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Das geheime Leben der CeeCee Wilkes

Eve Elliott ist eine erfolgreiche Therapeutin, liebende Ehefrau und hingebungsvolle Mutter. Doch ihr Glück ist auf einer Lüge aufgebaut. Als gutgläubiges, verletzliches Mädchen musste sie in einer dunklen Nacht eine Entscheidung treffen, die ihr ganzes Leben veränderte. Und nun muss sie sich wieder entscheiden: Soll sie ihrer Familie sagen, wer sie wirklich ist? Oder soll sie zusehen, wie ein unschuldiger Mann zum Tode verurteilt wird?

"Chamberlain hat eine fesselnde Geschichte geschrieben, voller Charaktere die einen auch im Nahhinein nicht loslassen."

Publisher’s Weekly


  • Erscheinungstag: 12.09.2016
  • Seitenanzahl: 464
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959676014
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Diane Chamberlain

Das geheime Leben der CeeCee Wilkes

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Katja Henkel

HarperCollins®

HarperCollins® Bücher

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by HarperCollins

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

The Secret Life Of Cee Cee Wilkes

Copyright © 2006 by Diane Chamberlain

erschienen bei: MIRA Books, Ontario

Published by arrangement with

Harlequin Books II. B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln

Umschlaggestaltung: büropecher, Köln

Redaktion: Maya Gause

Titelabbildung: Plainpictures / Mohamad Itani

ISBN ebook 978-3-95967-601-4

www.harpercollins.de

CORINNE

1. KAPITEL

Raleigh, North Carolina

Sie konnte sich einfach nicht auf ihren Körper konzentrieren. Egal, wie zart oder leidenschaftlich Ken sie berührte, ihre Gedanken waren meilenweit entfernt. Es war kurz nach fünf am Dienstagnachmittag, die Zeit, die sie sich grundsätzlich freihielten, damit nichts ihre Zweisamkeit stören konnte. Normalerweise genoss Corinne diese Momente mit ihrem Verlobten unendlich. Heute aber wollte sie lieber reden. Es gab so viel zu sagen.

Ken löste sich seufzend von ihr, und während sie ihn im späten Nachmittagslicht betrachtete, bemerkte sie sein Lächeln, als er seine Hand auf ihren Bauch legte. Hatte diese Geste, dieses Lächeln etwas zu bedeuten? Sie hoffte es, wagte aber nicht zu fragen. Noch nicht. Ken liebte dieses Nachglühen – wenn ihre Körper langsam wieder zu sich selbst fanden und sie in die Realität zurückkehrten –, deswegen musste sie Geduld haben. Sie strich durch sein dickes aschblondes Haar und wartete, bis sein Atem ruhiger wurde. Ihr Baby würde wunderschön werden, kein Zweifel.

„Mmm“, schnurrte Ken und schmiegte sich an ihre Schulter. Schmale Lichtstreifen fielen durch die Fensterläden und malten Muster auf die Bettdecke. „Ich liebe dich, Cor.“

„Ich liebe dich auch.“ Sie schlang einen Arm um seinen Nacken und versuchte zu erspüren, ob er jetzt bereit war, ihr zuzuhören. „Ich habe heute etwas Unglaubliches getan“, begann sie. „Oder, um genau zu sein, zweimal etwas Unglaubliches.“

„Was denn?“ Er klang noch etwas abwesend, aber dennoch interessiert.

„Erst einmal bin ich über die 540 zur Arbeit gefahren.“

Er hob erstaunt den Kopf. „Wirklich?“

„Mhm.“

„Und wie war es?“

„Wunderbar.“ Sie hatte zwar die ganze Zeit feuchte Hände gehabt, aber trotzdem hatte sie es geschafft. Seit ein paar Jahren unterrichtete sie die vierte Klasse in einer Schule, die acht Meilen von ihrem Haus entfernt war, und nicht ein einziges Mal hatte sie sich bisher getraut, über die Autobahn zu fahren. Lieber hatte sie sich an die winzigen Seitenstraßen gehalten, sich durch Wohnviertel geschlängelt und war den Wagen ausgewichen, die aus den Einfahrten rollten. „Ich brauchte nur etwa zehn Minuten zur Schule. Sonst dauert es vierzig.“

„Ich bin stolz auf dich“, lobte er sie. „Ich weiß, wie schwer es dir gefallen sein muss.“

„Und dann habe ich noch etwas Unglaubliches getan.“

„Hab ich nicht vergessen. Du sprachst von zwei Dingen. Was also noch?“

„Ich bin mit meiner Klasse ins Museum gegangen, statt in der Schule zu bleiben, wie ich es eigentlich vorhatte.“

„Jetzt bekomme ich es langsam mit der Angst zu tun“, neckte er sie. „Nimmst du irgendwelche Drogen?“

„Also, bin ich toll, oder nicht?“

„Du bist auf jeden Fall die tollste Frau, die ich kenne.“ Er beugte sich zu ihr, um sie zu küssen. „Du bist mein mutiges, schönes, rothaariges Mädchen.“

Sie war in das Museum gegangen, als würde sie das jeden Tag in der Woche tun, in der Gewissheit, dass sicher niemand ahnte, wie heftig ihr Herz schlug und ihr Hals sich zusammenzog. Sie verbarg ihre Ängste sehr sorgfältig. Die Eltern ihrer Schüler – oder noch schlimmer, ihre Kollegen – durften auf keinen Fall etwas davon erfahren.

„Vielleicht willst du zu viel zu schnell“, gab Ken vorsichtig zu bedenken.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe gerade eine gute Phase. Morgen möchte ich beim Arzt in den Fahrstuhl steigen. Nur mal schnell hineingehen“, fügte sie hastig hinzu. „Ich werde wie immer die Treppe nehmen. Aber zumindest mal einzusteigen ist schon ein erster Schritt, sozusagen. Vielleicht kann ich dann nächste Woche schon ein Stockwerk nach oben fahren.“ Sie erschauerte bei der Vorstellung, wie die Fahrstuhltüren sich hinter ihr schließen würden, sie in eine Kabine sperrten, die nicht viel größer als ein Sarg war.

„Dann wirst du mich wohl bald nicht mehr brauchen.“

„Ich werde dich immer brauchen.“ Sie fragte sich, wie ernst er das Gesagte meinte. Die Art und Weise, in der sie auf Ken angewiesen war, war für eine Liebesbeziehung sicher nicht ganz üblich. Er musste fahren, sobald sie sich etwas weiter als ein paar Meilen von ihrem Haus entfernten. Hatte sie im Supermarkt eine Panikattacke, rettete er sie. Er fasste sie am Arm und dirigierte sie durch das Einkaufszentrum oder die Musikhalle oder wo auch immer gerade ihr Herz zu rasen begann. „Ich würde dich nur lieber anders brauchen. Und ich muss es schaffen, Ken. Ich will diesen Job.“

Corinne hatte das Angebot bekommen, ab nächsten September andere Lehrer in Wake County in dem Leselehrplan zu schulen, für den sie Expertin war. Dafür musste sie Auto fahren. Sehr viel Auto fahren. Auf sechsspurigen Autobahnen, auf Brücken, sie musste in Fahrstühle steigen, die nicht zu umgehen waren. Sie hatte noch fast ein Jahr Zeit und war wild entschlossen, ihre Ängste bis dahin in den Griff zu bekommen.

„Kenny.“ Sie drückte sich fester an ihn, ein wenig nervös wegen des bevorstehenden Themas. „Wir müssen noch über etwas anderes sprechen.“

Seine Muskeln unter ihrer Hand spannten sich ein klein wenig an.

„Die Schwangerschaft“, sagte er.

Sie hasste es, wenn er es „die Schwangerschaft“ nannte. Also hatte sie sein Lächeln vorhin wohl doch falsch verstanden. „Es geht um das Baby. Richtig.“

Er stieß ein Seufzen aus. „Cor, ich habe darüber nachgedacht und ich glaube einfach nicht, dass es der richtige Zeitpunkt ist. Schon gar nicht, wenn du nächstes Jahr eine neue Arbeit beginnst. Noch mehr Stress brauchst du doch wohl wirklich nicht, oder?“

„Das bekomme ich hin“, sagte sie. „Das Baby würde Ende Mai zur Welt kommen. Ich könnte mich beurlauben lassen, mich den ganzen Sommer um das Kind kümmern und eine Tagesmutter suchen.“ Sie streichelte über ihren Bauch. Bildete sie sich nur ein, dass er schon ein klein wenig gewölbt war? „Wir sind schon so lange zusammen“, fuhr sie fort. „Ich finde es einfach nicht richtig, abzutreiben, nachdem ich schon fast siebenundzwanzig bin, und du bist achtunddreißig. Und wir können uns ein Kind leisten.“ Was sie noch dachte, behielt sie für sich: Natürlich müssten wir dann heiraten. Endlich. Sie waren seit vier Jahren verlobt, so lange lebten sie auch schon zusammen, und wenn die Schwangerschaft sie dazu zwang, endlich einen Termin festzulegen, hatte sie nichts dagegen.

Er drückte kurz ihre Schulter und setzte sich auf. „Lass uns später darüber sprechen, okay?“

„Wann?“, fragte sie. „Wir können das nicht ständig aufschieben.“

„Heute Abend“, versprach er.

Kens Blick schweifte zum blinkenden Telefon auf dem Nachttisch. Er nahm den Hörer ab, tippte die Geheimzahl für die Voicemail ein und lauschte. „Drei Nachrichten“, verkündete er und drückte eine weitere Taste. Im Zimmer war es jetzt fast dunkel geworden, doch sie konnte trotzdem sehen, wie er bei der ersten Nachricht die Augen verdrehte.

„Deine Mutter“, erklärte er. „Sie sagt, es sei dringend.“

„Ganz bestimmt.“ Corinne zwang sich zu einem Lachen. Nachdem Dru ihre Schwangerschaft ausgeplaudert hatte, würde sie jetzt wohl täglich dringende Anrufe bekommen. Ihre Mutter hatte sie bereits per E-Mail darauf vorbereitet, dass Rothaarige nach der Geburt zu Blutungen neigten. Tausend Dank, Mom. Sie hatte nicht geantwortet, hatte mit ihrer Mutter in den letzten drei Jahren sowieso nur wenige Male gesprochen.

