×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Das Haus am Rande der Magie«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Das Haus am Rande der Magie« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Das Haus am Rande der Magie

Als Buch hier erhältlich:

Ein fieser Fluch, ein verborgener Schatz und ein Zauberer in Pantoffeln

Taschendiebin Neun stiehlt auf einer ihrer Missionen ein Miniaturhaus von einer Hexe. Es ist so winzig, dass es auf ihre Handfläche passt. Als sie den klitzekleinen Türöffner betätigt, eröffnet sich ihr eine ganz neue magische Welt voller Unmöglichkeiten und verrückter Kreaturen, darunter ein durchgeknallter junger Zauberer und ein Troll in Rüschenschürze. Doch das Haus steht unter einem Fluch, den nur Neun brechen kann …

Ein kampflustiger Löffel und ein verschwindendes Klo: in diesem magischen Haus geht es drunter und drüber


»Mehr Fantasie kann man zwischen zwei Buchdeckeln wirklich nicht unterbringen.« Andrea Wedan, Buchkultur, 14.10.2021


  • Erscheinungstag: 26.10.2021
  • Aus der Serie: Das Haus Am Rande Der Magie
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 160
  • Altersempfehlung: 10
  • Format: Hardcover
  • ISBN/Artikelnummer: 9783748800804

Leseprobe

Für Sophie

Wer auch immer das hier liest:

Mein Name ist Neun, und Sie müssen mir einen Gefallen tun.

Gehen Sie zu den heruntergekommenen Lagerhäusern in der Kerbholzgasse. Klopfen Sie an die dritte Tür und sagen Sie: »Heute keine Erdbeeren.«

Erklären Sie Zocks, dass Neun Sie schickt. Richten Sie dem alten Wieselgesicht aus, dass er mich niemals wiedersehen wird. Warum? Weil er unrecht hat – manchmal schenkt einem das Leben eben doch Erdbeeren. Manchmal steht man, ohne es zu merken, am Rande der Magie.

Und genau das ist mir passiert.

Neun

KAPITEL 1

Neun kauerte auf dem trubeligen Markt hinter den Fischkisten. Tote Fische wirken immer so überrascht, dachte sie. Darüber, dass sie tot sind? Darüber, dass sie gefangen wurden? Tja, Neun ließ sich von niemandem überraschen. Sie hatte nicht vor, gefangen zu werden, und erst recht nicht zu sterben. Obwohl sie das Risiko jeden Tag ihres Lebens einging.

Sanft tätschelte sie die leere Umhängetasche, die sie sich quer über den Oberkörper geschlungen hatte. Lange würde sie nicht leer bleiben.

Konzentrier dich.

Sie schloss für einen Atemzug die Augen und öffnete sie wieder. Wie eine Katze: Beute ins Visier nehmen, anpirschen und im richtigen Moment zuschlagen. Doch eine Maus wollte Neun ihrem Herrchen nicht bringen. Sie hatte eine andere Art von Geschenk im Sinn.

Allmählich verlor Zocks, der Bandenboss, die Geduld mit ihr. Sie musste sich beweisen. Ihm beweisen, dass sie das Dach über dem Kopf und die kärgliche Ration Essen wert war, die der alte Teufel ihr täglich zuteilte. Das hier war ihre Chance.

Auf dem Markt waren alle mit den Gedanken woanders, sie schlenderten und plauderten. Es war der perfekte Ort für einen Überfall. Karren ratterten, Händler schrien, Kisten klapperten. Vom anderen Ende der Marktbude rief die Fischverkäuferin, die ein Tuch um Kopf und Schultern gewickelt hatte, der Menge etwas vom Fang des Tages zu, der für Neun einfach nur wie ein extragroßer, extraüberraschter Fisch aussah. Sie duckte sich und spähte um die Kisten herum. Ein Pferdewagen rumpelte über das Kopfsteinpflaster und versperrte ihr die Sicht. Als der Gaul weitergetrottet war, lächelte sie.

Ihre Beute. Eine junge Dame stand mit dem Rücken zu ihr. Nach Größe und Statur zu urteilen, war sie höchstens ein paar Jahre älter als Neun, aber sehr elegant. Sie trug ein bauschiges Kleid in Scharlachrot, eine Haube und, was noch wichtiger war, eine schicke Perlenhandtasche.

Neuns Sinne waren hellwach. Ihre Muskeln angespannt. Sie ging in Position, ballte die Fäuste, dehnte die Finger – ihr Aufwärmritual.

