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Dark Elements – die komplette Serie

Dark Elements - Bittersüße Tränen

Jasmine ist nicht gerade so, wie ein weiblicher Gargoyle zu sein hat: Sie liebt es, in die luftigen Höhen emporzusteigen - und kein männlicher Gargoyle überflog bisher schneller die Adirondacks. Keiner, außer ihrer großen Liebe Dez, der spurlos verschwand! Deshalb ist Jasmine richtig wütend, als er nach drei Jahren wiederauftaucht und nahtlos dort anknüpfen möchte, wo sie aufgehört haben. Doch so leicht will sie es ihm nicht machen: Sieben Tage gibt sie Dez, um ihr Herz zurückzugewinnen. Sieben Tage voller Gefahren und bittersüßer Versuchung …

Dark Elements - Steinerne Schwingen

Nichts wünscht Layla sich sehnlicher, als ein ganz normaler Teenager zu sein. Aber während ihre Freundinnen sich Gedanken um Jungs und erste Küsse machen, hat sie ganz andere Sorgen: Layla gehört zu den Wächtern, die sich nachts in Gargoyles verwandeln und Dämonen jagen. Doch in ihr fließt auch dämonisches Blut - und mit einem Kuss kann sie einem Menschen die Seele rauben. Deshalb sind Dates für sie streng tabu, erst recht mit ihrem heimlichen Schwarm Zayne, dem Sohn ihrer Wächter-Ersatzfamilie. Plötzlich wird sie auf einem ihrer Streifzüge von dem höllisch gut aussehenden Dämon Roth gerettet … und er offenbart ihr das schockierende Geheimnis ihrer Herkunft!

Dark Elements - Eiskalte Sehnsucht

Warum immer ich? Layla vermisst Roth, den teuflisch attraktiven Dämonenprinzen, der sich in ihr Herz geschlichen hat. Ihr bester Freund Zayne kann sie nicht über den Verlust hinwegtrösten. Und dass ihre sonst so fürsorgliche Gargoyle-Ersatzfamilie auf einmal Geheimnisse vor ihr hat, macht alles schlimmer. Da entdeckt Layla plötzlich neue Kräfte an sich - und Roth taucht wieder auf. Aber bevor sie das Wiedersehen feiern können, bricht die Hölle los …

Dark Elements - Sehnsuchtsvolle Berührung

Roth oder Zayne, Hölle oder Himmel? Beide lieben Layla, und sie muss sich entscheiden. Layla weiß bald nicht mehr, wo ihr der Kopf steht. Aber während sie noch mit ihrem Gefühlschaos ringt, droht ein höllischer Feind alles zu vernichten, was ihr wichtig ist. Hoffnungslos verstrickt in ein Gespinst aus Lügen und Geheimnissen, bleibt Layla nur die Flucht nach vorn - in einen Krieg, den sie unmöglich allein gewinnen kann …

Auf ihre einzigartige Weise mischt Jennifer L. Armentrout Humor, Romantik und Action und schenkt uns ein rasantes Lesevergnügen, das die Herzen der Leser höherschlagen lässt - und zwar in vielerlei Hinsicht.

Romantic Times Book Reviews

"Armentrout in Bestform ... mit umwerfenden Jungs und einer Wendung, die keiner kommen sieht."

New York Times-Bestsellerautorin Abbi Glines

"Armentrout ist einfach fantastisch … Ich konnte das Buch nicht aus der Hand legen."

New York Times-Bestsellerautorin Gena Showalter


  • Erscheinungstag: 05.12.2016
  • Aus der Serie: Dark Elements
  • Seitenanzahl: 1248
  • Altersempfehlung: 14
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959676861

Leseprobe

Jennifer L. Armentrout

Dark Elements

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Für all meine Leser,

die mir das Schreiben ermöglichen.

Ich danke euch von Herzen.

1. Kapitel

Nichts in der Welt ist so schön wie das Fliegen, wie das Gefühl, wenn kühle Luft durch mein Haar streicht, meine warme Haut liebkost und den Schwung meiner Wirbelsäule zwischen meinen Flügeln nachzeichnet. Ich war so hoch oben, so weit über den Gipfeln der Adirondack Mountains, dass ich das Gefühl hatte, ich könnte, sobald ich die Augen öffnete, die Sterne berühren oder noch weiter in den Himmel hochfliegen.

Was allerdings problematisch werden könnte. Aus irgendeinem Grund zweifelte ich daran, dass die Alphas es gutheißen würden, wenn eine Wächterin ganz plötzlich ihre Himmelspforte durchbrach. Allein der Gedanke daran entlockte mir ein Lachen, das emporstieg und vom Wind davongetragen wurde. Man kann nicht einfach in den Himmel fliegen. Es gab auf der ganzen Welt Portale, die all jenen Zutritt gewährten, die wussten, wie man sie findet, und Grund hatten, ihre Schwelle zu überschreiten.

Während der letzten drei Jahre habe ich – sehr zum Leidwesen meines Vaters – jeden Abend im Himmel verbracht. Den weiblichen Vertretern unserer Art war es eigentlich nicht gestattet, allein zu fliegen oder überhaupt etwas anderes zu machen, als Kinder zur Welt zu bringen, zu erziehen und zu unterrichten – aber keiner der Männer war so schnell wie ich; zumindest keiner, der in der Nähe war oder eine Rolle spielte oder …

Ich verdrängte diesen Gedanken, bevor er mich runterziehen und diese herrliche Frühsommernacht ruinieren konnte.

Die Kämme der Adirondacks weit unter mir kamen mir gar nicht so groß und versteinert vor. Nein. Sie erschienen mir eher weich, fast wie Marshmallows. Zwischen den Gipfeln glitzerten Seen wie schimmernde Flächen aus Onyx, und der Wald war dicht und nahezu unbewohnbar. Einmal war ich zu allen sechsundvierzig Gipfeln der Adirondacks geflogen, bis nach Kanada und danach zurück zum Washington County.

Eine Windbö erfasste die Unterseite meiner Flügel, sodass ihre Spitzen kribbelten, während die Strömung mich emportrug, als wäre ich in einer Blase gefangen. Einen Moment lang schnürten der Atmosphärenwechsel und die klare Luft mir die Kehle zu, und ich bekam nicht genug Sauerstoff.

Ganz kurz verspürte ich einen Anflug von Panik, doch er verschwand in dem Moment, in dem mein Instinkt meinem Gehirn die Kontrolle über meinen Körper abnahm.

Ich trudelte abwärts, die Flügel eng am Körper, die Augen weit aufgerissen, der Verstand ebenso wohltuend leer wie meine Brust, frei von quälenden Schmerzen, die ansonsten immer schwärten wie eine unbehandelte Wunde. Diese Momente waren selten, wenn es keine Verpflichtung gegenüber meiner Art gab oder eine tödliche Bedrohung oder Erinnerungen an jene, die ich geliebt und verloren hatte. Ich genoss diese kurzen, herrlichen Augenblicke.

Und wie immer war auch dieser viel zu schnell vorbei.

Auf halbem Wege zurück zur Erde breitete ich meine Flügel aus, um meinen Sinkflug zu verlangsamen und nicht gegen die Steilwand eines der Berge zu prallen. Nachdem ich einige Kilometer über die Gipfel geschwebt war, tauchte ich in das Tal über Greenwich ab und glitt im Tiefflug über die kleine Stadt hinweg.

Auch nach sechs Jahren war es noch immer ein seltsames Gefühl, sich keine Sorgen darum zu machen, von Menschen gesehen zu werden. Es gab doch nichts Schöneres, als einen Menschen oder auch zwei zu Tode zu erschrecken, indem man wie ein riesiger Greifvogel auf sie herabstieß.

Die Wächter hatten die Schatten verlassen und sich der Welt der Menschen zu erkennen gegeben. Damals war ich zwölf Jahre alt gewesen, und wie zu erwarten, hatte es die Menschheit leicht verstört, dass ihre Legenden keine Mythen, sondern Realität waren.

Viele tausend Jahre hatte man meine Art für nichts weiter als Steinskulpturen auf Dächern von Häusern oder Kirchen gehalten: Gargoyles. Und genau genommen sind wir auch genau das – wenngleich die Darstellungen von Gargoyles ausgesprochen übertrieben sind. Selbst die hässlichsten Wächter haben keine Knollennase oder aus dem Mund ragende Reißzähne. Wenn man es genauer betrachtet, sind diese Bilder sogar äußerst beleidigend.

Aber natürlich strotzten die Menschen vor Unwissenheit. Ebenso wie sie das wahre Wesen unserer Art falsch einschätzten, hatten die Menschen auch keinerlei Ahnung, dass Dämonen überall sind. Einige sahen aus wie sie, während andere nicht darauf hoffen durften, sich jemals zu integrieren. Doch vor sechs Jahren änderte sich alles, als es nämlich in der Hölle eine Revolte gab. Normalerweise wäre das unbemerkt an der Oberwelt vorbeigegangen, doch dummerweise hatte der Obermacker Hunderttausende – wenn nicht Millionen – von Dämonen aus der Hölle vertrieben, sodass sie das Reich der Menschen in nie zuvor erlebten Massen überschwemmten. Niemand, nicht mal die Alphas, schien zu wissen, was genau den Aufstand ausgelöst hatte, aber seither waren die dämonischen Aktivitäten auf der gesamten Erde astronomisch angestiegen. Dämonen hatten sich auch früher schon unter die Menschen gemischt, während wir in den Schatten und in unserer menschlichen Gestalt geblieben waren, jetzt allerdings gab es einfach zu viele Dämonen, die zu viele Probleme bereiteten und viel zu menschlich wirkten.

Die Alphas – die das Sagen haben – hatten verfügt, dass die Wächter die Schatten zu verlassen hatten, da wir aufgrund der wachsenden Dämonenpopulation nicht länger im Verborgenen handeln konnten.

Alphas waren so etwas wie ein moderner Mythos – ich hatte nie einen mit eigenen Augen gesehen, doch ich hatte sie gespürt, damals, als sie zu meinem Vater gekommen waren und mit ihm gesprochen hatten. Sie waren die Mächtigsten aller Engel und auch die furchterregendsten. Alphas waren weder nett noch freundlich, auch nicht an guten Tagen, und für sie war alles entweder schwarz oder weiß, gut oder böse, richtig oder falsch.

Da sie uns erschaffen haben, konnten sie uns auch wieder auslöschen, wann immer sie es wollten. Ich schob diesen Gedanken beiseite – die Vorstellung, vernichtet zu werden, war ein echter Stimmungskiller.

Nachdem die Panik und das Chaos sich gelegt hatten, waren Millionen von Fragen aufgetaucht, die wir nicht beantworteten, und wir alle wurden Meister im Ausweichen. Die meisten Menschen hielten uns für so etwas wie Nessie oder Bigfoot – eine Legende, die Realität geworden war.

Wenn sie nur wüssten …

Es gab Regeln, an die sich selbst Dämonen zu halten hatten, und die wichtigste war, dass die Menschen das Böse in der Welt nicht erkennen durften. Irgendein Blödsinn über freien Willen und so … dass die Menschen darauf vertrauen müssen – und zwar ohne einen Beweis –, dass Himmel und Hölle existieren. Ich fand das dämlich. Hätten Wächter und Menschen sich zusammengetan, hätten viele Leben gerettet werden können, einschließlich dem meiner Mutter.

Aber so war es nun mal. Die Menschen hielten uns Wächter entweder für Superhelden, die normale Verbrechen bekämpften, oder für die Wiedergeburt des Teufels.

Man kann nicht immer Glück haben.

Ich landete auf dem flachen Dach unseres Stammhauses nur eine Sekunde, bevor ich einen Schatten am Himmel wahrnahm, der sich mit hoher Geschwindigkeit näherte. Ich war mehr als überrascht, als ich die majestätische Silhouette meines Vaters erkannte. Er hätte gar nicht da sein dürfen! Schnell streifte ich meine wahre Haut ab und nahm meine menschliche Gestalt an, nur knapp einen Atemzug, ehe er sich hockend auf den Sims niederließ.

Ein Blick reichte, um mir sicher zu sein, dass es zu spät war.

Ja. Er wusste es.

Dumm gelaufen.

Mein Vater erhob sich zu voller Größe, annähernd zwei Meter fünfzehn. Seine Flügel, die mehrere Spannen zu jeder Seite maßen, kräuselten sich, als er vom Sims auf das Dach trat, das unter dem plötzlichen Gewicht bebte. In seiner wahren Gestalt war er ein einschüchternder Anblick. Seine Haut hatte die Farbe von Granit und fühlte sich auch ebenso hart an, was ihn und alle anderen Wächter nahezu unverwundbar machte. Zwei dunkle Hörner, die sich emporwanden und zu jeweils einem nadelspitzen Ende verjüngten, teilten seine Mähne aus schwarzem Haar. Seine Nase war flach, die Nasenlöcher schmal, und seine Augen, die normalerweise die Farbe des Himmels bei der Dämmerung hatten, leuchteten jetzt stahlblau.

Er war mein Vater, aber als Oberhaupt des New Yorker Clans war er auch der mächtigste aller Wächter hier. Selbst mir war klar, dass man sich besser unauffällig verhielt, wenn er schlechte Laune hatte – und ganz offensichtlich war es mal wieder so weit.

Sein Kinn war leicht nach vorne gestreckt, seine Augen blitzten. „Jasmine.“

Beim Klang meines Namens straffte ich automatisch die Schultern und stand stocksteif da. „Dad?“

„Du warst wieder unterwegs.“ Das war keine Frage.

Bei ihm klang es eher, als hätte ich im Gazastreifen abgehangen, statt nur einen Ausflug über die Berge zu machen. Ich entschied mich, ihm wie üblich einfach auszuweichen. „Ich dachte, du wärst in New York City.“

„War ich auch.“ Er schritt auf mich zu und nahm dabei seine menschliche Gestalt an. Das Funkeln in seinen Augen ließ nach, während sich die Flügel in seine Haut zurückzogen und seine Gesichtszüge menschlicher wurden. Doch das hieß nicht, dass er weniger furchteinflößend war; ich musste all meinen Mut zusammennehmen, damit ich nicht seinem bohrenden Blick auswich.

Das dunkle Haar und die Größe hatte ich von meinem Vater geerbt, der Rest allerdings – die helle Haut und die extrem weiblichen Rundungen – stammten eindeutig von meiner Mutter.

„Wo sind deine Schwester und Claudia?“, wollte er wissen.

Mit annähernd zweiundvierzig Jahren war Claudia die älteste weibliche Vertreterin unseres Clans und quasi unsere Ziehmutter. Die meisten Gargoylefrauen wurden nicht so alt, da sie entweder bei einer Geburt starben oder von Dämonen entführt wurden. Ohne sie würden die Wächter früher oder später aussterben.

„Danika ist bei Claudia.“ Wir lenkten sie immer abwechselnd ab, damit sich die jeweils andere rausschleichen konnte. „Vielleicht holen sie etwas Lernstoff nach.“ Wahrscheinlicher aber war, dass Danika gerade mit ihrem Kopf gegen eine Wand hämmerte, denn uns beiden war klar, dass das Haus, so schön es auch war, doch nichts anderes als ein Gefängnis war.

Am Himmel schob sich der Vollmond hinter eine Wolke, als wollte er mich verspotten. Ich atmete tief ein. „Okay, es tut mir leid, ich war aber nicht weit weg, nur bis …“

„Das ist mir egal.“ Er wischte meinen Einwand beiseite, und sofort richteten sich die feinen Härchen an meinem Körper auf. Unbehagen stieg in mir auf. Seit wann war es ihm egal, wenn ich mich wegschlich? Er legte eine Hand auf meine Schulter und drückte sie sanft. „Es wird sich bald etwas verändern. Von heute an wirst du nicht einfach wegfliegen können, wenn du Lust dazu hast.“

Fragend zog ich eine Augenbraue hoch. „W…was willst du damit sagen?“

Er lächelte, und ein Teil der Spannung, die auf mir gelastet hatte, verflüchtigte sich. Wenn er lächelte, bedeutete das etwas Gutes, und seit dem Tod meiner Mutter tat er das nicht oft. Anders als bei den meisten Paarungen unter Wächtern hatte sich bei meinen Eltern eine Liebesbeziehung entwickelt, die weit über die Pflichten unserer Art hinausging. Früher hatte ich gehofft, dass mir mal etwas Ähnliches passieren würde.

„Ich habe gute Nachrichten für dich, Jasmine.“ Er fuhr mit der Hand meinen Rücken hinab und schob mich in Richtung der Tür, die zur obersten Etage unseres Hauses führte. „Du wirst dich sehr freuen.“

„Echt?“ Jetzt war ich aufgeregt wie ein kleines Kind vor seinem Geburtstag. „Nimmst du mich mit nach New York? Oder nach Washington?“ Meine Flüge mitten in der Nacht mal außen vorgelassen, habe ich nur diesen winzig kleinen Teil der Welt gesehen, und es gab so vieles, das ich noch sehen wollte. Am liebsten wäre ich wie ein Flummi auf und ab gesprungen. „Oder lässt du mich endlich ohne Leo und eine ganze Horde Wächter in die Mall gehen? Mit so vielen Leuten im Schlepptau kann man einfach nicht einkaufen. Außerdem machen sie anderen Angst, und das ist mir peinlich.“

Seine Mundwinkel zuckten, während er wartete, dass sich die Tür öffnete. Unser Haus, das so groß war, wie ich eine Highschool vermutete, war so gut gesichert wie Fort Knox. „Nein. Es ist etwas viel Besseres.“

„Noch besser?“ Heiliger Strohsack, ich stand kurz vor einem Schlaganfall!

Sobald wir uns im Inneren des Gebäudes befanden, drehte er sich zu mir um. Voller Wärme schaute er mich an. Meine Nerven waren bis zum Äußersten gespannt. „Dez ist wieder da.“

Blut schoss mir so schnell in den Kopf, dass ich fürchtete, jeden Moment ohnmächtig zu werden. Ich musste mich verhört haben. Das war unmöglich! „Was?“

Das Lächeln meines Vaters wurde noch breiter. „Er ist wieder da, Jasmine.“

Es rauschte laut in meinen Ohren.

„Und er erhebt Anspruch auf dich“, fuhr er fort und ignorierte dabei völlig die Tatsache, dass ich kurz davor war, auf diesem Dach mein Leben auszuhauchen. „Das Paarungsritual wird in sieben Tagen vollzogen.“

2. Kapitel

Ich freute mich absolut nicht.

Jede meiner Zellen war im Panikmodus.

Dez war wieder da, nachdem er vor drei Jahren einfach abgehauen war. Kein „Hey, ich mache mich vom Acker. Schönes Leben noch!“, kein „Auf Wiedersehen!“, gar nichts. Er war einfach verschwunden …

Ich versuchte zu schlucken, hatte allerdings einen Riesenkloß im Hals. Seit drei Jahren hatte ich nichts mehr von ihm gehört. Kein einziger Anruf, keine Mail, kein Brief. Nichts. Ich hatte ja nicht mal gewusst, ob er noch lebte oder tot war. Niemand in unserem Clan hatte das. Sein plötzliches Verschwinden war für mich ebenso grausam gewesen wie der Tod meiner Mutter. Fort, aus und vorbei, von einer Sekunde auf die andere.

Seitdem hatte sich zu Hause alles verändert.

„Atmest du noch?“, fragte eine Stimme irgendwo hinter mir. Meine Schwester. „Jasmine?“

Ich war so damit beschäftigt, mich zusammenzureißen und nicht komplett auszuflippen, dass ich keine Ahnung hatte, ob ich atmete oder nicht. Ich starrte mein Spiegelbild an: Hellblaue Augen blickten mir aus einem Gesicht entgegen, das im Kontrast zu meinen dunklen Haaren viel zu blass war. Selbst meine Lippen sahen blutleer aus. Meine Wangenknochen wirkten zu kantig, zu hart.

Ich erinnerte nicht mehr, was in der vergangenen Stunde geschehen war, alles war verschwommen. Seltsamerweise wusste der ganze Clan, dass Dez wieder da war, und sie alle kamen in der Sekunde auf mich zugestürzt, in der ich das Haus betrat. Ich war unter die Dusche verfrachtet worden, die ich offenbar sehr nötig gehabt hatte. Danika hatte meine Haare getrocknet, da ich selbst dazu nicht in der Lage gewesen wäre, und sie fielen mir in langen Locken über den Rücken. Dann hatte Claudia, die entweder gar nicht bemerkt hatte, dass ich mich herausgeschlichen hatte, oder sich entschieden hatte, es in Anbetracht der augenblicklichen Geschehnisse einfach zu ignorieren, mir ein blaues Kleid gebracht, das ich nie zuvor gesehen hatte. Es lag sehr eng an, und wenn ich mich darin zu tief bückte, würden meine Brüste quasi herausfallen und Hallo sagen.

Es war Tradition, dass man sich aufbrezelte, wenn ein Gargoylemann Anspruch auf eine Gargoylefrau erhob. Das komplette Ritual war barbarisch und in vielerlei Hinsicht einfach nur falsch. Ein Teil von mir verstand die Notwendigkeit, sich zu paaren und Nachkommen zu gebären. Unsere Art starb aus, und das, was die Wächter taten, war eine Notwendigkeit, um das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse aufrechtzuerhalten, und so weiter und so fort. Der andere Teil von mir fragte sich, warum zum Teufel ich mich zu etwas verpflichten sollte, das früher oder später höchstwahrscheinlich mit meinem Tod enden würde.

Nachdem ein Gargoylemann seinen Anspruch erhoben hatte, erhielten wir sieben Tage Bedenkzeit, um einzuwilligen oder abzulehnen. Beide Parteien sollten sich bewusst in der Zeit werden, dass eine Paarung eine lebenslange Verpflichtung darstellte. Bei uns gab es so etwas wie Scheidungen oder Trennungen nicht. Wir wurden nicht gezwungen, einzuwilligen, und der Gargoylemann, selbst wenn er vor dem gesamten Clan blamiert war, musste unsere Ablehnung akzeptieren. Wir lehnten so lange ab, bis wir einwilligen wollten, und es gab tatsächlich Wächterinnen wie Claudia, die immer wieder Nein gesagt hatten, weil sie bisher nicht den Richtigen gefunden hatten, aber …

Doch mein Vater hatte vor drei Jahren seine Absicht verkündet, Dez und mich zu vereinigen. Das war in der Nacht gewesen, bevor Dez verschwunden war.

Ich holte tief Luft, allerdings war das Kleid einfach zu eng und schnürte meine Taille ein. „Er ist zurückgekommen“, flüsterte ich, war mir aber nicht sicher, warum ich überhaupt glaubte, das sagen zu müssen. Vielleicht, weil es sich so irreal anfühlte.

Danikas Spiegelbild tauchte über meiner Schulter auf. Wir hatten die gleichen Gesichtszüge, nur dass sie eine jüngere Version von mir war. „Ja, ist er.“

Ich kniff die Augen zu und zählte bis zehn. „Hast du ihn schon gesehen?“

„Nein.“

Warum fragte ich sie das überhaupt? Egal, spielte keine Rolle.

Danika legte eine Hand auf meine Schulter. „Alle warten unten auf dich. Der gesamte Clan.“

Meinetwegen konnte der gesamte Clan von der Spitze des Algonquin Peak springen.

Als ich meine Augen wieder öffnete, sah ich weder mein Spiegelbild noch das meiner Schwester. Bilder von mir und Dez liefen vor meinem geistigen Auge ab. Zuerst sträubte ich mich gegen sie, aber dann ließ ich ihnen freien Lauf.

„Dez“ war die Kurzform eines Namens, den ich nie würde aussprechen können. Er gehörte einem Clan der Westküste an, und eigentlich hätten wir uns nie über den Weg laufen sollen. Doch als er zehn Jahre alt war, wurde sein gesamter Clan bei einem brutalen Dämonenangriff ermordet. Aufgrund einiger verwandtschaftlicher Beziehungen seiner Mutter zu unserem Clan kam er dann nach New York. Am ersten Abend bei uns war er trotzig und verschlossen, fast wie ein wildes Tier, das man in die Ecke gedrängt hatte. Er hatte seine wahre Gestalt angenommen und fauchte jeden an, schlug jedem die Klauen entgegen, der sich zu nahe an ihn heranwagte. Als mein Vater gerade woandershin hinschaute, bot ich ihm meinen Pudding vom Abendessen an.

Zuerst wollte er absolut nichts von mir wissen. Er verkroch sich in den hintersten Winkel der Bibliothek und hätte mir mit seinen Krallen fast den Arm zerfetzt. Ich hatte furchtbare Angst, aber gleichzeitig auch schreckliches Mitleid mit ihm. Ich brachte es nicht über mich, einfach vor ihm wegzulaufen. Stattdessen setzte ich mich in sicherer Distanz gegenüber von ihm hin und redete einfach über alles, was mir in den Sinn kam. Stundenlang erzählte ich ihm von meinen Puppen, meinen Hausaufgaben und meinen Lieblingsbüchern, und dann schließlich nahm er den Pudding von mir an. Nachdem er aufgegessen hatte und um Nachschlag bat, brachte ich ihn in die Küche. Ich blieb die ganze Nacht bei ihm und sah dabei zu, wie er alles vertilgte, was die Köchin ihm vorsetzte. Es war seltsam, doch ich fühlte mich zu diesem fremdartigen, stillen Jungen hingezogen.

Seit diesem Abend waren wir unzertrennlich gewesen – zumindest während der folgenden acht Jahre.

Wo er auch hinging, ich folgte ihm, und umgekehrt genauso. Er war bei mir gewesen, als ich zum ersten Mal in luftigen Höhen über die Berge hinwegflog, und ich war bei ihm, als er zum ersten Mal zusammenbrach und den Verlust seiner Familie beweinte – seiner gesamten Familie. Als ich mir zum ersten Mal die Flügel verletzte und wie ein Baby heulte, war es Dez gewesen, der mich zurück in Sicherheit brachte und sich um mich kümmerte. Ich sah ihm dabei zu, wie er mit sechzehn Auto fahren lernte, und als ich fünfzehn wurde, hatte er gesagt, wir würden immer zusammen sein, ganz gleich, was geschehe.

Jetzt war ich achtzehn und er würde bald einundzwanzig werden, und er hatte nicht nur dieses Versprechen, sondern auch mein Herz gebrochen.

„Du kannst nicht die ganze Nacht hier oben bleiben“, redete Danika mir beruhigend ins Gewissen. „Er wartet auf dich.“

Ich drehte mich so schnell herum, dass sie verdutzt einen Schritt nach hinten machte. „Das ist mir egal“, fuhr ich sie an.

„Ist es nicht.“

„Doch, ist es.“

„Aber du liebst ihn.“

Ich spürte einen Stich in der Brust. „Ich habe ihn geliebt“, entgegnete ich flüsternd.

Und das war nichts als die reine Wahrheit. Ich hatte ihn von dem Moment an geliebt, in dem er den Pudding von mir angenommen hatte. Als mein Vater dann zu Dez’ achtzehntem Geburtstag verkündet hatte, dass er eine Bindung unterstützen würde, war das der glücklichste Augenblick meines Lebens gewesen. Ich war jung. Und dumm. Dez verschwand am nächsten Tag spurlos, und ich hatte so schlimme Kopfschmerzen gekriegt, dass ich geglaubt hatte, sie würden nie wieder weggehen. Er war mehr als ein Schwarm, er war mein bester Freund, mein Vertrauter und meine Welt gewesen.

Danika schob sich eine lange Haarsträhne hinters Ohr und lehnte sich an mein Bett. „Dann hast du also vor, ihm einen Korb zu geben, wenn deine sieben Tage um sind?“

Ich stand auf und trat einen Schritt nach vorn. Ein Wunder, dass meine Knie nicht unter mir einknickten. Das Kleid raschelte so laut um meine Fußknöchel, dass ich mir wünschte, ich hätte Jeans an. „Ich kann ihm einfach nicht verzeihen. Ich kann es nicht.“ Ich ballte die Fäuste. „Er taucht so einfach mir nichts, dir nichts hier auf und verkündet nach allem, was er mir angetan hat, dass er mich will. Der soll sich zum Teufel scheren!“

Danika zog eine Augenbraue hoch. „Du hast doch noch gar nicht mit ihm geredet und weißt nicht mal, warum er damals verschwunden ist.“

Ich funkelte sie an. „Das ist doch völlig egal! Und auf wessen Seite stehst du eigentlich?“

„Auf deiner natürlich. Komm schon, bringen wir es hinter uns.“ Sie schob mich vom Bett weg und in den langen Flur hinein. „Das wird jetzt ziemlich heftig. Ich möchte nicht mit dir tauschen.“

„Vielen Dank auch“, murmelte ich. Mein Herz raste so schnell wie der Flügelschlag eines Kolibris.

„Du siehst super aus“, sagte Danika und schubste mich recht unsanft in Richtung der Treppe.

Blieb vielleicht noch Zeit, um rauszurennen und mein Gesicht mit Schlamm zu beschmieren? Das Letzte, was ich wollte, war so auszusehen, als hätte ich mich für Dez aufgebrezelt. Ich griff nach dem Geländer. Die Nervosität raubte mir den Atem. Vielleicht war es aber auch das Kleid? Egal, ich konnte kaum Luft holen, ganz gleich weswegen.

Aus dem Erdgeschoss drangen Stimmen zu uns herauf, und während ich die Treppe hinabstieg, konnte ich sie nach und nach zuordnen. Blut rauschte in meinen Ohren, und mein Mund war staubtrocken, während ich den Absatz zum ersten Stock erreichte. Ich beugte mich über das Geländer, um einen Blick zu erhaschen, aber Danika fasste mich am Arm und zog mich die restlichen Stufen runter.

Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann der gesamte Clan zum letzten Mal in einem einzigen Raum versammelt gewesen war, und das auch noch abends, kurz bevor die meisten von uns zur nächtlichen Jagd aufbrachen. Das Gedränge erschien mir in diesem Moment gigantisch. Die Gargoylemänner waren allesamt groß und breitschultrig und in dunkle Lederhosen gekleidet. Auch ein paar Gargoylefrauen waren darunter und versuchten, die zankenden Kinder zu beschwichtigen. Ein kleiner Junge, nicht älter als drei, lief durch den Lichthof. Unter der Glaskuppel fiel seine menschliche Gestalt von ihm ab. Zur Hälfte. Hörner sprossen zwischen seinen blonden Locken und graue Flügel wuchsen ihm uneben auf dem Rücken. Einer davon erhob sich steil in die Höhe, der andere fiel schlaff zur Seite. Er gluckste, als ein großer Gargoylemann hervortrat und ihn schwungvoll auf den Arm nahm.

Danika schob mich vorwärts.

Ich stolperte und warf ihr einen bösen Blick zu.

„Da ist sie ja.“ Die Stimme meines Vaters klang wie ein Donnergrollen, stolz zwar, aber dennoch hatte ich das Gefühl, ich würde gerade zur Versteigerung feilgeboten.

Ein älterer Wächter mit grauen Haaren und einem Gesicht voller tiefer Falten murmelte: „Wurde aber auch Zeit, Garrick. Wir werden alle nicht jünger.“

Erneut ballte ich die Fäuste. Ich richtete meinen Blick allein auf meinen Vater und musste meine komplette Willenskraft aufbringen, um auf ihn zuzugehen. Die Menge teilte sich, während ich wie betäubt einen Fuß vor den anderen setzte. Ich konnte in keines der Gesichter blicken, an denen ich vorbeimarschierte. Mein Magen rumorte und rebellierte.

Dad sagte etwas und lächelte dabei immer noch, ich aber konnte dem Gespräch nicht folgen. Jeder Muskel meines Körpers erstarrte, als er beiseitetrat. Unwillkürlich und sehr zu meinem Ärger wanderte mein Blick zu der Stelle, an der er eben noch gestanden hatte.

Und da war er.

Mein Herz setzte einen Schlag aus – um dann wie wild zu jagen.

Dez stand vor mir, größer und muskulöser, als ich ihn in Erinnerung hatte. Er hatte sich einerseits kein bisschen verändert, war andererseits aber ein völlig anderer geworden. Sein Haar war rotbraun, früher hatte er es an den Seiten kurz und in der Mitte als stacheligen Irokesen getragen. Wie gesagt – früher. Jetzt fielen ihm die Strähnen in sanften Wellen bis fast auf die Schultern. Seine Augen waren die gleichen wie früher: hellblau und eingerahmt von schweren, langen Wimpern. Der fehlende Iro war nicht die einzige Veränderung. Im Gesicht dieses Fremden, das mir gleichzeitig so vertraut vorkam, war nichts mehr von dem jungen Mann zu erkennen, der vor drei Jahren verschwunden war.

Das leicht pausbäckige freche Jungengesicht war fort, und seine Züge waren markant männlich mit hohen Wangenknochen. Die Nase war nicht ganz gerade, als wäre sie irgendwann gebrochen und nicht gerichtet worden. Seine Brauen bildeten anmutige Bögen über seinen Augen, und seine Lippen kamen mir voller vor als früher. Ein verräterischer Gedanke meldete sich zu Wort: Ob seine Lippen so sinnlich küssen konnten, wie sie aussahen? Sie lächelten nicht, dabei hatte Dez früher immer gelächelt, wenn er mich angeschaut hatte. Während ich ihn so musterte, wurde mir klar, dass er nicht mehr der Junge war, in den ich mich einmal verliebt hatte.

Dez starrte mich an, seine Pupillen waren leicht geweitet, verengten sich allerdings gerade wieder. Er wirkte geschockt, und ich verstand nicht, was ihn so überraschte. Ich zumindest hatte mich in den drei Jahren, in denen er weg war, nicht verändert. Gut, ich war nicht mehr so naiv wie damals, und ich hatte mehr Oberweite gekriegt, genau wie ich weiblichere Hüften bekommen hatte.

Für den Bruchteil einer Sekunde schien er zu erstarren. Wütend verengten sich meine Augen, und meine Haut fing an zu kribbeln. Wollte er allen Ernstes einfach nur dastehen und mich wortlos anglotzen? Trotz meiner Wut wurde mir seltsam heiß, als sich unsere Blicke trafen, und die Luft zwischen uns schien zu knistern.

Dez bewegte sich so schnell, dass ich keine Chance hatte, mich darauf vorzubereiten. In der einen Sekunde war er noch einen Schritt von mir entfernt, in der nächsten strich seine Hand über meinen Hinterkopf und seine Finger glitten durch mein Haar.

Mir schlug das Herz bis zum Hals, sowie mir klar wurde, was er vorhatte. Ich öffnete den Mund, um zu protestieren, doch da war es schon zu spät.

Dez küsste mich.

3. Kapitel

Ein Teil von mir war zu verdutzt, um irgendetwas zu tun, außer einfach nur dazustehen. Meine Faust wollte unbedingt in sein Gesicht. Wie konnte er es wagen, mich nach alledem zu küssen? Und auch noch ohne überhaupt Hallo zu sagen, verdammt noch mal! Aber die federgleiche Berührung seiner Lippen hatte mich überwältigt.

Das Getöse zu vieler Stimmen dröhnte durch den Lichthof und ließ meine Ohren rauschen, sodass ich nur noch das Pochen meines eigenen Herzens hörte. Ich wusste instinktiv, dass auch das zur Tradition gehörte: Ein Kuss, um den Anspruch vor dem gesamten Clan zu besiegeln, aber soweit mir bekannt war, hatte ich null Komma gar nichts zugestimmt!

Dez hielt meinen Hinterkopf noch fester und schob einen Arm um meine Taille, während ich mich ihm zu entwinden versuchte. Der Druck auf meinen Lippen wurde stärker, während er mich noch näher an sich zog. Ich konnte nicht mehr denken. Sein Oberkörper war breit und steinhart, sein Arm scheinbar aus Stahl. Heiß rauschte das Blut durch meine Adern, und ich spürte, wie sein Herz heftig klopfte. Mein Puls raste, als der Kuss noch intensiver wurde. Irgendwie fanden meine Hände den Weg zu seinen Schultern … doch ich stieß ihn nicht von mir fort.

Mein erster Kuss … und er war genauso, wie ich ihn mir immer erträumt hatte, nur dass in meiner Fantasie kein Publikum dabei gewesen war. Andererseits hatte ich auch gerade Schwierigkeiten, sie oder ihre Jubelschreie und Pfiffe überhaupt zu registrieren. Dez’ Lippen bewegten sich auf meinen, versuchten, meinen Mund zu öffnen. Es verschlug mir den Atem, und ich fragte mich, wo er gelernt hatte, so zu küssen. Im gleichen Moment brandete Eifersucht in mir auf – okay, ich wollte lieber doch nicht wissen, warum er so gut küssen konnte.