„Und eine Nachricht von Dru“, sagte Ken. „Sie bittet dich, sie sofort anzurufen.“

Das war schon eher besorgniserregend. Eine dringende Nachricht von ihrer Mutter konnte sie gut ignorieren. Eine von ihrer Schwester jedoch nicht. „Ich hoffe, es ist nichts passiert.“ Sie setzte sich auf.

„Wenn es so wichtig wäre, hätten sie dich doch auf dem Handy angerufen.“

„Stimmt.“ Sie sprang aus dem Bett, schlüpfte in den kurzen, grünen Morgenmantel, nahm ihr Handy von der Kommode und stellte es an. „Nur dass ich mein Handy heute wegen des Museumsbesuches nicht anhatte, also …“

„Was zum …“ Ken runzelte die Stirn, als er die nächste Nachricht abhörte. „Wovon zum Teufel redest du eigentlich?“, schrie er in den Hörer, schaute auf die Uhr und durchquerte dann das Zimmer, um den Fernseher einzuschalten.

„Was ist denn los?“ Corinne beobachtete ihn, wie er durch die Kanäle schaltete, bis er WIGH gefunden hatte, den lokalen Sender in Raleigh, für den er als Reporter arbeitete.

„Das war ein Anruf von Darren“, sagte er und wählte bereits eine neue Nummer. „Er zieht mich von der Gleason-Story ab.“

„Wie bitte?“ Sie konnte es nicht fassen. „Wieso?“

„Er sagte ‚aus ersichtlichen Gründen‘, als ob ich wissen müsste, wovon er verdammt noch mal spricht.“ Wieder schaute er auf die Uhr. Ihr war klar, dass er auf die Achtzehn-Uhr-Nachrichten wartete. „Komm schon, komm schon“, sagte er zum Fernseher oder zum Telefon – vielleicht zu beiden. „Gib mir Darren!“, brüllte er dann in den Hörer. „Und wo ist er?“ Er legte auf und begann erneut zu wählen.

„Die können dir die Story nicht wegnehmen“, sagte sie. „Das wäre unfair nach all der Arbeit, die du reingesteckt hast.“ Die Gleason-Story war sein Revier, und inzwischen erregte er damit sogar überregional Aufmerksamkeit. Man handelte ihn schon als Kandidaten für den Rosedale Award.

„Darren fragte, ob ich davon gewusst habe. Es klang, als ob ich ihm etwas verheimlicht hätte.“ Ken fuhr sich durchs Haar. „Oh, nein, nicht die verdammte Mailbox“, sagte er ins Telefon. „Verdammt.“ Ungeduldig wartete er darauf, eine Nachricht hinterlassen zu können. „Was zum Teufel soll das heißen, dass ich aus der Gleason-Story raus bin?“, schrie er. „Ruf mich zurück!“

Er schleuderte den Hörer aufs Bett und begann, mit der Faust auf den Fernseher zu hämmern, als ob er damit den Anfang der Nachrichten beschleunigen könnte. „Ich kann das nicht glauben. Als ich das Gericht heute verließ, hieß es, dass erst morgen das Strafmaß verkündet werden soll. Aber vielleicht habe ich mich auch verhört. Vielleicht habe ich’s verpasst. Verdammt!“

Corinne starrte auf das Display ihres Handys. „Ich habe fünf Nachrichten, alle von meinen Eltern.“ Es musste wirklich etwas passiert sein. „Ich rufe besser mal an.“

„Psst.“ Als der Nachrichtensprecher Paul Provost auf dem Bildschirm erschien, drehte Ken den Fernseher lauter.

„Guten Abend, Triangle“, sagte er und meinte damit das Raleigh-Durham-Chapel-Hill-Gebiet. „Nur wenige Stunden bevor Timothy Gleason wegen des Mordes an Genevieve Russell und ihrem ungeborenen Kind im Jahr 1977 verurteilt wer den soll, lässt eine schockierende Enthüllung Zweifel an seiner Schuld aufkommen.“

„Was?“ Ken starrte auf den Bildschirm.

Jetzt erschien ein kleiner Bungalow. Das Dach war feucht von Regen, die Blätter der Bäume daneben leuchteten in einem saftigen Rotton.

„Ist das …?“ Corinne presste erschrocken ihre Hand auf den Mund. Sie wusste nur zu gut, wie die Luft in dem kleinen Garten vor dem Haus duftete. Schwer und süß in Erwartung des Herbstes. „Oh mein Gott.“

Eine Frau humpelte durch die Eingangstür auf die Veranda. Sie sah klein und müde aus. Und verängstigt.

„Was hat das verdammt noch mal zu bedeuten?“, fluchte Ken.

Corinne stand neben ihm und klammerte sich an seinen Arm, während ihre Mutter sich räusperte und zu sprechen begann.

„Timothy Gleason hat Genevieve Russell nicht ermordet. Ich kann es beweisen, ich war dabei.“

CEECEE

2. KAPITEL

Liebe CeeCee,

nun bist du sechzehn, so alt wie ich, als ich mit dir schwanger wurde. Was immer du tust, das bitte nicht! Im Ernst, ich hoffe, du wirst viel klüger und vorsichtiger sein, als ich es damals war. Aber ich bedaure nichts. Ohne dich wäre mein Leben so leer gewesen. Du bist mein Ein und Alles, mein liebster Schatz. Vergiss das nie.

Chapel Hill, North Carolina

1977

„Guten Morgen, Tim.“ CeeCee füllte seine Tasse mit Kaffee. Er mochte ihn schwarz und sehr stark, weshalb sie jeden Morgen einen Löffel Kaffeepulver mehr nahm. Die anderen Gäste hatten sich darüber bereits beschwert.

„Der Morgen war bis jetzt schon recht gut“, sagte er. „Aber dich zu sehen ist die Krönung des Ganzen.“ Er saß an seinem gewohnten Platz, lehnte sich zurück und lächelte sie an. Dieses Lächeln brachte Eisberge zum Schmelzen. Kennengelernt hatte CeeCee ihn an ihrem ersten Arbeitstag vor über einem Monat, wo sie ihm prompt heißen Kaffee über die Hose gegossen hatte. Ihr war es furchtbar peinlich, doch er lachte bloß und gab ihr mehr Trinkgeld, als das ganze Frühstück kostete. In diesem Moment hatte sie sich in ihn verliebt.

Viel wusste sie allerdings nicht über Tim. Vor allem sah er sehr gut aus. An diesem Morgen überfluteten Sonnenstrahlen die Nische, in der er saß, tanzten auf seinen blonden Locken und ließen seine Augen wie grünes Glas leuchten. Er trug Jeans und T-Shirt wie die meisten Studenten in North Carolina, allerdings ohne das übliche Logo irgendeiner Universität. Er rauchte Marlboros und sein Tisch war immer voller Bücher und Papiere. Es gefiel ihr, dass er so fleißig war. Und dass er ihr das Gefühl gab, hübsch, klug und begehrenswert zu sein. Für sie eine bisher unbekannte Erfahrung. Am liebsten hätte sie dieses Gefühl in eine Flasche abgefüllt und mit sich herumgetragen.

Sie zog Block und Stift aus ihrer Hosentasche. „Willst du das Übliche?“, fragte sie, dachte aber: Ich liebe dich.

„Natürlich.“ Er nahm einen Schluck Kaffee, dann deutete er auf die Eingangstür des Coffeeshops. „Weißt du, dass ich jedes Mal, wenn ich durch die Tür komme, befürchte, du könntest nicht da sein?“ Er sah sie an. „Ich mache mich immer sofort auf die Suche nach deinem Haar.“ Sie hatte es noch nie geschnitten, es fiel in dunklen Wellen über ihren Rücken und sie wusste, wie sehr es ihm gefiel.

„Ich bin eigentlich immer da“, entgegnete sie. „Ich wohne hier praktisch.“

„Samstags hast du aber frei. Jedenfalls warst du letzten Samstag nicht da.“

„Und hast du mich vermisst?“ Flirtete sie etwa mit ihm? Das wäre eine Premiere.

Er nickte. „Ja, aber ich habe mich auch gefreut zu sehen, dass du ab und zu frei hast.“

„Nun, nicht wirklich frei. Samstags gebe ich Unterricht.“

„Du arbeitest zu viel, CeeCee.“ Sie liebte es, wenn er ihren Namen sagte.

„Ich brauche das Geld.“ Sie blickte auf ihren Block, als hätte sie vergessen, warum sie ihn überhaupt in der Hand hielt. „Ich sollte besser deine Bestellung aufgeben, sonst kommst du zu spät zur Vorlesung. Bin gleich zurück.“ Sie entschuldigte sich und lief durch die Schwingtür in die Küche.

Sofort umfing sie der Duft von Speck und verbranntem Toast. Ihre Kollegin und Mitbewohnerin Ronnie arrangierte gerade Teller mit Pfannkuchen auf einem Tablett.

„Weißt du, du solltest dich eigentlich auch noch um andere Tische kümmern“, zog sie CeeCee auf.

CeeCee klemmte die Bestellung an das Karussell für den Koch, dann wirbelte sie herum und sah ihre Freundin strahlend an. „Ich bin zu nichts zu gebrauchen, wenn er in der Nähe ist.“

Ronnie hievte das beladene Tablett auf ihre Schulter. „Heute sieht er aber auch besonders gut aus, das muss ich schon zugeben.“ Sie drückte sich gegen die Schwingtür, um sie aufzustoßen. „Du solltest ihm erzählen, dass du gestern Abend verabredet warst oder so was.“

Ronnie, die viel mehr Erfahrung mit Männern hatte als CeeCee, gab ihr immer so merkwürdige Ratschläge. „Tu so, als ob du einen Freund hättest“, sagte sie einmal. Oder: „Benimm dich ab und zu gleichgültig.“ Oder: „Lass mich ihn bedienen, damit er dich vermisst.“

Nur über meine Leiche, hatte CeeCee beim letzten Ratschlag gedacht. Ronnie war eine Schönheit. Sie sah aus wie Olivia Newton-John. Wenn sie zusammen die Straße entlanggingen, hatte CeeCee das Gefühl, unsichtbar zu sein. Sie war zehn Zentimeter kleiner und wenn auch nicht dick, so doch etwas kräftiger gebaut als ihre Mitbewohnerin. Und von ihrem Haar abgesehen konnte man sie leicht übersehen.