Die scharlachrote Dame steuerte in Richtung Stoffladen auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Perfekt. Wenn sie die Tür öffnete, würde Neun den Moment der Ablenkung nutzen, absichtlich mit ihr zusammenprallen und sich die Handtasche schnappen.

Noch drei …

Oh, wie sie diesen Nervenkitzel liebte.

Zwei …

Behalt die Beute im Auge.

Eins …

Die Dame hatte die Tür beinahe erreicht.

Los!

Neun sprintete über die Pflastersteine, direkt auf ihr Ziel zu.

RUMS. Sie rannte in die Dame hinein, griff nach der Tasche …

Genau in dieser Sekunde schwang die Ladentür auf. Der Blick des Besitzers fiel auf Neun und ihre ausgestreckte Hand. Mist! Das war nicht gut. Sie ließ die Perlentasche los. Ganz und gar nicht gut. Die Dame in Scharlachrot stolperte kreischend rückwärts.

Panisch hastete Neun zurück zum Fischstand. Sie könnte sich zwischen den Kisten durchschlängeln und …

»HEDA

Neun keuchte auf, als zwei mächtige Pranken auf ihren Schultern landeten.

»Das hab ich gesehen, Früchtchen«, knurrte der Ladenbesitzer mit tiefer Stimme. »Was für ein Spiel spielst du?«

»Es heißt Fangen«, gab Neun zurück, ehe sie sich loswand, den Fang des Tages packte und dem Ladenbesitzer ins Gesicht schleuderte. Der wankte rückwärts und wirkte dabei sogar noch überraschter als der Fisch. Mit aller Kraft stieß Neun einen Kistenstapel um. Tote Fische glitschten wie Gedärme über die Straße, und der Ladenbesitzer krachte in den Verkaufsstand. Neun gönnte sich einen Moment, um den Anblick zu genießen – die Fischverkäuferin schlug mit einem Riesenhummer auf den Ladenbesitzer ein –, dann rannte sie los, wich Menschen, Pferden und dampfenden Haufen …

SCHMATZ. Neun blieb stehen, schaute auf ihren dungverschmierten Schuh hinunter und rümpfte die Nase.

»Halt!«

Als sie einen Blick über die Schulter warf, sah sie den hummerverdroschenen Ladenbesitzer auf sich zustürmen. Sie schnaubte und flitzte weiter, so schnell ihre Füße sie trugen. Sie musste verschwinden, schützende Mauern finden, hinter denen sie sich verstecken konnte, bis der Mann die Verfolgung aufgab. Sie schoss an Schaufenstern und Häusern vorbei und hielt sehnsüchtig nach dem einen Ort Ausschau, an den sie fliehen konnte. An dem sie immer geborgen sein würde.

Ah! Da war er ja endlich. Ihr Körper entspannte sich ein klein wenig. Das hohe, baufällige Gebäude war der sicherste Ort der Welt. Zwei Fenster waren mit Brettern vernagelt, einige Dachziegel fehlten, doch die Tür, von der die ausgeblichene blaue Farbe abblätterte, stand einladend einen Spaltbreit offen.

Neun sah sich rasch um. Der Ladenbesitzer kämpfte sich noch durch die Menge und wich streunenden Hunden aus. Ein winziges Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, als sie die Tür aufschob und in die Bücherei schlüpfte. Beim Schließen quietschten die Angeln.

Pssst. Niemand durfte sie hören. Niemand durfte sie sehen. Und wenn sie schon einmal hier war, konnte sie auch gleich ein Buch stibitzen und sich unbemerkt wieder davonschleichen. Das war schließlich eine gute Übung.

Die Luft war feucht und muffig. Ein paar Damen und Herren standen im ruhigen Hauptraum verteilt und blätterten mit dem Rücken zu ihr in Büchern oder Zeitschriften. Keine Spur vom Bibliothekar. So weit, so gut.

Neun machte einen Schritt. Eine Fußbodendiele knarrte. Sie hielt den Atem an. Nichts.

Sie schlich auf ihr liebstes, allerdings halb leeres Regal zu: Detektivgeschichten. Erzählungen, in denen die Antworten verborgen waren und Rätsel gelöst werden mussten und in denen ihr für einen Moment alles möglich schien. Sie ließ die Finger über die weichen, dunklen Buchrücken wandern.