Plötzlich räusperte sich jemand laut hörbar. „So schön es auch ist zu beobachten, wie sehr du dich freust, meine Tochter zu sehen, dennoch könntest du sie jetzt loslassen.“

Dez löste langsam seine Lippen von meinen und lehnte schwer atmend seine Stirn an meine. Ich konnte einen schnellen Blick in seine Augen erhaschen. Seine Pupillen waren erweitert, und die Iris leuchtete tiefblau, wie ein Paar schimmernder Lapislazuli. Er senkte die Lider und hauchte beim Ausatmen meinen Namen: „Jasmine.“

Beim Klang seiner tiefen Stimme, die so ganz anders war, als ich sie in Erinnerung hatte, befreite ich mich aus seiner Umarmung und trat einen Schritt zurück. Ich legte die Hände erst auf meine brennenden Wangen, ließ sie dann wieder sinken und verschränkte die Arme vor der Brust. Eine Welle widersprüchlichster Emotionen durchströmte mich. Glückseligkeit. Zorn. Erregung. Verlangen. Und Wut. Dez tauchte plötzlich quasi aus dem Nichts auf, und jetzt war ich völlig ratlos, welchem Gefühl ich nachgeben sollte.

Dez schaute mir weiter in die Augen, auch noch, nachdem ich von ihm abgerückt war. Sein Blick war so intensiv und heiß wie sein Kuss. Hinter ihm war die Tür zum Vorgarten zu sehen, und ich verspürte das dringende Bedürfnis, darauf zu zu rennen.

Langsam nahm ich das Geschnatter um mich herum wahr, aber es waren letztendlich die Worte meines Vaters, die mich trotz meines benebelten Zustands in die Realität zurückholten.

„Dann ist es also besiegelt“, erklärte er – und mir klappte die Kinnlade herunter. „Das Ritual wird …“

„Stopp!“ Ich wirbelte zu meinen Vater herum. „Nichts ist besiegelt. Gar nichts.“

„Wie bitte?“, fragte Dez verwundert.

Ich ignorierte ihn. „Nichts ist besiegelt. Ich habe den Anspruch noch nicht akzeptiert.“

Stille legte sich über den versammelten Clan. Vermutlich muss ich nicht erwähnen, dass das alles noch peinlicher machte.

Mein Vater zog die Augenbrauen hoch, und ich beobachtete Dez dabei, wie er einen Schritt auf mich zumachte. „Vor ein paar Sekunden noch hat es nicht so ausgesehen, als würdest du Nein sagen.“

Dez berührte meinen Arm. „Jas …“

Als er seinen alten Spitznamen für mich verwendete, drehte sich mir der Magen um. Ich wich zurück und blickte ihm fest in die Augen. „Wag es nicht, mich so zu nennen.“ Ich sprach zwar leise, wusste aber, dass uns trotzdem alle zuhörten. Der Clan, der größtenteils aus Gargoylemännern bestand, war, wenn es um Klatsch und Tratsch ging, schlimmer als ein Kaffeekränzchen älterer Damen. „Du kannst nicht einfach plötzlich wieder in mein Leben platzen und …“

„Okay“, erwiderte mein Dad diplomatisch, „Ich glaube, ihr zwei habt einiges zu besprechen.“

Trotzig streckte ich mein Kinn vor. „Ich weiß nicht, ob es überhaupt etwas zu bereden gibt.“

Dez hielt meinem Blick einen Augenblick lang stand. Als er dann wegschaute, sah ich, wie er die Zähne so kräftig zusammenbiss, dass die Kiefermuskeln hervortraten.

„Jasmine, ihr müsst euch einig werden. Du hast sieben Tage Bedenkzeit, es gibt überhaupt keinen Grund für überhastete Entscheidungen.“

„Meine Entscheidung ist ganz und gar nicht ü…“

„Wir werden reden“, unterbrach Dez mich und umfasste sanft, aber bestimmt meinen Arm. „Und wir werden nicht die vollen sieben Tage brauchen.“

Ich funkelte ihn von unten an. Obwohl ich groß war, überragte Dez mich um einiges. „Oh, wie schön, du bist also noch genauso arrogant wie früher.“

Dez lächelte. „Wie du feststellen wirst, hat sich so einiges nicht verändert.“

„Ich glaube nicht, dass mich das interessiert.“ Ich versuchte, mich aus seinem Griff zu befreien, aber er hielt mich unbeirrt fest, während sein Grinsen noch breiter wurde. „Ich mein’s ernst.“

Das Funkeln in seinen Augen verriet, dass es ihm da ganz genauso ging – aber es lag noch etwas anderes in seinem Blick, das ich nicht deuten konnte. „Das werden wir noch sehen.“

Es stellte sich als schwierig heraus, in einem Haus voller Leute, die offensichtlich nichts Besseres zu tun hatten, als zu lauschen, eine stille Ecke zu finden. Wir hätten nach oben in mein Zimmer oder in Dez’ altes Zimmer gehen können, aber das wäre mir zu intim gewesen; ich stand so schon völlig neben mir.

Letztendlich gingen wir in den Garten auf der Rückseite des Hauses. Über den Steinmauern, die rings um dieses friedliche Fleckchen Erde errichtet worden waren, schimmerte der Mond. In jeder anderen Nacht hätte man Liebespärchen sehen können, die sich zwischen den dornigen Rosenbüschen und Wacholdersträuchern versteckten – was nicht hieß, dass man sich überhaupt verstecken musste. Wächter waren irgendwie immer damit beschäftigt, Nachwuchs zu zeugen, aber vielleicht war das Flair des Verbotenen der Grund dafür, dass die Paare sich gern in den Gärten herumdrückten. Aber das war nur eine Vermutung.

„Du siehst wunderschön aus.“

Ich starrte die Rosen an. Nachts glichen ihre Blütenblätter schwarzem Samt. „Glaubst du wirklich, du kommst mit dieser Masche weiter?“

„Das ist keine Masche.“ Er kam jetzt näher, und mich durchlief ein Schauer. „Es ist die Wahrheit. Du warst schon immer süß, aber jetzt bist du wunderschön, Jasmine.“

Ich wollte ihn nicht an mich ranlassen, wollte cool bleiben, aber bei seinen Worten schlug mein Herz einen Purzelbaum. Eine kühle Brise fuhr mir durchs Haar und bauschte den Saum meines dämlichen Kleides auf, sodass er um meine Waden flatterte.

„Schau mich an“, redete er mir mit sanfter, fast schon neckender Stimme zu.

Ich verdrehte die Augen. „Ich hab jedes Wort ernst gemeint, das ich da drinnen gesagt habe, Dez. Es gibt nichts, was wir zu besprechen hätten.“

„Bist du dir da wirklich sicher?“ Ich spürte die Wärme seines Körpers an meinem Rücken, er musste also noch näher gekommen sein. „Denn so, wie du mich geküsst hast, fühlte es sich völlig anders an.“

„Wie ich dich geküsst habe?“ Ich wirbelte herum und trat einen Schritt zurück. Er stand direkt vor mir. „Ich habe dich nicht geküsst, du Spinner. Du hast mich geküsst.“

„Auslegungssache“, murmelte er. „Du hast den Kuss erwidert.“

Das mochte zwar stimmen, doch ich wäre lieber tot umgefallen, als es zuzugeben. „Ich war zu verblüfft, um klar denken zu können. Vertrau mir, das wird nicht wieder passieren.“

„Ist das so?“

Ich atmete tief ein und ganz langsam wieder aus. „Ja.“

Er beugte den Kopf nach unten, sodass wir uns in die Augen blicken konnten. „Da muss ich dir leider widersprechen, Jas. Das war nur unser erster Kuss – und es war nicht mal ein richtiger Kuss.“

Wenn das kein richtiger Kuss gewesen war, wie würde dann ein richtiger Kuss von ihm sein? Ich machte auf dem Absatz kehrt und lief den Weg entlang.

Dez folgte mir ein paar Sekunden lang. „Ich hatte mir deine Begrüßung anders vorgestellt.“

Meine Kinnlade klappte runter, und ich blieb vor einer Bank aus Stein stehen. Langsam drehte ich mich zu ihm herum. „Ist das dein Ernst?“

Er starrte mich so dermaßen merkwürdig an, dass ich mich schon fragte, ob er während seiner Abwesenheit vielleicht wichtige Gehirnzellen verloren hatte. Dez war nicht blöd, ganz im Gegenteil. Wieso also überraschte ihn meine Reaktion?

Ich starrte ihn an, und es fiel mir unendlich schwer, den Jungen, den ich einst gekannt hatte, in dem Mann wiederzuerkennen, der nun vor mir stand. Tränen brannten in meinen Augen, und als ich sprach, war meine Stimme ganz heiser. „Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wo du warst.“

Angespannt schloss er die Augen. „Jasmine …“

„Drei Jahre lang wusste ich nicht, ob du noch lebst oder tot bist!“ Ich hatte plötzlich einen Riesenkloß im Hals. „Kein Anruf, nicht mal eine Mail oder SMS. Gar nichts. Wie hätte …“ Meine Stimme brach, und ich wandte den Kopf ab, während ich tief einatmete. „Ich hatte keinen Schimmer, was los war.“

Er umfasste mein Gesicht mit beiden Händen, streichelte mit den Daumen über meine Wangen und wischte die Tränen fort. „Wein doch bitte nicht.“

„Ich weine nicht.“ Ich riss mich los und fuhr mir schnell über die Wangen. „Das ist Nieselregen. War für heute angekündigt.“

Zärtlichkeit sprach aus seinem Blick, doch das wollte ich nicht sehen. „Du bist immer noch eine fürchterlich schlechte Lügnerin, Jas.“

„Halt die Klappe“, murmelte ich und räusperte mich kurz. „Und du? Hast du gar nichts zu sagen?“

Er zog die Augenbrauen hoch. „Es tut mir leid.“

Ich fasste es doch nicht! „Das war’s?“

„Du würdest das nicht verstehen, Jas.“

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Och, ich weiß nicht … Vielleicht wenn du langsam sprichst und nur ganz simple Wörter benutzt?“

In Dez’ Augen funkelte es, dann wurde sein Blick wieder ausdruckslos. „Ich weiß, dass du nicht dumm bist.“

„Hat aber nicht den Anschein.“

„Ich bin nicht sonderlich stolz darauf, dass ich damals verschwunden bin, und ich will im Moment auch nicht darüber reden.“ Er strich sich mit der Hand durchs Haar, sodass einzelne Strähnen zwischen seinen Fingern hochstanden. „Könnten wir das Thema bitte ausklammern, zumindest fürs Erste?“

Ich wollte ihm gerade sagen, dass das überhaupt nicht infrage käme, aber dann erkannte ich die Verletzlichkeit in seinen Augen. So sehr ich ihn dazu bringen wollte, mir alles zu erzählen, widerstrebte es mir, ihn tatsächlich zu verletzen. Er hätte es zwar verdient, aber die Erinnerung daran, wie er damals an meiner Schulter geweint hatte, sich an mir festgehalten hatte, als sei ich sein Rettungsanker, hatte sich mir unauslöschlich eingebrannt.

„Du hast mir gefehlt, Jas. Du weißt gar nicht, wie sehr“, redete er weiter und streckte die Hand noch einmal nach mir aus, zog sie dann aber zurück, kurz bevor sie mich berührte. „Ich habe jeden verdammten Tag an dich gedacht. Alles, was ich wollte, war, zu dir und dem Clan zurückzukehren. Aber vor allem zu dir.“

Ich schüttelte den Kopf, schlang die Arme noch enger um meinen Körper, als könnte ich mein Herz so davon abhalten, heftig schlagend aus meiner Brust zu springen und Dummheiten zu machen. „Ich glaube nicht, dass du das verstehst. Ich kann die letzten drei Jahre einfach nicht vergessen. Ich kann nicht vergessen, dass du verschwunden bist, weil mein Vater verkündet hatte, dass er sich eine Bindung zwischen uns wünschte. Und jetzt hast du einfach entschieden, dass du mich doch haben willst, nachdem du weiß Gott was getrieben hast? Und du glaubst, dass ich einwillige? So verzweifelt bin ich nicht.“

„Warte.“ Er lachte einmal kurz. „Du glaubst, ich bin deswegen verschwunden? Bist du irre?“

Ich warf ihm einen amüsierten Blick zu. „Mich zu beschimpfen, hilft dir auch nicht gerade weiter.“

„Das ist nicht der Grund, warum ich gegangen bin, Jasmine. Du kannst mir vertrauen.“ Er trat einen Schritt vor, und ich war wie gelähmt. „Ich habe dich nie belogen.“

„Nein“, flüsterte ich. „Du bist einfach verschwunden.“

„Es hatte nichts mit dem zu tun, was dein Vater gesagt hatte, das schwöre ich dir.“ Nur mit seinen Fingerspitzen berührte er meine Wangen, dennoch ging es mir durch Mark und Bein. „Lass es mich dir beweisen.“

Wir sahen uns tief in die Augen, ich konnte den Herzschlag in meinen Venen und die Wärme seines Körpers spüren, obwohl er mich kaum berührte. Dez senkte den Kopf, und ich hielt die Luft an. Würde er mich noch mal küssen? Das durfte ich nicht zulassen, aber ich konnte auch dieses bittersüße Verlangen nicht leugnen. Ein Verlangen, für das ich vielleicht bitter würde bezahlen müssen.

Aber er küsste mich nicht. „Ich will dich, und ich weiß, dass du genauso fühlst. So sehr hat sich keiner von uns verändert, daran glaube ich ganz fest. Und ich will dich.“

In den letzten drei Jahren, und auch davor schon, als ich alt genug war, meine Gefühle für Dez einzuordnen, hatte ich so viele Male von diesem Augenblick geträumt. Aber wenn das, was er gesagt hatte, stimmte, warum hatte er mich dann verlassen? Warum hatte er dann nicht mehr zu sagen, als dass es ihm leidtat? Natürlich hätte ich den einfachen Weg gehen und die Entschuldigung widerspruchslos annehmen können, und ehrlich gesagt fand ich diese Vorstellung auch recht verlockend. Doch weder mein Herz noch mein Verstand spielten da mit.

Ich schloss die Augen. „Ich weiß nicht, was ich glauben soll.“

„Sieben Tage.“ Er strich mit der Nasenspitze über meine Wange, sein warmer Atem an meinem Ohr verursachte mir eine Gänsehaut. „Räum mir diese sieben Tage ein, Jas. Bitte.“

Er hatte nicht verraten, warum er damals verschwunden war, und er hatte mir keine unsterbliche Liebe geschworen. Mir kam eine Idee, und je länger sie in mir gärte, desto besser fand ich sie. „Nur unter einer Bedingung, und selbst wenn du dich darauf einlässt, kann und will ich dir nichts versprechen.“

Dez lachte auf eine Weise, die mich einerseits wütend machte, die aber andererseits auch total sexy war. Ich öffnete die Augen und sah ihn an. Hatte er früher schon so geklungen? Er legte sanft seine Hand an meine Wange. „Wie lautet die Bedingung?“

Ich holte tief Luft und konzentrierte mich auf meine Worte anstatt darauf, wie seine Hand sich anfühlte. „Es gibt Dinge, die ich tun möchte.“

Neugier flackerte in seinen Augen auf und ließ die Iris dunkler erscheinen. „Was für Dinge?“

„Nicht was du denkst“, erwiderte ich trocken, obwohl der Gedanke an diese Dinge durchaus reizvoll war. „Ich war noch nie irgendwo anders als hier. Ich will mehr von der Welt sehen.“

Er kniff die Augen zusammen, und er ließ die Hand zu meinem Nacken gleiten. „Wo willst du hin?“

„New York. Washington. Vielleicht sogar nach Philadelphia“, sagte ich schnell. „Ich will durch eine Mall laufen, ohne dass eine Horde Gargoyles mich bewacht. Ich will Autofahren lernen, ohne dass jemand mir das Schalten abnimmt, wenn ich das Getriebe quäle.“ Auto fahren war für uns keine Notwendigkeit, da wir ja fliegen konnten. Aber ein Auto zu fahren, war so … so unglaublich menschlich. „Ich will nacktbaden gehen.“ Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, schien ihm diese Bedingung gut zu gefallen … zu gut, also beeilte ich mich, die nächste nachzuschieben: „Und ich will … einen Dämon jagen.“

„Jasmine, das ist völlig unmöglich, Dämonen sind …“

„Das sind meine Bedingungen.“ Ich nahm die Schultern zurück. Ich wusste, dass es nicht richtig war, ihn dazu zu benutzen, das zu bekommen, was ich wollte, und ich hatte deswegen auch ein schlechtes Gewissen. Aber wann würde ich noch mal so eine Chance bekommen? Als Wächterin gab es wenig, was ich tatsächlich tun durfte. „Nimm sie an oder lass es.“

Zuerst war ich mir sicher, er würde ablehnen. Dafür würde ich ihm einen Tiefschlag verpassen – so wie er mir mit seinem Verschwinden. „Und ich habe sieben Tage Zeit, dir zu helfen, all das zu tun?“

Das war kein Nein. Ich schöpfte Hoffnung. „Ja, du hast sieben Tage und dann … werden wir weitersehen.“

Dez seufzte tief, als würde ich von ihm verlangen, die Titanic zu bergen. Dann küsste er mich auf die Stirn. „Okay, abgemacht.“

4. Kapitel

Ich drückte das Gesicht in die Kissen und seufzte laut. Es war früh am Morgen und im Baum vor meinem Zimmer konnte ich die leisen Rufe der Vögel hören, die miteinander schnatterten. Ich war mir nicht sicher, was mich geweckt hatte.

Ich spürte einen zarten Lufthauch auf der nackten Haut meines Armes und zog ihn unter die Bettdecke. Mein Dämmerzustand schwand leicht, als dieser Hauch über meine Schulter und den dünnen Träger meines Spaghetti-Tops streifte. Ich kauerte mich unter der Bettdecke zusammen und zog dabei mein rechtes Bein an – bis ich gegen ein Hindernis stieß.

Als daraufhin ein tiefes Glucksen durch den Raum hallte, war ich schlagartig hellwach.

Was zum Teufel war hier los?

Ich rollte mich blitzschnell auf die Seite, setzte mich auf und strich das Haar zurück, das mir ins Gesicht gefallen war. Zwei von rötlichen, langen Wimpern gerahmte hellblaue Augen schauten mich an.

„Guten Morgen“, sagte Dez gedehnt, während er sich auf seiner Seite rekelte, als hätte er jedes Recht der Welt, in meinem Bett zu liegen.

Ich wich keuchend zurück. Wäre seine Hand nicht vorgeschossen und hätte mich am Arm gepackt, wäre ich vermutlich aus dem Bett gepurzelt. Er zog mich über das Bett und so dicht an sich, dass sein Geruch, eine Mischung aus wilder Natur und einem Duft, den ich nicht näher bestimmen konnte, überall war.

„Was machst du in meinem Bett?“

„Ich wollte dich sehen.“

Schlief ich vielleicht noch? „Hättest du nicht warten können, bis ich wach bin?“

„Nö.“ Er schob eine Haarsträhne über meine Schulter, wobei seine Finger ganz zart über meine Haut strichen. „Ist ja nicht das erste Mal, dass ich dich so aufwecke.“

„Aber das war … vorher“, sprudelte es aus mir heraus. Er machte das Gleiche mit einer zweiten Haarsträhne. Meine Zehen krümmten sich beim leichtesten Kontakt unserer Körper. „Du solltest absolut nicht hier in meinem Zimmer sein.“

„Weiß doch niemand.“ Er beugte sich zu mir. Seine Augen funkelten vergnügt wie damals vor einigen Jahren. „Bleibt unser kleines Geheimnis.“

Mir fiel keine passende Antwort ein, was mich maßlos ärgerte. Ich wusste einfach nicht, wie ich mit Dez umgehen sollte. Als wir noch jünger gewesen waren, hatte es mir ein Gefühl der Sicherheit gegeben, wenn wir uns so nah gewesen waren. Aber damals waren wir ja auch nur Kinder gewesen, die sich ein Bett teilten. Und selbst als wir älter geworden waren, war ich zu schüchtern gewesen, den ersten Schritt in diese Richtung zu wagen.

Dez’ Blicke wanderten langsam über mein Gesicht, und ich merkte, wie ich errötete. Ebenso verkrampft wie voller Vorfreude wartete ich darauf, dass sie noch tiefer wanderten; das dünne Top überließ kaum noch etwas der Fantasie.

Doch die Art, wie er mich anstarrte … na ja, wenn ein anderer Wächter mich so ansah, war ich normalerweise angenervt, aber bei Dez wollte ich, dass er es tat. Ich bekam kaum noch Luft, und im Raum war es ganz plötzlich viel zu heiß.

Er zog einen Mundwinkel hoch. „Ich könnte mich … daran gewöhnen, jeden Morgen so aufzuwachen.“

Ich atmete tief ein, riss die Bettdecke hoch bis zum Kinn und funkelte ihn böse an. „Träum weiter.“

Er lachte, während er sich streckte, dann stützte er die Wange auf seine Hand. „Hast du heute Morgen keinen Unterricht?“

„Nein, ich bin fertig mit der Schule.“ Alle Wächter wurden zu Hause unterrichtet, und wie bei den Menschen waren wir mit etwa achtzehn Jahren mit unserer schulischen Ausbildung fertig. Wir waren dadurch alle sehr belesen, aber viele von uns, besonders die Frauen, hatte keine wirkliche Vorstellung von der Welt da draußen. Ich sah hoch zu ihm. „Warum fragst du?“

„Gut. Dann können wir direkt anfangen, deine Bedingungen abzuarbeiten.“

„Jetzt?“ Ich streckte mich ebenfalls und sah dabei auf den Wecker. „Es ist noch nicht mal sieben!“

Er grinste. „Du hast einen Haufen Bedingungen, und ich will keine Sekunde verschwenden.“

Okay, das hatte ich mir wohl selbst eingebrockt.

„Ich habe aber auch eine Bedingung“, fügte er hinzu.

„Was?“ Ich setzte mich auf und sah ihn trotzig an. „Das geht nicht, wir waren uns doch schon einig, dass …“

„Soweit ich weiß, haben wir keinen offiziellen Vertrag unterschrieben, Jas“, sagte er nüchtern, während er sich ebenfalls aufsetzte. Er war groß und nahm fast das gesamte Bett ein.

„Wie lautet deine Bedingung?“

Als ein hintergründiges Lächeln über sein Gesicht huschte, krampfte sich mein Magen zusammen. „Dass wir jede deiner Bedingungen bei Erfüllung mit einem Kuss besiegeln.“

Ich starrte ihn mit offenem Mund an. „Ist das dein Ernst?“

„Mein voller Ernst“, murmelte er. „Wenn du etwas davon hast, sollte ich auch nicht leer ausgehen.“

„Sehr witzig.“

Er zuckte mit den breiten Schultern.

„Meine Gesellschaft sollte Belohnung genug sein“, schoss ich zurück.

„Du willst all diese Dinge erleben, Jas, und ich will dich. Du willst dieses Spiel spielen, also bin ich dabei.“

Er war schon als Junge stur gewesen, wenn er etwas haben wollte, und das hatte sich kein Stück geändert. Normalerweise war es dabei um Videospiele oder um die Dämonenjagd gegangen, aber nie um mich.

Mein Herz raste, während ich ihn anstarrte. Mich beschlich das dumpfe Gefühl, dass ihm die Bedingungen, die ich letzte Nacht aufgestellt hatte, direkt in die Karten gespielt hatten – und jetzt hatte er alle Trümpfe in der Hand.

Ein Wächter hatte die Fähigkeit, seine Haut in Granit zu verwandeln und sich schnell zu heilen. Kaum zu glauben also, dass ihn in einem Auto eine solche Heidenangst überkam.

Dez sah jedenfalls aus, als wäre ihm speiübel.

Beide Hände hatte er auf das Armaturenbrett gestemmt, während er durch die Windschutzscheibe des SUV starrte. „Rechts! Dreh das Lenkrad nach rechts!“

Ich drehte das Lenkrad nach rechts, und das Auto machte einen Schlenker zur Seite, sodass wir kräftig durchgeschüttelt wurden. „Ups!“

„Vielleicht hätten wir nicht den SUV nehmen sollen“, nörgelte er.

Ich kicherte.

Die folgenden sechs Stunden verbrachten wir damit, ein- und auszusteigen und die Plätze zu tauschen, während Dez versuchte, mir das beizubringen, was er bei seinen eigenen Fahrstunden gelernt hatte. Wir hatten vor unserem Haus begonnen, hatten in der Sackgasse gewendet und waren dann die lange Auffahrt hoch und runter gekurvt. Besonders die Gargoylemänner beobachteten uns belustigt, und mehr als ein blöder Spruch ging auf Dez’ Kosten. Er hatte es leichtgenommen – bis zu dem Moment, als er beschloss, dass ich nun bereit wäre, auf einer der vielen Nebenstraßen mit wenig Verkehr zu fahren. Wir aßen eine Kleinigkeit zu Mittag und machten uns auf den Weg – und dann fing der Spaß erst richtig an.

Auto fahren war gar nicht so schwer, fand ich.

Ich lächelte, als Dez sich im Beifahrersitz zurücklehnte und die Beine lang ausstreckte, als würde er eine nicht vorhandene Bremse treten. „Es ist weniger schlimm, als ich gedacht hatte“, neckte ich ihn.

Er sah mich von der Seite an. „Vielleicht solltest du einen Tacken langsamer fahren.“

Mein Blick fiel aufs Tacho: knapp über hundert Stundenkilometer. Ich grinste breit, während ich das Lenkrad umfasste. Bäume rasten an beiden Seiten der schmalen Straßen an uns vorbei, und ich trat weiter aufs Gaspedal, bis die Nadel die hundertzehn anzeigte.

Dez packte den Griff der Beifahrertür. „Vergiss nicht: Linke Hand auf neun Uhr, rechte Hand auf drei Uhr.“

„War es nicht zehn und zwei Uhr?“

„Nein.“ Er atmete scharf ein. „Kurve. Da vorne kommt eine Kurve. Bremsen! Kurve!“

Ich korrigierte die Haltung meiner Hände und ging etwas vom Gas, dennoch machte mein Herz einen Sprung, als der SUV über die Mittellinie raste. „Das ist wie fliegen.“

„Nur dass wir gerade in einer tonnenschweren Todesfalle sitzen“, murmelte er.

Lachend brachte ich den Wagen wieder in die Spur. Für die meisten Wächter war Auto fahren keine große Sache mehr, wenn sie erst ihren Führerschein hatten, schlichtweg ein Transportmittel, um von A nach B zu kommen. Aber es hatte etwas unglaublich Befreiendes für mich, wenn der Wagen Kilometer für Kilometer fast ebenso schnell zurücklegte, wie wir fliegen konnten. Ich entfernte mich immer weiter von unserem Haus. Ich floh!

„Dir macht das richtig Spaß, oder?“

Ich nickte. „Es ist so … na ja, wahrscheinlich hältst du das für dämlich.“

„Tue ich nicht. Erzähl’s mir.“

„Es ist befreiend und … irgendwie so normal.“ Mir fiel es schwer, die richtigen Worte zu finden, während wir einen kleinen Berg hochfuhren. „Danika ist die Einzige, die etwa in meinem Alter ist, aber sie ist andauernd damit beschäftigt, hinter den Jungs herzurennen. Sie hat einfach kein Interesse an solchen Dingen oder überhaupt an Dingen, die ich spannend finde.“

„Will sie immer noch kämpfen lernen?“ Seine Stimme klang amüsiert.

Meine Schwester wollte gegen Dämonen kämpfen. Das war eigentlich nicht gestattet, aber sie hatte die Männer überzeugt, sie immerhin in Selbstverteidigung zu trainieren. „Ja. Das macht zwar Spaß und vertreibt einem die Zeit, aber ich …“

„Du treibst dich lieber rum?“

Ich nickte erneut, schwieg aber, als mir plötzlich die letzten drei Jahre einfielen, in denen ich mich oft so mutterseelenallein gefühlt hatte. Dez war mein Vertrauter gewesen, mein Komplize bei allen Dingen, die ich eigentlich nicht gedurft hätte. Als er verschwunden war, wurde vieles für mich unmöglich.

Dez, der bei seiner Größe gerade noch in den geräumigen SUV passte, verlagerte sein Gewicht auf seinem Sitz und drehte sich zu mir. Lange Sekunden verstrichen, bevor er sprach. „Warum hast du niemand anderen gebeten, dir das alles beizubringen?“

„Habe ich ja, aber es hatte niemand die Geduld dazu, und die meisten hielten es ohnehin für keine gute Idee.“ Das permanente Gefühl, in einem Käfig zu leben, war von Tag zu Tag erdrückender geworden. „Sie glauben, dass wir Frauen dann Amok laufen und uns in Gefahr bringen könnten. Dass Dämonen uns aufspüren und …“

„Dämonen können dich wirklich aufspüren, Jasmine. Sie fühlen unsere Anwesenheit genau so wie wir ihre. Es ist hier draußen nicht sicher für dich, wenn keiner von uns dabei ist.“

„Ich bin nicht schwach.“ Ich warf ihm einen wütenden Blick zu.

„Das behaupte ich auch gar nicht. Du warst nie schwach. Niemals.“ Es war unüberhörbar, dass er das ernst meinte. „Aber solltest du jemals einem Hohedämon begegnen, hättest du keine Chance zu entkommen.“

Ich biss mir auf die Lippe. Es gab verschiedene Arten von Dämonen. Die gewöhnlichsten waren Inkuben. Sie sahen aus wie Menschen und stifteten mit Vorliebe Chaos. Sie zerstörten, was sie konnten, legten Brände und manipulierten die Emotionen großer Massen. Wie ich hörte, wurden sie ziemlich bösartig, wenn man sie in die Ecke drängte. Dann gab es die Blender. Sie sahen ebenfalls aus wie Menschen, allerdings nahmen sie diese Gestalt nur zur Tarnung an, und sie hatten für gewöhnlich einen höllischen Appetit, was hin und wieder auch in kannibalistische Neigungen ausartete. Wenn sie einen Menschen bissen, ging danach alles blitzschnell. Es gab noch Dutzende weitere Arten, aber am gefährlichsten waren die Hohedämonen; die Fürsten und Fürstinnen der Hölle; Sie hatten meine Mutter und Dez’ Clan getötet. Man traf nur selten auf einen von ihnen, die Gefahr wurde dadurch aber nicht minder real.

Ganz plötzlich war mir jeder Spaß an diesem Abenteuer vergangen.

„Es tut mir leid“, sagte Dez und riss mich aus meinen Gedanken.

Seine Entschuldigung kam völlig unerwartet, und ich wollte mich durch sie nicht beeinflussen lassen, dennoch zog sich mein Herz zusammen.

„Als ich fortging, wusste ich, dass es dich mitnehmen würde, aber mir war nicht klar, was sich dadurch alles verändern würde“, fuhr er leise fort. „Ich hätte nicht gedacht, dass du ganz allein zurückbleiben und hier festsitzen würdest.“

„Festsitzen“ traf es ganz gut. „Na ja, ich schätze, nüchtern betrachtet warst du mir rein gar nichts schuldig, stimmt’s? Du hast das Angebot meines Vaters nicht angenommen und …“

„Ich war dir etwas schuldig.“ Seine Augen blitzten blaugrün auf. „Hätte es dich nicht gegeben, weiß ich nicht, was aus mir geworden wäre. Du hast mir so oft geholfen, nicht einfach aufzugeben. Und du …“ Er verstummte und starrte aus dem Beifahrerfenster. „Wie auch immer, ich freue mich, dass dir das hier offensichtlich so viel Spaß macht.“

Ich ließ den Themenwechsel unkommentiert, da ich die Leichtigkeit und das Gefühl von Freiheit beim Fahren zurückhaben wollte. „Ich glaube, ich mache mich verdammt gut.“

Er lachte. „Das stimmt. Du hast es langsam drauf. Aber du hattest schon immer eine schnelle Auffassungsgabe.“

Ich lächelte, dann wurde ich urplötzlich nervös. Sobald eine meiner Bedingungen erfüllt war, musste ich seine erfüllen. Ihn küssen. Mir wurde heiß, und meine Wangen fingen an zu brennen. Würde ich feuchte Hände bekommen, wenn ich ihn küsste? Puuh. Ich redete mir selbst ein, dass es mir egal wäre, aber wie Dez mich schon erinnert hatte, war ich eine fürchterliche Lügnerin. Es war mir nicht egal.

„Kann ich noch etwas weiterfahren?“, fragte ich.

„Du kannst so lange fahren, wie du … halt an!“, schrie er plötzlich und richtete sich in seinem Sitz auf. „Halt den Wagen an, Jasmine! Sofort“

Winzige Härchen stellten sich an meinem ganzen Körper auf, und mich beschlich ein verdammt ungutes Gefühl. Etwas stimmte nicht, etwas Unnatürliches. Ich trat mit aller Wucht auf die Bremse. Reifen quietschten, und der Gestank von verbranntem Gummi hing in der Luft, wurde aber von einem anderen Geruch überdeckt – dem Geruch nach verfaulten Eiern.

Schwefel.

Die Hinterräder kamen ins Schleudern, und der SUV geriet auf die Gegenfahrbahn. Nach mehrmaligen verzweifelten Versuchen schaffte ich es, das Lenkrad unter Kontrolle zu bringen und den Wagen am Seitenstreifen zum Stehen zu bringen.

Zwischen den Bäumen am Straßenrand waren undeutliche Bewegungen zu erkennen. Die Luft flimmerte und waberte, als wäre eine Kameralinse unscharf eingestellt. Gestalten nahmen aus den Luftmassen langsam Form an. Meine Augen weiteten sich, und ich schlug die Hand vor den Mund.

Zwei Dämonen standen nebeneinander, ihre schlanken, muskulösen Körper waren von einem matten, roten Fell überzogen. Die Hände bestanden aus vier klauenartigen Fingern und statt Füßen hatten sie Hufe. Nichts an diesen Gestalten war im Entferntesten niedlich oder süß. Ihre Flügel waren schwarz und sahen zerbrechlich aus. Ihre Mäuler waren weit aufgerissen und enthüllten Zähne, die einem Weißen Hai alle Ehre gemacht hätten. An beiden Seiten ihres kamelförmigen Kopfes wand sich ein spitzes Horn in die Luft.

Mir rutschte das Herz in die Hose, als ich begriff, was ich da sah. Menschen hielten diese Kreaturen für reine Legenden und nannten sie im Scherz „Jersey Devil“. Zumindest der letzte Teil der Bezeichnung traf ins Schwarze. Ich wusste, was sie in Wirklichkeit waren. Ich kannte sie aus Büchern, die ich aus der Bibliothek meines Vaters stibitzt hatte.

Es waren Terrier-Dämonen.

5. Kapitel

Mit einem mehr als flauen Gefühl im Magen starrte ich die unheimlich aussehenden Kreaturen an. Terrier waren niedere Dämonen, die menschliche Augen nur selten zu Gesicht bekamen. Kontrolliert wurden sie von Sucher-Dämonen, die die Aufgaben hatten, nach Opfern für einen Hohedämon oder für die Hölle selbst zu suchen. Wenn Terrier-Dämonen in der Nähe waren, hieß das, dass sie auf der Pirsch waren.

Ich hatte erst einmal in meinem Leben einen Dämon gesehen. Ich war damals sechs Jahre alt, und Danika und ich waren mit unserer Mutter auf dem Rückweg von einer Stadt in der Nähe. Als ein Hohedämon es geschafft hatte, an den Wächtern, die uns beschützen sollten, vorbeizukommen, war aus einem harmlosen Ausflug eine Tragödie geworden.

„Bleib im Wagen“, befahl Dez mir und stieß die Beifahrertür auf. „Ganz egal, was passiert.“

Blitzschnell stieg er aus dem SUV und warf die Tür hinter sich zu. Einer der beiden Terrier neigte seinen langen, dünnen Hals zur Seite, hob die Nase und schnüffelte. Dann öffnete er sein Maul und gab einen krächzenden Laut von sich.

Als Antwort auf seinen Ruf erschienen zwei weitere Terrier zwischen den Bäumen. Meine Hand wanderte unweigerlich nach unten zur Gurthalterung. Es waren vier? Einer gegen vier? Mir lief es eiskalt über den Rücken, und ich musste unweigerlich an damals denken, als ich sechs gewesen war und hilflos die Gräueltaten mit ansehen musste.