Allerdings war sie intelligenter, ehrgeiziger, verantwortungsvoller und viel, viel ordentlicher als Ronnie. Aber wenn ein Mädchen wie Olivia Newton-John aussah, war es den Typen herzlich egal, ob sie eine quadratische Gleichung lösen konnte oder einen geraden Satz zustande brachte. Tim war es dagegen bestimmt nicht egal. Natürlich konnte sie das nicht mit Sicherheit sagen, aber der Tim, von dem sie träumte, dem war es auf keinen Fall egal.

Sie kümmerte sich um die anderen Tische und besorgte frische Servietten für einige Verbindungsstudenten, die mit ihren Apfelzimttaschen den ganzen Tisch vollkrümelten. Diese Verbindungstypen waren zum Abgewöhnen. Sie stanken schon morgens nach schalem Bier, gaben kein Trinkgeld und behandelten sie wie eine Sklavin. Dann brachte sie einem älteren farbigen Ehepaar an Tims Nebentisch Tee. Der Mann hatte sehr kurzes graues Haar und trug eine dicke Brille. Sein Kopf und seine Hände zitterten unkontrollierbar, wahrscheinlich hatte er eine Art Schüttellähmung. Die Frau fütterte ihn mit ihren gichtigen Fingern und einer bewundernswerten Geduld.

CeeCee stellte die Teekanne ab und warf einen Blick in Tims Richtung. Er hatte seinen Kopf über ein Buch gesenkt und machte sich Notizen. Vielleicht bildete sie sich sein Interesse bloß ein. Vielleicht war er einfach nur ein freundlicher Kerl. Vermutlich hatten sie sowieso nichts gemeinsam. Sie war gerade mal sechzehn und er schon zweiundzwanzig. Sie hatte die Highschool erst vor vier Monaten beendet, während er schon im ersten Semester an der Uni studierte. Sein Hauptfach war Sozialpädagogik, während sie mit Sozialarbeitern höchstens mal hier im Coffeeshop zu tun hatte. Im Grunde war es genauso, als ob sie für einen Rockstar schwärmen würde.

Als sie ihm schließlich Eier, Speck und Grütze servierte, legte er seinen Stift zur Seite, verschränkte die Arme und sagte: „Ich finde, es ist Zeit, dass wir zusammen ausgehen. Was meinst du?“

„Klar“, sagte sie ungerührt, als ob eine solche Einladung überhaupt nichts Besonderes wäre. Aber in Wahrheit platzte sie fast vor Glück. Sie konnte es kaum erwarten, Ronnie davon zu berichten.

„Miss?“ Die schwarze Frau am Nebentisch winkte sie zu sich.

„Entschuldige“, sagte CeeCee und machte einen Schritt nach links. „Möchten Sie gern zahlen?“ Sie zog ihren Block hervor.

„Ich weiß, dass wir eigentlich an der Kasse zahlen sollten, Miss …“, die Frau blickte auf ihr Namensschild, „… Miss CeeCee. Aber ich hatte gehofft, ich könnte es auch hier tun. Das wäre sehr viel bequemer für uns.“

„Aber natürlich.“ CeeCee rechnete im Kopf die Preise zusammen und kritzelte die Summe aufs Papier. „Fünf fünfundsiebzig.“

Die Frau durchwühlte mit gichtigen Händen ihre Lacklederhandtasche. Sie trug einen goldenen Ehering am Ringfinger ihrer linken Hand, der durch einen geschwollenen knotigen Knöchel fest an seinem Platz gehalten wurde.

„Tut mir leid, Miss“, sagte sie und reichte CeeCee einen Zehndollarschein. „In letzter Zeit brauche ich für alles einfach länger.“

„Kein Problem. Ich komme gleich mit Ihrem Wechselgeld zurück.“

Das Paar stand bereits neben dem Tisch, als sie zurückkam. Die Frau bedankte sich und führte dann ihren Mann langsam zur Tür.

Sie betrachtete die beiden einen Moment, dann sah sie Tim an. Er hatte sich mit der Kaffeetasse in der Hand zurückgelehnt, sein Blick ruhte auf ihr. Sie begann langsam, den Tisch des Ehepaars abzuräumen.

„Also, wo waren wir?“, fragte sie ihn dabei.

„Wie wäre es mit Kino?“

„Gut“, meinte sie, während ihre Blicke sich erstaunt auf den Stuhl der alten Frau richteten. Zwei zerknitterte Zehndollarscheine lagen auf dem blauen Vinyl.

„Oh!“ Sie griff nach dem Geld, sah aus dem Fenster, doch die Masse von Studenten versperrte ihr die Sicht. „Bin gleich zurück“, rief sie. Dann rannte sie aus der Tür und entdeckte nach ein paar Minuten das Paar auf der Bank an der Bushaltestelle.

Sie setzte sich neben die Frau. „Das haben Sie verloren“, sagte sie und drückte ihr die Scheine in die Hand.

„Ach du liebe Zeit!“ Die Frau schnappte hörbar nach Luft. „Seien Sie gesegnet, mein Kind.“ Sie nahm CeeCees Hand. „Warten Sie, Miss CeeCee.“ Sie langte nach ihrer Handtasche. „Ich möchte Ihnen etwas für Ihre Ehrlichkeit geben.“

„Oh nein. Bitte, machen Sie sich keine Umstände.“

Die Frau zögerte, dann zupfte sie vorsichtig an CeeCees langem Haar. „Der liebe Gott hat schon gewusst, was er tat, als er Ihnen solches Haar schenkte, das zu einem Engel passt.“

CeeCee war außer Atem, als sie schließlich wieder im Coffeeshop ankam.

„Was war denn los?“, fragte Tim.

„Zwei Zehndollarscheine müssen ihr aus der Tasche gefallen sein, als sie die Rechnung bezahlte“, erklärte CeeCee.

Tim tippte sich mit dem Stift ans Kinn. „Verstehe ich das richtig?“, begann er. „Du brauchst dringend Geld, zwanzig Dollar fallen dir einfach so zu und du gibst sie zurück?“

„Wie hätte ich sie denn behalten können? Wer weiß, wie dringend die beiden das Geld brauchen? Vielleicht viel mehr als ich.“ Sie beäugte ihn misstrauisch. „Hättest du es denn behalten?“

Tim grinste sie an. „Du wärst eine wunderbare Sozialarbeiterin“, sagte er. „Du hast ein Herz für die Schwachen.“ Es war nicht das erste Mal, dass er so etwas sagte, obwohl er genau wusste, dass sie Lehrerin werden wollte. Die Welt wäre ein viel besserer Ort, wenn jeder Mensch Sozialarbeiter werden würde, hatte er mal gesagt.

Er blickte auf die Uhr über der Küchentür. „Ich muss zur Vorlesung.“ Er rutschte über die Bank. „Wie wäre es, wenn wir uns um halb sieben am Varsity-Theater treffen?“

„Okay.“ Sie versuchte, lässig zu klingen. „Bis später.“

Er stapelte seine Bücher und Papiere übereinander und eilte zur Tür. Sie sah auf den Tisch. Zum ersten Mal hatte er wohl das Trinkgeld vergessen. Doch als sie seinen leeren Teller abräumte, entdeckte CeeCee darunter zwei Zehndollarscheine.

3. KAPITEL

Wahrscheinlich möchtest du jetzt aufs College gehen, CeeCee. Du wirst ein Stipendium brauchen, also hoffe ich, dass du eine gute Schülerin warst. Es tut mir leid, dass ich nicht besser für dich sorgen konnte. Das College ist so wichtig. Bitte kämpfe dafür, ja? Ich wollte immer studieren, selbst wenn ich erst mit fünfzig den Abschluss gemacht hätte, doch nun werde ich die Chance nicht mehr bekommen. Wenn du mir jetzt in deinem Alter auch nur ein bisschen ähnlich bist, dann wirst du dich allerdings mehr für Jungs als für die Schule interessieren. Das ist schon okay. Du musst nicht sofort studieren. Vergiss jedoch nicht, dass die Männer am College VIEL interessanter sind als alle Jungs, die du an der Highschool kennengelernt hast.

Falls du aber doch nicht das College besuchst, dann denk dran, dass du von jedem Menschen, den du triffst, viel lernen kannst. Jeder einzelne Mensch, der in dein Leben tritt, vom Doktor bis zum Müllmann, kann dir etwas beibringen, wenn du es zulässt.

„Es regnet.“ Tim streckte mit geöffneter Hand einen Arm in die Höhe, als sie das Kino verließen.

CeeCee spürte kühlen, feinen Sprühregen auf ihrem Gesicht. „Ich mag es“, sagte sie, versteckte aber gleichzeitig ihre Lockenpracht unter einem schwarzen Schlapphut. Sie mochte Regen, ihr Haar hingegen nicht.

„Jetzt siehst du aus wie Annie Hall.“ Tim grinste sie an, während sie sich ihren Weg durch die Studenten, die ebenfalls im Kino gewesen waren, zum Restaurant zwei Straßenblöcke weiter bahnten. Annie Hall war der Titel des Films, den sie gerade gesehen hatten. Der perfekte Film für eine erste Verabredung. „Du bist allerdings nicht so albern wie sie.“

„Aber sie war auf niedliche Art albern.“

„Ja“, sagte er. „Und du bist auf niedliche Art ernst.“

„Oh nein!“ Der Gedanke war ernüchternd. „Ich will nicht ernst sein. Sondern witzig und …“ Was war die treffende Bezeichnung? Sie reckte die Arme zum Himmel und drehte sich einmal um sich selbst. „Durchgeknallt.“

„Durchgeknallt?“ Lachend packte er ihren Arm, um zu verhindern, dass sie die anderen Studenten anrempelte. „Mir gefällt es, dass du ernst bist.“ Er ließ sie viel zu schnell wieder los. „Du nimmst nichts als selbstverständlich.“

Er hatte recht, doch woher wusste er so viel über sie? „Du kennst mich doch noch gar nicht richtig.“

„Ich bin ein guter Beobachter“, sagte Tim. „Einfühlsam.“

„Und bescheiden.“

„Das auch.“ Er blieb kurz stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. „Wie kommt es eigentlich, dass du wie ein Yankee sprichst?“, fragte er, als sie weiterliefen.