Sie liebte Bücher. Eine der älteren Elstern hatte ihr das Lesen beigebracht, ehe er aus dem Nest ausgeflogen war. Er hatte Neun als Einziger wie einen Menschen behandelt und nicht wie den Dreck, der jetzt an ihrem Schuh klebte. Sie war ihm unendlich dankbar. In jedem Buch wartete eine Welt: eine Welt, in die sie sich flüchten konnte.

Bei einem braunen Einband mit goldener Aufschrift hielt sie inne. Das Geheimnis im Wolfenmoor von Horatio Piddlewick. Sie schloss die Finger darum, zog es leise und behutsam heraus und …

»Erwischt«, flüsterte eine Männerstimme neben ihrem Ohr.

Neuns Herz machte einen Satz, und das Buch fiel runter. Der Mann fing es auf.

Neun stemmte die Hände in die Hüften und wirbelte zum rothaarigen Bibliothekar herum, der aufrecht und stolz vor ihr stand. »Was?! Nein! Ich war mucksmäuschenstill, Mr. Downes.«

Die Augen des Bibliothekars hinter der Hornbrille funkelten fröhlich, während er mit erhobenem Zeigefinger sagte: »Ah, ah, ah, die Diele hat geknarrt.«

Neun schüttelte unwirsch den Kopf. Mr. Downes klemmte sich das Büchereibuch unter den Arm, holte ein kleines Notizbuch aus seiner Jacketttasche und blätterte bis zu einer dicht beschriebenen Seite. »Ich glaube, es steht … ja, zwölf Punkte für mich, fünf für dich.« Er strahlte Neun an, ehe er plötzlich die Stirn runzelte und die Nase krauszog. »Was riecht denn hier so?«

Neun schob den verschmierten Schuh hinter den sauberen. »Ich rieche nichts.«

»Hmmm.« Mr. Downes schürzte die Lippen, nahm das Buch wieder in die Hand und betrachtete es. »Das Geheimnis im Wolfenmoor

»Das habe ich schon dreimal durch. Sie sollten dringend ein paar neue Bücher anschaffen.«

Das Funkeln in seinen Augen erlosch, und Sorge furchte sein Gesicht. »Du weißt doch, dass die Bücherei sich keine neuen Bücher leisten kann. Wir haben nicht einmal genug Geld, um das Gebäude instand zu halten. Es ist ein Wunder, dass wir überhaupt noch geöffnet haben.«

»Tja.« Neun schnappte ihm das Buch wieder weg und marschierte in Richtung Haupteingang. »Dann muss das hier wohl reichen.«

»Neun«, zischte Mr. Downes und hastete ihr hinterher. »Muss ich dich schon wieder daran erinnern, dass ich dir ohne Unterschrift eines Vormunds und eine hinterlegte Anschrift keine Ausleihkarte ausstellen kann und dass du ohne Ausleihkarte keine Bücher ausleihen darfst?«

»Das ist für einen Freund.«

»Und dieser Freund hat vermutlich ebenfalls keine Ausleihkarte und darf somit auch keine Bücher …«

Kurz vor der Tür blieb Neun stehen. »Lassen Sie es mich jetzt mitnehmen oder nicht?«

Mr. Downes schaute sie an und hob eine Augenbraue. »Eine Woche.«

Neun schob das Buch in ihre Umhängetasche, zwinkerte dem Bibliothekar zu und schlüpfte aus der Bücherei. Sein geräuschvoller Seufzer der Verzweiflung brachte sie zum Lächeln.

KAPITEL 2

Als Neun nach draußen trat, stieß sie beinahe mit einem graubärtigen Mann zusammen, der zu Boden starrte. Sie wollte ihn schon anmeckern, konnte sich aber gerade noch beherrschen und beobachtete, wie er im Pfandhaus gegenüber verschwand. Kurz darauf kam er wieder heraus, beschwingt und vermutlich um einen ordentlichen Batzen Geld reicher.

Sie hätte sich ohrfeigen können. Warum hatte sie sich nicht geschnappt, was auch immer der Mann bei sich getragen hatte? Dann wäre Zocks ausnahmsweise einmal zufrieden mit ihr gewesen. Was der Mann wohl verpfändet hatte? Vielleicht ein Familienerbstück? Ihre Gedanken wanderten zu ihrem kostbarsten Besitz – einer kleinen silbernen Spieldose ohne Wert, der einzigen Sache, die wirklich ihr gehörte. Zumindest stand sie nicht im Schaufenster des Pfandleihers, sondern nur auf Zocks’ Regal.