Ich schaute wieder zu Dez, der nun seine wahre Gestalt annahm: Der Rücken seines T-Shirts zerriss, während seine Flügel zu beiden Seiten seiner Schultern in die Höhe wuchsen. Die Wandlung dauerte nur wenige Sekunden, aber das Endergebnis war überwältigend. Seine Haut verfärbte sich dunkelgrau, der Unterkiefer wurde viel breiter, die Nase flacher, und zwei nach hinten gebogene Hörner ragten aus seinem struppigen kastanienbraunen Haar.

Ich sah ihn zum ersten Mal seit Jahren in seiner wahren Gestalt. Das hier war wirklich nicht mehr der süße Junge, in den ich mich verliebt hatte.

Dez war jetzt ein erwachsener Mann – und noch dazu ein Krieger.

Einer der Terrier stieß einen Schrei aus, während er sich mit flatternden Flügeln in die Luft erhob und Dez angriff. Dez reagierte blitzschnell: Er lehnte sich zurück und stieß der großen, vogelartigen Kreatur einen Fuß in den Bauch, sodass sie im hohen Bogen gegen einen anderen Terrier flog. Beide gingen sie dann in einem Gewühl aus Klauen und Schnäbeln zu Boden. Ein dritter Terrier raste auf Dez zu, der erst in die Knie ging, dann mit voller Muskelspannung hochsprang und die Kreatur am Genick packte. Mitten in der Luft drehte Dez sich und schleuderte den Terrier von sich.

Der Dämon flog im hohen Bogen und mit voller Wucht gegen einen Baum. Sein Aufprall klang wie ein Donnerschlag. Baumrinde wirbelte umher, die große Tanne wurde in der Mitte gespalten und klaffte auseinander. Der Terrier ging reglos zu Boden. Eine Sekunde später erzitterte der scheinbar leblose Körper, fiel in sich zusammen und verpuffte in einer Wolke aus schwarzem Rauch.

Die restlichen drei Dämonen fingen jetzt an, Dez zu umkreisen. Dez wirbelte herum, und entging dabei nur knapp dem rasiermesserscharfen Schnabel eines seiner Angreifer.

Dez lächelte, als er in die Luft stieg. Er schien sich seiner Sache sehr sicher zu sein, aber dann griff ihn ein Terrier an und schlug ihm die Klauen in den Stoff seiner Jeans. Die Wund begann augenblicklich zu bluten und färbte das Hosenbein dunkel. Dämonen-Klauen konnten unsere Haut durchdringen und verletzen? Oh Gott …

Aus meiner Angst wurde Panik, und das Herz schlug mir bis zum Hals.

Dez lachte höhnisch, als er wieder landete und in die Hocke ging. „Mehr habt ihr nicht drauf? Ein läppischer Kratzer?“

Der Terrier antwortete mit einem Schrei und schlug um sich. Die anderen beiden erhoben sich in die Luft und stießen dann auf Dez herab. Er schien keine Angst zu haben. Ganz im Gegenteil, sein aufgesetztes Lächeln bewies, dass er gerade jede Menge Spaß hatte. Aber ich wusste, wie schnell sich das Blatt in einer Schlacht wenden konnte. Ein kleiner Fehler, und alles war verloren.

Während draußen der Kampf tobte, kauerte ich im Wagen.

Meine Mutter hatte vor all den Jahren keinerlei Angst gezeigt. Sie hatte so tapfer wie ein Mann gegen den Dämon gekämpft und ihr Leben geopfert, um meine Schwester und mich zu retten. Ich hatte nicht vor, weiter einfach rumzusitzen und mit anzusehen, wie Dez das Gleiche zustieß wie ihr.

Mit eiskalten und zitternden Fingern öffnete ich die Fahrertür und stieg aus dem Wagen. Tief atmete ich den Duft nach Kiefern und Erde ein und zwang meinen Körper zur Verwandlung. In der Sekunde, in der sich meine Flügel unter meinem Top entfalteten, wirbelten zwei der Terrier herum und hielten schnüffelnd ihre Nase in die Luft.

Beide stießen einen schrillen Schrei aus, der sich wie eine Mischung aus einem strangulierten Vogel und einem Rotluchs anhörte, und schossen direkt auf mich zu.

„Jasmine!“, schrie Dez und stieß sich ab. In diesem Augenblick stürzte sich der verbliebene Terrier auf ihn und riss ihn mit sich zu Boden. Gemeinsam schlitterten sie noch einige Meter auf dem Seitenstreifen weiter.

Da es zu spät war, meine Meinung zu ändern und schnell wieder im Wagen zu verschwinden, ging ich in die Hocke und stieß mich dann mit angezogenen Flügeln hoch in die Luft. Ich war schnell, aber diese Kreaturen waren schneller, und ihre ausgestreckten Klauen verfehlten mich nur um Zentimeter. Mein Magen verkrampfte sich, und ich flog, so schnell ich konnte, zum höchsten Punkt des nächsten Baumes.

Ich griff den dicksten Ast, brach ihn ab und wirbelte herum. Einer der Terrier war mir so nah, dass ich den Lufthauch seiner Bewegungen auf meiner Haut spüren konnte. Ich schwang den Ast mit aller Kraft und traf damit den länglichen Kopf des Terriers.

Schwarze Flüssigkeit spritzte aus der Wunde, und die roten Knopfaugen der Kreatur rollten nach hinten, während sie fiel. Beim Aufprall auf den Boden barst ihr Schädel, und eine schwarze Rauchwolke stieg auf, während ich mit dem Ast nach dem nächsten Terrier schlug. Er hatte gesehen, wie ich seinen Kumpel zugerichtet hatte, weshalb er sich aus meiner Reichweite verzog und hochflog. Unfassbar schnell schnappte er sich den Ast und entriss ihn mir.

„Verdammt“, murmelte ich, während ich nach hinten flog und dann in der Hocke landete. Meine Haare fielen mir ins Gesicht, sodass ich erst kaum etwas sehen konnte. Während ich aufstand und einen Schritt zurück machte, erwischten die Klauen des Terriers die Vorderseite meines Tops und zerrissen den Stoff nur Millimeter über meiner Haut.

Als eine weitere Wolke aus schwarzem Rauch aufstieg, wusste ich, dass Dez „seinen“ Terrier erledigt hatte. Dez wirbelte herum, seine stahlblauen Augen auf mich gerichtet. Erdklumpen und Steine flogen in die Luft, während er sich vom Boden abstieß und den letzten Terrier von hinten packte. Mit einer schnellen Drehung seiner Hände brach er das Genick der Kreatur. Er schüttelte sich schwarzen Schleim von den Händen, während er mich finster anblickte.

Oha.

Bevor die letzte Wolke aus faulig riechendem schwarzen Rauch verpuffte, stand Dez vor mir und schob seine Hände unter den Saum meines zerrissenen Tops.

„Bist du verletzt?“, fragte er besorgt, während seine warmen Handflächen über meine Bauchdecke tasteten. Jasmine.“

Mit zitternden Händen umfasste ich seine Arme. „Nein, er hat mich nicht erwischt. Aber du …“

„Hatte ich dir nicht gesagt, du sollst im Wagen bleiben?“ Er zog seine Hände zurück, legte sie mir dann allerdings auf die Schultern und schaute mich durchdringend an. „Was hast du dir nur dabei gedacht?“

„Die waren in der Überzahl.“ Ich wand mich aus seinem Griff und wechselte in meine menschliche Gestalt. Letzte Reste von Adrenalin hinterließen einen bitteren Nachgeschmack in meinem Rachen. „Ich konnte doch nicht einfach rumsitzen und abwarten. Und dein Bein …“

Meine Worte endeten in einem Quieken, als er mich in seine Arme zog und mich gegen seinen nackten Oberkörper drückte. Er vergrub eine Hand mit meinem völlig zerzausten Haar, während seine Flügel uns wie in einem Kokon umschlossen. Ich war wie gelähmt, er fühlte sich so warm, so lebendig an. Als er mich letzte Nacht festgehalten hatte, waren meine Sinne betäubt gewesen, doch das war gar nichts im Vergleich hierzu.

Dez schauderte. „Als ich gesehen habe, dass du aus dem Auto aussteigst, wäre mir fast das Herz stehengeblieben.“

Ich entspannte mich langsam in seiner Umarmung und ließ sogar meine Wange an seiner Brust ruhen, wo ich sein Herz schlagen hören konnte. „Ich konnte nicht wieder nur dasitzen und zuschauen.“

„Wieder?“ Seine starken Arme drückten mich fester. „Du meinst wie damals bei deiner Mom? Das hier war etwas ganz anderes“, meinte er leise, während sein Kinn meinem Gesicht immer näher kam. „Ich hätte es noch mit fünf Terriern mehr aufnehmen können, Jas.“

Ich schloss die Augen, erwiderte nichts.

Seine Lippen streiften mein Haar. „Du hättest deiner Mutter nicht helfen können, ganz gleich, was du getan hättest. Das weißt du doch, oder?“

„Ja“, erwiderte ich mit erstickter Stimme. Es war für Frauen nicht vorgesehen, dass sie sich selbst verteidigten, geschweige denn kämpften. Danika und ich waren da allerdings völlig anderer Meinung. Wenn unsere Mutter kämpfen gelernt hätte, wäre sie bei diesem Angriff vielleicht mit dem Leben davongekommen.

Er hielt mich noch eine Sekunde lang fest, dann ließ er mich los und trat einen Schritt zurück. Als ich die Augen aufschlug, hatte er seine menschliche Gestalt angenommen. Ich hatte schon viele Männer mit freiem Oberkörper gesehen, aber als ich Dez jetzt so sah, schien es für mich das erste Mal zu sein.

Seine Brust war muskulös, sein Bauch definiert. Er war sehr kräftig, ja, aber seine Muskeln wirkten nicht etwa übertrieben aufgepumpt. Seine Jeans saß gefährlich tief und entblößte diese sexy Muskelstränge an beiden Seiten seiner Hüfte. Die Haut an seinem Bauch und seiner Brust wies kleine Einkerbungen auf, die ich als Narben von alten Verletzungen deutete. Merkwürdigerweise taten diese Makel seiner Schönheit keinen Abbruch, sondern unterstrichen nur noch seine Männlichkeit.

Ich starrte ihn unverhohlen an.

Als ich es endlich schaffte, meinen Blick abzuwenden und ihm ins Gesicht zu sehen, grinste er leicht. Sofort stieg mir die Schamesröte in die Wangen. „So böse kannst du gar nicht sein, dass ich aus dem Wagen ausgestiegen bin.“

Er zog eine Augenbraue hoch. „Ich kann deswegen so böse sein, wie ich will.“

Ich schüttelte den Kopf, und bemühte mich weiter, ihm nur ins Gesicht zu sehen. Ich wusste, wie die meisten Jungs tickten. Mir stand ein Haufen Arbeit bevor. „Du hast versprochen, einen Dämon mit mir zu jagen. Und das geht nicht, wenn ich im Wagen sitze.“

Sehnen dehnten sich, und Muskeln traten hervor, als er nun die Arme vor der Brust verschränkte. Lieber Himmel … „Na ja, im Prinzip zählt das eben als Jagd auf einen Dämon, also …“

„Tut es nicht. Wir haben rein gar nichts gejagt. Die sind einfach aus dem Nichts aufgetaucht.“ Ich schaute über die Schulter zu der Stelle, an der die Dämonen so plötzlich erschienen waren. „Warum waren das so viele auf einmal?“

Dez’ Blick wurde eisig. „Sie suchen nach unserem Anwesen. Sie wissen, dass ein Wächter-Clan in der Nähe ist, und wollen ihn finden.“

Ich keuchte bei dem Gedanken daran, wie diese Monster ein Haus voller Kinder angriffen. „Passiert … so was oft?“

Er nickte. „Öfter, als du denkst. Nur zeigen sie sich normalerweise nicht tagsüber. Die werden mutiger.“ Sein Mund verzog sich voller Ekel. „Wir müssen zurückfahren, ich muss sofort Garrick davon erzählen.“

Wie konnte es sein, dass ich keine Ahnung hatte, dass Dämonen regelmäßig unserem Zuhause so nahe kamen? Was war mir sonst noch alles verschwiegen worden? Wie benebelt wankte ich zurück zum Wagen. Diesmal fuhr Dez, und ich hatte nicht das Geringste dagegen.

6. Kapitel

Nach unserer Rückkehr war Dez direkt zu meinem Vater gegangen, und ich hatte die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen. So sehr ich auch hören wollte, was mein Vater dazu zu sagen hatte, dass die Terrier bei Tageslicht herausgekommen waren, wollte ich nicht in der Nähe sein, wenn Dez ihm erzählte, dass ich aus dem Wagen ausgestiegen war.

Die Chancen standen gut, dass mein Vater danach die Erfüllung meiner Bedingungen unmöglich machte, indem er mich zu Hausarrest verdonnerte.

Ich ging in meinem Zimmer auf und ab, weil ich kaum eine Minute still sitzen konnte. Das ging schon seit dem Abendessen so, bei dem weder Dez noch mein Vater aufgetaucht war.

Danika lag auf meinem Bett und … ja, was genau machte sie da eigentlich? Sie lag auf dem Rücken und hatte die Arme parallel zu ihrem Körper ausgestreckt, presste die Oberschenkel zusammen und hob die Beine etwa zehn Zentimeter über der Bettdecke. Nach ein paar Sekunden hob sie die Beine dann etwa weitere dreißig Zentimeter an. Anschließend wiederholte sie das Ganze.

„Mann, wir brauchen echt Hobbys“, murmelte ich.

Sie lachte. „Ich trainiere meine Bauchmuskeln.“

„Wie ich sagte: Wir brauchen Hobbys.“

Sie senkte die Beine auf die Bettdecke und setzte sich auf. Zwei dicke geflochtene Zöpfe hingen ihr bis auf die Schultern. „Wenigstens tue ich etwas Sinnvolles. Du läufst nur auf und ab.“

Ich streckte ihr die Zunge raus und fing wieder damit an, auf und ab zu laufen.

Sie grinste „Und welche Bedingung steht als Nächstes auf dem Plan?“

Ich hatte Danika in alles eingeweiht, was heute geschehen war, und wie meine Bedingungen lauteten – mit Ausnahme des Nacktbadens, da ich mir nicht sicher war, wie ernst es mir damit überhaupt war. „Wenn Dez Dad erzählt, dass ich bei ihm gewesen bin, wird es keine weiteren Bedingungen mehr geben.“

„Er ist clever genug, das für sich zu behalten.“ Sie spielte mit dem Ende eines ihrer Zöpfe. „Und Dad wird dich mit ihm gehen lassen. Er wollte schon immer, dass Dez und du euch bindet. Ich bin soooo neidisch. Du wirst rumreisen, während ich hier festsitze und mir vor lauter Langeweile am liebsten die Augen rausreißen würde.“

„Ich weiß nicht“, flüsterte ich. Wenn ich genauer darüber nachdachte, konnte ich mir kaum vorstellen, dass mein Vater mich einfach nach Washington lassen würde, ohne eine kleine Armee mitzuschicken.

Danika drehte sich seufzend auf den Rücken. „Du wirst Zayne sehen. Ich hasse dich.“

„Du bist so offensichtlich verknallt in ihn.“

„Stimmt“, gab sie unverhohlen zu. „Ich hoffe, er kommt bald wieder mit seinem Vater zu Besuch. Das wäre das Highlight meines Jahres.“

Ich grinste. „Es ist ja auch nicht wirklich schwierig, das Highlight deines Jahres zu werden.“

Sie schnaubte. „Das stimmt leider.“

Zayne war siebzehn, so alt wie Danika, und außergewöhnlich gut aussehend, sogar für einen Wächter. Danika hatte nie einen Hehl aus ihrer Schwärmerei für den blonden Jungen gemacht und war ihm auf Schritt und Tritt gefolgt, so wie ich viele Jahre Dez gefolgt war. Zayne war auch immer sehr lieb zu Danika gewesen. Wenn sie ihm mal auf die Nerven ging, hatte er sich das nie anmerken lassen. Sein Vater war Oberhaupt des Clans von Washington, und man munkelte, dass es in diesem Clan ein Kind geben würde, das sowohl Wächter als auch Dämon war. Ich glaubte das aber nicht. Kein Clan konnte eine solche … Abscheulichkeit in den eigenen Reihen dulden.

„Und? Hast du ihn geküsst?“, fragte Danika und riss mich damit aus meinen Gedanken.

„Was?“ Meine Wangen glühten. „Nein.“

Danika kicherte. „Dann ist seine Bedingung noch nicht erfüllt.“

Ich öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, schloss ihn dann aber wieder. Was das Autofahren anging, hatte Dez seinen Teil noch nicht ganz erfüllt, wobei der Kampf gegen die Terrier wirklich nicht zählte. Wir waren nicht auf der Jagd nach Dämonen gewesen. Die hatten uns gefunden.

„Als er dich gestern Abend geküsst hat, sah es sehr danach, als würde es dir ziemlich gut gefallen“, zog sie mich auf. „Geniale Idee übrigens, diese sieben Tage zu nutzen, um hier rauszukommen, aber letzten Endes wirst du ihn nicht ablehnen.“

Ich warf ihr einen wütenden Blick zu. „Ich werde ganz sicher nicht Ja sagen.“

„Wenn du meinst.“ Sie verdrehte die Augen. „Du bist stinksauer. Kann ich total verstehen, und du hast auch jeden Grund dazu, aber in seiner Abwesenheit hast du keinen anderen Typen angeguckt. Und seit er wieder da ist, starrst du ihn permanent an.“

„Wer würde Dez nicht anstarren?“

Sie kicherte, dann sah sie zur Tür, von der ein Räuspern zu hören war. Oh Mist. Ich holte erschrocken Luft, und Danika zuckte zusammen.

Dez, sagte ich im Stillen.

Sie glitt vom Bett, und bestätigte damit meine Vermutung. Während sie durch den Raum huschte, drehte ich mich um. Dez stand mit vor der Brust verschränkten Armen im Türrahmen und sah viel zu selbstzufrieden aus.

Danika winkte ihm schnell zu und schlüpfte dann durch die Tür nach draußen. Er nickte, machte einen Schritt in den Raum und schloss die Tür hinter sich. Er war in meinem Schlafzimmer. Schon wieder. Früher war er so oft hier gewesen, aber das war, bevor er verschwunden war, und seitdem hatte sich alles verändert.

„Also …“ Er zog das Wort in die Länge und senkte den Kopf, während er an meinem Schreibtisch stehenblieb, auf dem sich stapelweise Bücher, Zeitschriften und Karten türmten. „Wer würde mich nicht anstarren?“

Ich schürzte die Lippen. „Kann ich was für dich tun?“

„Ja.“

Ich wartete.

Und dann wartete ich noch etwas länger. „Und das wäre?“

Dez’ Blick wanderte von meinem Scheitel bis zu meinen neonpinken Zehennägeln. „Nett, was du da anhast.“

Ich runzelte die Stirn und sah an mir runter. Ich hatte ein Unterhemd an, darüber eine Strickjacke und grottenhässliche Schlafshorts mit aufgedruckten Teddybären, die Danika mir zum Geburtstag geschenkt hatte. Definitiv kein Laufsteg-Look.

„Macht Lust auf kuscheln“, murmelte er.

„Und mir vergeht jede Lust“, gab ich spitz zurück.

„Lüg doch nicht so.“ Er grinste, während er die Hand ausstreckte und am Zipfel meiner Strickjacke zupfte. „Wie süß.“

Mir hatte es gerade die Sprache verschlagen, also trat ich nur hilflos einen Schritt zurück. Er hielt den Zipfel noch einen Augenblick lang fest und ließ ihn dann los. Ich schlang etwas hilflos die Arme um meinen Oberkörper, da ich das Gefühl hatte, dass Dez so bald nicht gehen würde – und mir selbst nicht sicher war, ob ich das wollte oder nicht. Ich setzte mich auf meinen Schreibtischstuhl. „Gehst du heute Nacht mit dem Clan auf die Jagd?“

Er nickte. „In einer Stunde brechen wir auf.“

Ich senkte den Blick. „Wollt ihr in die Stadt?“

„Ja. Machst du dir Sorgen um mich?“

„Was für eine dämliche Frage. Natürlich mache ich mir Sorgen.“

Städte waren besonders gefährlich. Je mehr Menschen dort lebten, desto mehr Dämonen gab es dort auch.

„Solltest du dich dann nicht ausruhen? Du hast den ganzen Tag mit mir verbracht.“

„Ich würde die Zeit bis zum Aufbruch gerne mit dir verbringen. Darf ich?“

Ich sah ihn forschend an. „Ja“, sagte ich schnell, vielleicht viel zu schnell, aber ich wollte es nun auch nicht wieder zurücknehmen. Ich atmete tief ein. „Ja, bitte bleib.“

„Danke.“ Er kam auf mich zu und umfasste die Sitzfläche des Stuhls mit beiden Händen. Seine Augen funkelten. „Halt dich an mir fest.“

Ich hatte keine Ahnung, was er vorhatte, und legte die Hände auf seine Arme. Er sah mir in die Augen, zwinkerte und fing dann an, den Stuhl und mich über den Boden zu ziehen. Es war dämlich, trotzdem musste ich unweigerlich grinsen.

Dez saß auf der Kante meines Betts, und schließlich zog er mich zwischen seine Beine. Meine Knie drückten gegen die Innenseite seiner Oberschenkel. „Ah, viel besser.“

„Ich hätte mich auch einfach neben dich setzen können.“

„Das wäre doch langweilig gewesen.“ Er ließ die Hände auf seine Knie sinken.

Ich starrte auf seine Finger, die nur Millimeter neben meinen nackten Beinen lagen. „Was … was macht dein Bein?“

„Alles schon verheilt. Ich sagte ja, dass es nicht schlimm ist.“ Er machte eine Pause. „Ich habe mit deinem Vater gesprochen.“

Ich zuckte zusammen. „Hast du ihm verraten, dass ich bei dir war?“

„Nein. Eigentlich wäre es meine Pflicht gewesen, trotzdem hab ich’s nicht getan.“ Dez lehnte sich ein Stück nach vorn. „Aber ich habe ihm von deinen Bedingungen erzählt.“

Ich riss die Augen auf. „Auch vom Nacktbaden?“

Dez lachte laut. „Dieses kleine Detail habe ich für mich behalten. Jedenfalls habe ich ihm erklärt, dass ich es dir schuldig bin, diese Bedingungen zu erfüllen.“

Er war es mir schuldig. Was sollte ich dazu sagen? Ich zog meinen Pferdeschwanz über die Schulter nach vorn und spielte mit dem Ende des Zopfs. „Was hat er gemeint?“

„Er war nicht so richtig begeistert und hat detailliert aufgelistet, warum es gefährlich ist, nach Washington zu fahren, doch letzten Endes hat er zugestimmt.“

„Ernsthaft?“

Er lächelte. „Ja, aber erst nachdem er mir versprochen hatte, mir die Haut zentimeterweise abzuziehen, wenn dir etwas zustößt.“

Ich strahlte über das ganze Gesicht.

Dez runzelte die Stirn. „Ich hoffe, du grinst so, weil er zugestimmt hat, und nicht weil er mich häuten will.“

„Natürlich weil er zugestimmt hat.“ Ich lachte, ließ den Zopf los und knuffte ihn in den Arm. „Und vielleicht auch ein kleines bisschen, weil er dich häuten will.“

Er hielt meine Hand fest. „Das ist aber nicht sehr nett.“

Ich grinste ihn frech an. „Sorry?“

„Vergiss es, nehm ich dir nicht ab.“ Er legte den Kopf zur Seite und hielt meinen Arm zwischen uns. „Dein Vater kann einem echt Angst einjagen. Der hat mich ganz schön bei den Eiern.“

„Woah.“ Ich lachte. „So genau wollte ich das gar nicht wissen, Dez.“

„Ich will nur, dass dir klar ist, was auf dem Spiel steht.“ Er zog mich am Arm näher zu sich heran. „Und irgendetwas sagt mir, dass ich meine Eier bald noch brauchen werde.“

Ich wollte ihm mit meiner freien Hand einen Klaps verpassen, aber auch das hatte er geahnt. „Das wirst du in nächster Zeit definitiv nicht“, widersprach ich ihm.

„Werden wir ja sehen.“ Eine Sekunde lang schaute er mich unverschämt an, dann hob er mich auf seinen Schoß. Ich fing an, mich zu winden, doch er schlang die Arme um meine Taille. „Jas“, sagte er mit tiefer Stimme, „hör doch auf, so rumzuzappeln.“ Dann machte er eine Pause. „Andererseits … fühlt sich gar nicht so schlecht an.“

Ich erstarrte, meine Hände verkrampften auf seinen Schultern. Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss. „Du bist schrecklich.“

„Ich bin momentan vieles.“ Er senkte den Kopf, lehnte ihn gegen meinen und holte tief Luft. „Ich wette, das eine oder andere kannst du dir denken.“

Mein Mund war staubtrocken, und ich wagte nicht, mich zu rühren. „Wie kannst du so tun, als wärst du nie weg gewesen – als wäre es immer so mit uns gewesen?“

„Wieso denn nicht?“, erwiderte er und schüttelte sanft den Kopf. „Die Antwort findest du wahrscheinlich reichlich unbefriedigend.“

„Wie recht du doch hast.“

Er lächelte leicht, während er mit der Hand an meinem Arm auf und ab strich. „Als dein Dad verkündet hat, dass er sich unsere Paarung wünscht, war ich überglücklich, Jas.“

So glücklich, dass er prompt für drei Jahre verschwunden war? Ich kniff die Lippen zusammen.

Seine Hand glitt wieder meinen Arm hoch, doch diesmal drückte er sanft meinen Kopf an seine Schulter, während er weitersprach. „Du warst damals zu jung, aber ich … na ja, ich wusste, dass du es wolltest, und ich wollte es auch.“

„Du hast eine seltsame Art, das zu zeigen“, murmelte ich bissig, entspannte mich aber dennoch und schmiegte mich an ihn.

„Ich weiß. Ich hab’s versaut, als ich weggegangen bin.“ Langsam hob er meine Hand und verschränkte seine Finger mit meinen. Er umschloss sie ganz sanft. „Ich hätte mit dir reden sollen, aber das habe ich nicht und kann es jetzt auch nicht mehr rückgängig machen.“

Ich wollte ihn fragen, warum er es nicht getan hatte, doch Dez war schon immer, auch damals schon, Meister im Ausweichen gewesen. Also probierte ich es mit einer anderen Taktik. „Wo warst du?“

Dez verlagerte sein Gewicht und schob mich auf seinem Schoß so zurecht, dass meine Beine über seinen baumelten. „Hier und dort.“

„Zum Beispiel?“

„Zuerst im Süden, in Florida, dann weiter nach Texas, danach in den Mittleren Westen hoch und schließlich nach Kalifornien.“

Bei Kalifornien horchte ich auf. „Du warst zu Hause?“

Er zögerte, sagte dann aber: „Ja.“

Ein Schmerz zuckte durch meine Brust. „Warst du auch bei eurem Haus?“

„Es steht noch, sollte aber … abgerissen werden“, sagte er. Ich sah auf. Sein Blick war auf die Dunkelheit draußen vor meinem Schlafzimmerfenster fixiert. „Es ist nur noch ein ausgebranntes Skelett. Ich habe es nicht mal in den ersten Stock geschafft.“

Mein Vater hatte mir erzählt, was Dez’ Clan zugestoßen war: Dämonen hatten das Haus des Clans angegriffen und danach in Brand gesteckt. Es war ein Wunder gewesen, dass er aus dem Haus entkommen konnte. Er hätte nicht allein dorthin zurückkehren dürfen.

„In den Städten im Westen wimmelte es nur so von Dämonen, also ging ich auf die Jagd.“

Er erzählte mir von den Städten, in denen er gewesen war, verlor aber nicht ein Wort darüber, warum er damals fortgegangen war. Ich war mir nicht sicher, ob er dieses Geheimnis jemals freiwillig lüften würde. Ich würde ihm sein Verschwinden eines Tages natürlich verzeihen, mir war aber auch klar, dass ich es nie vergessen konnte. Ich hatte Angst, dass es für immer zwischen uns stehen würde. Und deshalb konnte ich unserer Bindung auch nicht zustimmen; es würde einfach nicht gut gehen.

Andererseits wollte ich auch nicht leugnen, wie richtig es sich anfühlte, in seinen Armen zu liegen. Ich war nicht so naiv, wie noch vor ein paar Jahren an Seelenverwandtschaft oder ähnlichen kindischen Kram zu glauben, aber zwischen Dez und mir war schon immer etwas Besonderes gewesen, und selbst jetzt nach seinem Verschwinden war es noch da, stärker als je zuvor.

„Ich würde dich am liebsten nie wieder loslassen“, sagte er, so leise und schnell, dass ich mir nicht sicher war, ob ich ihn richtig verstanden hatte. „Aber ich muss los.“ Er seufzte und ließ seine Hand meinen Arm heruntergleiten. „Eine Sache noch.“

Ich hob den Kopf und erwiderte seinen Blick. „Ja?“

Er schlug die Lider nieder und versuchte so, das plötzliche Funkeln in seinen blauen Augen zu verbergen. „Deine Bedingung ist noch nicht erfüllt.“

Mein ganzer Körper war angespannt. „Du meinst deine Bedingung.“

„Ja.“ Er glitt mit der Hand von meinem Arm zu meiner Wange. Mein Herz machte einen Luftsprung und verriet, wie sehr ich mir die Erfüllung seiner Bedingung herbeigesehnt hatte. „Nur ein Kuss.“

„Nur ein Kuss?“

Er nickte und lächelte sanft.

Mir wurde abwechselnd heiß und kalt, als er seinen Kopf nach unten beugte und seine Lippen erst meine Schläfen streiften und dann dem Schwung meines Wangenknochens folgten. „Das ist kein Kuss“, flüsterte ich.

„Doch, ist es.“

Selbst mit meinen kläglichen Erfahrungen wusste ich das besser. „Nein, ist es nicht.“

„Das ist der Anfang eines Kusses“, erklärte er, während er mit seiner Hand meinen Nacken umfasste.

„Der Anfang?“ Ich schloss die Augenlider voller Erwartung und trotz meines Entschlusses, diese sieben Tage mit einem felsenfesten Nein zu beenden.

Er ließ die Lippen zu meinem Kinn wandern, dann erst zum einen Mundwinkel und weiter zum anderen. Unweigerlich hielt ich die Luft an, da seine Lippen endlich meinen Mund fanden und mich sanft küssten. Es war ein süßer, zärtlicher Kuss, kaum mehr als ein flüchtiger Hauch. Dennoch ließ diese Berührung mein Blut wild durch die Adern rauschen. Und plötzlich wurde der Kuss intensiver, Dez küsste mich fast so wie bei seiner Rückkehr. Er strich mit der Zunge über meinen Mund. Ich keuchte. Seine Zunge wurde forscher, drängte sich sanft zwischen meine Lippen, wagte sich weiter vor, glitt fordernd über meine Zunge. Ein schwaches Seufzen entfuhr meiner Kehle, wurde aber von dem Kuss erstickt.

Dez ließ seine Hände von meinem Nacken zu meiner Taille wandern und presste mich fest an sich. Ich wollte ihm noch näher sein, was allerdings in dieser Position unmöglich war. Der Kuss dauerte an, bis Dez schließlich den Kopf hob und mir dabei noch liebevoll in die Unterlippe biss.

Als er zurückwich, wankte ich wie ein Schilfrohr im Sturm und wäre vermutlich von seinem Schoß gekippt, wenn er mich in dem Augenblick nicht noch fester in die Arme geschlossen hätte.

Sowie ich die Augen öffnete, war der maskuline Stolz in seinem Blick so offensichtlich, dass ich ihm am liebsten etwas Schweres über den Schädel gezogen hätte.

„Wag es nicht, es zu sagen“, warnte ich ihn errötend.

„Was denn?“ Er grinste. „Ich wollte doch gar nichts sagen.“

7. Kapitel

Seinen Kuss konnte ich noch auf meinen Lippen spüren, da hatte er mein Zimmer schon lange verlassen. Das Gefühl begleitete mich sogar bis in den nächsten Tag hinein. Ich hatte ja keine Ahnung gehabt, dass ein Kuss so derart viel Macht haben konnte, und vielleicht war das auch nicht immer so. Dez’ Kuss jedoch ließ mich nicht los, stahl sich in jeden meiner Gedanken und verstörte mich zutiefst.

Ich verbrachte den größeren Teil des Vormittags damit, vorzugeben, die hohe Kunst des Heilens mit stinkenden Kräutern zu erlernen, bevor ich aufgab. Da mein Hausunterricht beendet war, versuchte Claudia jetzt, mir all das zu vermitteln, was sie für wichtig hielt. Andere Mädchen in meinem Alter gingen aufs College, während ich die Unterschiede zwischen Haselnüssen und Zitronenthymian büffelte.

Ziellos lief ich durchs Haus, bis ich wie durch Zufall plötzlich vor dem Zimmer stand, in dem Dez untergebracht war – das gleiche Zimmer im zweiten Stock, das er vor seinem Verschwinden bewohnt hatte. Er schlief sich noch aus, und ich wusste, dass ich nicht reingehen sollte, aber eine wohlbekannte Unruhe hatte mich gepackt, und wenn das passierte, handelte ich immer impulsiv und nicht immer sonderlich klug.

Ich wischte meine Handflächen an meiner Jeans ab und drehte den Knauf. Die Tür war nicht abgeschlossen. Ich atmete tief durch und drückte sie langsam auf. Schwere Vorhänge vor den Fenstern tauchten den Raum in Dunkelheit, aber meine Augen gewöhnten sich schnell daran. Mein Blick fiel zuerst auf das große Bett, das aber leer war. Das hatte ich vermutet.

Ich drehte mich um und sah ihn in der Ecke des Raumes.

Wir konnten auf zwei Arten ruhen – in unserer menschlichen oder in unserer wahren Gestalt. Die meisten von uns schliefen wie die Menschen in einem bequemen Bett, aber diejenigen, die auf die Jagd gingen, brauchten den heilenden Schlaf, den sie nur bekamen, wenn sie die Gestalt annahmen, die Vorbild für Hunderttausende von Statuen war.

Während ich leise auf ihn zuging, fing meine Haut an zu prickeln. Seine Flügel lagen eng an seinen Seiten an, die Spitzen berührten fast den Boden. Die gebogenen Hörner an seinem Kopf waren groß und dick und hatten messerscharfe Spitzen. Sein Kopf hing herab, das Kinn ruhte auf seiner Brust. Die Arme waren vor seinem Körper gekreuzt, und die Hände lagen auf seinem Becken.

In der Dunkelheit sah seine schiefergraue Haut stumpf aus, ich wusste aber, dass sie im Licht sanft schimmerte. Er war völlig reglos, nicht einmal seine Brust bewegte sich. Da ich eigentlich nie Grund dazu hatte, in dieser Gestalt zu schlafen, kannte ich mich damit auch nicht sonderlich gut aus. Dieser Schlaf … war mir zu totengleich.

Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was mich geritten hat, zu tun, was ich als Nächstes tat. Ich biss mir auf die Lippe, streckte die Hand aus und berührte seinen Arm. Er war glatt und warm – und komplett hart. Ich fuhr die Muskelstränge nach und wanderte den Arm weiter hoch. Meine Hand hatte ein Eigenleben entwickelt und kam erst auf seiner Brust zur Ruhe. Ich konnte Dez’ Herzschlag spüren: bum, bum-bum, bum.

Ich fuhr mit einem Finger den Schwung seines Unterkiefers nach. Ihn so zu berühren, hätte ich mich nie getraut, wenn er wach gewesen wäre. Ich fühlte mich wie ein Perversling, aber ich war so gebannt von dem Gefühl, ihn anzufassen, dass ich nicht aufhören konnte. Mein Finger strich über seine Unterlippe, als ich aufsah.

Zwei Augen von der Farbe polierter Saphire starrten mich an.

Oh. Mein. Gott.

Sein Mund öffnete sich, und er biss gerade so fest in meine Fingerspitze, dass ich keuchte. Ich war erstarrt, dann spürte ich, wie seine Zunge meine Fingerspitze liebkoste.

Mein Blut rauschte plötzlich heiß durch meine Adern. Ich zog die Hand zurück und ballte sie vor meiner Brust zur Faust. „Ich war …“ Es gab keine Entschuldigung oder Ausrede für das, was ich getan hatte.

Dez lachte tief und kehlig, sodass ich erschauderte und noch einen Schritt zurückwich. Er streckte sich und hob die Arme, während seine Flügel sich entfalteten. Stein und Knochen knackten. Seine Gargoyle-Hülle schimmerte rot und verschwand dann in seiner Haut, während er wieder seine menschliche Gestalt annahm. Er senkte die Arme wieder und nacktes, goldenes Fleisch straffte sich. Mein Blick wanderte nach unten.