„Tue ich das immer noch? Ich dachte, dass ich inzwischen wie eine Südstaatlerin klinge. Bis ich elf war, habe ich in New Jersey gelebt.“

„Und was hat dich hierher verschlagen?“

Diese Frage wollte sie jetzt nicht beantworten – noch nicht. Er fand sie ja sowieso schon so ernst.

„Familienkram“, antwortete sie deshalb achselzuckend.

Er drängte sie nicht, doch das folgende Schweigen war CeeCee unbehaglich. Aus den Augenwinkeln warf sie ihm einen Blick zu. Jetzt wirkte er älter als am Morgen, wie ein richtiger Erwachsener. Sie fragte sich, ob ihm der Altersunterschied an diesem Abend besonders auffiel, vor allem als sie sich wie eine Zehnjährige auf dem Gehweg gedreht hatte. Vielleicht ärgerte er sich bereits darüber, sie eingeladen zu haben. Er sah auch anders aus als sonst. Besser, wenn das überhaupt ging. Ihr war nie aufgefallen, wie groß er war. Im Kino war sie sich seiner langen, muskulösen Beine fast schmerzhaft bewusst gewesen, die sie berührten, sobald er sich in seinem Sitz bewegte. Halt meine Hand, hatte sie immer wieder gedacht. Leg einen Arm um mich. Zu ihrem Leidwesen hatte er nichts davon getan.

„Für einen Mann ist es ungewöhnlich, Sozialarbeit im Hauptfach zu studieren, oder nicht?“, unterbrach sie das Schweigen.

„Du würdest dich wundern.“ Er blies eine Rauchwolke aus. „In meinem Jahrgang gibt es einige. Eigentlich interessiere ich mich aber mehr für die theoretischen Aspekte der Sozialarbeit als für die praktischen. Ich möchte in der Lage sein, die Politik zu beeinflussen.“

„Auf welche Weise denn zum Beispiel?“ Sie erblickte ihr Spiegelbild in einem Schaufenster, an dem sie vorbeiliefen. Sie sah aus wie ein Zwerg mit Schlapphut.

„Dass benachteiligte Menschen besser gehört werden“, entgegnete er. „Wie dieses Paar, das du heute bedient hast. Die beiden sind alt. Er war ganz offensichtlich behindert. Und sie sind schwarz. Drei Dinge, die gegen sie sprechen. Wer setzt sich für solche Menschen ein? Wer kümmert sich darum, dass für sie gesorgt wird?“

Oh Gott. Er war so klug und gebildet und gab sich an diesem Abend mit einem zehnjährigen Zwerg ab.

„Das hast du also vor?“, fragte sie. „Dich für solche Leute einzusetzen?“

Eine Gruppe junger, adrett gekleideter Leute überholte sie und Tim nickte einem der Männer zu. „Ja. Ganz besonders interessiere ich mich für Haftbedingungen in Gefängnissen.“

„Wieso?“

„Ich finde, dass wir bessere Gefängnisse brauchen. Damit meine ich nicht, dass die Inhaftierten im Luxus leben sollten. Davon spreche ich nicht. Aber wir sollten sie in die Gesellschaft wiedereingliedern und nicht einfach einkerkern. Und ich halte die Todesstrafe für falsch, sie sollte verfassungswidrig sein.“

„Ich dachte, sie ist verfassungswidrig.“

„Für ganz kurze Zeit war sie das. Aber im vergangenen Juni wurde sie in North Carolina wieder eingeführt.“

So furchtbar fand sie das nicht. „Nun, wenn jemand zum Beispiel ein kleines Kind ermordet, dann sollte er – oder sie – in gleichem Maße dafür bezahlen.“

Er starrte vor sich hin. Sie konnte nicht erkennen, ob ihm ihre Antwort gefiel oder nicht, aber sie wollte ihre eigenen Prinzipien nicht verraten, nur um ihm zu gefallen. Als er sich ihr zuwandte, lag ein Ausdruck auf seinem Gesicht, den sie noch nicht kannte. War er verärgert? Oder enttäuscht?

„Auge um Auge, hm?“

„Warum nicht?“

„Nun, wo soll ich anfangen?“ Tim warf die Zigarettenkippe auf den Gehweg, trat sie aus und vergrub dann die Hände in den Taschen seiner blauen Windjacke. „Ich glaube, dass einige der Leute, die hingerichtet werden, unschuldig sind. Vielleicht hatten sie einfach keinen guten Verteidiger, womöglich weil sie ihn sich nicht leisten konnten. Und selbst wenn sie schuldig sind: Ich finde es falsch, über ein Leben zu entscheiden. Selbst über das eines Menschen, der einen anderen ermordet hat. Gleiches mit Gleichem zu vergelten macht es nicht besser.“

„Dann bist du bestimmt auch gegen Abtreibung?“ Ronnie hatte vor zwei Monaten im August abgetrieben. CeeCee hatte sie in die Klinik begleitet und die ganze Zeit geweint. Sie war nicht gegen Abtreibung, aber sie fand es einfach sehr traurig. Ronnie hatte für diesen Gefühlsausbruch dagegen gar nichts übrig.

„Es war nur zehn Wochen alt, CeeCee“, sagte sie. „Außerdem wäre es ein Wassermann geworden. Du weißt, dass ich mit Wassermännern nicht zurechtkomme.“

„Manchmal ist Abtreibung ein notwendiges Übel.“ Tim blickte sie an. „Wieso, hattest du schon eine?“

„Ich? Ich hatte ja noch nicht mal Sex.“ Sie krümmte sich innerlich. Warum hatte sie das gesagt? Wie idiotisch. Aber Tim lachte nur und nahm ihre Hand.

„Du bist wirklich cool“, rief er. „Sagst einfach, wie es ist.“

Das Restaurant, vollgestopft mit Studenten, schien von lautem Geplapper zu vibrieren. Sie drängten sich durch die Menge, wobei Tim immer wieder stehen blieb, um Freunde zu begrüßen. Fast an jedem Tisch kannte er jemanden. Seine Freunde waren alle bedeutend älter als CeeCee, die sie kaum zu bemerken schienen. Die Mädchen lächelten ihr zu, aber sie spürte, dass ihre Freundlichkeit nicht ganz echt war, und hoffte, dass Neid dafür der Grund war und nicht Verachtung.

„Ich liebe diese Atmosphäre“, sagte sie, nachdem sie sich gesetzt hatten. Das war die Welt, in der sie sich bewegen wollte. „All die Studenten. Ich kann geradezu …“, sie atmete tief den Geruch von Zigaretten und Pommes frites ein, „… die Textbücher in der Luft riechen.“

„Ich nehme alles zurück. Du bist doch albern.“

Sie zog den Hut ab und bemerkte erfreut sein Lächeln, als ihr Haar sich über ihre Schultern ergoss.

„Du hast es verdient, eines Tages selbst so eine Studentin zu sein.“

„Das werde ich auch irgendwann.“

„Geht es nur um Geld? Ich meine, waren deine Noten gut genug?“

Sie nickte. „Es hat nur so viel für ein Stipendium gefehlt.“ Sie hielt ihren Daumen und ihren Zeigefinger einen Zentimeter auseinander.

„Das tut mir leid.“ Er runzelte leicht die Stirn. „Das ist nicht fair.“

„Nein, schon gut. Wirklich.“ Sie schaute in die Speisekarte, sein Mitleid war ihr unangenehm.

„Wann wirst du genug Geld zusammenhaben, um zu studieren?“, fragte er.

„Ich schätze, in einem Jahr, wenn Ronnie bei mir wohnen bleibt und wir die Ausgaben teilen können. Wir haben ein Zimmer zusammen. Ich weiß, dass sie lieber eine Wohnung hätte, aber sie muss ja auch nicht so sparen wie ich. Ich brauche einen besseren Job. In ein paar Monaten habe ich genug Erfahrung, um in einem guten Restaurant anzufangen, wo ich dann auch mehr Trinkgeld bekomme.“

„Ich bewundere deinen Ehrgeiz“, sagte er.

„Danke. Und wo wohnst du? Bestimmt in der Nähe vom Coffeeshop, nachdem du jeden Morgen dort bist.“

„In der Nähe der Franklin Street“, sagte er. „Ich teile mir ein Haus mit meinem Bruder Marty. Es gehört meinem Vater, aber der lebt in Kalifornien und hat es uns überlassen.“

„Nur dein Vater? Sind deine Eltern geschieden?“ Hoffentlich war das keine zu persönliche Frage.

Die Bedienung, eine Blondine mit glattem schulterlangem Haar, pinkfarbenem Schmollmund und blutroten Fingernägeln, stellte zwei Wassergläser auf den Tisch.

„Hallo, Tim“, sagte sie, ohne den Blick von CeeCee abzuwenden. „Wie geht es denn so?“

„Gut“, sagte Tim. „Bets, das ist CeeCee. CeeCee, Bets.“

„Nimm dich in Acht, CeeCee“, sagte Bets mit einem Augenzwinkern. „Er ist ein gefährlicher Mann.“

„Danke für die Warnung.“ CeeCee lachte.

„Habt ihr gewählt?“ Bets zog zwei Strohhalme aus ihrer Schürze und legte sie neben die Gläser.

Tim sah CeeCee mit erhobenen Augenbrauen an. „Weißt du schon, was du möchtest?“

Sie wollte eigentlich nicht vor ihm essen, wahrscheinlich würde sie kleckern oder etwas blieb ihr zwischen den Zähnen hängen. „Limonentorte.“ Das schien unbedenklich. Tim bestellte ein Barbecue-Sandwich.