Zocks. Konzentrier dich.

Neun lief zurück zum Markt. Ihre Augen gingen auf die Jagd nach dem perfekten Mitbringsel für den alten Teufel. Allmählich legte sich der Trubel. Die Händler stapelten Kisten und beluden Karren, während die letzten Kunden umherspazierten. Da entdeckte Neun wieder die junge Dame in Scharlachrot, die ihr Perlenhandtäschchen umklammerte – dieses wunderschöne, ungewöhnliche Täschchen. Welche Schätze verbargen sich in seinem Inneren? Schmuck? Gold? Neun lächelte. Eine zweite Chance war ein seltenes Geschenk. Diesmal würde sie es nicht vermasseln. Diesmal würde sie Zocks zeigen, was sie draufhatte.

Wie eine Katze: Beute ins Visier nehmen, anpirschen und im richtigen Moment zuschlagen. Neun ging in Position, ballte die Fäuste, dehnte die Finger.

Noch drei …

Oh, wie sie ihr Leben hasste.

Zwei …

Aber sie liebte diesen Nervenkitzel.

Eins …

Behalt die Beute im Auge.

Und … los!

Sie stürzte sich auf die scharlachrote Dame und packte das teure, zarte Trageband der Handtasche. Doch die Dame hielt sie fest – diesmal war sie vorbereitet.

Unbekannte Stimmen ertönten.

»He, du!«

»Stehen bleiben!«

Anscheinend war heute ihr Unglückstag. Panisch zerrte Neun an der Tasche. Ein kleines, dunkles Etwas flog heraus und kullerte über das Kopfsteinpflaster. Das war die Gelegenheit! Neun ließ die Tasche los, griff sich das Ding und rannte.

In ihrem Rücken wurden Schreie und Flüche laut, doch sie hatte nur Augen und Ohren für das, was vor ihr lag. Mit wippender Umhängetasche sprintete sie über die Pflastersteine, huschte zwischen Karren und Menschen hindurch und …

»Haltet den Dieb!«, rief eine wütende Stimme.

Sie riskierte einen Blick über die Schulter. Ein rotwangiger Fleischer in einer blutigen Schürze war nur einen Steinwurf hinter ihr. Gleich würde er sie erwischen …

DONK. Sie rannte gegen ein großes Fass, das ein schlaksiger Junge vor sich herrollte. Prompt wurde sie von den Füßen gerissen, segelte über das Fass und landete unsanft auf der anderen Seite. Dabei flog ihr das kleine, dunkle Ding aus der Hand.

Während sie sich wieder hochrappelte, suchte sie verzweifelt den Boden danach ab. Da drüben – gerade noch in Reichweite. Sie streckte sich …

Schimpfend rollte der schlaksige Junge sein Fass weiter und trat dabei versehentlich gegen das Ding, das über die Pflastersteine hüpfte und still zwischen den Hufen eines nicht ganz so stillen Pferds zum Liegen kam.

»Hey!« Wieder der Fleischer.

Neuns Miene verfinsterte sich. Er hatte sie fast eingeholt. Ihr Blick huschte zu dem Ding unter dem Pferd. Eindeutig irgendeine Art von Figürchen, mit Sicherheit wertvoll. Das würde sie sich nicht durch die Lappen gehen lassen. Die blutige Schürze versperrte ihr die Sicht, eine Hand wollte sie packen …

Neun warf sich zur Seite und sprang auf. Sie sprintete auf das Pferd zu, den Fleischer dicht auf den Fersen.

Seine wütenden Finger grapschten nach ihr. Neun ließ sich zu Boden fallen und hörte, wie ihre Jacke riss, als sie sich seinem Griff entwand. Sie glitt unter dem stampfenden Pferd hindurch und schnappte sich das Figürchen. »Hab ich dich«, flüsterte sie.

Mit Pferd und Wagen als Schutzwall zwischen sich und dem Fleischer stand sie auf und stopfte ihr Diebesgut in die Umhängetasche. Und ehe ihr Verfolger das Tier umrundet hatte, war sie schon in der nächsten Gasse verschwunden.