Er war nackt und …

„Oh mein Gott!“ Ich kniff die Augen zusammen und wirbelte herum. Mein Gesicht brannte. Wie hatte mir das entgehen können?

Als Dez lachte, stand mein Körper quasi in Flammen. „Ach, komm schon. Ist doch nicht das erste Mal, dass du mich nackt siehst.“

„Damals warst du … wie alt? Zehn? Und das war außerdem aus Versehen!“ Ich legte die Hände auf meine Wangen. „Und du warst noch nicht so …“

„So … was?“ Sein warmer Atem strich über meinen Nacken.

„Nichts!“ Wow, das Bild hatte sich in mein Gehirn eingebrannt, und ich wusste nicht – noch nicht –, ob mir das gefiel.

„Du kannst dich jetzt umdrehen.“ Seine Stimme hörte sich belustigt an. „Ich habe etwas an.“

Ich weiß es nicht mehr genau, aber es kann sein, dass ich ein kleines bisschen enttäuscht war, als ich ihn nun ansah. Er hatte sich eine Jogginghose angezogen, aber die hing so tief, dass ich mich fragte, wie und wo sie überhaupt Halt fand. Er schob die Vorhänge zur Seite, sodass Licht auf den Boden fiel.

„Bitte entschuldige“, sagte ich. „Ich wollte dich nicht wecken.“

„Ist was passiert?“, fragte er und kam wieder auf mich zu. Er gähnte, als ich den Kopf schüttelte. „Dann wolltest du mich einfach nur so sehen?“

Ich schwieg.

Er grinste. „Und mich ein bisschen befummeln?“

Ich zuckte zusammen. „Das wirst du mir jetzt ein Leben lang unter die Nase reiben, oder?“

„Darauf kannst du Gift nehmen.“ Er streckte die Hand aus und zog am Ende meines Pferdeschwanzes. „Aber keine Sorge, ich hab’s sehr genossen.“

„Gut zu wissen“, murmelte ich.

„Ich springe schnell unter die Dusche, dann bringen wir die Sache mit der Mall hinter uns, okay?“

Ich faltete die Hände, damit ich nicht anfing vor Freude zu klatschen. „Versuch bitte, nicht ganz so begeistert zu klingen.“

Er lachte. „Es ist nur eine Mall. Wenn heute das Nacktbaden auf dem Plan stünde, wäre ich vielleicht enthusiastischer.“ Pause. „Nein, ich wäre auf jeden Fall enthusiastischer.“

Dafür, dass ich diese Bedingung gestellt hatte, hätte ich mir jetzt am liebsten selbst eine runtergehauen. „Weißt du, vielleicht fällt mir ja etwas Sinnvolleres oder Wichtigeres als das ein, zum Beispiel …“

„Oh nein, hier wird nicht zurückgerudert.“ Er zwinkerte mir zu. „An den Bedingungen kann jetzt nichts mehr geändert werden. Wir haben schon angefangen, und ich kenne den perfekten Ort zum Nacktbaden. Und ehrlich gesagt zähle ich die Sekunden bis dahin.“

Ich errötete. „Ich hasse dich.“

„Nein, tust du nicht.“

„Geh duschen.“

„Mach ich.“

„Jetzt.“

„Ich will ja, aber du redest die ganze Zeit weiter und siehst dabei so verdammt sexy aus.“

„Okay, ich höre ja schon auf. Mit Reden und süß Aussehen“, sagte ich, während ich mir ein Grinsen verkneifen musste. „Und jetzt verschwinde schon.“

Er lächelte breit. „Ich sagte sexy.“

„Ab!“ Ich lachte.

„Zu Befehl. Jetzt sofort.“

Als er an mir vorbeiging, griff er mich blitzschnell wie ein Raubvogel und küsste mich, bevor mir klar wurde, was er vorhatte. Seine Lippen auf meinen fühlten sich warm und fest an. Der Kuss war kurz, nichts im Vergleich zu letzter Nacht, und danach ging er ins Badezimmer. Ich stand da und spürte die Berührung seiner Lippen noch Minuten später.

Mir gingen tausend Sachen durch den Kopf, während ich einen kleinen Koffer für unseren Abstecher packte. Ich dachte an unseren gestrigen Besuch der Mall. Dez und ich hatten … wir hatten jede Menge Spaß. Wir hatten es vermieden, über die Vergangenheit zu reden, und unsere Gespräche waren nicht ernst, sondern locker und witzig gewesen, während ich ihn von einem Geschäft zum nächsten zerrte. Er hatte eine Engelsgeduld bewiesen, während ich Klamotten anprobiert und an Hunderten unterschiedlicher Duftkerzen geschnüffelt hatte, um die perfekte für Danika zu finden.

Es war mir wahnsinnig schwergefallen, nicht jedes Mal knallrot zu werden, wenn ich ihn anschaute, nach dem, was ich in seinem Schlafzimmer gesehen hatte. Es war ebenso schwierig gewesen, die Menschenmädchen zu ignorieren, die ihn permanent anstarrten. In jedem Geschäft, in das wir gingen, hatten sich Frauen jeden Alters nach ihm umgedreht.

Ich musste mich sehr zusammenreißen, sie nicht anzugreifen und die Arme auszureißen.

Unser Ausflug hatte in einem winzigen Eiscafé in der Stadt geendet, und als wir zurück zum Wagen schlenderten, erfüllte Dez seine Bedingung. Sein Kuss hatte nach Schokolade und Mann geschmeckt – eine ebenso betäubende wie berauschende Geschmacksrichtung.

Er war sogar bei mir geblieben, bis er mit dem Rest des Clans jagen ging. Wir hatten über nichts Besonderes gesprochen, während wir vorgaben, einen Film zu sehen. Niemand hatte uns gestört, obwohl ich bei ihm in seinem Zimmer gewesen war. Ich war eingeschlafen, bevor er aufbrechen musste, und war vor seiner Rückkehr wieder wach geworden. Dann hatte ich mich in mein eigenes Zimmer geschlichen, ehe ich etwas Unüberlegtes tat – beispielsweise in seinem Bett auf ihn zu warten. Es war mir schwergefallen, zu gehen – sein Geruch war überall.

Und jetzt bereitete ich mich darauf vor, zum ersten Mal seit Ewigkeiten mein Zuhause zu verlassen. Ich war noch nie über Nacht woanders gewesen und hatte den Koffer schon dreimal ausgepackt und neu eingeräumt. Wofür zum Henker brauchte ich zwei Outfits pro Tag?

Als wir am Vortag in der Mall gewesen waren, hatte Dez mir gesagt, dass wir am folgenden Tag mit dem Auto aufbrechen würden. Ich war ganz aus dem Häuschen, als ich mir vorstellte, was ich alles zu sehen bekommen würde.

Danika saß auf meinem Koffer, während ich den Reißverschluss zuzog, und sprang dann runter. „Ich erwarte Mitbringsel, irgendwas Kitschiges. Vielleicht ein authentisches Love New York – Shirt.“

„Okay.“ Ich grinste, zog den Koffer von meinem Bett und stellte ihn polternd auf dem Boden ab. „Was hättest du denn gern aus Washington?“

„Ein Nacktbild von Zayne?“, schlug sie vor.

Lachend schüttelte ich den Kopf. „Und wo soll ich das herbekommen?“

Sie zuckte die Achseln. „Irgendwann muss er ja mal duschen gehen, oder?“

„Ganz bestimmt, aber ich hätte ein winzig kleines Problem damit, wenn Jasmine Fotos von nackten Typen macht.“

Beim Klang von Dez’ Stimme drehten wir uns beide erschrocken um. Er stand mit nassen Haaren im Türrahmen und grinste übers ganze Gesicht. Ich errötete, aber Danika blieb ungerührt.

„Aber sie macht es dann doch für mich“, argumentierte sie. „Es ist ja nicht so, als würde sie dabei seine Vorzüge bewundern.“

Alles, woran ich denke konnte, waren Dez’ Vorzüge.

Dez zog die Augenbrauen hoch. „Sie sollte niemandem so nahe kommen, um Fotos von seinen Kronjuwelen zu machen.“

„Was ist mit deinen Kronjuwelen?“, neckte sie ihn.

„Äh? Hallo?“ Etwas verspätet schaltete ich mich in das Gespräch ein. „Könnten wir bitte über was anderes reden als Kronjuwelen?“

Er grinste, als unsere Blicke sich trafen, und ich wusste, dass wir an das Gleiche dachten. Ich drehte mich schnell um, bevor meine Wangen feuerrot wurden.

Danika kam zu mir und umarmte mich so fest, dass ich quiekte. „Du wirst mir fehlen“, quengelte sie, den Kopf auf meiner Schulter. „Aber genieß es gefälligst. Okay? Und pass auf dich auf, hörst du?“

„Ja, werde ich.“ Tränen stiegen mir urplötzlich in die Augen, aber ich blinzelte sie fort. Seit Danikas Geburt waren wir noch nie länger als ein paar Stunden voneinander getrennt gewesen.

Danika trat zurück und lächelte unsicher. Sie sah nach unten, als Dez den Raum betrat und meinen Koffer nahm. Gemeinsam folgten wir ihm ins Erdgeschoss.

Claudia, die in der Küche auf zwei kleine Kinder aufpasste, sah mit einem müden Lächeln auf, als wir an ihr vorbeigingen. Einer der Knirpse hatte seine wahre Gestalt angenommen, der andere nur einen Flügel gewandelt. Ich blieb stehen und beobachtete den Kleinen, wie er hochsprang, etwas Luft unter die Flügel bekam und dann laut glucksend wieder landete.

„Kinder sind gruselig“, murmelte Danika.

„Ich weiß nicht.“ Ich lächelte. „Ich finde sie irgendwie süß.“

Unser Vater wartete im Foyer. Während Dez mit meinem Koffer nach draußen verschwand, ging ich auf Dad zu. Er lächelte, und mir fiel auf, wie tief die Falten um seine Augen waren. Er wirkte abgespannt, aber glücklich.

Er legte die Hände auf meine Schultern und holte tief Luft. „Sag mir, dass ich das Richtige tue, wenn ich dich allein mit ihm fahren lasse.“

„Tust du.“ Ein fetter Kloß steckte in meinem Hals. Ich brannte darauf, dieses Haus zu verlassen, dennoch war ein Teil von mir emotional nicht darauf vorbereitet, meine Familie zurücklassen, wenn auch nur kurzzeitig. „Es wird schon nichts passieren.“

„Ich weiß.“ Er seufzte erneut. „Ich vertraue Dez. Er ist ein guter Wächter, und ich bin mir sicher, dass er nicht zulassen wird, dass dir etwas zustößt. Er gibt auf dich Acht, hat er schon immer.“

Ich beobachtete Dez durch die offenen Stahltüren, wie er die Hecktür des SUV zuwarf.

„Würdest du mir eine Frage beantworten, Schatz?“

Mein Blick kehrte zu meinem Dad zurück. „Ja?“

„Empfindest du noch etwas für ihn?“, fragte er.

Ich machte den Mund auf, um zu antworten, schloss ihn dann aber wieder. Was Dez anging, war alles kompliziert und ganz besonders meine Gefühle für ihn. Nach seinem Verschwinden war ich in ein tiefes Loch aus Traurigkeit und Verletztheit gestürzt, aber wenn ich jetzt an ihn dachte, machte mein Herz einen Luftsprung und ich spürte Schmetterlinge im Bauch. „Ja, aber …“

„Aber er ist damals einfach weggegangen?“

Ich antwortete nicht, dennoch wusste er Bescheid. Dad war während der schlimmsten Zeit, in den Tagen und Wochen direkt nach Dez’ Verschwinden, für mich da gewesen. Wie oft hatte ich ihn nach den Gründen gefragt – und nie eine Antwort bekommen.

Mein Vater zog mich an sich und umarmte mich schnell. Es fühlte sich gut an, real. Er, meine Schwester und der ganze Clan würden mir fehlen, aber als er sich von mir löste, dachte ich daran, dass ich gerade eine einmalige Chance bekam.

Er lächelte und tätschelte meine Wange. „Sei nicht allzu streng mit ihm.“

Zuerst verstand ich nicht ganz, was er meinte, aber dann kam mir ein Verdacht. „Weißt du, warum er weggegangen ist?“

Dad nickte. „Ja, Jasmine, aber das muss und soll er dir selbst erklären.“

8. Kapitel

Unsere mehrstündige Fahrt über die Interstate 87 verlief erfreulich ereignislos und war sogar sehr malerisch. Die Vegetation auf den Bergen war grün und üppig, die Bäume hoch gewachsen und imposant, aber je näher wir der Stadt kamen, desto schneller wich die nahezu unberührte Wildnis Gebäuden, die höher waren als die höchsten Bäume. Ich drückte mir fast die Nase am Beifahrerfenster platt, während ich alle Eindrücke in mich aufsog.

„Warst du noch nie so weit im Süden?“, fragte Dez. Ich sah zu ihm rüber. Eine Hand lag auf dem Lenkrad, die andere auf seinem Oberschenkel.

Ich schüttelte den Kopf.

Er grinste und warf mir einen Seitenblick zu. „Früher hast du dich immer rausgeschlichen und bist rumgeflogen. Damit hast du doch sicher nicht aufgehört?“

„Ich bin … danach noch ein- oder zweimal ausgeflogen.“ Er grinste verschwörerisch, was mich zum Lachen brachte. „Aber ich bin nie nach Süden geflogen, immer nur nach Norden. Ich wollte nicht …“

„Erwischt werden?“ Er lachte über meinen unschuldigen Gesichtsausdruck. „Sehr clever. Wärst du nach Süden geflogen, hätte man dich höchstwahrscheinlich gesehen.“

Mit dem Auto brauchte man etwas mehr als drei Stunden bis in die Stadt, wären wir geflogen, hätten wir weniger als dreißig Minuten gebraucht. Hätte ich mich aus lauter Neugier in den Süden gewagt, wäre ich von einem der zahlreichen Wächter erwischt worden, die für die Stadt eingeteilt waren. Und es hätte mich nicht überrascht, wenn mein Dad mich dann für alle Zeiten weggesperrt hätte.

Kurz darauf ließen wir den letzten Berg hinter uns, und New York tauchte in der Ferne auf. Ich beugte mich vor und krallte mich am Handschuhfach fest. „Wow.“

„Ganz schön beeindruckend, was?“

Ich nickte, während meine Augen immer größer wurden. Die Stadt hatte eine ganz eigene, markante Skyline, eine elegante Ansammlung an Gebäuden vor einem blauen Himmel. Einige der Häuser waren so hoch, dass sie bis in die Wolken zu ragen schienen. Ich konnte mir sofort lebhaft vorstellen, wie es nachts aussah mit all den Lichtern, überwältigend und ehrfurchteinflößend. Mein Herz raste, als mir bewusst wurde, dass ich das alles bald mit eigenen Augen sehen würde.

Der Verkehr wurde zähflüssiger, während wir eine der langen, breiten Brücken überquerten. Erst jetzt bemerkte ich, dass Dez mich anstarrte.

Ich sah ihn an. „Was ist?“

Er erwiderte nichts, nahm aber meine Hand und führte sie zu seinem Mund. Als er einen Kuss auf meine Handfläche hauchte, machte mein Herz einen weiteren Purzelbaum, diesmal rückwärts. Ich wollte ihn fragen, warum er das getan hatte, dachte mir aber dann, dass die Frage den Augenblick ruinieren würde. Also schwieg ich einfach, genoss den Moment – und lächelte.

Wir brauchten absurd lange, um tatsächlich in die Stadt reinzukommen, wo die Gebäude so hoch und so zahlreich waren, dass sie einen Großteil der Sonne verdeckten und die Straßen in Schatten tauchten.

Dez parkte den SUV in einer großen Tiefgarage, und ich trottete hinter ihm her, während meine Augen über die schier endlosen Reihen Autos wanderten, die nebeneinander parkten.

Zu viele Eindrücke prasselten auf mich ein, während ich Dez ins Erdgeschoss eines der hoch aufragenden Gebäude folgte, an denen wir vorher vorbeigekommen waren. Dez hatte mir von seinen Plänen für diesen Abstecher nur das Nötigste erzählt. So sehr ich auch gequengelt und gebohrt hatte, um mehr zu erfahren, er hatte sich nicht erweichen lassen. Aber da er jetzt unser Gepäck reintrug, bedeutete das wohl, dass wir hierbleiben würden. Ich konnte einen Freudenschrei kaum unterdrücken, da ich schon befürchtet hatte, wir würden nur vom Auto aus eine Sightseeingtour durch die Stadt machen und dann zurückfahren.

Hinter dem Empfangstresen schaute eine junge Frau auf, als wir uns näherten. Bei Dez’ Anblick musste sie zweimal blinzeln, dann strich sie sich mit der Hand über ihr perfekt gestyltes Haar. Ihr Blick fiel auf mich, wanderte aber schnell wieder zu Dez zurück, als würde ich gar nicht existieren.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte sie und lächelte Dez an, als wäre er ihre Gottheit, der sie huldigte.

Lässig lehnte sich Dez an den Tresen und zog einen Mundwinkel hoch. Ich verdrehte die Augen. „Wir haben reserviert.“

Hatten wir? Während Dez uns eincheckte, fiel mir auf, dass er von nur einem Zimmer sprach, allerdings war ich zu fasziniert von meiner ganzen Umgebung, um weiter darüber nachzudenken. Es mag sich unwahrscheinlich anhören, aber ich war tatsächlich zum ersten Mal in meinem Leben in einem Hotel, und noch dazu in einem so schicken.

Die Beleuchtung in der großen Halle war dunkel und mysteriös, Rockmusik plärrte aus gut versteckten Lautsprechern, niedrige Polstergarnituren in Schwarz und Rot mit passenden Tischen davor säumten die Wände. Eine Bar trennte den Loungebereich vom Speisesaal. Alle Angestellten, egal ob männlich oder weiblich, trugen schwarze Kleidung und sahen aus, als wären sie gerade einem Modemagazin entsprungen.

Ich sah an mir runter, beäugte T-Shirt und Jeans und zog die Augenbrauen hoch. Ich passte so was von gar nicht hier rein.

„Alles klar?“, fragte Dez.

Ich nickte, drehte mich wieder zu ihm um und sah, dass die Empfangsdame ihn sehnsüchtig anschmachtete. Und wer konnte ihr das schon vorwerfen? Erst als wir am Aufzug standen, fiel mir auf, dass etwas fehlte. „Wo ist unser Gepäck?“, fragte ich Dez.

„Das wird für uns hoch aufs Zimmer gebracht.“ Er legte eine Hand auf meinen Rücken und schob mich in den von innen verspiegelten Aufzug. Nachdem die Türen sich geschlossen hatten, wedelte er mit einer Karte und grinste breit. „Deine Augen sind so groß wie Untertassen.“

Ich wurde rot. „Tut mir leid. Wahrscheinlich sehe ich total dämlich aus, aber ich …“

„Du siehst nicht dämlich aus.“ Er hob die Hand und strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr.

Der Aufzug fuhr an, die Etagennummern blinkten kurz auf, wenn wir sie passierten. „Ich weiß, dass ich wie ein totales Landei aussehe, als wäre ich noch nie irgendwo gewesen.“

„Du siehst süß aus.“ Dez legte einen Arm um meine Schulter und zog mich so heftig an sich, dass ich gegen ihn stolperte. „Und hör jetzt endlich auf, dir deswegen den Kopf zu zerbrechen. Das ist deine Reise. Genieß sie.“

Nachdem ich nun wusste, dass ich nicht wie ein vollkommener Trottel aussah, war ich, als der Aufzug endlich im neunzehnten Stock anhielt und die Türen aufgingen, bis zum Zerreißen gespannt. Wir gingen rechts über den Flur, bis Dez vor unserem Zimmer stehen blieb.

Mir wurde urplötzlich flau im Magen. Unser Zimmer. Ich bezweifelte, dass Dez ein Zimmer mit zwei getrennten Betten reserviert hatte.

Dez öffnete die Tür, als über der Klinke ein kleines grünes Lämpchen aufleuchtete. Wow, wie modern. Kühle Luft schlug uns entgegen, als wir eintraten. Dez ließ mir den Vortritt, damit ich gleich alles erkunden konnte. In dem kleinen Flur entdeckte ich einen Wandschrank und eine Tür, die in ein Badezimmer führte. Hier befand sich an der einen Wand eine Dusche, groß genug für zwei, und an der anderen eine riesige, runde Badewanne.

Ich klatschte in die Hände und ging an einer Minibar und einem Schreibtisch vorbei ins eigentliche Zimmer. An der roten Wand hing ein riesiger Fernseher … und gegenüber davon stand ein Bett, groß genug für vier Personen. Meine Wangen glühten, und ich musste weggucken. Abgesehen von einem schmalen Stuhl, der an dem Schreibtisch stand, gab es keinen anderen Schlafplatz – wir würden also heute Nacht im gleichen Bett schlafen. Darüber wollte ich jetzt im Augenblick nicht weiter nachdenken.

Schnell ging ich zu den Vorhängen und öffnete sie energisch. Dann drückte ich die Stirn gegen die Glasscheibe und starrte auf den hektischen Betrieb auf der Straße weit unter mir.

„Gefällt dir das Zimmer?“, fragte Dez.

„Ja“, flüsterte ich. Dann etwas lauter: „Ja, es ist toll.“

„Das hier soll eines der schönsten Hotels der Stadt sein. Wurde mir jedenfalls gesagt.“ Seine Stimme war jetzt näher. „Ich dachte mir, dass wir zwei Nächte bleiben und am Donnerstagmorgen abreisen. Das sollte dir genug Zeit geben, dir Manhattan anzusehen, und wir haben dann noch genug Zeit, nach Washington weiterzufahren. Dort bleibt dir nur ein Tag, bevor unsere sieben Tage um sind, aber ich denke, wir könnten auch länger bleiben, wenn du möchtest.“

Während ich aus dem Fenster starrte, spürte ich, wie ein Wust an Emotionen drohte, mir die Kehle zuzuschnüren. Ich wusste, dass die meisten Gargoylemänner sich diesen Stress nicht aufgehalst hätten. Natürlich hätten sie mich umworben, aber hätten sie auch alle meine Forderungen erfüllt, meinem Wunsch entsprochen, die simpelsten Freiheiten zu genießen? Eher unwahrscheinlich. Dennoch tat Dez genau das. Ich wollte ihm gern dafür danken, war mir aber nicht sicher, ob Worte den Gefühlen gerecht wurden, die in mir tobten. Kurz: Ich hatte Angst, es total zu versauen.

„Jas?“ Unsicherheit klang aus Dez’ Stimme.

Ich ließ die Vorhänge los, wirbelte herum und warf mich gegen ihn. Er fing mich auf und stolperte einen Schritt zurück, während ich ihn umschlang und fest an mich drückte.

„Danke.“

„Was?“ Er lachte.

Ich schmiegte meinen Kopf an seine Brust, dann sah ich auf und wiederholte: „Danke.“

Er schaute mich an. „Gern geschehen.“

Ich glaube, er konnte nicht ganz nachvollziehen, wie dankbar ich ihm wirklich war. Ich streckte mich und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Das war nicht viel, aber immerhin etwas, oder? Als ich mich von ihm löste, starrte er mich an, als hätte ich den Verstand verloren.

Dann hob er mich hoch und drehte sich. „Ich hätte dich gleich nach meiner Rückkehr hergebracht, wenn ich gewusst hätte, wie glücklich dich das macht.“

Mir blieb das Lachen im Hals stecken, als ich sah, dass der Ausdruck in seinen Augen sich verändert hatte. Die Iris wirkten heller, und seine Lider wurden schwerer, während seine Lippen sich öffneten. Langsam ließ er mich wieder herunter, hielt mich aber immer noch mit einem Arm fest. Er umschloss mein Gesicht mit beiden Händen und fuhr mit seinem Daumen den Schwung meiner Unterlippe nach. Dann senkte er den Kopf, und ich erwartete, dass er mich küssen würde. Voll süßer Vorfreude schloss ich die Augen.

Aber ich wartete vergebens auf den Kuss.

Er löste die Umarmung und trat einen Schritt zurück. „Wenn du so viel wie möglich sehen willst, sollten wir jetzt aufbrechen.“

Ich war enttäuscht, was mich überraschte, dennoch nickte ich. Es war wahrscheinlich besser so – ich hatte ihn wirklich küssen wollen, und das hatte rein gar nichts mit einer unserer Bedingungen zu tun.

9. Kapitel

Das Erste, was ich über New York City lernte, war, dass überall Menschen waren – in Aufzügen, auf den Gehwegen, in den Straßen und in den Geschäften. Ich war noch nie von so vielen Menschen umgeben gewesen. Obwohl sie wussten, dass die Wächter existierten, schien es keinem von ihnen aufzufallen, dass wir anders waren – zumindest nicht denen, die uns nicht in die Augen schauten. Die Farbe unserer Iris war zu hell, um menschlich zu sein, und in meiner Kleinstadt hatte das früher oder später jeder bemerkt.

Aber nicht hier.

Alle waren viel zu beschäftigt damit, von A nach B zu kommen, oder sie waren – so wie ich – zu fasziniert und abgelenkt von all den Eindrücken.

Ich konnte einfach nicht aufhören, nach oben zu starren, obwohl ich wusste, dass ich dabei wie die klassische Touristin aussah. Aber die unfassbare Höhe der Gebäude und ihre bloße Anzahl waren einfach zu überwältigend. Und dann waren da noch all diese blinkenden Werbetafeln und die hellen Lichter.

„Hast du Hunger?“, fragte Dez.

„Ja“, erwiderte ich und legte wie zur Bestätigung eine Hand auf meinen Bauch. Wir waren so viele Blocks gelaufen, dass ich irgendwann aufgehört hatte, mitzuzählen. „Und du?“

„Immer. Wie wäre es mit einer original New Yorker Pizza?“

Ich nickte begeistert. Einen Block weiter erspähte er mitten am Times Square eine Pizzeria. Bilder von vielen berühmten Gästen schmückten die Wände, von Sportlern bis hin zu Politikern. Wir warteten in der Schlange, bestellten und setzten uns dann an einen leeren Tisch im rückwärtigen Teil des Restaurants.

Dez beobachtete, wie ich in die Pizza biss und mit vollem Mund genussvoll stöhnte. Der Geschmack, der Käse, die Gewürze, der Teig – all das war nicht mit den Pizzen zu vergleichen, die ich von zu Hause kannte.

Er zog die dunklen, rotbraunen Augenbrauen hoch. „Hör bloß nie auf zu essen, wenn du dabei immer solche Geräusche machst.“

Ich hätte mich fast an einem Bissen verschluckt und errötete. „Das ist unfassbar lecker.“

Er lachte. „Das sieht und hört man.“

Ich grinste und sah ihn unter gesenkten Lidern an. Für jemanden, der so groß war, hatte er erstaunlich gute Tischmanieren. Er schnitt jede Pizzaecke in mundgerechte Stücke, während ich mir jeweils ein Achtel in den Mund stopfte und mir dabei vermutlich Fett und Tomatensoße übers Kin lief. Natürlich war ich auch vor ihm fertig, weil ich die Pizza quasi inhaliert hatte. Während er jeden seiner restlichen Bissen genoss, beobachtete ich die Leute um uns herum.

In der Nähe von Menschen hatte ich oft das Gefühl, dass mir Erfahrung fehlte, besonders an einem Ort wie diesem mit so vielen Menschen, die alle unterschiedlich waren. Ich hatte ja nicht mal einen einzigen menschlichen Freund. Am nächsten kam dem vielleicht die Frau, die im Eiscafé arbeitete. Ich wünschte mir einen, vielleicht so wie Menschen sich einen Welpen wünschten. Aber mein Vater wollte nicht, dass wir ihnen so nahekamen.

Nachdem wir aufgebrochen waren, den Times Square und Broadway zu erkunden, wurde ich daran erinnert, warum mein Vater so vorsichtig war. An der Ladentür eines niedlichen italienischen Restaurants hing ein Schild, auf dem in Großbuchstaben stand: WÄCHTER NICHT WILLKOMMEN. Darunter hatte jemand gekritzelt: WIR BEDIENEN NUR GOTTES KINDER.

Ich musste tief Luft holen. Das war die Art von Leuten, die uns für die Inkarnation des Teufels hielten, die uns als Monster sahen, ganz gleich, wie viel Gutes wir taten. So abgeschirmt, wie ich und die anderen Mädchen lebten, hatten wir von solcher Bigotterie nur gehört, sie aber niemals selbst erlebt.

„Hey“, sagte Dez und nahm meine Hand. „Alles okay?“

Mir wurde erst da bewusst, dass ich stehen geblieben war. „Ich verstehe das einfach nicht.“

Sein Blick folgte meinem bis zu dem Schild. „Ernsthaft? In einer Stadt wie dieser überrascht mich das nicht. Solche Schilder gibt es überall im Land zu Tausenden. Und mach dir nicht die Mühe, das verstehen zu wollen – es sind diese Menschen, die einfach rein gar nichts begreifen. Sie haben keine Ahnung, was wirklich abgeht.“ Er zog an meiner Hand. „Komm, es gibt noch so viel Schönes zu sehen.“

Ich ließ mich von ihm weiterziehen. „Es ist nur …“

Als ich ein Prickeln wie von Nadelstichen zwischen meinen Schulterblättern spürte, blieb ich erneut stehen. Ich drehte mich um, bevor Dez etwas sagen konnte. Ich spürte einen Dämon ganz in unserer Nähe. Meine Blicke wanderten auf der Suche nach ihm die überfüllten Gehwege auf und ab.

Der Dämon war gerade aus dem Restaurant gekommen, das eigenen Angaben zufolge nur „Gottes Kinder“ bediente. Ein bitteres Lachen blieb mir in der Kehle stecken. Er sah nicht viel älter aus als ich, und für ein menschliches Auge mochte er harmlos wirken, wie er da neben einem rot-weißen Feuerhydranten stehen blieb. Sein dunkles Haar war kurz geschnitten, und sein Profil zeigte kantige Gesichtszüge. Ein Stecker in seinem rechten Nasenflügel funkelte im Sonnenlicht.

„Ein Chaos-Dämon“, sagte Dez und umfasste meine Hand noch fester.

Obwohl Inkuben die häufigste Klasse der Dämonen oberhalb der Erde darstellten, hatte ich noch nie einen gesehen. Neugierig musterte ich den Dämon. „Er ist so … dreist.“

„Logisch. Er weiß, dass wir nichts tun können, solange er unter Menschen ist. Würde ich auf ihn losgehen, sähe das für sie so aus, als würde ich einen der ihren attackieren.“

Und das wäre nicht gut.

Es sah aus, als wollte der Dämon ein Taxi anhalten, dabei schaute er über die Schulter, und seine dunklen Augen starrten mich direkt an. Ein seltsames Leuchten ging von ihnen aus. Ich atmete scharf ein, spannte die Muskeln unwillkürlich für einen Angriff an.

Dez hob seine freie Hand und zeigte der Kreatur den Finger.

Ein koboldartiges Grinsen huschte über das Gesicht des Dämons. Er strich mit den Fingern über den Feuerhydranten. Nach einem kurzen Zwinkern drehte er uns den Rücken zu, verließ den Gehweg und mischte sich zwischen Taxen und Transporter.

„Oh nein“, murmelte Dez, machte einen Schritt nach hinten und schob mich dabei hinter seinen Rücken.

Mein Herz raste. „Was ist denn?“

Bevor Dez antworten konnte, flog die Kappe des Hydranten mit einem lauten Knall in die Luft, und Wasser sprudelte in einer hohen Fontäne hervor. Ein Stück die Straße weiter runter war ein weiteres Ploppen zu hören, dann noch eins und noch eins. Wasser sprudelte in die Luft, so weit ich sehen konnte.

Ich schrie, als kalte Flüssigkeit auf uns runter regnete, allerdings verlor sich der Klang meiner Stimme in den überraschten Schreien der Fußgänger. Binnen Sekunden war ich pitschnass wie fast jeder in der Nähe. Der Verkehr kam zum Erliegen, während sich Wasser auf die Straße ergoss. Metall knirschte. Ein Taxi krachte in das Heck eines anderen, was eine Kettenreaktion epischen Ausmaßes auslöste.

Ein Taxifahrer sprang mit erhobener Faust aus seinem Wagen. „Fuck! Du bist mir hinten draufgefahren!“

„Du hast doch gebremst“, schrie der andere Fahrer. „Du beschissener …“

Seine Worte wurden von plärrenden Hupen abgeschnitten. Das absolute Chaos brach aus, und währenddessen stand der Chaos-Dämon vom Wasser verschont auf der anderen Straßenseite – und lachte.

Dez, inzwischen ebenfalls pitschnass, zog mich am Arm. „Komm mit.“

Wir rannten im Slalom um die Leute herum, während Wasser auf uns niederprasselte. Ein paar Blocks später erreichten wir endlich eine halbwegs trockene Stelle und blieben stehen. Ich blickte über meine Schulter und sah einen völlig überfluteten Times Square.

„Himmel“, murmelte ich. Niemand schien verletzt zu sein. Der Dämon hatte offenbar nur Unruhe gestiftet, mehr nicht, und aus irgendeinem verqueren Grund lächelte ich, als ich mich wieder Dez zuwandte.

Er strich nasse Haarsträhnen aus meinem Gesicht und legte seine warmen Hände auf meine Wangen. „Alles okay bei dir?“, fragte er besorgt.

Ich lachte, und er legte den Kopf schräg. „Alles okay. Ich kann mir nicht helfen“, sagte ich und umfasste seine Handgelenke, „aber das war urkomisch.“

„Nur du kannst so ein Durcheinander komisch finden.“

„Gut möglich.“ Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, und Dez schlang seine Arme um mich. Adrenalin rauschte durch meine Venen, und vielleicht war dies der Grund für das, was nun folgte. Vielleicht lag es aber auch daran, dass ich mich nach seinem Kuss sehnte, seit unsere Lippen sich zuletzt berührt hatten. Ich schloss die Augen und presste meinen Mund auf seinen. Dez rang nach Luft. Seine Lippen waren sinnlich und fest und absolut wundervoll. Ich tastete mit meinen Händen nach seinen, die durch mein Haar strichen.

So standen wir da, als sich eine Gruppe Menschen hinter uns versammelte und das Spektakel beobachtete, das sich auf dem Times Square abspielte. Leute gingen an uns vorbei, und entweder waren wir für sie unsichtbar oder wir waren ihnen in diesem Augenblick einfach egal. Nichts stand in dieser Sekunde zwischen Dez und mir, weder die Vergangenheit noch die Zukunft, es gab nur das Hier und Jetzt.

Dez’ Augen glühten vor Verlangen. „Ich glaube, ich mag diesen Dämon.“

Ich lachte laut und befreiend. Gleichzeitig streckten wir die Hände nacheinander aus, ich weiß also nicht mehr, wer wessen Hand nahm. Bis ich an jenem Abend einschlief, konnte ich nicht aufhören zu lächeln.

Ich war zwar erschöpft, so vieles war passiert, jedoch spürte ich plötzlich eine ganz andere Mattigkeit, als wir das Hotelzimmer betraten und mein Blick auf das Bett fiel. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Wir würden in diesem Bett schlafen. Gemeinsam. Nur er und ich. Wir. Ich musste es mir so oft sagen, weil es mir noch immer so irreal vorkam.

Zusammen in einem Zimmer eines Gebäudes zu schlafen, in dem es nicht von Wächtern wimmelte, ließ die Situation anders erscheinen, viel erwachsener und intimer. Als wäre alles zuvor nur das Spiel unmündiger Kinder gewesen.

Ich nahm meine Schlafsachen mit ins Bad und zog mich schnell um. Ein Teil von mir wollte noch etwas länger im Bad bleiben, aber dann standen die Chancen gut, dass ich in die große Badewanne stieg und dort schlief.

Als ich ins Zimmer zurückkehrte, lag Dez schon im Bett unter der Decke. Mir wurde plötzlich heiß, ich blieb am Fuß des Bettes stehen und spielte nervös mit den Fingern.

Dez sah mich an. Auch er hatte sich inzwischen umgezogen und trug jetzt ein weißes T-Shirt und hoffentlich eine Pyjamahose oder etwas Ähnliches. Seine dichten Wimpern verbargen seine Augen.

„Was hast du vor?“, fragte er amüsiert.

Ich zuckte mit den Schultern.