„Was hat sie damit gemeint, dass du ein gefährlicher Mann bist?“, fragte CeeCee, nachdem Bets gegangen war.

„Sie wollte dich nur aufziehen.“ Er nahm einen Schluck Wasser. „Um auf deine Frage wegen meiner Eltern zurückzukommen, sie sind nicht geschieden. Meine Mutter ist vor nicht allzu langer Zeit gestorben.“

„Oh, tut mir leid.“ Aber das war nur die halbe Wahrheit. Denn jetzt hatten sie doch etwas gemeinsam: Sie hatten beide keine Mutter mehr. Sie hätte gern gewusst, ob seine Mutter auch an Krebs gestorben war, fragte aber nicht. Sie beantwortete schließlich auch nicht gerne Fragen nach ihrer Mutter. „Studiert dein Bruder auch?“

„Nein, nein. Marty ist nicht der Typ dafür.“ Tim trommelte mit den Fingern auf den Tisch, als hörte er eine Melodie, die sie nicht wahrnehmen konnte. „Er war in Vietnam. Er ging als netter Kerl von achtzehn Jahren und kam als verbitterter alter Mann zurück.“

„Er arbeitet also nicht?“ Sie packte einen Strohhalm aus und steckte ihn in ihr Wasserglas.

„Doch. Er arbeitet als Handwerker. Irgendjemand war wahnsinnig genug, ihm Hammer und Nagel in die Hand zu drücken.“ Er lachte.

„Wie meinst du das?“

„Ach, nicht wichtig.“ Er schüttelte den Kopf, als wollte er die Gedanken an dieses Thema daraus vertreiben, und beugte sich dann über den Tisch. „Zurück zu dir, meine geheimnisvolle CeeCee. Du hast gesagt, du bist erst sechzehn. Hast du früher mit der Schule begonnen, oder wie?“

„Ich wurde früh eingeschult und habe dann die fünfte Klasse übersprungen“, sagte sie. „Das lag daran, dass ich die Schule wechselte und von einer sehr guten auf eine ziemlich lausige musste. Ich war den anderen Kindern weit voraus, also ließen sie mich eine Klasse überspringen.“

„Ich wusste, dass du klug bist. Und wo ist deine Familie?“

Wie viel Persönliches sollte sie preisgeben? „Ich will nicht, dass du Mitleid mit mir hast, ja?“

„Klar.“

Sie spielte mit der Verpackung ihres Strohhalms. „Meine Mutter ist auch tot“, begann sie.

„Oh nein. Tut mir leid.“

„Sie hatte Brustkrebs, obwohl sie erst Mitte zwanzig war, und wir zogen von New Jersey hierher, damit sie an einer speziellen Studie teilnehmen konnte. Ich war zwölf Jahre alt, als sie starb, und danach wurde ich mehr oder weniger hin und her geschoben.“

Tim legte eine Hand auf ihre. „Mitte zwanzig.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich dachte nicht, dass so was passiert.“

Seine Wimpern waren so hell wie sein Haar und sehr lang. Sie betrachtete sie intensiv, um in diesem Augenblick nicht etwas Dummes zu tun, zum Beispiel ihre Hand umzudrehen und nach seiner zu greifen. „Sie auch nicht. Deswegen hat sie auch nie nach einem Knoten getastet.“ CeeCee erwähnte nicht, dass sie selbst sehr umsichtig mit ihrer Gesundheit umging. Er sollte nicht denken, dass sie eine Frau war, die irgendwann ihre beiden Brüste verlieren würde, so wie ihre Mutter.

„Aber was meinst du denn damit, du wurdest hin und her geschoben?“

Er hatte seine Hand nicht von ihrer genommen. Um genau zu sein, drückte er jetzt ihre Finger und strich mit einem Daumen sanft über ihre Knöchel. Ihr Puls hämmerte unter seinen Fingerspitzen.

„Nun“, antwortete sie. „Ich wurde an diesen Ort gebracht … eigentlich weiß ich bis heute nicht, was für ein Ort das war … eine Art Kinderheim eben.“

„Eine Wohneinrichtung.“

Sie lächelte. „Ja, Herr Sozialarbeiter.“

„Erzähl weiter.“

„Dort blieb ich eine Weile, während man versuchte, meinen Vater zu finden. Meine Eltern waren nicht verheiratet, ich habe ihn nie kennengelernt. Was wohl auch besser war, denn wie sich herausstellte, saß er im Knast, weil er Kinder belästigt hatte.“

„War dann wohl wirklich besser so.“ Tim nickte. „Das muss für dich eine riesige Enttäuschung ge…“

Genau in diesem Moment tauchte Bets mit ihrem Essen auf und Tim musste CeeCees Hand freigeben.

„Bitte schön, Honey“, sagte Bets zu CeeCee, als sie die Limonentorte vor sie stellte. „Möchtest du Extrasoße, Timmy?“

Timmy? CeeCee zuckte zusammen. Wie gut kannte Bets ihn?

„Nein danke“, sagte Tim.

„Okay.“ Bets ging zu einem anderen Tisch, rief aber noch über die Schulter: „Lasst es euch schmecken.“

Tim schob seinen Teller in CeeCees Richtung. „Möchtest du mal probieren?“

Sie schüttelte den Kopf. „Sieht aber gut aus.“ Wieder spielte sie mit dem Strohhalmpapierchen, während er in sein Sandwich biss.

„Was geschah, als sie deinen Vater gefunden hatten?“, fragte er nach dem ersten Bissen.

„Er steckte mich in eine Pflegefamilie.“

„Aha. Dann hast du ja doch schon so einige Erfahrung mit Sozialarbeitern.“

„Jede Menge.“ Sie zog die Gabel über die glatte, blasse Glasur ihrer Torte. „Ich war in sechs verschiedenen Familien.

Nicht, weil ich Probleme machte“, fügte sie hinzu. „Die Umstände waren einfach etwas schwierig.“

Er nickte. Er verstand.

„Die letzte war die beste. Eine alleinerziehende Mutter mit ein paar kleinen, wirklich süßen Kindern. Kaum hatte ich die Schule beendet, war ich aber auf mich selbst gestellt.“

„Du hast viel durchgemacht.“ Er trank einen Schluck Wasser.

„Es war nicht so schlimm. Ich habe viele Menschen kennengelernt. Und man kann von jedem, den man trifft, irgendetwas lernen.“

„Das ist sehr weise.“

„Hey, Gleason!“

CeeCee drehte sich um und sah, wie einer der Sportstudenten auf ihren Tisch zusteuerte. Er war schwarz, sehr attraktiv und bestimmt zwei Meter groß. Sie hatte ihn schon gelegentlich gesehen, meistens trug er einen Basketball mit sich herum. Manchmal konnte sie schon hören, wie er mit dem Ball dribbelte, bevor sie ihn sah.

„Hey, Wally, wie sieht’s aus bei dir?“ Tim stellte sein Glas ab und ließ zur Begrüßung seine Handfläche lässig über Wallys gleiten.

Wally schüttelte empört den Kopf. „Weißt du noch, die Braut letzte Nacht? Die hat mir übel mitgespielt, Mann.“

Tim lachte. „Was du nicht sagst.“

„Hängst du später im Cave ab?“

„Heute nicht.“ Tim nickte in CeeCees Richtung. „Das ist CeeCee“, stellte er sie vor.

CeeCee hob ihre Hand. „Hallo“, sagte sie.

„Du hast ja wahnsinniges Haar.“ Wally schien sichtlich beeindruckt von dieser Pracht.

„Danke.“

„Na dann, Chef. Wir seh’n uns später.“

Sie sahen Wally nach, wie er davonging und dabei einen unsichtbaren Basketball hüpfen ließ.

„Kennst du eigentlich jeden in Chapel Hill?“, fragte sie.

Tim lachte. „Ich lebe hier schon ziemlich lange.“ Er nahm sein Sandwich wieder in die Hand. „Jetzt musst du aber mal eine Weile reden, damit ich einen kräftigen Bissen von diesem Ding hier nehmen kann. Erzähl mir von deiner Mutter. Wart ihr euch sehr nahe?“

Er war in der Tat ein richtiger Sozialarbeiter, hatte keine Hemmungen, Fragen zu stellen. „Na ja.“ Wieder fuhr sie mit der Gabel über die Glasur und bewunderte gedankenverloren das entstandene Gittermuster. „Meine Mutter war eine erstaunliche Person. Sie wusste, dass sie sterben würde, und tat ihr Bestes, um mich darauf vorzubereiten, obwohl man auf so etwas natürlich nie vorbereitet sein kann. Aber ich schätze, das weißt du selbst am besten.“

Er nickte kauend und mit ernstem Gesicht.

„Anfangs war sie richtig wütend.“ CeeCee dachte daran, wie ihre Mutter sie bei der geringsten Gelegenheit angefahren hatte. „Und dann, nun, dann wechselten ihre Stimmungen hin und her zwischen Wut und Verzweiflung. Und danach wurde sie sehr ruhig.“ Sie betrachtete ihre unberührte Torte. „Ich habe bis zum Schluss auf ein Wunder gewartet. Und weißt du, was sie getan hat?“ Sie konnte selbst nicht fassen, dass sie ihm plötzlich davon erzählen wollte. „Sie schrieb mir Briefe. Insgesamt etwa sechzig. Jeden einzelnen hat sie in einen Umschlag gesteckt und draufgeschrieben, wann ich ihn öffnen sollte. Es gab einen für den Tag nach der Beerdigung, einen zu jedem Geburtstag, und manche trugen eher willkürliche Daten für die Jahre, in denen ich ihrer Meinung nach besonders viel Rat brauchen würde, schätze ich. Es gab zum Beispiel einen für meinen sechzehnten Geburtstag, auf dem nächsten stand ‚sechzehn plus fünf Tage‘, dann ‚sechzehn plus zwei Monate‘ und so weiter.“

Tim hatte sein Essen beendet und schüttelte erstaunt den Kopf. „Das ist phänomenal. Wie alt war sie?“

„Neunundzwanzig.“

„Mann, ich weiß nicht, ob ich in ihrer Situation so stark gewesen wäre.“

Ein Gefühl der Ruhe überkam CeeCee und sie merkte, wie gut es gewesen war, ihm davon zu erzählen.