Je tiefer sie in das Labyrinth aus engen Sträßchen vordrang, desto leiser wurden die Geräusche vom Markt. Die Rufe des Fleischers ertönten nur noch gedämpft und gelegentlich. Mit brennender Brust wurde Neun langsamer, bis sie schließlich eine verlassene Sackgasse erreichte. Hohe Backsteinmauern mit vereinzelten Toren fassten die Hinterhöfe der Häuser zu beiden Seiten ein. Das hier war kein Ort, an dem man lange bleiben wollte – oder sollte.

Doch Neun brauchte eine Verschnaufpause, ehe sie zu Zocks zurückkehrte. Und dem Wieselgesicht zeigte, wie viel sie wert war.

Sie setzte sich auf den Boden und holte das Figürchen aus der Umhängetasche.

Ein Haus.

Ein Haus? So klein, dass es auf ihre Handfläche passte, wie ein Puppenhaus in einem Puppenhaus – nur sehr viel seltsamer. Die vier schmalen Stockwerke waren mit winzigen Fenstern und eigentümlichen Vorsprüngen hier und dort übersät. Hohe und spitze runde Türme ragten zu beiden Seiten empor. Auf dem Ziegeldach thronte ein windschiefer Schornstein, und ganz unten prangte eine blaue Flügeltür mit einem klitzekleinen Türklopfer.

Sehnsüchtig berührte Neun die Tür. Ein Haus. Ein Heim. Wie es wohl wäre, in einem Haus zu leben anstatt in Zocks’ miefigem Nest? Sie schob den dreckstarrenden kleinen Finger unter den winzigen Ring des Türklopfers und ließ ihn gegen die Tür fallen. Ein flüsterleiser Schlag.

»Niemand zu Hause«, murmelte sie und stand auf. Der Tumult auf dem Markt war inzwischen bestimmt abgeklungen, und sie konnte gefahrlos zurück zu …

Ihre Hand kribbelte. Komisch. Sie schaute nach unten. Das Häuschen vibrierte. Staunend beobachtete Neun, wie es immer heftiger zitterte, bis der kleine Türklopfer von selbst gegen die Tür hämmerte. Schnell stellte sie das Ding auf den Boden und wich einen Schritt zurück. Mittlerweile schwankte das Haus wild hin und her, ehe es plötzlich mit einem Zischen zu wachsen begann – zu wachsen?! –, sowohl in die Höhe als auch in die Breite.

Vor Neuns ungläubigen Augen füllte das Haus jede verfügbare Lücke in der Gasse aus, indem es sich wand und streckte und immer wieder neu anordnete, um keinen einzigen Zentimeter zu vergeuden. Stockwerke schoben sich über die Dächer der anderen Gebäude, bis das Haus sich in ein abenteuerlich geformtes Bauwerk mit acht – neun – zehn – elf Etagen verwandelt hatte, das aussah, als könnte es jederzeit umkippen.

Sprachlos und erschrocken versuchte Neun zu verstehen, was da gerade passiert war. Ihr Blick wanderte von der blauen Eingangstür mit dem nicht mehr ganz so winzigen Türklopfer direkt vor ihr über die elf gequetschten, verzogenen Stockwerke nach oben.

Das Haus war das Ebenbild des Puppenhaus-Puppenhauses, nur mit noch mehr zusammengewürfelten Etagen und Fenstern. Aus einer Seite des Dachs wölbte sich eine merkwürdige Beule. Sie wackelte weiter, bis mit einem leisen Ploppen der windschiefe Schornstein hervorschoss.

»Was zum …?«, fing Neun an, doch ehe sie den Satz beenden konnte, ging die Haustür auf, und dort im Rahmen stand ein riesiges, hässliches Wesen – eine Mischung aus Walross und Baumstamm –, weit größer als der größte Mensch und doppelt so breit. Es hatte borkige graue Haut, einen langen, dünnen Schwanz, runde gelbe Augen, zwei Stoßzähne …

Und es trug eine weiße Rüschenschürze, unter deren Band ein Staubwedel klemmte.

»W…?« Neun starrte das Wesen an. Ihre Beine hatten offenbar vergessen, wie man sich bewegte.

»Du spät«, grunzte das Wesen. »Wir warten.«

Dann packte es Neun mit der rauen Pranke am Kragen, zerrte sie hinein und warf die Tür zu.

KAPITEL 3

Das Wesen grinste breit, schief und stoßzahnig, als es sie sanft auf dem Boden absetzte. Sofort ballte Neun die Fäuste. Sie würde sich nicht kampflos ergeben. Das Wesen tätschelte ihr unbeholfen den Kopf. Neun ließ die Fäuste etwas sinken, eher aus Überraschung denn aus Beruhigung. Sie hasste Überraschungen.