Er grinste. „Willst du da stehenbleiben und zugucken, wie ich schlafe?“

Ich zog die Nase kraus. Für wen hielt er mich eigentlich? Für eine Spannerin? „Nein.“

„Dann komm her.“ Er klopfte auf die leere Bettseite neben sich. „Ich beiße nicht. Es sei denn, du möchtest das.“

Meine Wangen glühten so, dass Wasser darauf verdampft wäre. Dez lachte tief. „Ich mach doch nur Spaß, Jas. Komm jetzt. Ich bin müde, kann aber ohne dich bei mir im Bett bestimmt nicht schlafen.“

Ich legte den Kopf schief. „Ach ja?“

„Ja“, erwiderte er gähnend. „Ich würde mir viel zu viele Gedanken machen, dass du es nicht bequem hättest. Und mich wahrscheinlich die ganze Zeit anstarrst, wenn ich schlafe.“

„Das mache ich ganz sicher nicht!“

„Ist klar.“

Ich nahm all meinen Mut zusammen und kroch langsam bis zur Hälfte des großen Betts. Dez gähnte abermals und richtete seine Aufmerksamkeit dann auf den Fernseher. Ich atmete tief ein, packte den Zipfel der Bettdecke und schlüpfte darunter.

Ich lag auf dem Rücken, meine Brust hob und senkte sich so schnell, dass ich sehen konnte, wie die Bettdecke sich bewegte.

„Gute Nacht, Jas.“

Das war’s? Er wollte wirklich schlafen und nicht … na ja, das Bett ausprobieren? Ich hätte erleichtert sein sollen, aber … ich war enttäuscht. „Gute Nacht.“

Aus Sekunden wurden Minuten, dann rollte Dez sich auf die Seite und sah mich an. Ich hielt den Atem an. Weitere Sekunden verstrichen, dann bewegte sich mein Körper, scheinbar wie von selbst, ohne dass ich ihm den bewussten Befehl erteilt hatte.

Ich rollte mich ebenfalls auf die Seite und erwiderte seinen Blick. Wir waren nur eine Armlänge voneinander entfernt, während wir uns anstarrten. In diesem Moment glaubte ich nicht, je wieder schlafen zu können, aber Dez’ wunderschöne blaue Augen und das leichte Lächeln auf seinen Lippen waren das Letzte, was ich sah, bevor ich dann doch wegdämmerte.

Wir hatten den kompletten Folgetag für Sightseeing in New York eingeplant, trotzdem reichte es nicht, jedes Museum zu besuchen oder jede Straße, von der ich je gehört hatte, oder alle berühmten Wahrzeichen anzusehen. Außerdem hatten wir wahnwitzig viel Zeit in einem Spielzeugladen verbracht, in dem es scheinbar einfach alles zu kaufen gab, was der Markt zu bieten hatte.

In dieser Nacht flogen wir gemeinsam über die Stadt nach Ellis Island und dann zurück zur Upper West Side. Wir landeten zwischen den majestätischen Statuen, die nach unserem Vorbild erschaffen worden waren, und blickten runter auf die schwirrenden Lichter der Autos und Straßenlampen unter uns.

Ich musste an den Morgen denken, und mir wurde urplötzlich sehr warm. Als ich aufgewacht war, hatte ich fast auf Dez gelegen: Mein Bein ruhte auf seinem, und mein Kopf lag zwischen Dez’ Brust und Oberarm. Wenn er mich nicht mitten in der Nacht an sich gezogen hatte – was ich mir sehr gut vorstellen konnte –, musste ich es gewesen sein, die seine Nähe gesucht hatte. Ihm schien das nichts auszumachen. Sein Arm hielt meine Taille fest umschlungen.

So aufzuwachen, war … na ja, es war mehr als nur schön gewesen.

„Wir können nicht mehr lange hier oben bleiben“, sagte Dez und streckte seine Flügel aus, bis sie über meine strichen. Ich schauderte bei diesem intimen Kontakt. „Der Clan jagt, und obwohl dein Vater diese Reise abgesegnet hat, bezweifle ich, dass er es gutheißen würde, wenn du dich nachts draußen herumtreibst.“

Ich nickte, während ich mich nach vorne lehnte und mit meinen Händen den Sims umklammerte. Alle meine Sinne waren geschärft. Da unten wimmelte es von Dämonen, mehr als ich es mir je vorgestellt hätte.

„Was glaubst du, wie viele hier sind?“, fragte ich und blickte zu Dez. „Dämonen, meine ich?“

Er legte den Kopf zurück und sah hinauf zu den Sternen. „Hunderte. Größtenteils Inkuben wie der, den wir gestern gesehen haben. Vielleicht auch ein paar Blender und der eine oder andere Infernalische Herrscher.“ Er stand da und legte den Kopf abwechselnd nach rechts und links, um seine Nackenmuskulatur zu lockern. „Irgendwann heute Nacht werden sie auf einen Hohedämon treffen. Ob sie ihn auch erwischen, ist ungewiss.“

Sobald ein Dämon gefangen war, wurde er umgehend zurück in die Hölle geschickt oder verhört. Eigentlich sollte ich über solche Dinge gar nicht Bescheid wissen, denn Gargoylefrauen und Politik wurden bei uns strikt getrennt, aber wenn es mir zu Hause mal wieder zu langweilig war, was sehr oft vorkam, belauschte ich die Gespräche meines Vaters. Ich wusste, dass es in der Stadt Orte gab, an denen Dämonen mit Taktiken verhört wurden, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließen.

Es war Dez deutlich anzumerken, wie angespannt er war. „Du wärst jetzt gern da draußen und würdest jagen, stimmt’s?“, fragte ich.

„Ja.“ Er sah runter zu mir, seine Augen wirkten jetzt tiefblau, die Lippen dunkelgrau. „Das liegt in unserer Natur.“

So hieß es zumindest. Ich widmete meine Aufmerksamkeit wieder dem Treiben unter mir. Es wäre zu riskant gewesen, hier zu jagen, auch wenn das noch auf der Liste mit meinen Bedingungen stand. Ein Clanmitglied hätte uns entdecken können, und das wäre das Ende unseres kleinen Ausflugs gewesen. Dennoch fand ich den Gedanken irgendwie beunruhigend, dass dort draußen so viele Dämonen lauerten und nicht mal ein Viertel so viele Wächter.

Eine kühle Brise fuhr durch mein Haar und strich über die dünnen Membranen meiner Flügel, sodass sie unruhig flatterten. „Warum sind es so viele?“

„Niemand weiß, was in der Hölle vorgefallen ist oder warum so viele Dämonen ausgespuckt wurden.“ Dez drehte sich um und bot mir seine Hand an. „Aber es werden immer mehr. Sie haben etwas vor – etwas Großes.“

Ich legte meine Hand in seine und ließ mich von ihm hochziehen. „Aber wir werden sie aufhalten.“

Er lächelte, als er runter aufs Dach sprang, dann legte er seine Hand auf meine Hüfte. „Möchtest du zurück zum Hotel oder lieber noch etwas unten herumlaufen?“

Es war spät, und ich wusste, dass es früher oder später in den Straßen und sogar am Himmel zu Kämpfen kommen würde. So sehr ich es auch genoss, hier draußen zu sein, ich war nicht dämlich. Eine Wächterin würde die Dämonen magisch anziehen und Dez jede Menge Ärger einbrocken. Mein Wunsch, bei einer Jagd dabei zu sein und mehr von der Stadt zu sehen, musste warten.

„Zurück zum Hotel.“

Während wir zur anderen Seite des Gebäudes gingen, lief ich vor und grinste ihn über die Schulter an. „Wetten, ich bin als Erste beim Hotel?“

Er lachte laut in die Nacht hinaus. „Die Wette gilt.“

Ich sprang vom Sims, breitete die Flügel aus und ließ mich vom Wind nach oben tragen. Ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass Dez direkt hinter mir war. Ich flog weiter nach oben und zwischen zwei Hochhäusern hindurch. Mein Lachen wurde vom Wind erstickt, während ich noch weiter emporstieg. Gemeinsam zogen wir einen Kreis um eine lange, dünne Antenne. Dez holte auf, aber ich ließ mich fallen und segelte so viele Stockwerke nach unten, dass ich kurz die Orientierung verlor.

Es war wie früher, als wir Kinder waren und schnell wie der Wind über die Berge zurück zum Anwesen flogen. Ich blickte über die Schulter und konnte durch die Strähnen meines Haares Dez erkennen.

Wir waren Kopf an Kopf, als ich im Sturzflug über die Spitze unseres Hotels segelte. Wie ich es auch über den Bergen immer gemacht hatte, überließ ich alles Weitere der Schwerkraft. Ich zog die Flügel an, und die Welt drehte sich um mich, während ich immer schneller wurde. Lichter. Dunkelheit. Lichter. Dunkelheit.

„Jasmine!“ Dez’ Schrei wurde zu einem bloßen Flüstern.

In letzter Sekunde, nur einen Wimpernschlag, bevor es zu spät gewesen wäre, breitete ich meine Flügel aus, drehte mich einmal um meine eigene Achse und kam in der Gasse auf meinen Füßen zu stehen. Als ich aufsetzte, stoben Steinchen in die Luft, und ich schreckte einen Mann auf, der am Ende der Gasse mit einem Hund Gassi ging. Er zog an der Leine, Herr und Hund eilten die Straße herunter und verschwanden in der Nacht.

Dez landete eine halbe Sekunde später und hatte sich noch viel schneller vor mir aufgebaut. „Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?“

„Ich hab gewonnen!“ Ich wirbelte herum und wölbte die Flügel. „Das habe ich mir dabei gedacht.“

Er fasste mich am Arm. Seine Augen funkelten vor Wut. „Bei einem solchen Stunt hättest du draufgehen können.“

„Oooh.“ Ich tätschelte seine Brust. „Hast du dir Sorgen um mich gemacht?“

Er runzelte die Stirn. „Was glaubst du denn?“

Ich lachte und wollte das süße Gefühl des Sieges noch ein bisschen auskosten. „Ich bin immer noch schneller als du.“

„Ich bin nicht sauer, weil du schneller warst, sondern weil du dein Leben aufs Spiel gesetzt hast.“

Ich schüttelte den Kopf, holte tief Luft und wechselte in meine menschliche Gestalt. Wie immer nach der Wandlung waren meine Jeans und das Shirt spürbar weiter. „Bleib mal locker. Ich weiß, was ich tue. Ich mache das praktisch seit drei Jahren jede Nacht.“

Er sah mich mit großen Augen an.

„Ja, ich weiß, das macht es nicht besser. Aber ich hatte zu jedem Zeitpunkt alles unter Kontrolle.“ Ich seufzte. „Ich mag einfach das Gefühl beim freien Fall.“

Er starrte mich noch einen Moment an und wandelte sich dann ebenfalls. „Das ist völlig irre.“

„Vielleicht.“ Ich zuckte die Achseln. „Trotzdem habe ich dich geschlagen.“

Während wir zu unserem Zimmer gingen, sagte Dez kaum ein Wort. Wie am Abend zuvor nahm ich das Badezimmer zuerst unter Beschlag, wusch mich und zog meine Schlafsachen an, während er im Zimmer wer weiß was machte. Dieselbe Nervosität, die ich gestern Abend schon gespürt hatte, kehrte nun zurück. Gestern waren wir beide völlig erschöpft gewesen, aber heute war ich zu aufgekratzt, um direkt ins Schlafkoma zu fallen.

Auf dem Weg aus dem Bad ging ich stumm an Dez vorbei. Ich nahm die Fernbedienung, ließ mich ins Bett fallen und zog die Bettdecke hoch, während er ins Bad ging. Ich konzentrierte mich darauf, etwas halbwegs Interessantes im Fernsehen zu finden, während ich hörte, wie das Wasser im Bad an- und dann wieder ausgestellt wurde. Mir rutschte das Herz in die Hose, als die Badezimmertür geöffnet wurde und Dez herauskam.

Er hatte vergessen, sein Shirt anzuziehen. Oder hatte er es absichtlich weggelassen?

Er trug Boxershorts aus Nylon, die extrem tief auf seinen Hüften saßen – so tief, dass ich mich fragte, wie er es schaffte, dass sie überhaupt oben blieben. Er warf seine getragenen Klamotten auf den Boden, während ich seinen Oberkörper musterte. Als er zu mir herübersah, erwischte er mich dabei, dass ich ihn anstarrte und mich wie ein Volltrottel an der Fernbedienung festhielt.

Dez ging zu seiner Seite des Betts und legte sich auf die Decke. „Verdammt warm hier drinnen.“

„Dann stell doch die Klimaanlage höher.“

Er lehnte sich zurück, und ich konnte sehen, wie sein Bizeps anschwoll, als er die Hände hinter seinem Nacken verschränkte. Die dunklen Laken bildeten einen starken Kontrast zu seiner goldfarbenen Haut. „Habe ich schon.“ Er machte eine Pause und sah mich an. „Oder frierst du dann?“

Nein. Ja. Ich konnte nicht mehr klar denken und schüttelte daher einfach nur den Kopf.

„Prima.“ Er zog langsam die Augenbrauen hoch. „Was siehst du dir an?“

Ich blickte auf den Fernseher und erstarrte fast. Ich musste beim Zappen bei einem der Premium-Erotikkanäle hängengeblieben sein, wo gerade eine Sexszene lief: Brüste, verdammt große Brüste, der ganze Bildschirm schien aus Brüsten zu bestehen. Im Hintergrund war heftiges Keuchen und Stöhnen zu hören.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich in diesem Augenblick rot wie eine Tomate wurde.

Ich schaltete schnell zum nächsten Kanal weiter, dann zum nächsten und zum nächsten, bis ich ihm schließlich entnervt die Fernbedienung zuwarf. Wie ein älterer Herr entschied er sich für einen lokalen Nachrichtensender und legte die Fernbedienung auf seiner Brust ab. Ich machte es mir auf meiner Seite bequem und gab vor, die Nachrichten zu sehen, während ich in Wirklichkeit sein Profil musterte. Ein Muskel zuckte unaufhörlich im Kiefergelenk unterhalb seines Ohres.

Ich seufzte. „Du bist immer noch sauer auf mich.“

Er sah zur Seite. „Ich bin nicht sauer.“

„Bist du wohl.“

Ohne zu antworten, stellte er den Fernseher auf stumm und legte die Fernbedienung auf den kleinen Nachttisch neben dem Bett. Dann drehte er sich auf die Seite und schaute mich an. „Ich hatte Angst um dich vorhin.“

„War aber völlig unnötig. Wie ich schon sagte, ich wusste, was ich tue.“

„Aber das war mir nicht klar.“ Er nahm eine Strähne meines Haares und wickelte sie um seinen Finger. „Ich hatte keine Ahnung, was du da machst.“

Ich schwieg, während ich ihn dabei beobachtete, wie er die Knoten, die er in mein Haar gemacht hatte, wieder entwirrte.

„Die Taktik war ziemlich cool“, gab er zu, was mich zum Lächeln brachte. „Nur warn mich beim nächsten Mal.“

„Nicht wenn wir um die Wette fliegen. Sonst hätte ich ja nicht die Oberhand.“

Er lächelte schwach. „Du meinst, du hattest die Oberhand?“

„Klaro.“

„Da bin ich anderer Meinung“, neckte er mich und sah mich unter halbgeschlossenen Lidern an.

„Schon klar.“

Er rückte näher und stützte sich auf einen Ellbogen. „Glaubst du mir nicht?“

„Nein.“ Ich lachte und verdrehte die Augen. „Du überschätzt …“

Blitzschnell hatte Dez sich gedreht, und ich lag unversehens unter ihm. Seine Unterarme waren zu beiden Seiten meines Kopfes aufgestützt, sodass ich mich von ihm nicht befreien konnte. Unsere Körper berührten sich nicht, dennoch konnte ich ihn vom Scheitel bis zur Sohle spüren.

Das neckische Grinsen verschwand aus seinem Gesicht, als ich tief Luft holte und meine Brust seine streifte. Dann ging alles sehr schnell. Die spielerische Stimmung war wie weggeblasen, und es knisterte gewaltig zwischen uns. Unsere Blicke trafen sich und versanken ineinander. Keiner von uns beiden bewegte sich. Dez’ Nähe jagte mir unzählige kleine Schauer über die Haut und machte es schwierig, langsam und gleichmäßig zu atmen. Mein Körper erstarrte, als sein Blick auf meinen Mund fiel.

Er legte den Kopf schräg. „Ich … ich habe nicht die geringste Ahnung, worüber wir gerade geredet haben.“

„Gut. Ich auch nicht.“

Er verlagerte sein Gewicht auf einen Arm, wodurch er mir noch näher kam. „Hat dir die Reise bisher gefallen?“

„Ja.“ Ich bekam kaum Luft.

„Gut.“ Er senkte den Kopf. Sein Atem roch nach Minze, als er meine Wangen traf. „Freut mich zu hören.“

Ich war der Konversation ohnehin nur halbherzig gefolgt und nicht sicher, ob er sich überhaupt bewusst war, was er da sagte. Ich durchforstete mein vernebeltes Hirn nach einer sinnvollen Erwiderung, ohne nennenswertes Ergebnis. Stattdessen leckte ich mir über die Lippen und …

Einen Herzschlag später küsste er mich so leidenschaftlich, dass es meinen Körper beben ließ. Die Welt um mich herum versank. Dez strich mit einer Hand über meine Schulter, danach glitt er mit den Fingern weiter zu meiner Taille. Langsam schob er die Hand unter den Saum meines Shirts und liebkoste die nackte Haut.

Ich keuchte, war überwältigt von den Empfindungen, die über mich hereinbrachen. Meine Haut fühlte sich so an wie sonst bei meiner Wandlung. Vielleicht würde das auch passieren, wer weiß.

„Jasmine“, flüsterte er, seine Lippen dicht an meinen, dann drückte sein Körper mich fest auf die Matratze, so schwer, so süß, so hart.

Nichts hätte mich darauf vorbereiten können, wie mein Körper jetzt reagierte. Meine Hände wanderten zu Dez’ Schultern und weiter zu seinem Rücken. Elektrisiert spürte ich das Spiel seiner Muskeln, während er mit dem Mund eine heiße Spur zu meinem Kinn runter zu meinem Hals zog.

Dez hielt inne und hob den Kopf. Seine Pupillen verengten sich, und das Verlangen in seinem Blick hätte mich eigentlich aus dem Bett treiben müssen. Stattdessen wollte ich nur noch mehr. Mit keinem anderen hatte ich je mehr gewollt. Sobald ich meinen ersten Kuss bekommen hatte und wusste, wie es sich anfühlte, hatte ich kein Bedürfnis nach weiteren Küssen. Aber mit Dez wollte ich alles, und das war beängstigend. Verlockend. Aufregend. Sowie ich mich erneut bewegte, spannten sich seine Muskeln an und er senkte die Lider.

Er streckte die Arme, öffnete die Augen und schaute mich an. Dann waren seine Hände auf meiner Taille, und seine Finger spielten mit dem Saum meines Shirts. Atemlos hob ich meinen Oberkörper an, damit er es mir ausziehen konnte.

Ich ließ mich wieder fallen, schwindelig, verwirrt. Ein kalter Lufthauch strich über meine Haut, und ich bekam Gänsehaut, als Dez’ Blick über meinen Körper wanderte.

„Du bist wunderschön.“ Seine Berührungen waren so zärtlich, dass meine Haut anfing zu kribbeln. „So wunderschön.“

Mir hatte es die Sprache verschlagen. Er senkte den Kopf und küsste mich leidenschaftlich. Als er sich zurückzog, knabberte er an meiner Lippe und entlockte mir ein Geräusch, das mir bei Tageslicht ganz sicher fürchterlich peinlich gewesen wäre.

Dez verteilte Küsse auf meinen Hals und wanderte mit den Lippen weiter nach unten, erforschte jeden Zentimeter meiner Haut. Um mich herum drehte sich alles, und ich hatte das Gefühl, als würde ich im freien Fall durch die Luft gleiten.

Flammen schienen in meinem Inneren zu explodieren, sowie ich seine nackte Brust auf mir spürte. Das Gefühl von Haut an Haut brachte mich fast um den Verstand. Seine Lippen waren jetzt wieder auf meinen, und ich drückte mich fest an ihn, wollte ihm näher sein, wollte ihn.

Schnell hatte ich komplett die Kontrolle über mich verloren, und es hatte etwas sehr Befreiendes, einfach loslassen zu können. Ich berührte mit beiden Händen seine Taille und schlang ein Bein um ihn. Er stöhnte etwas Unverständliches und hob den Kopf. Die Anspannung war ihm jetzt deutlich anzusehen.

Dann, ganz plötzlich, glitt er von mir herunter und drehte sich auf den Rücken. Er legte einen Arm über den Kopf, den anderen quer über seine Brust und starrte an die Decke, während sein Atem langsam ruhiger und gleichmäßiger wurde.

Mein Herz klopfte immer noch wie wild, und die Verwirrung, die sich gerade in mir breitmachte, änderte nichts daran. Als ich mich aufsetzte, fielen mir die Haare ins Gesicht, ich machte aber vorsichtshalber keine Anstalten, sie zurückzustreichen. Ich hatte Angst, dass ich Dez eine knallen würde, wenn ich mich bewegte. „Warum hast du aufgehört?“

„Warum?“ Dez lachte, was sich sehr gequält anhörte. Er schloss erneut die Augen und fluchte leise, während er sich mit der Handfläche das Kinn rieb. „Ich bin nicht blöd, Jas.“

Ich hatte viel erwartet, aber ganz sicher nicht diese Antwort.

Während ich ihn anstarrte, erlosch das Feuer, das mich eben noch zu verbrennen drohte. „Ich kann dir nicht folgen.“

Er ließ die Hand sinken und öffnete ein Auge. „Es gibt für alles eine Grenze, Jas. Und hier mit dir in diesem Bett zu sein, macht es mir wahnsinnig schwer, vernünftig zu bleiben, denn es gibt da ein Problem: Ich weiß, dass du am Ende nicht Ja sagen wirst.“

10. Kapitel

Wir verließen die Stadt erst am folgenden Nachmittag, und die Fahrt nach Süden in die Hauptstadt verlief größtenteils schweigend. So war es schon seit letzter Nacht. Dez hatte mich eigentlich kaum anders behandelt, eher im Gegenteil. Er redete, er stupste mich an und er versuchte, mir ein Gespräch aufzudrängen, während wir New York verließen und durch New Jersey fuhren. Aber ich war zu beschäftigt mit meinen eigenen Gedanken.

Ich lehnte mich in meinem Sitz zurück und neigte den Kopf gegen das Beifahrerfenster. Gebäude und Häuser verschwammen ineinander, während sie an mir vorbeizogen.

Immer wieder sagte ich mir, dass es keinen Grund gab, mich so schlecht zu fühlen, wie ich es gerade tat. Ich hatte Dez nicht im Stich gelassen. Er war es, der mich verlassen hatte. Und versprochen hatte ich ihm auch nichts. Doch keines dieser Argumente änderte etwas an meinem schlechten Gewissen, sie klangen alle hohl und leer.

Nicht mal meine Schwester konnte verstehen, warum ich mich so gegen die Vorstellung sperrte, das Paarungsritual mit Dez zu vollziehen, besonders wenn man bedachte, wie sehr ich ihn früher gemocht hatte. Doch als er damals verschwand und ich nach vielen Monaten endlich akzeptiert hatte, dass er nicht mehr zurückkommen würde, hatte ich um ihn getrauert. So wie ich um meine Mutter getrauert hatte. Drei Jahre Trauer waren eine lange Zeit, um Distanz zu schaffen, zumal ich bis heute nicht wusste, weshalb er überhaupt fortgegangen war. Er behauptete, es hätte nichts mit dem Wunsch meines Vaters nach unserer Paarung zu tun gehabt, und es war mehr als offensichtlich, dass er mich wollte. Dennoch musste ich mehr darüber erfahren als diese lapidaren Versicherungen. Zum einen brauchte ich Antworten, zum anderen wollte ich das, was meine Eltern in ihrem gemeinsamen Leben gefunden hatten: Liebe und Vertrauen.

Einerseits war ich immer noch verliebt in Dez, ich hatte nie aufgehört, ihn zu lieben, aber ich glaubte nicht, dass er das Gleiche für mich empfand. Nicht so, wie ich es gebraucht hätte. Und was Vertrauen anging … Woher sollte ich denn wissen, ob er in einem Jahr nicht wieder einfach so verschwand?

Ruhelos rutschte ich auf meinem Sitz hin und her.

Vielleicht war es nicht nur die Vergangenheit, wegen der ich mich so sperrte. Vielleicht lag es auch an mir. Man ging nicht einfach locker eine Bindung ein bei uns, sondern band sich für ein ganzes Leben an jemanden. Das Paarungsritual würde mich schlagartig zu einer Erwachsenen machen, die mit sehr erwachsenen Bedürfnissen konfrontiert werden würde. Natürlich hatten auch schon andere Achtzehnjährige diese Erfahrung gemacht, dennoch gab es für mich viel zu bedenken. Vielleicht war ich einfach noch nicht bereit dafür, und meine Ausreden waren genau das: Ausreden.

Wir hatten bereits vor Stunden die Staatsgrenze zu Pennsylvania überquert, und als Dez den SUV jetzt auf eine Ausfahrt zu einer Stadt namens West Chester steuerte, streckte ich mich auf meinem Sitz und sah zu ihm rüber. „Wo fahren wir hin?“

„Lass dich überraschen.“

Mehr sagte er nicht, sondern schwieg die ganze Zeit, während wir durch die Stadt fuhren, sie wieder verließen und dann auf eine schmale, kurvige Landstraße bogen, die mir auf dem Hinweg gar nicht aufgefallen waren. Etwa fünf Minuten später hielt er auf dem Seitenstreifen. Als wir ausstiegen, war die Luft voller Staub.

Erwartungsvoll sah ich Dez an. „Erklärst du mir jetzt, was du vorhast?“

Er nahm meine Hand und zog mich zu einem Trampelpfad, den wir nun entlangstapften, während dann und wann Zweige unter unseren Füßen knackend zerbrachen. „Nachdem ich den Clan verlassen hatte und bevor ich zur Westküste aufbrach, bin ich viel herumgereist und unter anderem auch über diesen Ort gestolpert.“

Mein Herz setzte einen Schlag aus. Ein See! Jetzt fiel mir wieder ein, dass er ja gesagt hatte, er wüsste den perfekten Platz zum Nacktbaden. Das musste er sein! Oh mein Gott, warum hatte ich ihm nur diese Bedingung gestellt?

„Der Ort, zu dem wir gleich gehen, ist sehr abgelegen.“ Er hielt einen tief hängenden Zweig hoch, damit ich darunter hindurchschlüpfen konnte. „Der See wird dir gefallen.“

Okay, damit hatte er also bestätigt, dass er eine weitere Bedingung erfüllen wollte. Meine Handflächen wurden feucht, und ich wischte sie schnell an der Jeans ab. Dez sagte nichts, sondern ging vor und hielt für mich die Zweige hoch. „Warst du … oft hier?“

„Zweimal. Auf dem Rückweg zum Clan habe ich hier Halt gemacht. Ich musste mir über einiges klar werden, und das war der perfekte Ort dafür.“

Ich starrte auf seinen Rücken und beobachtete das Muskelspiel unter seinem dünnen T-Shirt. Ich wollte einen Witz reißen oder einen intelligenten Kommentar machen, aber ich war so nervös, dass mir rein gar nichts einfiel.

Das dichte Gestrüpp wurde langsam dünner und gab schließlich den Blick auf einen Landkessel frei, dessen Rand große, glatte Felsen bildeten: In der Mitte lag ein See.

„Sei vorsichtig“, raunte Dez mir zu, „die Felsen sind zum Teil sehr glitschig.“

Ich lächelte gedankenverloren. Es war süß, dass er sich Sorgen machte, aber es bestand keine Gefahr, dass ich ausrutschte und mir den Kopf anschlug.

Die Sonne ging bereits unter und warf ihre letzten Strahlen über die sich sanft kräuselnde Oberfläche des Sees. Ich trat näher an den Kesselrand, kniete mich hin und tauchte meine Hand ins kalte Wasser. Abgesehen von leisem Vogelgezwitscher und dem Rascheln der Blätter war es absolut still.

„Es ist wunderschön hier“, sagte ich, während ich wieder aufstand.

„Ja, finde ich auch.“ Er machte eine Pause. „Du denkst bestimmt, ich hätte dich wegen des Nacktbadens hergebracht, aber du musst nichts tun, was du nicht willst.“

Ich drehte mich um und lächelte ihn an. „Ich dachte, darauf hättest du dich am meisten gefreut.“

„Oh, versteh mich nicht falsch. Allein der Gedanke daran, wie du splitterfasernackt durchs Wasser …“ Er brach mitten im Satz ab, räusperte sich – und ich lief bis zum Haaransatz rot an. „Was ich damit sagen will: All das hier ist für dich.“ Er breitete die Arme aus und deutete auf den See, die Landschaft und symbolisch auf unsere gesamte Reise. „Du sollst es wirklich genießen und dich nicht unwohl fühlen.“

Ich strich mir die Haare zurück und ließ mich auf einen der Felsen fallen. Damit meine Beine aufhörten zu zittern, legte ich die Hände auf meine Knie.

„Jas?“ Er kam näher und legte den Kopf schräg.

„Warum?“, fragte ich und sah hoch zu ihm. „Warum tust du das alles für mich, wenn du weißt, dass ich nicht vorhabe, Ja zu sagen?“

Dez blieb einen Moment stehen, ging dann um einen dornigen Busch herum und setzte sich neben mich. Dann stützte er die Ellbogen auf seine Knie und das Kinn auf die Hände. „Na ja, dafür gibt es viele Gründe, aber der Hauptgrund ist, dass ich es einfach tun wollte.“

Zweifel krochen in mir hoch. „Ernsthaft? Du wolltest lieber den Reiseführer spielen, als da draußen mit dem Clan zu jagen?“

„Ja.“ Er sah mich unter seinen langen Wimpern an. „Ich sagte dir ja, dass du mir gefehlt hast und ich jeden Tag an dich gedacht habe. Das war nicht gelogen. Ich möchte Zeit mit dir verbringen, und es macht mir einen Riesenspaß, dich dabei zu beobachten, wie du so viel Neues erlebst. Es macht mich glücklich, dass ich dir das ermöglichen konnte … und nur weil du für dich beschlossen hast, mich abzulehnen, heißt das nicht, dass du das am Ende auch tun wirst.“

Ich zog meine Augenbrauen hoch. „Ach, ist das so?“

Er streckte sich. „Vielleicht wirst du nach diesen sieben Tagen immer noch Nein sagen. Das heißt aber nicht, dass es vorbei ist. So schnell gebe ich nicht auf.“

Mir wurde richtig warm ums Herz. „Und wenn ich mich für einen anderen entscheide?“

Er kniff die Augen zusammen. „Ich bezweifle, dass das passieren wird.“

„Man kann nie wissen.“

„Oh doch, ich weiß es.“

Ich verdrehte die Augen, konnte mir aber ein Grinsen nicht ganz verkneifen. „Ich meine ja nur.“

„Und ich meine, dass du nach diesen sieben Tagen oder vielleicht nach einer weiteren Woche oder einen Monat später zustimmen wirst.“ Er legte die Hand an meine Wangen und drückte seine Stirn sanft an meine. „Und ich werde da sein und warten. Ganz egal, wie lange es dauern mag.“

Ich musste die Augen schließen, es verschlug mir den Atem und mir wurde schwindelig. Die eine Frage, die mich am meisten auf der Welt interessierte, musste jetzt gestellt werden: „Warum bist du wirklich gegangen? Bitte sag’s mir, Dez.“

Er rieb seine Nase an meiner und zog dann seufzend den Kopf zurück. „Jas, das ist nicht so einfach zu be…“

In den Büschen hinter uns raschelte es, und wir drehten uns gleichzeitig um. Meine Nackenhaare sträubten sich und alle meine Sinne waren in Alarmbereitschaft, als die Blätter eines vielleicht einen Meter hohen Strauches sich geräuschvoll bewegten.

Dez legte eine Hand auf meinen Arm und bedeutete mir, still zu sein und aufzustehen. Wir bewegten uns lautlos, dennoch verstummten das Rascheln.

Ein dünner Zweig, nicht länger und dicker als ein Bleistift und geformt wie ein Speer, teilte die Blätter. Der Speer schwang nach links und nach rechts, stoppte dann und zeigte auf uns.

„Was ist das?“, flüsterte ich.

Die Büsche zitterten, während eine kleine Kreatur zwischen den Blättern auftauchte. Ich hatte keine Ahnung, was für ein Wesen das war. Es war nicht größer als vielleicht dreißig Zentimeter, seine Haut hatte die Farbe von altem Leder, und die Gliedmaßen waren dünn und knotig. Die Kreatur trug eine Art Lendenschurz aus Blättern, und ihr Schmerbauch war schlammverkrustet. Die Kreatur ähnelte diesen grässlichen Troll-Puppen, die eine Zeit lang beliebt gewesen waren, bevor ich geboren wurde. Ihr Haar war zwar weder neonpink noch lila, dafür dunkelbraun und stand ihr in verfilzten Büscheln vom Kopf ab.

Das Wesen ging in die Hocke und richtete seinen Speer auf uns. Das sollte wohl heißen, dass wir uns besser nicht vom Fleck rührten.

„Ach du heilige Scheiße“, sagte Dez.

Ich presste die Hände zusammen. „Was ist das?“

Die großen, runden Augen des Kerlchens verengten sich, als er meine Stimme hörte, dennoch huschte er nicht fort. Rennend konnte ich ihn mir wirklich nicht vorstellen. Nein, wenn überhaupt, dann würde er huschen.

„Ein Pukwudgie.“

Die übergroßen Schlappohren des kleinen Kerls zuckten, als er seinen Namen hörte.

Ich sah Dez fragend an. „Ein was?“

„Ein Erddämon“, erwiderte er und zog die Stirn in Falten. „Ich habe noch nie einen gesehen. Angeblich sind sie seit Jahren ausgerottet. Man weiß nicht viel über sie, nur dass sie während ihrer Blütezeit ein bisschen Chaos gestiftet haben. Normalerweise traf man sie nur weiter im Norden an, in Massachusetts zum Beispiel.“

„Er ist irgendwie süß.“ Ich musste unweigerlich grinsen, als Dez mich völlig fassungslos ansah. „Was denn? Na ja, er ist so hässlich, dass er fast schon wieder süß ist.“

Dez schüttelte den Kopf, als der Pukwudgie seinen kleinen Speer senkte und sich langsam den Felsen näherte. Er verschwand für einen Augenblick dahinter, dann waren die Spitzen seiner Ohren und Haare zu erkennen. Schließlich erschienen auch seine großen Augen und die Knollennase, während er über einen Felsen hinweg zu uns rüberspähte.

Als ich nun leise kicherte, öffnete sich sein Mund und enthüllte unerwartet viele Zähne. Es sah aus, als erwiderte er das Lachen.

„Ich glaube, er mag mich“, sagte ich.

Dez’ Hand strich über meinen Rücken, während er von den Felsen zurücktrat. „Jeder mag dich, Jas.“

Unerwartet geschickt sprang der kleine Kerl auf den entferntesten Felsen. Dann ging er wieder in die Hocke, beobachtete uns, und als sich keiner von uns bewegte, kam er uns ganz langsam und von Felsen zu Felsen springend näher. Kurz vor dem Felsen, auf dem wir saßen, blieb er hocken.

Ich sah zu Dez, der die Achseln zuckte und dann langsam um die Felsen herumging, als ob er plante, sich von hinten anzuschleichen. „Was hast du vor?“

Er warf mir einen fragenden Blick zu. „Was glaubst du denn?“

Meine Kinnlade klappte runter. „Ach komm schon. Er macht doch gar nichts.“

Dez blieb stehen und zog eine Augenbraue hoch. „Noch nichts.“

Mein Blick wanderte wieder zu dem kleinen Kerl, der mit breitem Grinsen zu mir hochsah. Jedes Mal, wenn unsere Blicke sich trafen, hoppelte er mit angezogenen Knien vor und zurück, als würde er ein kleines Freudentänzchen aufführen.

„Jasmine …“ Dez seufzte und verschränkte die Arme vor der Brust. „Er ist ein Dämon. Zwar ein süß-hässlicher Dämon, aber trotzdem ein Feind.“

„Ich weiß, aber …“

Aber er machte nichts weiter, als zu tanzen und zu posieren. So frevelhaft sich das auch anhörte – ich hielt es für falsch, ihn zu töten.

Dez sah mich an. „Wir können ihn nicht einfach gehen lassen.“

Der Pukwudgie blickte zu Dez, streckte ihm die Zunge raus und machte einen äußerst menschlichen Lippenfurz.