„Also hast du noch viele Briefe von ihr, die du irgendwann in den nächsten Jahren öffnen kannst?“

„Ehrlich gesagt, nein.“ Sie lachte. „Ich habe jeden einzelnen am Tag nach der Beerdigung geöffnet.“ Sie hatte allein im Gästezimmer einer alten Großtante gesessen und die Worte ihrer Mutter gelesen. Für vieles war sie noch zu jung, aber nicht zu jung, um zu begreifen, welche Kostbarkeit ihr da hinterlassen worden war. Weinend, den Körper hin- und herwiegend, hatte sie die Briefe gelesen und ihren Verlust bis ins Mark gespürt. Sie überflog Ratschläge über Sexualität und Kindererziehung, und es spielte keine Rolle, dass sie nichts davon verstand. „Ich habe sie aber noch.“ Die Briefe befanden sich unter ihrem Bett in einer Schachtel, die mit ihr von Pflegefamilie zu Pflegefamilie gewandert war. Sie waren alles, was von ihrer Mutter geblieben war. „Sie sagte immer, ich könne selbst entscheiden, ob ich glücklich oder traurig sein wolle. Dass sie ihre letzten Tage auch als verbitterte Hexe hätte verbringen können, das waren ihre Worte, nicht meine. Sie hat sich jedoch dafür entschieden, dankbar für die Zeit zu sein, die wir miteinander hatten. Sie sang mir immer ein Lied vor, darüber, dass man für den Morgen und die Bäume und die Luft dankbar sein sollte. Sie sagte, dieses Lied solle ich jeden Morgen singen und …“ Plötzlich schloss sie betreten den Mund. Sie erzählte viel zu viel, ihr war fast schwindlig vor Erleichterung, einen so aufmerksamen Zuhörer neben sich zu haben.

„Warum hörst du auf?“, fragte er.

„Ich rede zu viel.“

„Singst du das Lied?“

Sie nickte. „Ja, im Kopf schon.“

„Und hilft es?“

„Sehr. Ich habe dann immer das Gefühl, sie wäre noch bei mir. Und deshalb versuche ich, für alles dankbar zu sein, auch für all das Unschöne, das ich erlebt habe.“ Sie blickte auf ihren Teller, auf dem es inzwischen eher wie auf einem Schlachtfeld aussah. „Hu!“, murmelte sie. „So viel rede ich sonst nie. Über mein Leben, meine ich. Entschuldige.“

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich möchte dich gerne besser kennenlernen. Und ich finde, du hattest Glück, so eine Mutter gehabt zu haben.“

„Und du bist überhaupt nicht zu Wort gekommen.“

„Dafür haben wir noch genug Zeit, CeeCee.“ Tim starrte sie einen Moment an, dann lächelte er. „Ich mag dich sehr. Ich glaube, ich habe noch nie einen so optimistischen Menschen wie dich getroffen.“

Diese Worte bedeuteten ihr mehr als jedes Kompliment. Denn solange man immer optimistisch war, konnte man alles erreichen.

Später bot er ihr an, sie nach Hause zu fahren. Sie kletterte in seinen weißen Kleinbus, und als sie die Matratze im hinteren Teil erblickte, wurden ihre Knie weich. Sie wünschte, er würde sie bitten, mit ihm in diese dunkle Höhle zu schlüpfen. Er sollte ihr erster Mann werden. Doch stattdessen fuhr er sie zur Pension, lief um den Wagen und öffnete ihr die Tür.

„Ich würde dich ja noch gerne hineinbitten“, sagte sie, als er sie zur Treppe begleitete. „Aber Männerbesuch ist bei uns nicht erlaubt.“

„Schon in Ordnung.“ Er küsste sie. Nur ganz sanft, und sie musste sich zusammenreißen, um nicht mehr zu fordern.

„Wir sehen uns morgen früh.“ Das Verandalicht spiegelte sich in seinen Augen, er zog sie lächelnd am Haar, so wie die alte Frau an der Bushaltestelle, und sie erwiderte sein Lächeln strahlend. Dann schloss sie die Tür auf und eilte die Stufen nach oben. Sie wollte Ronnie von diesem perfekten Abend erzählen, obwohl sie ahnte, dass ihre Zimmergenossin ihre Begeisterung über ein schönes Gespräch nicht teilen würde. Aber man muss sich mal vorstellen, was ich ihm alles erzählt habe, dachte sie. Er wusste jetzt sogar, dass sie noch Jungfrau war. Sie hatte das Gefühl, ihm alles sagen zu können. Er war so einfühlsam und verständnisvoll.

Aber das nächste Mal war Tim dran, und sie wollte ihm mit derselben Aufmerksamkeit lauschen wie er ihr.

Weil sie ein so durch und durch ehrlicher Mensch war, kam sie gar nicht auf die Idee, er könnte anders sein.

4. KAPITEL

Ich habe keine Ahnung, was für ein Mädchen aus dir inzwischen geworden ist, deswegen fällt es mir so schwer, dir die richtigen Ratschläge mit auf den Weg zu geben. Es ist schrecklich, nicht bei dir sein zu können. Manchmal macht es mich so wütend, dass ich nicht erleben darf, wie du erwachsen wirst!

Hier sind ein paar Dinge, die du wissen solltest. Erstens: Kein Sex! Wenn doch, dann besorge dir die Pille oder Kondome. Die Pille bekommst du beim Frauenarzt. Zweitens: Sex ist nicht so toll, wie immer behauptet wird. Die Erde beginnt nicht zu beben, besonders nicht beim ersten Mal, und jede Frau, die so etwas behauptet, ist eine Lügnerin. Drittens: Vertraue den Jungs nicht! Hier einige der Lügen, die sie dir auftischen, um dich ins Bett zu bekommen:

1. So etwas habe ich noch nie zuvor gefühlt.

2. Natürlich werde ich dich morgen früh noch respektieren.

3. Meine Eier werden blau und explodieren, wenn wir nicht miteinander schlafen.

4. Ich schwöre, ich zieh ihn raus, bevor ich komme.

Ich kann nicht fassen, dass ich dir das schreibe, meinem zwölfjährigen kleinen Baby! Schwer vorstellbar, dass du jemals alt genug sein wirst, um solche Ratschläge zu brauchen, aber hier sind sie.

Das Zimmer, das sie mit Ronnie teilte, war nicht viel größer als ein Kleiderschrank. Die beiden Betten und Nachttische ließen kaum genug Raum, um das Zimmer zu durchqueren. Zwei Abende nach ihrer Verabredung mit Tim kam CeeCee nach einer Doppelschicht nach Hause.

„Irgendwelche Nachrichten?“, fragte sie. Tim war morgens zum Frühstück gekommen, aber es war so viel los gewesen, dass sie kaum mit ihm hatte sprechen können.

„Nee, tut mir leid.“ Ronnie saß auf dem Bett und lackierte sich die Fußnägel. „Aber ein Päckchen ist für dich angekommen.“ Sie zeigte mit dem Kinn auf CeeCees Bett, auf dem eine kleine, quadratische, in braunes Papier eingewickelte Schachtel lag.

„Komisch“, murmelte CeeCee. Sie bekam nur äußerst selten Post. Sie hob das Päckchen hoch. Es war leicht wie eine Feder. Ihr Name und ihre Adresse waren mit Schreibmaschine geschrieben.

„Ich habe es geschüttelt, für mich hörte es sich leer an“, verkündete Ronnie. „Wie lief es heute Abend? Ich vermute, Tim war nicht da?“

„Nein, leider nicht.“ CeeCee setzte sich aufs Bett und schleuderte die Tennisschuhe von den Füßen. Sie massierte ihre schmerzenden Zehen. „Ob er mich jemals wieder bittet, mit ihm auszugehen?“

„Das hoffe ich doch.“ Ronnie klang aufrichtig mitfühlend.

„Warum kann ich ihn nicht einfach fragen?“ CeeCee zog an der Paketschnur, die allerdings fest verknotet war. „Warum müssen wir immer darauf warten, gefragt zu werden? Kann ich mal kurz deine Nagelschere haben?“

Ronnie warf ihr die Schere zu. „Wenn er dich nicht wiedersehen will, ist er ein Idiot. Und so einen willst du doch nicht.“

Doch, will ich. Ständig stellte sie sich vor, wie Tim sie nach der Schicht abholte, mit ihr in einen Park fuhr, wo es ruhig und abgeschieden war, und sie auf der Matratze im Bus liebte. „Ich hätte ihm niemals verraten dürfen, dass ich noch Jungfrau bin.“

„Tja, das war wirklich kindisch“, stimmte Ronnie ihr zu. Als CeeCee ihr davon erzählte, hatte sie derart laut gekreischt, dass die Hauswirtin ins Zimmer geeilt kam, weil sie befürchtete, es würde gerade jemand ermordet.

CeeCee schnitt das Paketband durch, riss das Papier ab und entdeckte eine dünne, weiße Pappschachtel. Als sie den Deckel hob, schnappte sie nach Luft.

„Da ist Geld drin!“, rief sie.

„Wie bitte?“ Ronnie stellte die Nagellackflasche auf dem Fenstersims ab und hüpfte auf CeeCees Bett. „Heiliger Bimbam.“ Sie spähte in die Schachtel. „Wie viel?“

CeeCee zog die Scheine heraus und begann zu zählen.

„Das sind ja alles Fünfziger“, bemerkte Ronnie.

„Sechshundert, sechshundertfünfzig“, murmelte CeeCee ungläubig. „Siebenhundert. Siebenhundertfünfzig.“

„Ach du liebe Zeit.“ Ronnie schnappte sich das braune Papier, in das die Schachtel eingewickelt gewesen war. „Steht denn kein Absender drauf?“

„Psst.“ Inzwischen war CeeCee bei eintausendzweihundert angekommen, ihre Hände zitterten.