»Hund? Brav«, sagte das Wesen und hob sie noch einmal hoch. Es wirkte ziemlich verwirrt.

»Von wegen!«, gab Neun zurück und strampelte wild mit den Beinen. »Ich bin kein Hund. Ich bin ein Mensch. Und brav bin ich ganz sicher nicht. Jetzt lass mich runter!«

»Du Fräulein?« Stirnrunzelnd gehorchte das Wesen und schaute genauer hin. Es stand nun mit dem Rücken zur Eingangstür und wirkte sogar noch verwirrter als zuvor.

Neun machte sich so groß wie möglich und dachte an ihre zerzausten schwarzen Haare und die zerlumpte, fleckige Hose. »Ja, ich Fräulein«, antwortete sie trotzig. »Also, so was in der Art.«

Das Wesen neigte den Kopf, als wollte es begreifen, was es da genau vor sich hatte. Neun wiederum würde wohl nie begreifen, was sie da genau vor sich hatte. Das alles konnte unmöglich echt sein. Vielleicht hatte sie sich bei ihrem Sturz den Kopf angeschlagen, und das Ganze war nur ein seltsamer Traum, fabriziert von ihrem pflastersteingeschädigten Gehirn? Wenn es tatsächlich ein Traum war, dann verwandelte er sich allmählich in einen Albtraum.

Rasch schaute Neun sich um – ein Fluchtplan musste her. Sie befand sich in einer düsteren pflaumenfarbenen Diele, die nur von einem Kronleuchter an der Decke erhellt wurde. Hinter ihr erhob sich eine mindestens ebenso düstere Treppe.

In einem Haus, das gerade frisch aus dem Boden geschossen war.

Nichts davon konnte echt sein.

Das Wesen, das ihr die Tür versperrte, wirkte allerdings sehr echt – und sehr groß.

Konzentrier dich. Fluchtmöglichkeiten.

Fenster vielleicht? Nein … es gab keine Fenster. Was merkwürdig war, weil sie von draußen definitiv welche gesehen hatte. Stattdessen waren die Wände in der Diele und entlang der Treppe mit schief hängenden Gemälden von wichtig wirkenden Leuten gesäumt, die alle die gleichen, leicht geblähten Nasenflügel hatten. Zwischen zwei Türen stand eine Holzvitrine mit Glastüren und vielen Pokalen darin.

Zur einen Seite der Eingangstür war ein blau-weißes Wappen angebracht. Darauf erkannte Neun so etwas wie zwei Stöcke über einer dicken Kröte. Zur anderen Seite der Tür hing eine sechseckige Uhr mit fünfzehn Zahlen statt zwölf. Ihre vier schwertförmigen Zeiger wiesen alle auf die 15 ganz oben.

Moment mal. 15? Warum sollte …?

Das Wesen tat einen Schritt auf Neun zu und riss sie aus ihren Gedanken.

Sie ging wieder in Kampfstellung. »Denk nicht mal dran, mich zu fressen. Ich warne dich, ich bin nur Haut und Knochen.«

»Fräulein fressen? Fräulein fressen?«, rief das Wesen dröhnend. Es hielt sich den runden, schürzenbedeckten Bauch und fing an zu lachen – ein schreckliches Geräusch, als hätten zwei Steine Reibereien.

Neun reckte das Kinn und fixierte das Wesen. Zum Glück konnte es nicht hören, wie heftig ihr Herz schlug. Aus dem Augenwinkel entdeckte sie neben sich auf einem hohen Tischchen mit wackeligen Beinen einen Kerzenhalter aus Messing.

»Zurück mit dir!«, warnte sie zittrig. Sie packte den Kerzenhalter und hob ihn hoch, bereit, ihn auf das Wesen zu schleudern. »Nicht, dass du mich wirklich fressen könntest, schließlich bist du nicht echt

»FRÄULEIN FRESSEN!«, wieherte das Wesen wieder.

»Etwas Derartiges würde Erik selbstredend niemals tun«, meldete sich plötzlich eine ruhige, höfliche Stimme von der Treppe zu Wort. »Er ist Vegetarier, wie uns der Geruch hier im Haus jeden Tag so subtil in Erinnerung ruft. Und ich kann Ihnen versichern, Madame, dieser Geruch ist überaus echt