Ich lachte. „Oh, ich mag das Kerlchen. Wenn wir ihn nicht gehen lassen dürfen, dann behalte ich ihn einfach, ja?“

„Äh, nein.“

„Ich werde ihn Herbert nennen“, verkündete ich, als hätte ich Dez’ letzten Kommentar gar nicht gehört. „Gefällt dir der Name, kleiner Pukie-wukie?“

„Pukwudgie“, korrigierte Dez mich, während es ihm sichtlich schwerfiel, ernst zu bleiben. „Jas, ich mein’s ernst, wir müssen was tun.“

Der Erddämon wirbelte herum und warf dabei seine Beine abwechselnd hoch.

„Das interpretiere ich als ein Ja.“ Ich setzte mich hin, ganz langsam, um ihn nicht zu erschrecken. „Herbert passt wirklich gut.“

Dez hüstelte gekünstelt und verdrehte die Augen. „Soll das etwa der beste Name sein, der dir einfällt?“

Ich zeigte Dez den Finger.

Er kniff die Augen zusammen und sah mich streng an.

Herbert hüpfte auf meinen Felsen, und ich streckte ihm meine Hand entgegen. Er beugte sich vor und schnüffelte an meinen Fingern, jedoch ohne sie zu berühren.

„An deiner Stelle würde ich das nicht tun“, riet Dez mir und kam mit finsterer Miene auf mich zu. „Du weißt doch gar nicht, ob er vielleicht gefährliche Krankheiten überträgt.“

Herbert wirbelte herum, führte noch ein kleines Tänzchen auf und legte dann seine Hand auf meine, als würde er mich abklatschen. Dann hob er die Hand wieder und ballte sie zu einer Faust, die er Dez entgegenhielt.

„Oh, ich glaube, Herbert mag dich nicht.“

„Wie unfassbar tragisch“, erwiderte Dez sarkastisch. „Geh bitte von ihm weg.“

Wiederum ignorierte ich diese Anweisung und kicherte, als Herbert auf meine Seite des Felsens kletterte und meinen Zeigefinger mit seiner kompletten Hand festhielt. Seine Haut war kühl und weich. Er sprang noch einmal hoch und dann noch einmal, während er die ganze Zeit meinen Finger umklammert hielt.

„Ich glaube, er schüttelt meinen … autsch!“

Herbert hatte seinen Mund zu meinem Finger geführt und herzhaft draufgebissen! Vom Schmerz überrascht, zog ich die Hand zurück. Ich wollte aufstehen, verlor aber das Gleichgewicht und landete auf dem Hintern. Meine Hand pochte vor Schmerz, und ich drückte sie gegen meine Brust.

„Herbert hat mich gebissen! Der kleine Bastard hat mich gebissen!“

Der Pukwudgie machte ein Plappergeräusch, das wie ein Lachen klang, dann wirbelte er herum und flitzte über die Felsen. Er sprang auf den Boden und rannte weg, nur einmal hielt er kurz an, um seinen Speer aufzuheben. Büsche raschelten, als er in der Botanik verschwand.

Dez war in Sekundenschnelle an meiner Seite und kniete sich neben mich. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber ich schnitt ihm sofort das Wort ab: „Wag es nicht, ‚hab ich’s dir nicht gesagt‘ zu sagen“, warnte ich und besah mir meinen Finger. Aus drei kleinen Wunden quoll Blut. „Ich kann nicht glauben, dass er mich gebissen hat. Ich dachte echt, er mag mich.“

„Ich wollte gar nichts sagen. Lass mal sehen.“ Dez griff nach meiner Hand. „Verdammt, du blutest“, murmelte er. „Lass uns das auswaschen und von hier verschwinden, bevor mehr von denen hier aufschlagen und dich anknabbern wollen.“

„Glaubst du, hier gibt’s noch mehr von denen?“ Ich nahm seine Hand, die er mir hinstreckte, um mich auf die Füße zu ziehen. Dann führte Dez mich zum Ufer.

„Wo einer ist, sind meistens gleich hundert.“ Er tauchte meine Hand ins kalte Wasser und wusch das Blut ab.

„Du hättest ihn töten sollen“, brummelte ich verärgert.

Dez sah mich streng an. „Wollte ich ja, aber irgendjemand – und ich schau jetzt mal niemanden scharf an – fand, Herbert sei so hässlich, dass er fast schon wieder süß sei.“

Ich seufzte. Wo er recht hatte … „Er verdient den Namen Herbert nicht.“

So böse konnte Dez mir gar nicht sein, denn er lachte leise, während er meine Hand aus dem Wasser zog. „Tut’s weh?“

„Wenn du mich so fragst …“ Es tat weh. Der stechende Schmerz von der Bisswunde strahlte über meine Hand hinein in den Arm. „Nein, ich merk’s kaum.“ Dez hielt mich jetzt schon für eine Vollidiotin, ich wollte ihm das nicht noch weiter bestätigen.

Auf dem Weg zurück zum SUV wurde mir plötzlich heiß, als hätte ich Fieber. Ich schwitzte und meine Stirn war ganz nass. Mein Magen rebellierte, als ich meinen Finger musterte. Erschrocken schnappte ich nach Luft. Die Haut um den Biss war feuerrot und grässliche, dunkle Linien breiteten sich von der ansonsten geringfügigen Wunde aus.

Oha.

Ich blieb stehen, dennoch bewegten sich die Bäume weiter. Komisch. „Dez …“

Er drehte sich zu mir, aber irgendwas stimmte mit seinem Gesicht nicht, seine Züge waren seltsam verschwommen. „Jasmine?“

Seine Stimme klang wie aus weiter Ferne. „Mir … geht’s nicht so gut.“

Ich machte einen Schritt nach vorn, oder zumindest dachte ich, ich hätte es getan. Ganz plötzlich verschwand der Himmel, und ich sah nur noch Erde vor mir. Von weit her hörte ich, wie Dez meinen Namen rief, dann wurde ich bewusstlos.

11. Kapitel

Ich stand in Flammen.

Das war die einzige Erklärung für die brennenden Schmerzen, die durch meine Venen rauschten, mein Blut zum Kochen brachte und meine Haut versengten, dass sie Blasen warf. Eine angenehm kalte Brise strich über meine glühende Haut, verschaffte mir momentane Erleichterung, aber das Feuer fraß sich dennoch in jede meiner Zellen. Die Hitze verschlang mich in ihrer erbarmungslosen Umarmung.

In den seltenen Augenblicken, in denen mein Hirn nicht völlig benebelt war, wusste ich, dass ich mich wandeln musste. Ich musste diesen tiefen Schlaf erreichen, der für uns nötig war, um zu heilen, aber meine Muskeln wollten mir einfach nicht gehorchen. Nichts in meinem Körper gehorchte mir. Ich war in einem Teufelskreis gefangen.

Immer wieder verlor ich das Bewusstsein, und wenn ich wach war, wollte ich ganz, ganz weit weg sein. Meine Haut schälte sich von meinen Knochen, Flammen schlugen meine Kehle hoch. Die Schmerzen hielten mich gefangen, ich hatte das Gefühl, innerlich zu schrumpfen, und manchmal hörte ich jemanden aus weiter Ferne rufen. Die Worte ergaben keinen Sinn, aber ich konzentrierte mich auf die Stimme und versuchte, mich innerlich daran festzuhalten. Dann spitzte sich das Inferno zu und zehrte mich auf, bis nur noch Dunkelheit und das ferne Summen dieser Stimme übrig war.

Später, als mir die Veränderung meiner Umgebung bewusst wurde, hörte sie sich an wie ein stotternder Herzschlag. In der Ferne waren noch mehr Stimmen, aber ich konnte nicht verstehen, was sie sagten, konnte nicht mal meine Augen offen halten. Aber irgendetwas war anders. Die gnadenlose Hitze wich, und nun umfing mich etwas Weiches, Wogendes. Ich verstand nicht, was mit mir geschah, aber ich tauchte darin ein. Etwas Kühles wurde gegen meine Stirn gedrückt, und eine bittere, scharfe Flüssigkeit rann meine Kehle hinunter. Ich versuchte, den Kopf zu drehen, und wimmerte aber vor Schmerz dabei, als eine Hand mich sanft stoppte.

„Trink das bitte. Danach wird’s dir besser gehen.“

Ich erkannte die Stimme nicht. Mein Puls raste in schwindelerregende Höhen. Wo war Dez? Ich hatte keine Chance, die Flüssigkeit wieder auszuspucken, es kam immer noch mehr nach, bis ich das Gefühl hatte, zu ertrinken. Als der Fluss endlich aufhörte, holte ich einige Male tief Luft, doch das Atmen schmerzte.

„So ist’s gut“, sagte der Fremde und entfernte sich langsam. „Sie wird jetzt schlafen.“

Die nun folgende Stille war ebenso furchteinflößend wie das Feuer. Ich nahm alle Kraft zusammen, hob meine Hand und suchte nach etwas – irgendetwas –, woran ich mich festhalten konnte.

Eine starke Hand legte sich um meine. Dann liebkoste ein feuchtes Tuch meine Stirn. Meine Lippen formten Dez’ Namen, es kam aber kein Geräusch heraus.

„Ich bin hier bei dir.“ Ein kühler Hauch strich über meine brennenden Wangen. „Ich werde nirgendwohin gehen, Jas. Ich werde dich nicht wieder verlassen.“

Als ich das nächste Mal zu Bewusstsein kam, war das Feuer erloschen. Ich spürte ein dumpfes Pochen überall, und meine Lider waren bleischwer. Mit der Geschwindigkeit einer dreibeinigen Schildkröte erwachte mein Körper wieder zum Leben. Ich bewegte mich vorsichtig einen winzigen Zentimeter im Bett, dennoch fühlte es sich an, als hätte ich mich völlig verausgabt.

„Jas?“

Ich drehte meinen Kopf in die Richtung, aus der Dez’ tiefe Stimme gekommen war. Eine Hand schob sich in meinen Nacken, und ich seufzte leise. Die Berührung brannte nicht, oh nein, sie fühlte sich real und wunderbar an.

Nach einer gefühlten Ewigkeit schaffte ich es, die Augen zu öffnen. Ich blinzelte, der Raum war zwar nur von Dämmerlicht beleuchtet, aber meine Augen waren überraschend empfindlich. Als ich endlich klar sehen konnte, bemerkte ich, dass Dez neben mir saß.

Ich hatte ihn noch nie so müde gesehen. Dunkle Schatten lagen unter seinen hellen Augen, und ihm stand die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben. Dennoch war der Griff, mit dem er meine Hand hielt, stark und kräftig.

„Hey“, sagte er und rückte etwas näher. „Endlich bist du wach.“

Ich öffnete den Mund, aber es kam nur ein heiseres, erbärmliches Krächzen heraus. Dez ließ meine Hand los, lehnte sich auf dem Stuhl zurück und griff nach einem Wasserkrug auf dem Nachtschränkchen.

Während er mir half, mich hinzusetzen, um etwas zu trinken, musterte ich meine Umgebung. Beige Wände, minimale Möblierung und schwere weiße Vorhänge. Das hier war kein Zimmer im Haus meines Clans.

Als ich meinen Kopf endlich wieder aufs Kopfkissen sinken lassen konnte, fühlte ich mich, als hätte ich tausend Stufen erklommen. „Danke.“

Dez nahm wieder meine Hand und verschränkte die Finger mit meinen. „Wie fühlst du dich?“

„Müde.“ Ich drehte mich zu ihm, mein Kopf fühlte sich an, wie in Watte gepackt. „Was ist passiert?“

„Erinnerst du dich nicht?“

Ich kramte in meinem benebelten Gehirn, und langsam fiel mir das eine oder andere wieder ein. „Herbert hat mich gebissen.“

Er nickte. „Der Biss eines Pukwudgies ist giftig. Das wusste ich aber nicht. Wenn ich …“

„Es ist nicht deine Schuld.“ Ich räusperte mich. Wenn ich mich doch wenigstens aus eigener Kraft hätte aufsetzen können! „Du hast es ja nicht gewusst. Und wenn hier jemand schuld ist, dann ich. Gott, ich komme mir so dämlich vor.“

Er lächelte schwach. „Warum?“

„Warum?“, wiederholte ich idiotisch. „Du hast mir gesagt, dass ich ihn nicht anfassen soll, aber ich wusste es ja besser.“

Mit seiner freien Hand strich er mir das feuchte Haar aus dem Gesicht. „Na ja, es kann auch nicht gutgehen, wenn man jemandem vertraut, der Herbert heißt.“

Ich lachte krächzend. „Das stimmt.“ Ich fuhr mit der Zunge über meine Lippen und atmete dann tief aus. „Wo sind wir?“

„Wir waren zu weit weg, um dich nach Hause zu bringen.“ Er strich mir über die Wange, dann lehnte er sich zurück, hielt meine Hand aber weiter fest. „Ich habe dich nach Washington gebracht. Wir sind bei Abbot.“

Ich sah ihn mit großen Augen an. „Wie sind wir denn hergekommen? Bist du gefahren?“

„Fahren hätte zu lange gedauert, und ich wusste nicht, wie gefährlich der Biss wirklich ist. Fliegen ging schneller. Glücklicherweise! Wie sich nämlich herausstellte, ist mit einem Pukwudgie-Biss nicht zu spaßen. Abbot hat eines seiner Clanmitglieder losgeschickt, um unseren Wagen zu holen. Deine Sachen sind bereits alle hier.“

Ich starrte ihn an. Er war hierhergeflogen? Und hat mich auch noch getragen? Kein Wunder, dass er aussah, als würde er jeden Moment vor Müdigkeit umfallen. „Dez, ich … wie kann ich das je wiedergutmachen?“

„Dass du aufgewacht bist und es dir besser geht, reicht mir schon.“ Er drückte meine Hand. „Es gab Augenblicke, da dachte ich, du würdest es nicht schaffen. Und ich …“ Er schluckte schwer, während er die Augen schloss. Als er sie wieder öffnete, hatten sie die Farbe des Himmels vor der Dämmerung. Er führte meine Hand an seinen Mund und hauchte einen Kuss auf die Handfläche. „Ich habe mir solche Sorgen gemacht.“

Der Schmerz in seiner Stimme versetzte mir einen Stich ins Herz. „Aber es geht mir gut, oder?“

„Ja, aber …“ Er legte meine Hand zurück aufs Bett. „Jas, du hast eineinhalb Tage geschlafen.“

„Was?“ Ich schnappte nach Luft. Das konnte nicht stimmen, ich fühlte mich, als hätte ich tagelang nicht geschlafen! „Oh mein Gott. Ich werde Herbert suchen und ihn erwürgen!“

Dez lachte hustend. „Da musst du dich erst hinten anstellen.“ Sein Grinsen verschwand. „Jas, ich musste es deinem Vater erzählen.“

Ich zuckte zusammen. „Oh nein.“

„Er wäre fast hergekommen. Um mich umzubringen. Abbot hat ihn dann am Telefon beruhigt und ihm versprochen, dass du wieder gesund wirst.“ Dez lächelte wieder müde. „Abbot meinte zwar, du wirst dich bald besser fühlen, aber er hat uns angeboten, dass wir so lange hierbleiben können, wie wir wollen.“

„Das ist wirklich sehr nett von ihm“, murmelte ich und versuchte all diese Informationen zu verarbeiten.

Dez seufzte. „Kann ich …?“ Er schüttelte den Kopf und begann den Satz noch einmal neu. „Ich bin völlig fertig und muss mich unbedingt hinlegen. Ich will aber bei dir bleiben. Darf ich mich zu dir legen? Mehr will ich gar nicht … einfach nur eine Weile neben dir liegen.“

Mein Herz vollführte einen kleinen Freudentanz. Aber ich brachte dennoch keinen Ton heraus, denn was mir auf der Seele brannte, sollte erst einmal ungesagt bleiben. Also nickte ich nur.

„Danke.“ Dez ließ den Kopf sinken, und seine breiten Schultern entspannten sich. Bis zu diesem Moment hatte ich nicht bemerkt, wie verkrampft er dort neben mir saß.

Wortlos bedeutete er mir, das restliche Wasser auszutrinken, dann kletterte er zu mir ins Bett und streckte sich neben mir aus. Ich lag einen Augenblick lang nur da und starrte ihn an. Ich musste mich zwingen, mich zu bewegen, drehte mich dann aber auf die Seite, kuschelte mich an ihn und legte den Kopf auf Dez’ Schulter.

Er legte seinen Arm um meine Taille und zog mich näher zu sich. Aus irgendeinem Grund war das hier anders als die Nächte in New York, in denen wir schon im gleichen Bett geschlafen hatten. Es war etwas ganz Besonderes und ließ mein armes Herz schneller schlagen. Während ich mich in Dez’ Umarmung entspannte, schloss ich die Augen und konnte nur an eines denken.

Unsere sieben Tage waren um.

12. Kapitel

Am folgenden Abend fühlte ich mich stark genug, um aufzustehen. Ich war unendlich froh, dass ich mich endlich wieder wie ich selbst fühlte. Na ja, noch nicht hundertprozentig wie ich selbst, aber ich wollte auch nicht noch mal zehn Jahre verschlafen, und nach einer schnellen Dusche sowie einem Telefonat mit Dad und Danika ging ich nach unten. Das Haus in Washington war unserem Anwesen sehr ähnlich: Von der Größe her eher ein Hotel als ein Haus, aber der größte Unterschied war der, dass hier weder Kinder noch Frauen zu leben schienen.

Es war still wie in einer Leichenhalle.

Dez hatte mir zum Mittag etwas zu essen aufs Zimmer gebracht, aber das war schon Stunden her, und ich hatte seitdem weder ihn noch sonst jemanden gesehen. Ich wusste jedoch, dass noch andere Wächter anwesend waren, falls ich nicht auf dem Krankenbett fantasiert hatte. Das war allerdings durchaus möglich.

Als ich unten im Flur stand, fehlte nicht viel und ich hätte tatsächlich geglaubt, dass Dez mich in einem verlassenen Haus zurückgelassen hatte. Aber dann öffnete sich eine Tür hinter mir, und ich wirbelte erschrocken herum.

Ein älterer Gentleman trat durch die Tür und schloss sie leise hinter sich. Graue Strähnen zogen sich durch sein schwarzes Haar, und in seine hellbraune Haut hatten sich zahlreiche tiefe Furchen gegraben. Seine gütigen braunen Augen sahen mich an, und als er im Flur an mir vorbeiging, stahl sich ein warmes Lächeln auf seine Lippen.

Er verschwand durch die Haustür, ohne ein Wort zu sagen.

„Okayyyy …“, murmelte ich.

Ich drehte mich um und ging durch einen breiten Türbogen in ein großes Wohnzimmer, wo ich unruhig auf und ab lief, bis ich mich erschöpft auf eines der großen Sofas aus weichem Leder fallen ließ. Sofort drehten sich meine Gedanken um die Frage, was als Nächstes passieren würde. Unsere sieben Tage waren um, und Dez hatte noch immer keine Antwort von mir bekommen.

Ich ließ den Kopf nach vorn fallen und massierte meinen Nacken. Das flaue Gefühl in meiner Magengrube ähnelte der Wirkung des Pukwudgie-Gifts, bis ein hauchdünner Schweißfilm meine Handflächen bedeckte. Ich wünschte, ich könnte in meine wahre Gestalt wechseln und einen Flug unternehmen. In der Luft ergab immer alles einen Sinn, aber Dez – wo immer er auch gerade war – würde ausflippen, wenn ich mich einfach davonstahl. Ähnlich wie in New York würde es auch in Washington von Dämonen nur so wimmeln, und obwohl es noch ein paar Stunden bis zur Dämmerung dauerte, wäre es riskant … zu riskant.

Seit wann machte ich mir Gedanken darum, was Dez von etwas halten könnte, das ich tat?

Die Antwort war offensichtlich: Seit dem Moment, an dem er wieder in mein Leben stolziert war.

Die Worte formten sich in meinen Gedanken, bevor ich sie aufhalten konnte. Ich war immer noch bis über beide Ohren in ihn verliebt. Während der drei Jahre, in denen er weg war, hatte ich fürchterlich gelitten, die Liebe aber war ungebrochen.

Aus dem Augenwinkel nahm ich Bewegungen wahr, und ich hob erschrocken den Kopf.

Im Türrahmen stand ein zierliches Mädchen, kaum größer als einen Meter fünfzig und nicht viel älter als dreizehn. Vielleicht sogar jünger. Sie war so unglaublich klein, und ich hatte noch nie ein Mädchen wie sie gesehen.

Das Haar, das ihr in Wellen über die Schultern fiel, war so blond, dass es fast schon weiß war. Ihre Lippen waren zu voll für ihr rundes Gesicht, und ihre Augen groß und breit, wie die einer Porzellanpuppe. Aber das wirklich Erstaunliche daran war, dass sie fast farblos waren. Die lebendige, wenn auch unnatürliche Schönheit des Mädchens verriet sie.

Sie musste Abbots Adoptivtochter sein, die Wächterin, die auch zur Hälfte Dämonin war. Gerüchte besagten, dass das Mädchen Menschen und Wächtern die Seele stehlen konnte, allein dadurch, dass sie sie einatmete. Unter Wächtern war sie so etwas wie eine Legende, ich persönlich hatte nie an ihre Existenz geglaubt – aber, oh Mann, ich hatte mich dermaßen geirrt, denn sie war hier und spähte hinter dem Türrahmen hervor.

Mein Herz schlug schneller, als ich aufstand. Für Menschen und Wächter bedeutete es das Gleiche, wenn sie ohne Seele starben: Sie wurden zum Geist, waren verdammt bis in alle Ewigkeit zu einer Existenz zwischen Himmel und Hölle, geplagt von endlosem Durst und Hunger, was sich irgendwann in einem rachsüchtigen und bösartigen Wesen manifestierte. Ohne Seele zu sterben, war das Schlimmste, was einem passieren konnte, und deshalb wollte ich auch so schnell wie möglich diesen Raum verlassen. Ich hatte Gänsehaut am ganzen Körper, und meine menschliche Haut schien sich zu straffen, allein durch die Nähe zu einem so gefährlichen und tödlichen Wesen.

Zentimeterweise wagte sie sich in den Raum vor, als warte sie auf Erlaubnis. Sie musterte mich mit unverhohlener Neugier und sagte in die Stille hinein: „Hi.“

Ihre Stimme war zart und unsicher. Ich erwiderte nichts, während mein Blick zum Türrahmen wanderte. Ich wäre problemlos an ihr vorbeigekommen. Sie sah aus, als könnte sie nicht mal einen Stuhl alleine hochheben, aber bei Dämonen konnte das Aussehen trügen.

Siehe Pukwudgies.

„Du bist Jasmine?“, fragte sie und spielte mit einer Strähne ihres bleichen Haares.

Ich ging langsam um die Couch herum und brachte so etwas mehr Abstand zwischen sie und mich. Es war zwar etwas paranoid, vor einem so zart aussehenden Ding zurückzuschrecken, aber ich mochte meine Seele dort, wo sie jetzt war: in meinem Körper. „Ja.“

Ein breites Lächeln huschte über ihr Gesicht und ließ sie bezaubernd aussehen, und einen Augenblick lang fragte ich mich, ob all die Gerüchte vielleicht falsch waren, ob sie vielleicht zur Hälfte Engel war statt Dämonin. Aber nein. „Ich …“

„Ich weiß, wer du bist.“

Mein Kommentar kam ungewollt barsch rüber, und die Haut des Mädchens wurde schlagartig so bleich wie ihre Haare. Aber vielleicht war mein Ton doch gewollt? Ich konnte nicht fassen, warum Abbot es erlaubte, dass so etwas wie sie sich frei im Haus bewegte.

Ihre Augen wurden noch größer und nahmen einen schimmernden Glanz an, bevor sie den Kopf senkte und ihr Gesicht von ihrem Haar verborgen wurde. Sie nahm die Kette, die sie um den Hals trug, und wickelte sie um ihre Finger. Schuldgefühle nagten an mir.

„Zayne und ich wollten Eis essen gehen“, sagte sie nach ein paar Sekunden, während sie auf den Boden starrte und ihr zartes Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte. „Ich wollte nur fragen, ob du vielleicht Lust hast, mitzukommen?“

Ich öffnete den Mund, es kamen aber keine Worte heraus. Sie wollte mich zum Eisessen einladen? Ich musste in einem Paralleluniversum gelandet sein. Bevor ich antworten konnte, betrat ein blonder und breit grinsender Wächter den Raum.

Zayne, der Schwarm meiner Schwester, der Traum ihrer schlaflosen Nächte.

Es war offensichtlich, warum Danika so auf Zayne stand. Er war groß und gebaut wie alle Wächter, aber er war ein besonders eindrucksvolles Exemplar. Sein hellgraues Shirt spannte über den Muskeln und schmiegte sich an seine schlanke Taille. Mit einem Kopf voller blonder Locken und hohen Wangenknochen konnte man sein bildhübsches Gesicht auch für das eines Engels halten. Zayne war überirdisch schön, aber ich … na ja, ich hatte immer nur Augen für einen anderen.

„Ich habe dich überall gesucht, Layla.“ Zayne ging direkt zu der Halbdämonin und ließ keine Angst erkennen. Er legte einen Arm um ihre Schulter und zog sie eng an seine Seite. „Ich bin bereit, wenn du es …“ Er verstummte mitten im Satz, musterte das Mädchen und sah dann zu mir rüber. Ein Blick reichte, und er verstand. „Layla, warte doch im Flur auf mich.“

Sie hob den Kopf und sah mich an. Ein scheues Lächeln erschien auf ihren Lippen, dann huschte sie schnell wie ein Schatten aus dem Raum.

Zayne wandte sich mir zu. Mit gespreizten Beinen und kerzengeradem Rücken stand er genauso da wie Dez, wenn er wütend war. „Layla ist nicht das, was du glaubst oder vielleicht gehört hast.“

Ich musste nicht mal fragen, wie er darauf kam, dass unsere Begegnung nicht gerade erfreulich verlaufen war. Die Tatsache, dass ich mich hinter einer Couch versteckte und wie ein kompletter Trottel aussah, als wollte ich lieber jetzt als gleich aus dem Zimmer fliegen, war möglicherweise ein kleiner Hinweis.

Er musterte mich, seine Blicke waren kühl und alles andere als freundlich. „Sie wird dir nicht wehtun. Es würde ihr nie in den Sinn kommen, jemandem zu schaden.“

Ich wurde bis zu den Haarwurzeln rot und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber er schnitt mir das Wort ab.

„Layla ist nicht gefährlich.“ Er hielt meinem Blick stand, sodass es mir unmöglich war, wegzusehen. „Sie ist mehr Wächterin als Dämonin.“

Heiße Schauer liefen über meine Haut. „Es tut mir leid, ich hatte nur einfach nicht damit gerechnet, sie zu sehen. Ich habe sie nicht mal für real gehalten. Sie … sie ist bestimmt keine Gefahr?“

Zayne starrte mich einen langen Moment an und seufzte dann. Als er endlich wegsah, fuhr er sich mit der Hand durch die Haare. „Wenn du nicht gerade mit ihr knutschen willst, ist sie keine Gefahr für dich.“

„Knutschen?“

„So nahe müsstest du ihr kommen, um deine Seele zu verlieren“, erklärte er. „Es reicht nicht, dass sie die gleiche Luft atmet wie du. Sie muss dir nahe sein – so nahe.“

Nun ja, da ich das nicht vorhatte, nickte ich. Trotzdem brannten die Schuldgefühle wie Feuer in meiner Brust, ich fühlte mich wie ein Miststück. Wenn sie auf diese Weise Seelen stahl … würde das arme Mädchen niemals küssen können. „Es tut mir echt leid. Sie scheint … nett zu sein. Sie hat mich zu einem Eis eingeladen.“

Zayne sah nicht überrascht aus. „Die anderen Clanmitglieder wollen sie nicht im Haupthaus bei den Frauen und Kindern haben. Darum ist sie hier in unserem Hauptquartier, und es kommt nicht oft weiblicher Besuch. Seit wir gehört haben, dass du mit Dez herkommst, hat sie sich wie wahnsinnig auf dich gefreut.“

Okay, jetzt fühlte ich mich richtig beschissen.

„Ich habe Dez Bescheid gesagt, dass wir noch wegwollen. Er meinte, dass er nachkommt. Du kannst uns gern begleiten, aber wenn du irgendetwas sagst oder tust, das Layla auch nur im Entferntesten verletzen könnte …“

„Werde ich nicht“, sagte ich schnell. „Ich komme sehr gern mit.“

Er nickte kurz und drehte sich um. Ich fühlte mich wie ein vollkommener Volltrottel. Seufzend folgte ich Zayne in den Flur. Er ging direkt zu Layla, die in einer Ecke dicht an die Wand gedrückt stand und wartete. Sie war so unglaublich klein, dass man sie schnell übersehen hätte, wenn man nicht genau hinschaute. Mein Blick folgte ihrem und entdeckte Dez an der Tür.

Erleichterung war seinem Gesicht abzulesen, als er mich ansah. „Ich habe mich mit Abbot getroffen. Ich wäre früher zurückgekommen, wenn ich gewusst hätte, dass du auf bist und …“

„Schon okay.“

„Geht’s dir gut genug, um das Haus zu verlassen?“

„Ja.“

Ich sah wieder zu Layla, deren Gesicht ihre Neugier verriet. Ich konnte auch eine gewisse Ängstlichkeit erkennen, als würde sie von Dez erwarten, dass er ähnlich wie ich auf sie reagierte. Es war sicher nicht einfach für sie, unter Wächtern zu leben, und ich vermutete, dass die meisten sich so wie ich verhielten. Sie tat mir urplötzlich leid, weil sie sicherlich kein einfaches Leben hatte.

Dez lächelte Layla an, und obwohl sein Lächeln seine Augen nicht erreichte, erwiderte sie es – voller Hoffnung. Er war misstrauisch, konnte es aber um einiges besser verbergen als ich.

„Sind alle bereit?“, fragte Zayne und nahm Laylas winzige Hand.

„Ja.“ Dez sah mich auf seine ihm eigene intensive Art an, und für einen Moment vergaß ich meine peinliche Reaktion. „Bist du dir sicher?“ Als ich nickte, sagte er: „Wir sind bereit.“

Meine Wangen glühten, als ich zu Zayne und Layla sah. Das Mädchen ging auf den Wächter zu und lächelte ihn auf eine Weise an, die mir schmerzhaft bekannt vorkam.

Sie lächelte genauso, wie ich früher immer gelächelt hatte, sobald ich Dez gesehen hatte – ein Lächeln voller Bewunderung und Liebe. Es hatte etwas unglaublich Trauriges, da die offensichtliche Liebe, die Layla für Zayne empfand, unweigerlich mit einem gebrochenen Herzen enden würde.

13. Kapitel

Wir alle starrten Zayne in verschiedenen Abstufungen morbider Faszination an und beobachteten, wie er mit kindlicher Vorfreude eine rote Lakritzstange aus einem Päckchen zog, das er ins Eiscafé mitgebracht hatte, und sie in sein Schokoladeneis tunkte.

„Das ist so was von eklig.“ Layla beobachtete ihn, während ihr Löffel über ihrem Eisbecher schwebte. „Das ist mit Worten kaum zu beschreiben.“

„Was denn?“ Zayne lachte und hielt ihr die mit Schokoladeneis überzogene rote Stange vor das Gesicht. „Probier’s doch einfach mal.“

„Bäh.“ Sie zuckte zurück und rümpfte die Nase. „Nimm das weg.“

Neben mir lehnte Dez sich zurück und lächelte. Da er sein Eis schon aufgegessen hatte, rechnete ich damit, dass er sich genüsslich über den Bauch strich. „Echt eklig.“

Zayne futterte ungerührt weiter. „Ihr habt ja alle keine Ahnung. Das ist das Leckerste überhaupt.“

„Ist es nicht“, sagte Layla, während sie mit dem Löffel die Kirschen in ihrem Becher hin und her schob. „Kannst du nicht wie jeder normale Typ Chips oder Pommes nehmen?“

„Das nennst du normal?“, konterte Zayne.

Layla zog ihren Löffel zurück, als er sich zu ihr beugte, eine Kirsche klaute und sich in den Mund steckte.

Für mich bestand kein Zweifel daran, dass die beiden sich sehr nahestanden, vielleicht so unzertrennlich waren wie Dez und ich früher. Und genau wie mein jüngeres Ich machte Layla keine Anstalten, zu verbergen, wie sehr sie ihn anbetete.

Je mehr Zeit ich mit ihr verbrachte, desto mehr Schuldgefühle hatte ich, weil ich mich vor Kurzem noch so mies ihr gegenüber verhalten hatte. Sie war ein wirklich süßes Mädchen, und sobald sie sich in Dez’ und meiner Gesellschaft etwas wohler fühlte, öffnete sie sich auch, wurde sogar recht mutig.

„Abbot lässt mich nächstes Jahr auf eine öffentliche Schule gehen“, erzählte sie uns. Man konnte ihr die Freude darüber ansehen, ihre merkwürdigen Augen glänzten und sie strahlte. „Ich bin so …“

„Ich bin nach wie vor dagegen“, unterbrach Zayne sie und sah sie skeptisch an. „Du wirst tagsüber zur Schule gehen, wenn die meisten von uns ruhen. Wenn etwas passiert, wird es für uns schwierig, zu reagieren.“

„Es wird nichts passieren.“ Layla verdrehte die Augen. „Und außerdem kannst du nicht ewig den Lehrer für mich spielen, du hast Besseres zu tun.“

Dez runzelte die Stirn. „Zayne hat dich unterrichtet?“

Sie nickte, während sie mit ihrem Löffel herumspielte. „Ja, er hat mir gezeigt, wie ich zu Hause am Computer lerne, und er korrigiert meine Aufgaben. Sei mir nicht böse, Zayne, aber ich hätte lieber richtigen Unterricht.“

Zayne schwieg und starrte die alten Porträts der früheren Inhaber an, die die Wände des Eiscafés zierten. Es war offensichtlich, zumindest für mich, dass er dieses Gespräch lieber nicht führen wollte. Ich wusste nicht, was mich mehr schockierte: dass Layla auf eine öffentliche Schule gehen würde oder dass Zayne ihr Hauslehrer gewesen war.

Zayne hatte zwar gesagt, dass die anderen Clanmitglieder sie nicht im Haus bei ihren Familien haben wollten, aber eigentlich war es Aufgabe einer Gargoylefrau, sich um ihre schulische Erziehung zu kümmern, jemand, der tolerierte, was sie in Wirklichkeit war. „Du wirst nicht von einer der älteren Frauen unterrichtet?“

Zayne rieb sich die Wange und antwortete an ihrer Stelle: „Das Haupthaus ist außerhalb der Stadt in Charlestown, und dort sind auch alle Frauen und Kinder. Wie ich sagte, kommen die meisten Frauen nie hierher.“

Was normal war. Bei uns war es genauso. Unser Clan hatte Häuser in New York, aber das Hauptanwesen, in dem die verheirateten Wächter und die Kinder lebten, befand sich mehrere Autostunden nördlich.

„Ich hoffe, du nimmst mir die Frage nicht übel, aber warum ist Layla nicht bei ihnen?“, fragte Dez. Ich zuckte zusammen.

Layla lachte. „Ich glaube, sie würden sich lieber kopfüber aus dem Fenster stürzen, als mit mir unter dem gleichen Dach zu leben.“ Sie zuckte die Achseln, während sie die letzten Löffel Eis aß. „Von denen ist keiner bereit, mich zu unterrichten, und Zayne kann es nicht mehr machen. Deshalb hat Abbot nachgegeben und lässt mich auf eine öffentliche Schule gehen. Ich find’s cool.“

Ich lächelte sie an. „Ich bin ein bisschen neidisch, ich wäre sooooo gerne auf eine öffentliche Schule gegangen.“

„Es ist aber nicht ungefährlich.“ Zayne rutschte auf seinem Sitz hin und her. „Ihr wisst ja, dass die Dämonen gerne Jagd auf uns …“

„Nicht auf mich“, unterbrach Layla. Als sie uns der Reihe nach ansah, war das Lächeln aus ihrem Gesicht verschwunden. „Abbot glaubt nicht, dass es gefährlich für mich sein könnte, und ehrlich gesagt bin ich dem Clan auch keine große Hilfe. Ich bin irgendwie gehandicapt.“

Mir klappte die Kinnlade runter, aber Zaynes Reaktion war weitaus heftiger. Er wandte sich zu ihr, und seine Augen blitzten dunkeltürkis. Er legte die Hand unter ihr Kinn und zog es sanft in seine Richtung, sodass sie ihn ansehen musste. Dann beugte er sich runter, und sein Kopf war nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt. Da ich wusste, wozu Layla fähig war, hielt ich den Atem an – ebenso wie Dez, der mehr über ihre Fähigkeiten wissen musste als ich bei unserem ersten Aufeinandertreffen. Zayne war ihr zu nahe.