Ronnie beobachtete sie schweigend, bis CeeCee schließlich einhundert Fünfzigdollarscheine abgezählt hatte. Fünftausend Dollar. Sie sahen einander an.

„Ich kapier das nicht“, sagte CeeCee.

„Vielleicht hat dir das deine letzte Pflegemutter geschickt?“, schlug Ronnie vor. „Du sagtest, dass sie richtig nett war.“

„Richtig nett und richtig arm.“

Ronnie hielt einen Schein gegen das Licht. „Sind die irgendwie markiert oder so was?“

CeeCee schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht.“

„Tja. Als du Tim deine Seele ausgeschüttet hast, erwähntest du da vielleicht auch, dass du völlig mittellos bist?“ Ronnie schien die Gedanken ihrer Freundin zu erraten.

„Aber warum sollte er denn so etwas tun?“, fragte CeeCee flüsternd.

„Also das …“, Ronnie kaute auf der Unterlippe, „… ist eine wirklich beängstigende Frage.“

Als sie am nächsten Morgen Tim Kaffee nachschenkte, sagte sie: „Ich habe gestern ein Päckchen bekommen.“

„Ein Päckchen?“ Er wirkte völlig ahnungslos. „Und was war drin?“

„Geld.“ Sie stellte die Kaffeekanne ab und zog den Bestellblock hervor. „Tim, sag mir bitte die Wahrheit. Hast du es mir geschickt?“

„Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.“ Seine blonden, in der Sonne glänzenden Locken verliehen ihm ein sanftes, engelhaftes Aussehen.

„Es waren fünftausend Dollar.“

Tim schien beeindruckt. „Damit könntest du ein paar Jahre studieren, oder?“

Sie knallte ihren Block auf den Tisch. „Es ist von dir?“

„CeeCee, ganz ruhig.“ Tim lachte. „Wenn es von mir wäre, würde ich es dir nicht sagen, weil du dich dann verpflichtet fühlen würdest. Ich würde wollen, dass du das Geld auch behältst, wenn wir nicht mehr zusammen wären. Wenn ich es dir gegeben hätte, versteht sich.“

Wenn sie nicht mehr zusammen wären? Er betrachtete sie als Paar? Sie versuchte, nicht zu glücklich auszusehen.

„Langsam werde ich sauer“, behauptete sie stattdessen. „Sag schon.“

„Sieh mal, CeeCee.“ Er tätschelte ihren Arm. „Wer immer dir das Geld geschickt hat, hätte es nicht getan, wenn er es sich nicht leisten könnte, richtig? Du brauchst es, also freu dich einfach. Kannst mich heute Abend ja zum Essen einladen. Und den Rest bringst du so schnell wie möglich zur Bank.“

Sie aßen in einem marokkanischen Restaurant, in einem kleinen Raum, den sie ganz für sich allein hatten. Tim bestellte eine Flasche Wein, und wenn der Ober nicht hinschaute, trank sie aus seinem Glas. Das Geld war bald vergessen, CeeCee war gelöst und ein bisschen albern. Sie erzählten sich sämtliche Witze, die ihnen einfielen, und sangen Lieder vom White Album der Beatles, das sie in- und auswendig kannte, weil ihre Mutter die Beatles geliebt hatte. CeeCee erzählte Tim, wie sie mit fünf in Atlantic City auf einem Beatles-Konzert gewesen war, weil ihre Mutter keinen Babysitter hatte auftreiben können. Es war eines der traumatischsten Erlebnisse ihres jungen Lebens gewesen. Die Fans kreischten so laut, dass sie von der Musik nichts hören konnte, alle standen auf den Stühlen, während CeeCee, die Hände auf die Ohren gepresst, auf dem Boden hockte. Tim war trotz allem beeindruckt, denn er hatte die Beatles nie live gesehen.

Sie wollte die Rechnung begleichen, so hatten sie es schließlich besprochen, aber Tim lehnte ihr Angebot mit einer Handbewegung ab. Am liebsten hätte sie ihm gesagt, dass sie künftig kein Trinkgeld mehr von ihm nehmen und immer zahlen würde, wenn sie zusammen ausgingen, aber nachdem er nicht zugab, das Geld geschickt zu haben, konnte sie das schlecht tun.

Nach dem Essen fuhren sie zu dem Haus, das er sich mit seinem Bruder teilte, und da war sie sicher, dass er der Absender war. Das Haus – eine große herrschaftliche Villa, umgeben von gepflegtem Rasen und Buchsbaumhecken – befand sich in der teuersten Gegend von Chapel Hill, im historischen Kern. Bei ihrem Eintreten musste CeeCee ein Keuchen unterdrücken. Offenbar kümmerte sich jemand um den Garten, doch falls es hier auch eine Haushälterin gab, so hatte sie seit langem nichts mehr getan. Kleider, schmutzige Teller und Pizzaschachteln lagen verstreut auf antiken Tischchen und Stühlen in dem ansonsten eleganten Eingangsbereich. Im Esszimmer entdeckte sie einen umgefallenen Stuhl, im Wohnzimmer lag eine zerbrochene Vase auf dem Boden. Der Geruch nach Marihuana waberte die Wendeltreppe hinunter, zusammen mit den Klängen von Hotel California.

„Das Dienstmädchen hat heute frei“, witzelte Tim. „Hoffe, du störst dich nicht an ein wenig Durcheinander.“

Ein Mann mit langem, verwuscheltem Haar kam barfuß aus dem Wohnzimmer in die Eingangshalle, eine Flasche Bier in der einen und eine Zigarette in der anderen Hand. Als er sie sah, blieb er überrascht stehen.

„Was gibt’s, Brüderlein?“

Der Mann warf CeeCee, die unvermittelt einen Schritt zurückwich, einen langen Blick zu. Seine Augen waren blutunterlaufen, er war unrasiert und sah aus wie einer der Obdachlosen auf der Franklin Street.

„Wer ist das?“ Er deutete auf CeeCee.

„Das ist CeeCee.“ Tim legte einen Arm um ihre Schulter. „Und das ist mein Bruder Marty.“

Marty nickte knapp. „Wie alt bist du?“, fragte er. „Zwölf? Dreizehn?“

„Lass sie in Ruhe“, sagte Tim.

„Ich bin sechzehn.“

Marty pfiff durch die Zähne, dann ging er zurück ins Wohnzimmer. „Tim, beweg deinen Hintern hierher“, rief er über die Schulter.

Tim sah sie um Entschuldigung bittend an. „Da ist die Küche.“ Er zeigte auf eine Tür. „Nimm dir einfach was zu trinken, ich bin gleich wieder da.“

Das Chaos in der Küche ließ die Eingangshalle beinahe wie aus einem Einrichtungsmagazin wirken. Im Waschbecken stapelte sich schmutziges Geschirr. Die lang gestreckten, blauen Arbeitsplatten waren mit Pizzaresten, leeren Bierflaschen und überfüllten Aschenbechern überhäuft. Misstrauisch öffnete sie den Kühlschrank, stellte aber zu ihrer Erleichterung fest, dass es darin nicht ganz so schlimm aussah. Verschiedene Käsesorten, Bier und eine Dose Cola. Sie nahm sich die Cola, schlich auf Zehenspitzen zur Tür und versuchte angestrengt, dem Gespräch zwischen Tim und Marty zu lauschen. Die Stimmen waren gedämpft, aber sie konnte hören, wie Marty sagte: „Du hast jetzt keine Zeit für so einen Scheiß. Du musst dich auf eine Sache konzentrieren.“

Sprach er von Tims Studium? Es war ziemlich bizarr, dass jemand, der so neben der Kappe war wie Marty, Tim eine Predigt halten wollte.

„… vermassel unseren Plan nicht“, sagte Marty.

„Du kannst mich mal“, entgegnete Tim, und dann hörte sie, wie sich seine Schritte der Küche näherten. Sie lehnte sich gegen die Küchentheke und nippte an der Cola.

„Entschuldige“, sagte Tim, als er hereinkam. „Marty ist manchmal ein wenig paranoid.“

„Macht doch nichts.“ In Wahrheit wünschte sie, Marty würde verschwinden und sie allein lassen. Sie fühlte sich nicht wohl, solange er im Haus war.

Tim nahm ihr die Dose aus der Hand und stellte sie auf den Tisch. Dann schlang er die Arme um CeeCee, lächelte sie aus seinen grünen Augen an und beugte sich nach unten, um sie zu küssen. Sie hatte schon ein paar Mal mit anderen Jungs so dagestanden. Hatte sie geküsst und ihnen sogar erlaubt, ihre Brüste anzufassen, aber mehr auch nicht. Tim aber war kein Junge. Dieser Kuss war eine Premiere für sie – ein Kuss, der elektrisierende Wellen durch ihren Körper sandte.

Tim schien zu ahnen, welche Wirkung er auf sie hatte. „Lass uns nach oben in mein Zimmer gehen“, sagte er.

„Ich nehme keine Pille oder so was.“ CeeCee fielen gerade noch die schriftlichen Ermahnungen ihrer Mutter ein.

„Keine Sorge. Ich habe Kondome.“

Sie nahm seine Hand und gemeinsam liefen sie die Wendeltreppe hinauf an einem Zimmer vorbei, aus dem die Musik dröhnte und der süße Marihuana-Geruch drang. Tims Zimmer musste mal ein schöner Raum gewesen sein, mit blau gestreiften Tapeten und einem Doppelbett aus dunklem Kirschholz. Allerdings war davon kaum noch etwas zu erkennen, und sie wollte gar nicht darüber nachdenken, wann er das Bett wohl zum letzten Mal bezogen hatte. Es war ihr egal. Er schloss die Tür, drehte den Schlüssel um und zog sie zu sich heran.

Hinterher kuschelten sie sich aneinander. Er hatte ein kleines Licht brennen lassen, in dessen Schein sie sein Gesicht auf dem Kopfkissen neben sich gerade noch erkennen konnte. Er streichelte mit den Fingern über ihre Wange und wickelte sich eine Haarsträhne darum.

