale, die glitzern. Sie sind das Tal. Ein schmelzender Gletscher ist nichts als Wasser. Was tut sie da, was waren ihre Erwartungen? Annina steckt die Sonnenbrille hoch. Senkt unmittelbar den Blick.

Irma

Da will ich hinauf, dachte sie. Ins Hochgebirge. Ich, Irma. Einundvierzig Jahre alt, unausstehlich, Spielverderberin. Irma trug Herbis kariertes Hemd und stieg zum Gletscher. Setzte Fuß vor Fuß von Stein zu Stein. Sonne im Hochgebirge. Lichtintensität auf 2 800 Metern über Meer. Irma blinzelte. Eine Strapaze für das menschliche Auge, dachte sie, hier überleben nur Lichtwesen. Lichtpflanzen. Und welche meinst du, sind Lichtwesen, welche Pflanzen wachsen hier, hätte mich Herbi gefragt. Ich hätte geseufzt, das Habichtskraut? Abwägend hätte er genickt, nicht schlecht, und er hätte zu referieren begonnen. Irma seufzte. Sie lächelte, spitzte die Lippen, hob die Augenbrauen und setzte an, als begänne sie eine Rede. Malte sich aus, was er sagen würde und wie. Er hätte sie fixiert und freundlich erklärt, wie lichthungrig das Habichtskraut sei. Helligkeit bringe das Seidenhaarige Habichtskraut zum Blühen. Sein bevorzugter Lebensraum seien steinige Halden, hochalpiner Rasen. Obwohl, Irma blieb stehen, blickte sich um, entdeckte keines. Wuchs es im Schutz von Felsblöcken auf hauchdünner Humusschicht?

Irma ging weiter. Wasserrauschen füllte die Luft, die Halden. Sie ging weiter. Wasserrauschen in der Luft, den Halden. Das Knirschen ihrer Nagelschuhe. Sie brauchte nur dem Bergweg zu folgen, er führte sie zum Gletscher. Ein Schatten schnellte über Irma hinweg. Sie schaute auf. Wie erhaben, dachte sie, mit befingerten Schwingen pflügt der Adler die Luft. Und dennoch, Greifvögel erschrecken mich, ich höre mein Herz klopfen, ein wildgewordenes Pferdchen. Ich habe ihn erst jetzt gesehen, er mich schon lange. Ich bin langsam, meine Aufmerksamkeit träge, ich bin seine Beute. Unsere Urahnen in den Höhlen hätten die Gefahr gerochen, ich bemerke den Räuber zu spät. Glück gehabt. Irma grinste, Steinadler fressen Murmeltiere, keine Spielverderberinnen. Eine wie mich mit Haut und Haar verdauen zu müssen dürfte aufstoßen. Für Karl bin ich eine, schlimmer, womöglich eine Verräterin. All die Jahre, all die unbedeutenden Dispute. Als Karl noch klein gewesen war, sein Trotzen und Stampfen, nicht mehr als minütige Intermezzi. Meine wenigen Worte vorgestern sind aber mehr gewesen, als das Kriegsbeil mit Geheul auszugraben, sie waren mehr, als es vor Tagesende wieder verscharrt zu wissen. Einundzwanzig Jahre sorgenfreie Mama-Beziehung, vielleicht sind die für Karl nun vorbei.

Irma beschattete die Augen mit der Hand. Der Steinadler zog rechts über den Grat und war weg. Sie stand einen Moment still. Dann ging sie weiter bis zu einem Holzpfahl, der vor dem Anstieg zum Gletscher die letzte Etappe markierte. Sie stellt den Rucksack auf eine flache Steinplatte, auf eine aufgemalte Wegmarkierung, drei Linien, Weiß-Blau-Weiß.

Die Steinplatte, stellte sie sich vor, ein Gesicht, die Linien eine Kriegsbemalung. Wie oft war sie Karls zuverlässige Spielkameradin gewesen. Sie beide Indianer. Die weiße Linie hatte von Karls Stirn über das Nasenbein zu verlaufen und unter seinem Kinn zu enden. Die blauen zog sie über die Augenlider und die Wangen bis an die Ohren. Die Wimpern verklebt, verliehen sie Karl eine neue Identität, die eines finsteren kleinen Häuptlings. Nur, wie sollte ein Häuptling bestehen ohne Blutsschwester? Karl hatte sich an ihr Gesicht gemacht: dieselben Farben, weiß-blau-weiß, die Linien jedoch unterbrochen, das war der Standesunterschied.

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