Es schien ihm allerdings nicht das Geringste auszumachen.

„Du bist nicht gehandicapt. Es gibt absolut nichts, was an dir nicht stimmt.“ Seine Stimme war leise, dennoch war das, was er zu sagen hatte, nicht zu überhören. „Hast du mich verstanden?“

Zwei rote Flecken erblühten auf ihren Wangen, während sie seinem Blick standhielt. „Ja, aber …“

„Kein Aber. Punkt.“ Er ließ die Hand sinken, lehnte sich aber nicht wieder zurück. „Ich schwöre bei Gott, dass ich dich am liebsten erwürgen würde, wenn du so etwas sagst.“

Ihre Röte breitete sich über ihr ganzes Gesicht aus, während ihr Blick wieder zu uns wanderte. „Ich habe keine Minderwertigkeitskomplexe oder so“, sagte sie leise, „wirklich nicht, aber ich kann mich nicht …“ Sie holte tief Luft. „Ich kann mich nicht verwandeln.“

Ich versuchte mit all meiner Willenskraft, mir nichts anmerken zu lassen, und hoffte, Dez würde das Gleiche tun. Wenn Layla sich nicht wandeln konnte, musste man davon ausgehen, dass alle ihre Nachkommen den gleichen … Defekt haben könnten. Kein Gargoylemann würde sie haben wollen. Davon abgesehen konnte sie sowieso keiner haben, selbst wenn einer wollen würde.

Ich presste meine Hände zusammen, bis meine Nägel sich in mein Fleisch gruben. Manchmal hasste ich unsere Welt, und ich fand es schwierig, zu rechtfertigen, warum die Dinge so waren, wie sie waren. Wir alle hatten allein aufgrund unserer Existenz unsere Pflichten zum Wohle aller zu erfüllen, aber …

Aber das hier war echt Mist.

„Tja …“ Zayne zog das Wort in die Länge und räusperte sich dann. „Wie geht’s Danika?“

Der Themenwechsel erwischte mich völlig unerwartet. „Gut. Ich soll dich von ihr grüßen.“

Dez schnaubte kurz. Zweifellos dachte er gerade daran, was Danika wirklich gesagt hatte: dass sie gern ein Nacktfoto von Zayne hätte.

Ich versetzte ihm unter dem Tisch einen Fußtritt und sah zu Layla, die gerade ihren leeren Eisbecher musterte, als fände sie in ihm den Sinn des Lebens. Dieses Gespräch war für Zayne sicher weitaus angenehmer als für sie. Die lebhafte Röte war komplett aus ihrem Gesicht gewichen.

So sehr ich meine Schwester auch glücklich sehen wollte – und natürlich wäre sie mit Zayne glücklich –, tat mir das Mädchen, das mir gegenübersaß, unendlich leid. Sie konnte weder mit einem Wächter noch mit einem Menschen zusammen sein, ohne sie in Gefahr zu bringen. Somit blieben nur Dämonen, aber die Möglichkeit war völlig indiskutabel.

Vor Layla lag eine von Einsamkeit geprägte Zukunft.

„Will sie immer noch kämpfen lernen?“, erkundigte sich Zayne völlig gedankenlos.

Jetzt wollte ich ihm einen Fußtritt unter dem Tisch verpassen, denn mit jeder seiner Fragen wurde Layla immer stiller. Als Dez irgendwann vorschlug, dass er und ich uns die Stadt ansehen sollten, war das Mädchen fast komplett in ihrem Eisbecher versunken. Wir verabschiedeten uns und gingen an der Schlange vorbei, die von der Theke bis fast zur Tür reichte.

Als wir in den späten Nachmittag hinaustraten, empfing uns eine warme Brise, die mir die Haare aus dem Gesicht wehte. Der Wind trug uns einen seltsamen Geruch zu – einen moschusartigen, süßlichen Duft, der mich an dunkle Schokolade und herrlich sündige Dinge erinnerte, die man nachts zwischen weichen Laken machen konnte.

Hoppla.

Dieser Gedanke war mir ohne Vorwarnung gekommen.

Mir schoss das Blut in die Wangen, als Dez am Bordstein stehenblieb und stirnrunzelnd auf mich runtersah. „Alles okay?“

Ich ging den zahlreichen Passanten aus dem Weg und stellte mich neben einen immer noch blühenden Kirschbaum. „Ja.“

„Sicher?“ Er streichelte meine Wange. „Du siehst aus, als wär dir heiß. Wir können zurückgehen, wenn du dich ausruhen möchtest.“

„Ich muss mich nicht ausruhen.“ Ich kam ihm etwas näher und legte den Kopf in den Nacken. „Es geht mir gut.“

Er sah mich einen Moment lang durchdringend an, dann schob er das Kinn vor und kam meinem Gesicht ebenfalls näher. „Ich weiß, dass unsere sieben Tage um sind, aber ich würde dir trotzdem gern helfen, deine Bedingungen zu erfüllen. Wir können alles machen, was du willst, aber das Dämonenjagen solltest du lieber vergessen.“

Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber er ließ mich gar nicht dazwischenkommen.

„Sorry. Ich weiß, dass du mich darum gebeten hattest, aber ob du es glaubst oder nicht, dir geht es nicht gut. Und da ich mit angesehen habe, was ein kleiner Biss anrichten kann, werde ich nicht einfach zusehen, wie du dich in Gefahr begibst, nur damit du dir oder anderen etwas beweisen kannst.“

„Ich weiß. Und ich muss niemandem etwas beweisen.“ Sobald ich das gesagt hatte, wusste ich, dass es die Wahrheit war. Was würde es mir noch bringen, wenn ich Dämonen jagte? Ich hatte schon gegen Terrier gekämpft und eine Begegnung mit einem Pukwudgie gehabt, die um ein Haar tödlich geendet hätte. Das sollte an Erfahrungen mit Dämonen reichen. Und ehrlich gesagt waren mir meine dämlichen Bedingungen in diesem Augenblick vollkommen egal. Genauso wie eine Sightseeingtour durch die Stadt. „Ich finde, wir sollten …“

Der süße, durchdringende Geruch stieg mir wieder in die Nase. „Wonach riecht’s hier?“ Ich drehte mich um und ließ meinen Blick über die Passanten und die großen Schaufenster des Eiscafés wandern. Ich konnte Layla und Zayne drinnen sitzen sehen, noch immer Seite an Seite. Sie schien wieder guter Laune zu sein, da sie gerade über etwas lachte, das Zayne gesagt hatte. „Riechst du das nicht?“

„Nein.“ Dez legte eine Hand auf meine Schulter. „Ich rieche nur Abgase und Menschen.“

Ich runzelte die Stirn. Dieser seltsam angenehme Duft überlagerte alle anderen Gerüche. Wieso nahm er ihn nicht wahr? Ich schüttelte den Kopf und wollte mich gerade wieder Dez zuwenden, als mein Blick an etwas hängenblieb.

Ich weiß nicht, was an dem Jungen meine Aufmerksamkeit erregt hatte, aber sobald ich ihn gesehen hatte, konnte ich nicht mehr wegschauen.

Er lehnte an der Backsteinmauer des Eiscafés, sodass ich ihn nur im Profil sehen konnte. Er war groß – größer als Dez oder Zayne, aber nicht so breitschultrig. Es war dennoch unverkennbar, dass sein Körper aus nichts als Muskeln bestand. Sein schwarzes T-Shirt enthüllte die sehnige Stärke seiner Arme, dennoch war es sein Tattoo, dem meine Aufmerksamkeit galt.

Es war das Bild einer Schlange, allerdings … war jede Unebenheit in der Haut des Tieres so schattiert worden, dass es mit dem grauen Bauch und den deutlichen Schuppen dreidimensional wirkte. Es sah wirklich aus, als wäre eine große Mokassinschlange an dem Jungen hochgekrochen und hätte sich dann um seinen Arm gewickelt.

Das kunstvoll zerzauste Haar des Jungen war so dunkel, dass es im schwindenden Tageslicht fast blau schimmerte. Eine Augenbraue hatte er hochgezogen, als amüsierte ihn irgendetwas. Obwohl ich ihn nur von der Seite sehen konnte, wusste ich, dass die hohen Wangenknochen und der Schwung seiner Lippen zu einem hübschen Gesicht gehören mussten – zu hübsch. Es erinnerte mich an die Bilder gefallener Engel in den Büchern, die in der Bibliothek meines Vaters standen.

Aus irgendeinem Grund wusste ich, dass der Geruch von ihm ausgehen musste.

Und ich war mir aus dem gleichen Grund sicher, dass er Zayne und Layla beobachtete – hauptsächlich Layla.

Mir lief es kalt den Rücken runter, als der Junge sich uns zuwandte und sich ein hämisches Grinsen auf seine Lippen stahl. Mein Magen verkrampfte sich, als ich meinen Blick hob und in zwei Augen sah, die die Farbe von poliertem Bernstein hatten.

Ich atmete erschrocken ein und rempelte Dez an, da ich unweigerlich einen Schritt nach hinten machte. Diese Augen! Es war mehr als offensichtlich, was dieser Junge war. Nur eine Kreatur hatte solche goldenen Augen. Meine Knie wurden weich und mein Herz raste.

Er war ein Hohedämon.

14. Kapitel

In dem Augenblick, in dem ich mir dessen bewusst wurde, stellte Dez sich auch schon zwischen mich und den Dämon. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Wie lange hatte er schon dagestanden und uns beobachtet? Das war eines der vielen Probleme mit Hohedämonen: Sie konnten ihre Präsenz vertuschen, damit wir sie nicht bemerkten und sie im Vorteil waren. Dass ich seinen süßlichen Geruch wahrgenommen hatte, war extrem ungewöhnlich, und höchstwahrscheinlich hatte er zugelassen, dass ich ihn roch. Wieso er das getan hatte, wollte ich eigentlich gar nicht wissen.

„Verschwinde von hier, Jasmine.“ Dez’ Stimme war leise und bestimmt. „Jetzt sofort.“

Eher würde die Hölle zufrieren, als dass ich ohne ihn weggehen würde. Ich ballte meine Hände hinter seinem Rücken. „Ich werde dich nicht hier allein lassen.“

Dez fluchte. „Bitte geh! Gott, bitte geh!“

„Gott, bitte?“ Der Dämon trat auf uns zu und legte dabei den Kopf schräg. Ich hatte recht, was sein umwerfendes Aussehen anging: Er war überirdisch hübsch, so perfekt, dass es einem Angst machte. „Erwartet ihr eine Antwort? Ich gehe nämlich jede Wette ein, dass er gerade nicht zuhört.“

Ich spürte, wie Dez’ Muskeln sich unter meinen Händen anspannten. Dez atmete tief ein, aber bevor er etwas sagen konnte, kicherte der Dämon bösartig und stolzierte vorwärts, ohne den Passanten zwischen ihm und uns Beachtung zu schenken. Und das musste er auch nicht; Menschen schienen zu spüren, dass es ihr Ende bedeuten konnte, wenn sie ihn berührten. Er teilte die Menge auf dem Gehsteig wie eine diabolische Moses-Version und kam direkt vor uns zum Stehen. Er sah nicht älter aus als ich, dennoch sprach aus seiner Haltung und dem seltsamen Glitzern seiner Augen eine gewisse Weltgewandtheit.

„Ich glaube, deine kleine Freundin geht nirgendwohin“, murmelte er, während seine Bernsteinaugen funkelten und er sich zur Seite lehnte. „Hi.“

Dez verlagerte sein Gewicht und versperrte ihm so die Sicht auf mich. „Wenn du sie noch einmal anguckst, reiße ich dir den Kopf ab.“

„Ts, ts, so redet man doch nicht mit einem Fremden.“ Er lächelte. „Wie unhöflich.“

Wir fingen an, die Blicke der Passanten auf uns zu ziehen. Diese Begegnung würde keinesfalls gut enden, ich konnte beinahe schon riechen, dass Blut in der Luft lag.

„Ich mein’s ernst. Keine Spielchen.“ Dez ballte die Fäuste.

„Gut, denn du bist das Letzte, womit ich spielen will.“

Dez trat einen Schritt vor und stand jetzt Fußspitze an Fußspitze vor dem Dämon. Ich konnte spüren, wie er zitterte; er würde sich in ein paar Sekunden wandeln.

„Oh, das würde ich nicht machen, aus dem Himmel Verstoßener.“ Das selbstsichere Grinsen schien ihm ins Gesicht gemeißelt zu sein. „Wenn du mir jetzt den Wächter machst, dann mache ich dir den bösen Dämon, und dann … ups.“ Seine Augen wurden größer. „Alle Menschen auf der Welt werden wissen, dass sie nicht allein sind. Und ich rede nicht von E. T. Es sei denn, diese pummelige Kreatur war wirklich ein Dämon.“

Eine Sekunde lang dachte ich, Dez würde komplett den Kopf verlieren und auf ihn losgehen. Der Dämon grinste inzwischen von einem Ohr zum anderen. Er breitete die Arme aus und lockte Dez mit dem Zeigefinger zu sich. Das Tattoo an der Unterseite seines Bizeps bewegte sich plötzlich – die Schuppen glitten über seine Haut, während der Schwanz unter dem Ärmel seines dunklen T-Shirts verschwand. Um den Hals des Dämons trat schwarze Tinte hervor, und Augenblicke später erschien dort der Kopf der Schlange. Eines ihrer rubinroten Augen starrte uns an.

Was um Himmels willen war hier los?

Dez ließ ein kehliges Knurren hören. „Du hast keine Ahnung, wie gern ich dich jetzt in Fetzen reißen würde.“

„Was hält dich auf?“, schoss der Dämon zurück.

Es war offensichtlich, dass er versuchte, Dez bis zur Weißglut zu reizen. Wollte er, dass Dez sich wandelte? Ich wusste zwar nicht, was dann passieren würde, aber ich war mir ziemlich sicher, dass es das Ende unserer beider Stämme bedeutete.

Trotzdem hatte dieser Augenblick für mich eine noch wichtigere persönliche Tragweite. Ein Hohedämon hatte meine Mutter getötet, und so stark und klug Dez auch sein mochte, es lag durchaus im Bereich des Möglichen, dass er hier unterliegen konnte. Ich konnte mich nicht einfach weiter hinter ihm verstecken und nichts tun. Ich war kein kleines Mädchen mehr.

Ich nahm all meinen Mut zusammen und umfasste Dez’ Arm. „Was willst du?“

„Sie kann sprechen?“ Der Dämon lachte. „Und ich dachte, alle Wächterinnen könnten ohne Hilfe eines Wächters nicht mal denken.“

„Wie bitte?“ Mein Unglaube schlug in Wut um.

Dez streckte den Arm aus, damit ich nicht an ihm vorbeikonnte. „Ich gebe dir fünf Sekunden, von hier zu verschwinden.“

Der Dämon stand einfach da, während Herzschlag um Herzschlag verstrich. „Fünf Sekunden sind um. Und jetzt?“

„Klugscheißer“, blaffte Dez ihn an.

„Ja, unter anderem.“ Der Dämon schien jeden Zentimeter von mir hinter Dez erhaschen zu wollen. Er seufzte und sein Blick wurde weicher. „Mit euch beiden habe ich kein Problem, also … was soll’s.“

‚Was soll’s‘? Hatte ich das richtig verstanden?

Der Hohedämon zwinkerte mit einem Bernsteinauge und drehte sich dann um. Er warf noch einen letzten zögernden Blick ins Eiscafé und spazierte dann leise summend davon. Die Melodie hatte sich in meinem Hirn festgesetzt.

„Paradise City?“, fragte ich, während ich neben Dez trat. „Er summt einen Song von Guns N’ Roses?“

Dez antwortete nicht, und ich weiß inzwischen nicht mal mehr, warum ich mich so auf dieses Lied versteifte. Vielleicht war es der Schock, einem Hohedämon so nahe zu sein und ihn dann sagen zu hören, dass er „kein Problem“ mit uns hat. Er war weggegangen. Er war weggegangen, aber der Dämon, der meine Mutter getötet hatte, war nicht weggegangen.

Ich hatte keine Ahnung, was da gerade passiert war.

Ich schluckte und sah Dez an. Er zitterte, weil er vermutlich alles an Selbstbeherrschung aufbringen musste, um zu bleiben, wo er war. Das kleine Grüppchen aus Passanten, das sich nach und nach um uns versammelt hatte, zerstreute sich wieder, als es offensichtlich nichts mehr zu sehen gab – alle, bis auf ein paar Menschen, die sehr genau hingesehen hatten und nun anfingen, uns misstrauisch zu beäugen.

„Dez?“ Ich umfasste seinen Unterarm und spürte, wie angespannt seine Muskeln waren. „Willst du ihm nach?“

„Ich sollte … ich müsste.“

Alle Wächter, ganz egal wie gereizt oder selbstsicher sie waren, wussten es besser, als es allein mit einem Hohedämon aufnehmen zu wollen. Auch nicht mit einem, der ihnen den Rücken zugewandt hatte.

Dez fluchte blumig, als er mich schließlich ansah. „Ich muss Zayne warnen.“

„Okay.“ Ich lockerte meinen Griff um seinen Unterarm, fasste dann aber wieder fester zu. „Warte.“

„Was denn?“

Ich atmete tief ein. „Ich bin mir nicht ganz sicher, aber es sah aus, als würde er die beiden beobachten – ganz besonders Layla.“

Dez blickte durchs Schaufenster zu Zayne und Layla. „Wenn das stimmt, ist das gar nicht gut. Für uns alle nicht.“

Dez hatte Zayne zur Seite genommen, während ich bei Layla wartete, und ihm erzählt, was draußen passiert war. Sobald Dez ihm meine Vermutung mitgeteilt hatte, was der Hohedämon vorhaben mochte, wollte Zayne umgehend Layla nach Hause bringen.

Keiner von uns gestand Layla, warum wir zum Anwesen zurückkehrten, und sie schien auch nicht misstrauisch zu werden, als Dez und Zayne verschwanden, um mit Abbot zu sprechen. Ich folgte Layla auf ihr Zimmer.

Der Raum war eine einzige Katastrophe. Auf dem ganzen Boden verstreut lagen Bücher, und einzelne Socken lugten aus ihrer Kommode und unter ihrem Schreibtisch hervor – davon abgesehen schien sie alles zu haben, was ein Mädchen sich wünschen konnte: Laptop, PC, Stereoanlage, einen riesigen Fernseher und einen mit Klamotten vollgestopften Wandschrank. In der Ecke neben den Balkontüren stand ein großes, selbst gebautes Puppenhaus, und auf dem Bett lag zwischen einer Flut an Kissen ein Teddybär, der definitiv schon bessere Tage gesehen hatte.

Layla ließ sich aufs Bett fallen, federte einmal hoch und schlug dann die Beine übereinander. Ich lehnte derweil am Türrahmen und fragte mich, warum der Dämon so interessiert an ihr und Zayne gewesen war.

„Ist schon okay“, sagte sie und stützte ihr Kinn auf die Hände. „Du musst nicht mit mir abhängen.“

Ich blinzelte. „Es tut mir echt leid, wie ich mich verhalten habe, als wir uns zum ersten Mal gesehen haben.“

Sie zuckte die Achseln. „Kein Problem.“

Ich biss mir auf die Unterlippe und setzte mich neben sie auf ihr Bett. „Passiert dir das oft?“

Layla lachte sanft. „Permanent. Und ich kann es auch niemandem vorwerfen, der so reagiert, schließlich bin ich eine Halbdämonin.“

„Aber du bist so …?“ Ich suchte nach dem richtigen Wort.

„Cool?“, antwortete sie und kicherte dann. Ich lächelte, als sie eine dicke Haarsträhne über die Schulter nach vorne zog und dann anfing, damit zu spielen. Danika machte das auch immer. „Darf ich dich was fragen?“, wollte sie wissen.

Ich zog die Knie hoch zur Brust. „Klar.“

„Werden Dez und du das Paarungsritual vollziehen?“ Sie machte eine Pause. „Sorry. Das geht mich eigentlich gar nichts an. Ich habe nur ein paar Wächter belauscht und war neugierig. Abbot redet ständig von einem Paarungsritual, aber ich finde das Wort doof. Es ist so … Ich weiß auch nicht. Kann er nicht einfach ‚heiraten‘ sagen? Er will, dass Zayne und Danika sich paaren. Er sagt immer …“ Sie brach mitten im Satz ab und errötete. „Ist es so? Stimmt das?“

„Ich …“ Diese Frage hatte ich ganz sicher nicht erwartet. Mir schoss das Blut in die Wangen, während ich mich auf ein überfülltes Bücherregal konzentrierte. „Es ist kompliziert.“

„Kompliziert?“, wiederholte sie nachdenklich. „Willst du denn nicht mit ihm das Paarungsritual vollziehen? Denn wenn nicht, kannst du doch Nein sagen, oder? So funktioniert das.“

„Ja, aber ich … Ach, ich weiß auch nicht.“

Sie ließ die Haarsträhne los, und die eingedrehte Locke entkringelte sich langsam wieder. „Liebst du ihn?“

Ich spürte ein plötzliches Stechen in meiner Brust. Die Antwort war glasklar, lag mir auf der Zunge. Stattdessen sagte ich etwas völlig anderes. „Ich war in ihn verliebt, seit ich klein war, aber er … er hat mich verlassen und ist gerade erst wieder zurückgekommen.“ Ich konnte kaum glauben, dass ich das alles einer Dreizehnjährigen erzählte, aber ich plapperte trotzdem immer weiter. „Und drei Jahre lang hatte ich mich damit abgefunden, dass ich ihn nie wiedersehen würde. Über das Paarungsritual dachte ich überhaupt nicht nach. Ich war nicht darauf vorbereitet, als er auf einmal wieder vor mir stand. Und ich weiß auch nicht, ob ich für all das bereit bin, was damit einhergeht.“

„Das muss ein Schock gewesen sein, als er so mir nichts, dir nichts wieder da war.“ Layla rutschte näher an mich ran und senkte die Stimme. „Aber ihm liegt etwas an dir. Er liebt dich.“

Ich sah sie überrascht an, konnte aber nichts darauf entgegnen.

„Es ist die Art, wie er dich ansieht. Er hat dich die ganze Zeit über, als wir unterwegs waren, und auch auf dem Rückweg beobachtet. Selbst als er mit Zayne wegging. Das ist so … romantisch.“

Ich zuckte zusammen. „Aber er hat die drei kleinen Worte nie gesagt.“

„Du denn?“

„Nein.“

Layla lachte. „Warum sollte er dann den ersten Schritt machen? Ich meine, lassen wir den ganzen Paarungskram mal beiseite: Willst du ihn? Liebst du ihn noch?“, fragte sie eindringlich. „Liebst du ihn?“

„Ja“, flüsterte ich kaum hörbar, da ich Angst hatte, dass uns jemand zuhören könnte. Aber verdammt, jetzt war es raus, und sobald etwas ausgesprochen war, wurde es real und man konnte es nicht mehr zurückgenehmen. Richtig?

„Dann hast du deine Antwort, und das ist doch das Wichtigste. Ich meine, wenn er dich liebt und du ihn liebst, wird er warten. Alles andere wird sich von selbst ergeben.“

Ich sah sie an und atmete langsam aus. Ich konnte immer noch nicht glauben, dass ich mit ihr über all das redete. Aber obwohl sie noch so jung war, sagte sie verdammt kluge Dinge. „Glaubst du das wirklich?“

„Ja.“ Laylas Lippen öffneten sich, und ich war ein weiteres Mal von ihrem Lächeln fasziniert. „Nichts auf der Welt ist stärker als die Liebe. Sie allein zählt, egal was passiert.“

15. Kapitel

In meiner Brust verkrampfte sich alles, und ich spürte einen Riesenkloß im Hals. Zu allem Überfluss hatte ich das Gefühl, als würde sich mein Magen zuschnüren.

Seit ich Layla verlassen hatte, ging ich ruhelos in meinem Zimmer auf und ab. Meine Gedanken rasten, sodass es mir unmöglich war, einfach stillzusitzen. Immerzu musste ich an Layla denken und daran, dass sie Liebe niemals kennenlernen würde – also nicht richtig, nicht so wie ich sie eines Tages erleben würde, ganz gleich wie ich mich entschied. Sie konnte einem anderen niemals wirklich nahe sein. Sie konnte niemals jemanden küssen. Liebe war ihr untersagt, und das war so unfair. Außerdem musste ich ständig daran denken, was sie zu mir gesagt hatte.

Dass allein die Liebe zählte, egal was.

Und natürlich war ich in Dez verliebt. Ich liebte ihn.

Ich weiß nicht genau, warum ich mir auf einmal so sicher war. Es gab vieles, wofür ich nicht bereit war, aber für eines war ich es.

Schritte auf dem Flur rissen mich aus meinen Gedanken. Mit klopfendem Herzen erstarrte ich – sprang dann zur Tür, riss sie auf und sah Dez, als ich den Kopf rausstreckte.

Er blieb überrascht stehen. „Hey.“

„Ich … habe auf dich gewartet.“ Gott, ich hörte mich wie eine Idiotin an. Ich ging langsam rückwärts, als er in mein Zimmer kam. „Was hat Abbot wegen des Dämons gemeint?“

„Er ist beunruhigt. Es ist nicht normal, dass ein Hohedämon nichts anderes macht, als rumzupöbeln und dann einfach abzuziehen. Sie werden heute Nacht Jagd auf ihn machen.“ Er schloss die Tür, lehnte sich dagegen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Der Drecksack hat etwas vor, und sie wollen herausfinden, was genau.“

„Wirst du sie begleiten?“

„Sollte ich, aber ich hatte vorhin das Gefühl, dass du reden wolltest, bevor wir gestört wurden. Und im Moment ist mir das wichtiger.“

Ich ließ seine Worte sacken, dann verstand ich, dass er mich seiner Pflicht vorzog. Wie in den letzten sieben Tagen schon. Er hatte sich um mich gekümmert, hatte den Babysitter für mich gespielt, war mir gefolgt, während ich lauter sinnloses Zeug machte, und er hatte sich in der ganzen Zeit nicht einmal beklagt. Er schien es sogar genossen zu haben, weil er … bei mir war.

Als ich ihn ansah, klopfte mein Herz so stark, dass ich kaum sprechen konnte. „Ich wollte dir sagen, dass diese … sieben Tage wirklich etwas ganz Besonderes waren.“

„Einschließlich Herbert?“

Ich lachte. „Ja, sogar Herbert.“

Zweifel machten sich in seinem markanten Gesicht breit. „Auch wenn wir es nicht bis Washington geschafft haben und du keinen Dämon jagen konntest?“

„Ich habe dir die Wahrheit erzählt. Nichts davon spielt eine Rolle.“ Ich machte eine Pause und holte tief Luft. „Vielleicht waren mir diese Sachen mal wichtig. Ich weiß auch nicht, was ich erreichen wollte. Vielleicht das Unvermeidbare hinauszögern? Denn ich …“

„Warte.“ Er hielt eine Hand hoch, sodass sich sein T-Shirt um seine Schultern spannte. „Bevor du das aussprichst; was ich vermute, möchte ich dir etwas sagen.“

„Aber woher willst du wissen, was ich sagen will?“

Er lachte trocken. „Ich weiß es, Jas.“

In seiner Stimme lag so viel Resignation, dass ich die Schultern straffte. „Was willst du mir sagen?“

„Was ich dir sofort hätte sagen sollen, als ich zurückgekommen bin.“ Er lehnte den Kopf an die Tür hinter sich. Mehrere Sekunden verstrichen, ohne dass er weitersprach. „Ich hätte mich verabschieden sollen damals, aber das habe ich nicht. Das war ein Riesenfehler … den ich nicht wiedergutmachen kann. Und ich weiß auch, dass ich einen weiteren Fehler gemacht habe, als ich bei meiner Rückkehr nicht ehrlich zu dir gewesen bin. Ich wollte einfach nicht, dass du die Wahrheit erfährst.“

Seine Worte jagten mir Angst ein. „Die Wahrheit darüber, warum du damals weggegangen bist?“

Er nickte.

Mir lief ein Schauer über den Rücken. „Na ja, wenn du nicht wolltest, dass ich es weiß, kann ich es mir vielleicht schon denken. Ich meine, du warst achtzehn und wahrscheinlich bist du weggegangen, um dein Ding durchzuziehen.“

Dez drückte sich von der Tür ab. „Mein Ding?“

Seine Worte hatten einen warnenden Unterton. Manchmal sollte ich echt lieber die Klappe halten. Dies war einer von diesen Augenblicken. Aber natürlich plapperte ich trotzdem weiter. „Ja, du weißt schon: rummachen, dir die Hörner abstoßen, flachgelegt werden. So was eben.“

„Meinst du das ernst?“

Ich zuckte die Achseln.

„Ich habe an keine andere gedacht und wollte erst recht nicht flachgelegt werden“, sagte er. „Was ich gemacht habe, als ich ging, hatte mit solchen Sachen nichts zu tun, Jasmine.“

Ich dachte an unsere Nacht im Hotel und errötete sofort wieder. Er musste Erfahrung haben, jede Menge Erfahrung.

„Ich war in dieser Zeit mit niemandem zusammen“, fügte er hinzu.

Ich schnaubte. „Ja, klar. Ich bin nicht blöd, Dez.“

Wut stand ihm ins Gesicht geschrieben, als er auf mich zustürmte. „Du kannst vieles über mich sagen, doch ich habe dich nie belogen. Und ich lüge auch jetzt nicht. Ich bin dir immer treu geblieben! In der ganzen Zeit! Es hat nie eine andere gegeben.“

Ich öffnete den Mund, um ihm zu widersprechen, aber schließlich erreichten mich seine Wort durch all die Wut und Enttäuschung, die sich in mir aufgestaut hatten. „Was?“

Dez starrte mich an, seine Augen schimmerten jetzt in einem strahlenden Blau. Ihm stieg die Röte in die Wangen, dann schaute er weg und strich sich nervös mit einer Hand durchs Haar. „Ich bin mit niemandem zusammen gewesen, Jasmine. Nicht so.“

„Warum nicht?“ Die Frage war aus mir herausgeplatzt, bevor ich mich zurückhalten konnte, und der Blick, den er mir daraufhin zuwarf, ließ erkennen, dass er sich fragte, was mit mir nicht stimmte. Das Problem war, dass ich einfach nicht begreifen konnte, dass er mit keiner anderen zusammen gewesen war – weder mit einer von uns noch mit einer Menschenfrau. Das lag sicher nicht daran, dass es keine Gelegenheit gegeben hatte. Jedes weibliche Wesen hätte sich ein Bein ausgerissen, um mit ihm zusammen zu sein.

Er atmete laut hörbar aus, während er seine Hand runternahm. „Ich konnte es nicht.“

„Du konntest nicht?“ Ich ging auf ihn zu.

„Es wäre nicht richtig gewesen.“

Ich blieb stehen und drückte beide Handflächen auf meine Brust. „Weil es deine Pflicht war, dich mit mir zu paaren?“

„Hör auf, mir Dinge in den Mund zu legen.“ Er machte einen großen Schritt nach vorn und blieb direkt vor mir stehen. Ich hielt wie gebannt die Luft an, als er seinen Kopf senkte und sein Mund nur Zentimeter von meinem entfernt war. „Was zwischen uns ist, hat nichts mit der Verpflichtung zu tun, sich zu paaren und zu vermehren. Es hat nur mit uns zu tun.“

Meine Augen wurden größer. „Ja?“

Er legte eine Hand auf meine Wange. „Ich war mit keiner anderen zusammen, weil ich es nicht wollte, weil ich immer wusste, dass ich zu dir zurückkommen würde. Daran habe ich nie gezweifelt.“

„Nie?“, flüsterte ich.

„Nie.“ Er lehnte die Stirn gegen meine und atmete stockend ein. Seine Lippen streiften meine Wange, sodass mir ein Schauer über die Haut lief. „Ich liebe dich, seit dieser Nacht, in der du mir den Pudding gebracht hast und bei mir geblieben bist, bis ich eingeschlafen war. Das ist elf Jahre her, und meine Liebe zu dir ist seitdem nicht schwächer geworden, Jas. Nicht eine Sekunde lang.“

Oh Gott, mein Herz machte solche Freudensprünge, dass ich das Gefühl hatte, ich müsste vor Glück platzen, dennoch verstand ich es nicht. „Aber warum bist du dann gegangen, ohne mir ein Wort zu sagen? Du hast dich nicht mal verabschiedet.“

Er schloss die Augen und fasste mich bei der Schulter. „Ich musste den Dämon finden, der meinen Clan angegriffen und meine Eltern getötet hatte.“

Wie betäubt riss ich mich los und stieß mit den Oberschenkeln gegen das Bett. „Du hast den Dämon gejagt?“

Er ließ die Hände fallen. „Ich habe ein paar Spuren aufgestöbert und bin dem Bastard durch das ganze Land gefolgt. Er hatte Kalifornien eine Zeit lang verlassen, trotzdem spürte ich ihn dort auf.“

Ich atmete tief ein. „Und du hast dich ihm gestellt?“

„Ich habe ihn getötet.“

Mein Hirn hörte auf zu funktionieren. Er hatte drei Jahre damit verbracht, den Dämon zu verfolgen, der seinen Clan abgeschlachtet hatte? Jetzt ergaben die Worte meines Vaters endlich einen Sinn. Dad hatte gewusst, was Dez vorgehabt hatte.

„Warum hast du es mir nicht einfach erzählt?“, fragte ich.

Ein kleines Lächeln stahl sich auf seine Lippen. „Du hättest versucht, mich aufzuhalten.“

„Da hast du verdammt recht!“ Aus irgendeinem lächerlichen Grund wollte ich weinen. „Du hättest getötet werden können!“

„Ich kann jede Nacht sterben, Jas.“

„Aber das ist was anderes! Du warst ganz allein.“ Tränen brannten mir in den Augen, was einfach dämlich war, da er ganz offensichtlich nicht tot war. Er stand äußerst lebendig vor mir. „Warum musstest du es tun?“

„Du weißt doch, wie ich war. So voller Hass und Wut. Das musste ich loswerden.“ Er berührte mein Gesicht. „Hätte ich dir gesagt, warum ich fortgehen wollte, hättest du mich gebeten zu bleiben, und dann wäre ich nicht mehr in der Lage gewesen, zu gehen.“

Ich wollte ihn von mir stoßen und gleichzeitig ganz fest an mich drücken. Bis in alle Ewigkeit. „Mein Dad wusste es?“

„Ja.“ Er presste die Lippen gegen meine Schläfen. „Darum habe ich auch nie angerufen, um dir zu sagen, dass ich zurückkomme. Ich weiß, dass es keine gute Ausrede ist, eigentlich ist es eine ziemlich beschissene, aber mir war klar, dass du versuchen würdest, mich aufzuhalten … und dass du anders über mich denken würdest, sobald du erfahren würdest, was ich vorhatte.“

Ich blinzelte. Tränen liefen mir über die Wangen. „Es ist eine miese Ausrede, und du hättest anrufen können. Dass du es nicht gemacht hast, hat mich anders über dich denken lassen. Nicht weil du den Mord an deinem Clan rächen wolltest. Du bist ein solcher Idiot.“ Ich lachte, weil ich keine Ahnung hatte, was ich sonst tun sollte. „Drei Jahre lang war ich davon überzeugt, du wärst vor mir weggelaufen.“

„Gott, wie konntest du das je denken?“, sagte er. „Du warst so stark. Du hast deine Mom verloren. Du hast sie sterben sehen, aber das hat dich nur noch stärker gemacht. Du hast nicht zugelassen, dass der Hass dich auffraß. Aber ich ließ es zu. Ich bin nicht stolz darauf …“

Meine Hände zitterten, als ich sie um seine Handgelenke legte. „Was?“

„Aber als dein Vater seine Pläne für uns verkündete, wusste ich, dass ich diesen Hass loswerden muss, denn dich zu lieben, war ebenso süß wie bitter“, flüsterte er. „Ich wusste, wenn ich mein Vorhaben nicht umsetze, wenn ich den Hass nicht ablege, wäre ich nie der Partner, den du verdient hast.“

„Oh Dez.“ Mir stockte der Atem. „Ich …“

„Ich weiß, dass es vielleicht schon zu spät ist.“ Er küsste mich sanft, eigentlich streifte er nur meine Lippen. „Und wie ich schon mal sagte: Ich werde warten. Ganz egal, wie lange es dauert, dir zu beweisen, dass ich dich liebe.“

Mir schoss so vieles durch den Kopf, dass es einen Moment dauerte, bis ich alles verarbeitet hatte. „Zu spät? Dez, es ist nicht zu spät. Gott, wir haben beide so viel Mist gebaut.“

Er öffnete den Mund, schloss ihn und öffnete ihn dann wieder. „Was sagst du da?“

Es gab so vieles, was ich ihm sagen wollte, aber Kommunikation, beziehungsweise mangelnde Kommunikation, war von Anfang an unser Problem gewesen. Wir hatten uns entweder nicht gestanden, was tatsächlich vor sich ging, oder wir hatten immer nur das Falsche gesagt.