„Geht es dir gut?“, fragte er. „Hast du Schmerzen?“

„Mir geht es besser als gut“, entgegnete sie. Wie ihre Mutter vorausgesagt hatte, hatte die Erde nicht gebebt. Zumindest nicht, als er in sie eindrang. Davor war sie durch seine geschickten Hände und seinen unglaublichen Mund bereits dreimal gekommen, aber als er mit ihr schlief, spürte sie nicht viel. Vielleicht lag es am Kondom. Dennoch hatte es sie unendlich glücklich gemacht, ihm so nah zu sein – jedes andere Gefühl hätte sie enttäuscht.

Als es an die Tür klopfte, zog sie schnell die Bettdecke über ihre Brust.

„Ich gehe“, rief Marty.

„Warte.“ Tim sprang auf, lief nackt zur Tür, sperrte sie auf und verschwand dann im Flur. „Hast du deine Medikamente genommen?“, hörte sie ihn fragen.

„Du weißt doch genau, wenn du unbedingt ein Mädchen flachlegen musst, dann kannst du das in deinem Bus tun“, entgegnete Marty. „Du brauchst nicht hier …“ Den Rest des Satzes konnte sie nicht verstehen. CeeCee überlegte, schnell aufzuspringen und sich anzuziehen, aber ihr war zu kalt. War sie wirklich nicht mehr für ihn? Nur eine schnelle Affäre?

Nach ein paar Minuten kam Tim zurück und legte sich mit einem Seufzen neben sie. CeeCee wurde sofort klar, dass die Stimmung unwiederbringlich verloren war.

„Er glaubt, dass ich nur deinen Körper will“, sagte er. „Aber du sollst wissen, dass das nicht stimmt. Ich mag dich. Ich mochte dich vom ersten Tag an, als du den Kaffee über mich geschüttet hast. Ich finde, du bist … bewundernswert, und ich bin so gerne in deiner Nähe. Vielleicht bist du ein bisschen naiv, was das Geschehen in der Welt betrifft, und deshalb immer so optimistisch. Ignoranz ist ein Segen, du weißt schon. Mir egal.“

Seine Worte liebkosten ihre Seele, obwohl sie sich wegen seiner Anspielungen auf ihre Naivität ein wenig schämte.

„Du hast recht“, meinte sie. „Ich weiß zum Beispiel so gut wie gar nichts über Vietnam, außer dass es hier viel Protest dagegen gab. Und dass das Leben vieler junger Männer zerstört wurde. Wie das von Marty. Was für Medikamente braucht er?“

Tim starrte an die Decke. „Du hast uns gehört?“

„Teilweise.“

„Er ist paranoid. Er glaubt, jedes Geräusch bedeutet Gefahr für ihn. Und er vertraut Menschen nicht sonderlich. Du hättest ihn gemocht, so, wie er früher war. Wenn du ihn gekannt hättest, würdest du verstehen, warum er mir so wichtig ist. Ich bin einfach froh, dass er überlebt hat. Im Gegensatz zu vielen anderen. Und er ist noch immer sehr intelligent. Intelligenter als meine Schwester und ich.“

„Du hast eine Schwester? Wohnt sie auch hier?“

„Nein“, erwiderte Tim in einem Ton, der jede weitere Frage ausschloss.

Sie setzte sich auf, umschlang ihre Knie und betrachtete den Müllhaufen in seinem Zimmer. Sie musste sich eingestehen, dass sie sich in einen Chaoten verliebt hatte. Plötzlich wusste CeeCee, wie sie ihn wieder zum Lächeln bringen konnte.

„Ich würde gern das Haus für euch in Ordnung bringen“, sagte sie. „Ich bin sehr gut im Aufräumen.“

„Kommt nicht in Frage.“

„Aber ich möchte gerne. Bitte.“ Das war das Mindeste, was sie für jemanden tun konnte, der ihr sehr wahrscheinlich fünftausend Dollar hatte zukommen lassen.

Er streichelte ihren nackten Rücken. „Wirst du dich fürs

Frühjahr am College einschreiben?“

„Auf jeden Fall.“

„Dann gehört das Haus dir“, sagte er. „Du kannst damit anstellen, was du willst. Bleib allerdings Martys Zimmer fern.“

„Ich habe vor, Marty überhaupt fernzubleiben.“

„Gute Idee.“

„Musst du lernen?“

„Ich muss ein paar Texte schreiben“, entgegnete er. „Aber das hat noch …“

„Ich fange gleich hier und jetzt an“, unterbrach sie ihn. „Es macht dir nichts aus, wenn ich in deinen Sachen herumwühle?“

Lachend strich er über ihre Brust. „Du hast doch schon ziemlich gut in meinen Sachen herumgewühlt.“

Sie brauchte einen Moment, bis sie die Anspielung verstand. Dann versetzte sie ihm einen leichten Stoß. „Du lernst und ich räume auf“, sagte sie.

Er stand auf, schlüpfte in seine Jeans und sah ihr dann beim Ankleiden zu. Als sie aufsah, lächelte er sie an. „Ich bin nicht sicher, ob ich hier einfach in Ruhe sitzen kann, während du rumläufst und dabei so niedlich aussiehst.“

„Du wirst nicht einfach sitzen, sondern arbeiten.“ Sie knipste das Deckenlicht an, nahm seinen Arm und bugsierte ihn zum Schreibtisch. „Und mir macht so was wirklich Spaß. Im Ernst. Meine Pflegemütter sagten den Sozialarbeitern immer, sie würden es vermissen, dass ich künftig nicht mehr allen hinterherräume.“

„Ich würde viel mehr vermissen.“ Tim setzte sich auf seinen Schreibtischstuhl.

Sie küsste ihn aufs Haar. Es war unvorstellbar, dass sie noch vor vierundzwanzig Stunden geglaubt hatte, die Beziehung wäre vorbei. Und jetzt fühlte sie sich so wohl, als ob sie schon jahrelang zusammen wären. Sie wünschte nur, dass noch viele gemeinsame Jahre vor ihnen lagen.

Sie begann mit seinen Kleidern. Die Dreckwäsche stopfte sie in einen überquellenden Korb, die andere legte sie zusammen oder hängte sie säuberlich auf Bügel. Dann kümmerte sie sich um seine Regale, arbeitete im Rhythmus zum Klappern der Schreibmaschine.

Nach etwa einer Stunde schob er seinen Stuhl zurück und blickte auf sie hinunter. Sie hockte im Schneidersitz auf dem Boden, umgeben von Bücherstapeln.

„Ich weiß nicht, was ich damit anfangen soll“, sagte sie. „Und was ist das hier?“ Sie hielt einige Papiere in die Höhe. Auf der ersten Seite war ein Mann gemalt, dessen Kopf auf einem Holzblock lag, während der Scharfrichter mit erhobener Axt neben ihm stand. Das Bild ließ sie erschauern. In großen Buchstaben hatte jemand mit der Hand SCAPE darüber geschrieben. „Was ist SCAPE?“, fragte sie.

Tim starrte die Blätter lange an, als müsste er sich erst erinnern, woher er sie kannte. „Wenn ich dir jetzt etwas erzähle, kannst du es für dich behalten?“

„Tim“, antwortete sie entrüstet. „Überleg dir mal, was ich dir alles erzählt habe.“

Er wirkte noch immer unschlüssig. Dann stand er auf, streckte ihr die Hand hin, zog sie hoch und gemeinsam liefen sie über den Flur in ein riesiges Schlafzimmer, das früher wohl seinen Eltern gehört hatte. Es war angenehm, ein Zimmer zu sehen, das die beiden Brüder bisher noch nicht verwüstet hatten. In der Mitte stand ein Himmelbett, ein rotbrauner Perserteppich bedeckte fast den ganzen Boden.

Tim setzte sich aufs Bett und nahm einen Bilderrahmen von dem Marmornachttisch. Auf dem Foto waren drei Teenager zu sehen, zwei Jungen und ein Mädchen, alle drei grinsten fröhlich in die Kamera. Der Junge links war Tim. Seine blonden Locken waren länger und wilder als jetzt, und sein Lächeln unterschied sich ebenfalls von seinem heutigen. Damals war es offener. Noch nicht durch Zeit und Erfahrung matt geworden.

„Das bist du“, sagte CeeCee.

„Richtig.“ Tim deutete auf den anderen Jungen. „Und das ist Marty.“

Der grinsende junge Marty wirkte sauber und adrett wie ein junger Soldat. „Ihn hätte ich nicht erkannt.“

„Da war er gerade achtzehn. Die Woche drauf musste er nach Vietnam. Andie …“, Tim zeigte auf das Mädchen, „… und ich waren fünfzehn.“

„Sie ist deine … ist das deine Schwester?“, fragte Cee-Cee.

Zum ersten Mal, seit sie ihn nach SCAPE gefragt hatte, lächelte er wieder. „Meine Zwillingsschwester.“ Mit einem Finger strich er behutsam über das Glas. Seine Stimme war voller Liebe. „Und hier kommt SCAPE ins Spiel.“

„Das verstehe ich nicht.“

Tim seufzte tief. „Vor ein paar Jahren wurde Andie wegen Mordes verhaftet.“

CeeCee schnappte nach Luft. „Mord? Hat sie es getan?“

Tim antwortete eher ausweichend. „Als letzten Sommer endlich der Prozess war, kamen die Geschworenen zu dem Schluss, dass sie es getan hat.“

Jetzt begriff CeeCee auch, warum er sich so sehr für Haftbedingungen interessierte. „Und worauf begründeten sie ihren Entschluss?“

„Weil sie meine Schwester nicht kannten. Andie konnte keiner Fliege was zuleide tun. Und außerdem … Marty hat alles vermasselt. Ich mache ihm keine Vorwürfe deswegen, aber er fühlt sich noch immer beschissen.“

„Was hat er getan?“

Tim starrte auf das Foto. „Es war so. Ein Fotograf sollte Bilder von unserem Haus machen, für die Zeitschrift Southern Living Classics. Kennst du sie?“

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