Worte konnten manchmal echt hinderlich sein.

Also tat ich das Einzige, von dem ich mir sicher war, dass wir beide es verstanden. Ich stellte mich direkt vor ihn und legte meine Hände auf seine Brust. Er beobachtete mich fragend, während ich mich auf die Zehenspitzen stellte und meine Hände weiter nach oben wandern ließ, bis ich sie schließlich hinter seinem Nacken verschränkte. Er zitterte, und ich presste meine Lippen auf seine.

Ich legte alles, was ich hatte sagen wollen und hätte sagen sollen, in diesen Kuss. Ich drückte ihn an mich, atmete im Gleichklang mit ihm. Dez erwiderte fordernd meinen Kuss.

„Ich liebe dich“, stieß ich stöhnend hervor.

Seine Hände umfassten meine Taille. „Sag’s noch mal.“

„Ich liebe dich.“

„Noch einmal.“

„Ich liebe dich, Dez.“

Und das war alles, was ich sagte. Dez küsste mich, und dieser Kuss … dieser Kuss schien mich innerlich zu verbrennen. Seine Hände wanderten meinen Rücken hinauf, und unsere Lippen öffneten sich gerade so weit, dass er meinen Namen sagen konnte. Ich wusste, dass dieser Klang mich bis zum Ende meines Lebens begleiten würde.

Irgendwann lagen wir ineinander verschlungen und mit pochenden Herzen auf dem Bett. Ich sagte nicht Ja. Und er fragte nicht. Es musste nicht ausgesprochen werden. Denn ich war schon immer sein gewesen, und er schon immer mein. Eines Tages würden wir uns dieses lebenslange Versprechen tatsächlich geben. Wenn wir beide bereit dazu waren. Niemanden von uns scherte, wann das sein würde, denn in diesem Augenblick, während er mich küsste und mich enger an sich zog, hatte ich das gleiche Gefühl wie damals, als ich über die Berge nach Hause flog, während dieser kostbaren Sekunden im freien Fall, als nichts anderes existierte außer diesem berauschenden Gefühl, weder denken noch atmen zu können. In Dez’ Armen hatte ich gefunden, wonach ich in jeder Nacht gesucht hatte, die ich am Himmel verbrachte.

Ich war frei.

Ich war zu Hause.

– ENDE –

1. Kapitel

Ein Dämon trieb sich bei McDonald’s herum.

Ein Dämon mit einer besonderen Vorliebe für Big Macs.

Die meiste Zeit über liebte ich den Job, dem ich nach Schulschluss nachging. Die Seelenlosen und die Verdammten zu markieren, bescherte mir jedes Mal ein verrücktes, wohliges Kribbeln. Aus Langeweile hatte ich mir sogar eine Quote vorgegeben, am heutigen Abend allerdings sah das alles ganz anders aus.

Für den Englisch-Unterricht musste ich noch ein Referat erarbeiten.

„Isst du die Pommes eigentlich noch?“, fragte Sam, während er schon eine Handvoll Fritten von meinem Tablett klaute. Sein lockiges braunes Haar fiel ihm bis über den Rand seiner Nickelbrille. „Danke.“

„Lass bloß ihren Eistee in Ruhe.“ Warnend schlug Stacey ihm auf die Hand, und ein paar Pommes landeten auf dem Fußboden. „Sonst bist du den ganzen Arm los.“

Ich hörte auf, mit dem Fuß auf den Boden zu tippen, ließ den Eindringling aber nicht aus den Augen. Keine Ahnung, wieso Dämonen einen solchen Narren an McDoof gefressen hatten, doch sie konnten sich einfach nicht von dem Laden losreißen. „Ha-ha.“

„Wen starrst du so an, Layla?“ Stacey drehte sich auf ihrer Bank herum, damit sie sich im Lokal umsehen konnte. „Irgendein scharfer Typ? Falls ja, solltest du … oh, wow. Wer traut sich denn so angezogen vor die Haustür?“

„Was ist denn?“ Sam wandte sich ebenfalls um. „Ach, komm schon, Stacey. Wen stört das? Kann ja nicht jeder wie du in Prada-Imitaten rumrennen.“

Der Dämon hatte das Aussehen einer harmlosen Frau mittleren Alters, die in Sachen Mode unter schwerer Geschmacksverirrung litt. Sie trug eine grüne Jogginghose aus Samtimitat, dazu pinkfarbene Sneakers. Ihr mattbraunes Haar war mit altmodischen violetten Schmetterlingsclips aufgesteckt, die Krönung allerdings bildete ihr Sweater. Jemand hatte auf die Vorderseite einen gestrickten Basset genäht, dessen große Triefaugen aus braunem Garn gestickt waren.

Aufmachung hin oder her, diese Frau war kein Mensch.

Nicht dass ausgerechnet ich ihr das hätte vorwerfen können.

Sie war ein Blender-Dämon, ein Wesen, das leicht an seinem maßlosen Appetit zu erkennen war. Blender-Dämonen pflegten während einer einzigen Mahlzeit solche Massen zu verschlingen, dass davon eine kleine Nation satt werden könnte.

Blender konnten zwar Aussehen und Verhalten eines Menschen übernehmen, dennoch wäre dieser Dämon da problemlos dazu fähig gewesen, dem Gast am Nebentisch den Kopf vom Leib zu reißen. Jedoch ging die Bedrohung nicht so sehr von der übermenschlichen Kraft aus, sondern von den Zähnen und dem infektiösen Speichel.

Blender waren Beißer.

Ein leichter Biss genügte, um die Dämonenversion der Tollwut auf einen Menschen zu übertragen. Ein Gegenmittel existierte nicht, und nach spätestens drei Tagen sah der menschliche Kauknochen aus, als wäre er einem Film von George A. Romero entsprungen, einschließlich der kannibalistischen Neigungen.

Blender waren ein echtes Problem, außer natürlich für Leute, für die es nichts Unterhaltsameres als eine Zombie-Apokalypse gab. Das einzig Gute an Blendern war, dass nur wenige existierten und sich ihre Lebensspanne mit jedem Biss verkürzte. Üblicherweise konnten sie ungefähr siebenmal zubeißen, bevor sie „Ploff“ machten. Ein bisschen so wie eine Biene mit ihrem Stachel, nur waren Blender viel dümmer.

Sie konnten jedes beliebige Erscheinungsbild annehmen, deshalb war es mir ein Rätsel, wieso dieser Dämon da drüben ausgerechnet so aussehen wollte.

Stacey verzog das Gesicht, als die Blenderin sich dem dritten Burger widmete. Dass wir sie beobachteten, bemerkte sie nicht, aber diese Dämonen taten sich auch nicht durch eine besonders ausgeprägte Beobachtungsgabe hervor, vor allem dann nicht, wenn sie auf einer Köstlichkeit mit Spezialsauce herumkauten.

„Ist ja ekelhaft.“ Stacey wandte sich schüttelnd ab.

„Der Sweater ist doch total heiß“, erklärte Sam mit vollem Mund und grinste, während er weiterkaute. „Sag mal, Layla, meinst du, Zayne lässt sich von mir für die Schülerzeitung interviewen?“

Ich hob die Augenbrauen. „Warum willst du ihn denn interviewen?“

Er warf mir einen Blick zu. „Weil ich ihn fragen will, wie es ist, als Wächter in D. C. auf Schurkenjagd zu gehen, damit sie ihre gerechte Strafe kriegen.“

„Du sagst das, als wären Wächter irgendwelche Superhelden.“ Stacey kicherte.

Sam zuckte mit seinen knochigen Schultern. „Na ja, irgendwie sind sie das ja auch. Ich meine, du hast sie doch selbst erlebt, Stacey.“

„Sie sind keine Superhelden“, widersprach ich und setzte zu meiner Standardrede an, die ich immer wieder halten musste, seit die Wächter vor zehn Jahren an die Öffentlichkeit gegangen waren. Der plötzliche astronomische Anstieg der Kriminalitätsrate damals hatte nichts mit der weltweiten wirtschaftlichen Abwärtsbewegung zu tun gehabt. Es war vielmehr ein Gruß aus der Hölle. Die Ankündigung, dass man sich dort nicht länger an die Spielregeln halten wollte. Deshalb hatten die Alphas den Wächtern befohlen, sich zu erkennen zu geben. Den Menschen war es vorgekommen, als hätten die Wächter ihre steinerne Hülle abgelegt und wären zum Leben erwacht. Das war sogar nachvollziehbar, schließlich waren die steinernen Wasserspeier an vielen Kirchen und anderen alten Gebäuden einigermaßen dem wahren Aussehen der Wächter nachempfunden.

Es tummelten sich jedenfalls irre viele Dämonen auf der Erde, und die Wächter hatten immer größere Mühe, ihre Arbeit zu erledigen, ohne dass jemand auf ihre Existenz aufmerksam wurde. „Das sind ganz normale Leute so wie du auch, nur dass …“

„Ist mir doch bekannt.“ Sam hielt beide Hände hoch, um mich zu unterbrechen. „Ich bin wirklich keiner von diesen Fanatikern, die sie für böse halten oder irgendeinen anderen Blödsinn glauben. Ich finde nur, so ein Interview wär’ cool. Und für die Zeitung ein echt toller Artikel. Also, was meinst du? Würde Zayne so was machen?“

Ich fühlte mich unbehaglich bei der Sache. Weil ich mit den Wächtern zusammenlebte, wurde ich von anderen entweder als Anlaufstelle angesehen, um mit ihnen Kontakt aufzunehmen, oder man hielt mich für einen Freak. Und alles nur, weil jeder – auch meine beiden besten Freunde – davon überzeugt war, dass ich genauso war wie sie selbst. Menschlich. „Ich weiß nicht, Sam. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie scharf drauf sind, dass man über sie schreibt.“

Er sah enttäuscht aus. „Würdest du ihn wenigstens fragen?“

„Klar.“ Ich spielte mit meinem Strohhalm. „Aber mach dir keine großen Hoffnungen.“

Zufrieden ließ Sam sich gegen die harte Rückenlehne der Sitzbank sinken. „Wusstet ihr schon?“

„Was denn?“, meinte Stacey seufzend und warf mir einen traurigen Blick zu. „Mit welchem gefährlichen Halbwissen willst du uns denn jetzt wieder begeistern?“

„Wusstet ihr, dass man mit einer tiefgefrorenen Banane einen Nagel in die Wand schlagen kann? Sie muss nur hart genug werden.“

Ich stellte meinen Becher ab. „Wieso weißt du solche Sachen?“

Sam aß meine letzten Fritten auf. „Ist halt so.“

„Er verbringt ja auch sein ganzes Leben vor dem Computer.“ Stacey strich sich die dichten schwarzen Stirnfransen aus dem Gesicht. Ich konnte nicht verstehen, warum sie sich die Haare nicht einfach abschnitt, wenn sie ihr doch ständig im Weg zu sein schienen. „Bestimmt sucht er nach diesem Mist, weil er nichts Besseres zu tun hat.“

„Genau das mache ich, wenn ich zu Hause bin.“ Sam knüllte seine Serviette zusammen. „Ich suche nach Fakten, die kaum jemand kennt. Daran seht ihr, wie cool ich bin.“ Dann warf er Stacey die Serviette ins Gesicht.

„Übersetzt heißt das“, fuhr sie unbeeindruckt fort, „du bist die ganze Nacht auf der Suche nach Pornoseiten.“

Sams Wangen glühten, und er rückte seine Brille zurecht. „Wenn du meinst. So, seid ihr bald fertig? Wir müssen für Englisch noch das Referat vorbereiten.“

Stacey stöhnte auf. „Ich begreife nicht, warum Mr. Leto dagegen ist, dass wir über Twilight schreiben. Wir sollen doch schließlich über einen Klassiker schreiben, und Twilight ist ganz eindeutig ein Klassiker.“

Ich musste lachen und vergaß für einen Moment meinen Auftrag, den ich zu erledigen hatte. „Twilight ist kein Klassiker, Stacey.“

„Für mich ist Edward aber nun mal ein Klassiker“, beharrte sie und zog ein Haarband aus der Tasche. „Außerdem ist Twilight viel interessanter als Im Westen nichts Neues.“

Sam schüttelte den Kopf. „Ich fasse es nicht, dass du gerade Twilight und Im Westen nichts Neues in einem Atemzug genannt hast.“

Sie überging die Bemerkung und schaute auf mein Tablett. „Layla, du hast ja noch nicht mal von deinem Burger abgebissen.“

Vielleicht hatte ich ja instinktiv geahnt, dass ich einen Vorwand brauchen würde, um etwas länger zu bleiben. Stöhnend holte ich Luft. „Geht ihr schon mal vor. Ich komme in ein paar Minuten nach.“

„Echt?“, fragte Sam und stand auf.

„Ja, echt.“ Ich nahm den Burger in die Hand. „Ein paar Minuten, dann bin ich wieder bei euch.“

Misstrauisch musterte Stacey mich. „Du wirst uns doch nicht wieder versetzen so wie sonst immer, oder?“

Mein schlechtes Gewissen sorgte dafür, dass ich einen roten Kopf kriegte. Ich hatte längst aufgehört zu zählen, wie oft genau das schon passiert war. „Nein, ich schwör’s. Ich esse nur noch auf, dann komme ich nach.“

„Los“, sagte Sam zu Stacey und legte einen Arm um ihre Schultern, um sie in Richtung der Abfalltonne zu lotsen. „Layla wäre längst fertig mit ihrem Essen, wenn du nicht die ganze Zeit auf sie eingeredet hättest.“

„Ja, ja, gib ruhig mir die Schuld.“ Stacey schmiss den Abfall weg und winkte mir zu, als sie das Lokal verließen.

Ich legte den Burger wieder hin und sah ungeduldig hinüber zu Lady Blenderin. Brötchenkrümel und Fleischbrocken fielen ihr aus dem Mund und verteilten sich auf dem Tablett, während sie ihren Burger in sich hineinstopfte. Innerhalb von Sekunden hatte sich mein Appetit verabschiedet, auch wenn das eigentlich ganz egal war. Essen linderte den Schmerz nur, der an meinem Inneren nagte, aber es brachte ihn nie zum Verstummen.

Lady Blenderin war mit ihrem Fettfraß endlich fertig, und ich folgte ihr, während sie zur Tür stürmte. Auf dem Weg nach draußen rannte sie einen älteren Mann um und schleuderte ihn zu Boden, gerade als der das Lokal betreten wollte. Wow, das war ja ein richtiges Goldstück.

Ihr gehässiges Gackern hallte im Restaurant wider, obwohl es dort ziemlich laut zuging. Zum Glück war schon jemand zu dem älteren Mann gegangen und half ihm hoch, wobei er mit der Faust dem weitereilenden Dämon drohte.

Seufzend schmiss ich meinen Burger weg und folgte ihr hinaus in den Spätseptemberwind.

Überall waren Seelen in unterschiedlichen Farbgebungen zu sehen, die wie elektrische Felder den jeweiligen Körper umgaben. Ein Pärchen, das Hand in Hand unterwegs war, zog Spuren in Blassrosa und Grünblau hinter sich her. Beide hatten sie unschuldige, allerdings keine reinen Seelen.

Jeder Mensch, ob gut oder schlecht, besaß eine Seele, eine Art Essenz ihres Wesens, während Dämonen damit nicht aufwarten konnten. Da die meisten Dämonen auf der Erdoberfläche wenigstens auf den ersten Blick wie Menschen aussahen, machte es mir das Fehlen einer Seele leicht, sie ausfindig zu machen und zu markieren. Von der Seelenlosigkeit abgesehen unterschieden sie sich von Menschen nur durch die seltsame Art, wie ihre Augen das Licht reflektierten, ungefähr so wie bei einer Katze.

Lady Blenderin schlurfte die Straße entlang und humpelte ein wenig. Bei Tageslicht sah sie gar nicht so gesund aus. Vermutlich hatte sie bereits ein paar Leute gebissen, was bedeutete, dass sie umgehend markiert und aus dem Verkehr gezogen werden musste.

Im Vorbeigehen bemerkte ich einen Flyer an einem grünen Laternenpfahl. Ich wurde wütend, und mein Beschützerinstinkt regte sich, als ich den Zettel las: „Erwachet! Wächter sind keine Kinder Gottes. Bereut eure Sünden, denn das Ende ist nah!“

Unter diesen Zeilen fand sich eine krakelige Zeichnung, die wohl zeigen sollte, was dabei herauskam, wenn sich ein tollwütiger Kojote mit einem Chupacabra paarte.

„Mit freundlicher Unterstützung der Kirche der Kinder Gottes“, murmelte ich und verdrehte die Augen.

Richtig nett. Ich wusste, warum ich Fanatiker hasste.

An einem Diner einen Block weiter waren alle Fenster mit diesen Flyern beklebt, und auf seinem Schild wurde darauf hingewiesen, dass Wächter dort nicht bedient wurden.

Die Wut breitete sich wie ein außer Kontrolle geratener Waldbrand in mir aus. Diese Idioten begriffen überhaupt nicht, dass sich die Wächter für sie opferten. Ich atmete tief durch, um mich zu beruhigen. Jetzt zählte nur, dass ich mich auf die Blenderin konzentrierte, anstatt mit einer geistigen Faust zornig auf einen geistigen Tisch zu hauen.

Lady Blenderin bog um eine Häuserecke, dabei warf sie einen Blick über die Schulter und sah mich kurz mit ihren glasigen Augen an, wandte sich jedoch gleich wieder ab. Der Dämon in ihr hatte nichts Unnormales an mir feststellen können.

Der Dämon in mir wollte das Ganze so schnell wie möglich hinter sich bringen.

Vor allem jetzt, nachdem mein Handy sich meldete und auf meinem Oberschenkel vibrierte. Bestimmt war das Stacey, die wissen wollte, wann zum Teufel ich denn endlich auftauchen würde. Ohne nachzudenken, hob ich den Arm und berührte meine Halskette. Der alte Ring an der silbernen Kette fühlte sich in meiner Hand heiß und schwer an.

Als ich eine Gruppe Jugendlicher passierte, die alle ungefähr in meinem Alter waren, musterten sie mich von oben bis unten. Natürlich starrten sie mich an. Jeder tat das.

Ich trug meine Haare lang, was nicht weiter ungewöhnlich wäre. Allerdings waren meine Haare so hellblond, dass sie fast weiß wirkten. Ich hasste es, wenn Leute mich anstarrten. Dann kam ich mir vor wie ein Albino. Vor allem erregten allerdings meine Augen immer Aufmerksamkeit, weil sie so hellgrau waren, dass sie beinahe farblos waren.

Zayne meinte, ich würde wie die bisher verschollene Schwester des Elben in Herr der Ringe aussehen. Na, wenn so eine Bemerkung nicht dazu führte, dass man vor Selbstbewusstsein strotzte …

Die Dämmerung legte sich allmählich über die Hauptstadt der Nation, als ich in die Rhode Island Avenue einbog und abrupt stehen blieb. Alles um mich herum verschwand schlagartig. Im schwachen Schein der Straßenlampen erkannte ich eine Seele.

Sie sah aus, als hätte jemand einen Pinsel in rote Farbe getaucht, um ihn dann über einer schwarzen Leinwand auszuschütteln. Dieser Kerl hatte eine richtig üble Seele. Er stand nicht unter dem Einfluss irgendeines Dämons, sondern war einfach nur unglaublich bösartig. Der dumpfe Schmerz in meiner Magengegend erwachte zum Leben. Passanten drängten sich an mir vorbei und blickten mich verärgert an. Ein paar von ihnen murmelten irgendwelche Beschimpfungen, aber das kümmerte mich nicht. Genauso wenig interessierte ich mich für ihre roséfarbenen Seelen, obwohl mir dieser Farbton normalerweise gut gefiel.

Schließlich konzentrierte ich mich auf die Gestalt hinter der Seele, ein älterer Mann in einem unscheinbaren Anzug mit Krawatte, eine Aktentasche in der kräftigen Hand. Dem Aussehen nach niemand, vor dem man davonlaufen oder Angst haben sollte, aber ich wusste es besser.

Dieser Mann hatte gesündigt, und das in sehr großem Stil.

Ich ging wie in Trance auf ihn zu, während mein Gehirn mich anbrüllte, ich solle kehrtmachen und nach Zayne rufen. Allein seine Stimme zu hören, würde genügen, um mich davon abzuhalten, das zu tun, wonach jede Zelle meines Körpers schrie – das zu tun, was mir fast im Blut lag.

Der Mann drehte sich langsam zu mir um, sein Blick traf mein Gesicht und wanderte dann über meinen Körper. Seine Seele wirbelte wahnsinnig schnell und verfärbte sich mehr rot als schwarz. Er war alt genug, um mein Vater zu sein. Das machte es so widerlich, so absolut widerlich.

Sein grauenerregendes Lächeln hätte mich sofort dazu veranlassen müssen, die Flucht zu ergreifen und in die entgegengesetzte Richtung zu verschwinden. Ganz gleich, wie bösartig dieser Mann auch war und wie viele Mädchen mir einen Orden verleihen würden, wenn ich ihn unschädlich machte. Abbot hatte mich dazu erzogen, den Dämon in mir zu verleugnen. Ich war von ihm als Wächterin ausgebildet worden und hatte mich dementsprechend zu verhalten.

Doch Abbot war gerade nicht da.

Ich schaute dem Mann in die Augen und spürte, wie ein Lächeln meinen Mund umspielte. Mein Herz raste, mein ganzer Körper kribbelte und glühte. Ich wollte diese Seele. So sehr, dass sich meine Haut am liebsten vom Fleisch darunter abgelöst hätte. Es war wie die Vorfreude auf einen Kuss, wenn die Lippen sich schon beinahe berührten, jene Sekunden, in denen man gebannt den Atem anhielt. Ich war zwar noch nie geküsst worden, stellte es mir allerdings so vor.

Ich kannte nur das hier.

Die Seele dieses Mannes rief mich zu sich wie die Sirenen einst Odysseus. Es widerte mich an, dass mich das Böse in seinem Geist so sehr in Versuchung führte, aber eine finstere Seele war genauso gut wie eine reine.

Er lächelte mich an, seine Finger schlossen sich fester um den Griff seiner Aktentasche. Dieses Lächeln ließ mich an all die schrecklichen Dinge denken, die er verbrochen haben musste, um sich die wirbelnde Leere zu verdienen, die ihn umgab.

Jemand rammte mir den Ellbogen ins Kreuz, doch der minimale, flüchtige Schmerz war nichts im Vergleich zu der wundervollen Vorfreude. Nur noch ein paar Schritte, dann war seine Seele ganz dicht vor mir, zum Greifen nah. Der erste Kontakt würde ein Feuer in mir entfachen, wie man es sich schöner nicht vorstellen konnte. Wie ein Rausch, kurz zwar, aber dennoch reinste Ekstase. Eine unwiderstehliche Verlockung.

Seine Lippen mussten meine nicht mal berühren. Es genügte, wenn ich bis auf einen Fingerbreit an ihn herankam, dann konnte ich von seiner Seele kosten, sie ihm allerdings nicht nehmen. Wenn ich sie ihm nahm, würde ich ihn töten, und das war böse. Ich jedoch, ich war nicht …

Das war böse.

Ich zuckte zurück und unterbrach den Blickkontakt. Schmerz explodierte in meiner Mitte und schoss mir in Arme und Beine. Mich von dem Mann abzuwenden, war so, als würde ich meinen Lungen die Luft zum Atmen vorenthalten. Meine Haut brannte, meine Kehle war wie ausgedörrt, während ich mich zwang, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Weitergehen, Layla, nicht an den Mann denken und die Blenderin wiederfinden! Es war ein Kampf, der mir alles abverlangte. Aber schließlich entdeckte ich sie wieder und atmete erleichtert aus. Zumindest war es eine Ablenkung von der Versuchung, wenn ich mich voll und ganz auf den Dämon konzentrierte.

Ich folgte der Frau in eine schmale Gasse zwischen einem Ein-Dollar-Shop und einem Kredithai. Ich musste die Frau nur einmal anfassen, was ich eigentlich schon bei McDonald’s hätte tun können. Nach ein paar Schritten blieb ich stehen, schaute mich um und fluchte.

Die Gasse war leer.

Schwarze Müllbeutel säumten die mit Schimmel überzogenen Ziegelsteinmauern. Müllcontainer quollen von Abfall über, hier und da war ein Rascheln zu hören, und es bewegte sich etwas in den Schatten. Misstrauisch beäugte ich die Beutel. Wahrscheinlich nur Ratten, aber in den Schatten hielten sich auch andere Dinge verborgen. Dinge, die schlimmer waren als die Ratten.

Und viel, viel unheimlicher.

Ich ging weiter und suchte den düsteren Durchgang ab, dabei spielte ich gedankenverloren mit der Halskette. Wäre ich doch nur vorausschauend genug gewesen, eine Taschenlampe in meine Schultasche zu packen, doch das wäre ja eine viel zu sinnvolle Aktion gewesen. Stattdessen hatte ich mein neues Lipgloss und einen Beutel Kekse mitgenommen, was mir jetzt ganz sicher super helfen würde.

Plötzlich lief mir eine Gänsehaut über den Rücken. Ich ließ den Ring los. Etwas stimmte hier nicht. Ich zog mein ramponiertes Handy aus der Hosentasche und drehte mich gleichzeitig langsam um.

Die Blenderin stand nicht weit von mir entfernt. Ihr Lächeln verwandelte die Falten auf ihrem Gesicht in tiefe Furchen. Blattsalat klebte an ihren gelben Zähnen. Ich holte einmal Luft, was ich sofort bereute, weil sie einen bestialischen Gestank nach Schwefel und verfaultem Fleisch verbreitete.

Dann legte die Blenderin den Kopf schräg und kniff ein wenig die Augen zusammen. Kein Dämon konnte mich als das erkennen, was ich war, weil in meinen Adern nicht genug dämonisches Blut floss. Aber so, wie sie mich anstarrte, schien sie dennoch zu bemerken, was ich verbarg.

Sie blickte auf meine Brust, hob den Kopf und schaute genau in meine Augen. Erschrocken schnappte ich nach Luft. Das helle Blau ihrer Augen begann sich wie ein Wirbel um die Pupillen zu drehen, die zu winzigen Punkten zusammenschrumpften.

Oh verdammt! Diese Lady war überhaupt keine Blenderin.

Ihre Gestalt schlug Wellen, dann verschob sie sich in sich selbst, was so aussah wie bei einem Fernseher, der ein digitales Bild zusammenzusetzen versuchte. Die faltige Haut wurde glatt und nahm eine wächserne Farbe an, der Körper streckte und dehnte sich aus, die Jogginghose und der fürchterliche Sweater wichen einer Lederhose und einer breiten, muskulösen Brust. Die ovalen Augen tosten wie die wilde See, Pupillen waren keine mehr zu erkennen. Die Nase war so platt, dass sie eigentlich nur aus zwei Löchern über dem breiten, erschreckenden Mund bestand.

Himmel! Das war ein Sucher-Dämon. So einen kannte ich bislang nur aus einem der alten Bücher in Abbots Arbeitszimmer. Ein Sucher war so etwas wie der Indiana Jones der Dämonenwelt, da er in der Lage war, so gut wie jedes Objekt aufzuspüren und zurückzubringen, auf das sein Meister ihn ansetzte. Aber im Gegensatz zu Indy waren Sucher bösartig und aggressiv.

Der Sucher lächelte mich so breit an, dass ich die spitzen, rasiermesserscharfen Zahnreihen in seinem Mund erkennen konnte. „Hab dich.“

Hab dich? Mich? Ernsthaft?

Plötzlich machte er einen Satz auf mich zu, ich sprang zur Seite und berührte ihn am Arm. Vor Angst wurden meine Handflächen feucht. Neonfarbenes Licht umgab seinen Körper, sodass ich ihn nur als einen rosa Schatten wahrnehmen konnte. Er reagierte nicht auf meine Markierung. Aber das tat keiner von ihnen. Nur die Wächter konnten die Markierung erkennen, mit denen ich die Dämonen versah.

Der Sucher griff in meine Haare und riss meinen Kopf zur Seite, gleichzeitig packte er mein Shirt. Das Handy glitt mir aus den Fingern und knallte auf den Boden. Ein Stechen jagte meinen Hals hinunter und sprang auf die Schultern über.

Panik überfiel mich, als hätte jemand einen Staudamm gesprengt, doch mein Instinkt ließ mich nicht im Stich. Das Training, das ich an so vielen Abenden mit Zayne absolviert hatte, zahlte sich nun aus. Dämonen zu markieren, konnte sich hin und wieder als schwierige Angelegenheit entpuppen, und auch wenn ich nicht gerade ein Ninja war, würde ich mich nicht kampflos geschlagen geben.

Ich holte aus, riss mein Bein hoch, und mein Knie landete genau dort, wo es wehtat. Gott sei Dank hatten Dämonen keine völlig andere Anatomie, weshalb der Sucher sich zusammenkrümmte und zurückwich. Dabei zerrte er mir ein Haarbüschel aus, was nicht gerade angenehm war.

Im Gegensatz zu den Wächtern konnte ich meine menschliche Hülle nicht abstreifen, damit ich meinem Gegenüber ordentlich in den Hintern treten konnte, doch wer mir die Haare ausriss, konnte sich auf was gefasst machen.

Höllische Schmerzen jagten durch meine Knöchel, sowie ich dem Sucher einen Haken gegen den Kiefer verpasste, der seinen Kopf zur Seite schleuderte. Das war kein Mädchenfausthieb! Oh Mann, Zayne wäre ja so stolz auf mich!

Langsam drehte sich der Dämon zu mir um. „Das war klasse. Tu das noch mal.“

Mir fielen fast die Augen aus dem Kopf, und mit einem Mal wurde mir klar, dass ich gleich in dieser Gasse sterben würde. Der Dämon würde mich in Stücke zerfetzen, oder – was noch schlimmer war – er würde mich durch eines der über die ganze Stadt verteilten Portale schleifen und nach unten entführen. Wenn Leute auf unerklärliche Weise verschwanden, lag es üblicherweise daran, dass sie ein paar Etagen tiefer gezogen waren. In eine verdammt heiße Gegend. Der Tod war im Vergleich damit noch ein Segen. Ich machte mich auf das Schlimmste gefasst.

„Das reicht.“

Wir erstarrten beide mitten in der Bewegung, als wir die tiefe Stimme hörten, die gelassene Autorität verströmte. Der Sucher reagierte als Erster und ging einen Schritt zur Seite. Ich drehte mich langsam um, und dann sah ich ihn.

Der Neuankömmling war deutlich über einen Meter achtzig, also so groß wie ein Wächter. Sein Haar war schwarz wie Obsidian und schimmerte im schwachen Licht leicht bläulich. Er trug sein lockiges Haar bis über die Ohren, ein paar Locken hingen ihm lässig in die Stirn. Die Augen waren golden, seine hohen Wangenknochen ausgeprägt. Kurz gesagt: Er war ziemlich attraktiv. Sehr attraktiv sogar. Fast schon zu schön, um wahr zu sein, aber das zynische Lächeln, das seine Mundwinkel umspielte, verlieh seiner Schönheit etwas Frostiges. Das schwarze T-Shirt spannte sich über die breiten Schultern und schmiegte sich an seinen flachen Bauch. Ein Schlangen-Tattoo wand sich um seinen Unterarm, der Schwanz des Tiers verschwand unter dem Ärmelstoff, der diamantförmige Kopf ruhte auf dem Handrücken. Der Kerl schien in meinem Alter zu sein. Absolut der Typ, in den sich jemand wie ich sofort verknallen konnte. Wäre da nur nicht das kleine Problem mit seiner Seele gewesen. Er hatte nämlich keine.

Stolpernd wich ich einen Schritt zurück. Gab es etwas Schlimmeres als einen Dämon? Ja, zwei Dämonen. Meine Knie zitterten so sehr, dass ich schon befürchtete, gleich mit dem Gesicht voran auf dem Asphalt zu landen. Noch nie war eine Markierung bei mir so schiefgelaufen. Ich war richtig am Arsch, das war nicht mehr witzig.

„Du mischst dich hier besser nicht ein“, sagte der Sucher und ballte die Fäuste.

Der Neuzugang machte lautlos einen Schritt nach vorn. „Und du küsst mir besser den Hintern. Wie wär’s?“

Ähm …

Darauf entgegnete der Sucher nichts mehr, sondern stand nur da und atmete schwer. Die Anspannung war so intensiv, dass man sie fast greifen konnte. In der sinnlosen Hoffnung, hier vielleicht doch noch heil rauszukommen, wich ich erneut einen Schritt zurück. Die beiden waren ganz eindeutig nicht vom selben Stamm, und ich wollte auf keinen Fall zwischen die Fronten geraten. Wenn zwei Dämonen aufeinander losgingen, brachten sie schon mal ganze Gebäude zum Einsturz. Schadhafte Fundamente? Falsch berechnete Dachkonstruktionen? Von wegen. Das war meistens das Werk von Dämonen, die sich gegenseitig auf Leben und Tod bekämpften.

Noch zwei Schritte nach rechts, dann konnte ich …

In diesem Moment traf mich der Blick des Neuankömmlings mit solcher Eindringlichkeit, dass mir die Luft wegblieb. Der Schultergurt meiner Tasche rutschte mir aus den Fingern. Der Anflug eines Lächelns umspielte die Mundwinkel des Unbekannten, und als er mit mir redete, klang seine Stimme sanft und tief: „Hässliche Lage, in die du dich da manövriert hast.“

Ich hatte keine Ahnung, zu welcher Art Dämon er gehörte, aber so wie er dort stand, schien er das Wort Macht überhaupt erst erfunden zu haben. Er konnte kein niederer Dämon sein wie dieser Sucher oder ein Blender. Oh nein, bei ihm handelte es sich bestimmt um einen Hohedämon – einen Herzog oder einen Infernalischen Herrscher. Nur Wächter nahmen es mit diesen Dämonen auf, und üblicherweise endete das dann in einer blutigen Bescherung.

Mein Herz raste. Ich musste weg hier, und zwar so schnell wie möglich. Auf keinen Fall durfte ich mich mit einem Hohedämon anlegen. Mit meinen armseligen Fähigkeiten konnte ich gegen den nichts ausrichten, und im Gegenzug würde er mir einen Tritt in den Hintern verpassen, an den ich dann noch lange zurückdenken konnte. Außerdem wurde der Sucher mit jeder Sekunde wütender. Zornig ballte er immer wieder die Fäuste. Hier würde jeden Moment die Hölle los sein, und dann wollte ich möglichst längst über alle Berge sein.

Ich hob meine Büchertasche auf und hielt sie vor mich, als könnte sie mir irgendeinen Schutz bieten. Dabei gab es abgesehen von einem Wächter nichts auf der Welt, das einen Hohedämon aufhalten konnte.

„Warte“, meinte er zu mir. „Lauf noch nicht weg.“

„Komm ja nicht auf die Idee, auch nur einen Schritt näher zu kommen“, warnte ich ihn.

„Ich tu dir bestimmt nichts, was du nicht willst.“

Ich verstand zwar nicht, was er damit sagen wollte, hatte aber gerade nicht wirklich die Zeit, um sein Statement gründlich zu analysieren. Stattdessen ging ich weiter langsam um den Sucher herum und hielt auf die Einmündung zur Hauptstraße zu, die unendlich weit entfernt zu sein schien.

„Du läufst ja doch weg.“ Der Hohedämon seufzte. „Obwohl ich dich gerade gebeten habe, genau das nicht zu machen. Und ich dachte, ich hätte das sehr nett getan.“ Nachdenklich musterte er den Sucher. „Oder war ich etwa nicht nett zu ihr?“

Der Sucher knurrte. „Nichts für ungut, aber mir ist egal, wie nett du bist. Du störst mich bei der Arbeit, du Handlanger.“

Diese Beleidigung ließ mich aufhorchen. Nicht nur, dass der Sucher in einem solchen Tonfall mit einem Hohedämon redete, aber das war so eine … menschliche Bemerkung.

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