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Das Haus der glücklichen Alten

Als Buch hier erhältlich:

Im Alter von 84 Jahren verliert Antonio Silva seine Frau. Aber es kommt noch schlimmer: Er muss ins Altersheim. Gemeinsam mit anderen Greisen versucht er dort, dem Tod so viel Leben wie möglich abzuringen, und durchläuft so eine ungeahnte Wandlung. Sein Herz öffnet sich, und die Erinnerungen an seine Vergangenheit im Portugal des 20. Jahrhunderts ändern das Bild, das er von sich selbst hat. Silva erkennt immer deutlicher, dass er zwar vordergründig ein guter Mensch war, dass dies in Zeiten einer Diktatur, wie der Salazars, aber nicht genügt. - Mit kantigem Humor und behutsamer Einfühlung erzählt Valter Hugo Mãe eine verblüffende Geschichte über Verantwortung, Freundschaft und Selbsterkenntnis.
  • Erscheinungstag: 25.02.2013
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312005567

Leseprobe

 

 

Inhalt

 

  1   Der Faschismus der guten Menschen

  2   Das Weiß ist die Lehrzeit für den endgültigen Zerfall

  3   Die Liebe ist eine vorübergehende, aber weitverbreitete Dummheit

  4   Ein Anfall von irgendwas

  5   Teófilo Cubillas

  6   Schönheit des Edelmanns und Hunger des Elenden

  7   Portugal erben

  8   Der europäische Silva

  9   Die Zeit ist nicht linear

10   Zu kleine Augen, um etwas so Großes zu sehen

11   Der vor Metaphysik überschäumende Esteves

12   Das Loblied auf das schöne Leben als armer Schlucker

13   Die Maschine, die dem Menschen die Metaphysik raubt

14   Nicht praktizierende Staatsbürger

15   Alt im Kopf

16   Das selektive Gedächtnis

17   Die Maschine zum Spaniermachen

18   Gott ist ein Verlangen, das wir in uns tragen

19   Wir sind ein Volk auf salzigen Wegen

20   Was da reinpasst ist klein

21   Ich brauchte diesen Rest Einsamkeit, um etwas über diesen Rest an Gesellschaft zu lernen

22   Das Hochgefühl vor dem Tod

 

1   Der Faschismus der guten Menschen

 

Wir sind gute Menschen. Was nicht heißt, wir wären deshalb Volltrottel, ohne eine gewisse Robustheit, um mit Schwierigkeiten fertig zu werden, ganz und gar nicht, wir sind wirklich gute Menschen und bewahren uns den naiven Willen, dass man uns als solche ansieht, als ehrliche und fleißige Leute. So ein Volk, verstehen Sie. Er legte den Kugelschreiber aus der Hand. Er wollte, dass ich ihn nicht missverstehe, und musste sich daher erst einmal sicher sein, dass ich ihm überhaupt zuhörte. Wissen Sie, antwortete ich, mir ist nicht sonderlich nach reden, ich bin etwas nervös. Machen Sie sich keine Sorgen, sagte er weiter, das Gespräch soll Ihnen vor allem als Unterhaltung dienen, und wenn Sie sich einfach nur unterhalten fühlen und selber nichts weiter sagen, nehme ich es Ihnen auch nicht übel. Das kommt von der Freiheit, fügte er hinzu. Einmal misstrauen wir allem und jedem, das andere Mal sind wir die friedlichsten Familienväter der Welt, unendlich glücklich und verträumt. Und wenn wir aus dem Haus gehen, können wir an alle möglichen Grausamkeiten denken, so als ob nichts wäre, und es ist auch nichts. Gedanken, mein Freund, zählen heutzutage nicht mehr viel. Sie sind nicht von Belang. Das kommt auch von den Freiheiten, dass es bedeutungslos ist, was man denkt, weil es so aussieht, als müsste man gar nicht mehr denken. Wissen Sie, es ist, als ob wir als freie Menschen überhaupt nicht mehr an die Freiheit denken müssten. Freiheit ist eine gegebene Tatsache, sie ist einfach da, wie Sauerstoff, so wie wir unsere Lunge zum Atmen benutzen. Und uns soll keiner einreden wollen, wir würden wieder Zensur brauchen, egal, was für eine, das wäre eine Unmenschlichkeit, wir sind doch jetzt Europäer. Jeder Fehler in unserem eigenen Denken muss durch europäisches Denken korrigiert werden, für immer. Es ist wirklich eine Errungenschaft. Das ist wie Atmen. Damit es Sauerstoff gibt und wir unsere Lunge benutzen dürfen, muss man keinen Antrag stellen, man macht es, und basta, und niemand käme auf die Idee, es könnte anders sein. Ich war ungeduldig. Ich nickte, als wäre ich einverstanden, das war meine Art, ein Gespräch abzukürzen, ohne durchzudrehen. Laura wurde nicht entlassen, und die Ärzte kamen und gingen, ohne sich auch nur die Bohne um mich zu kümmern. Der Mann griff wieder zum Kugelschreiber, um endlose Formulare auszufüllen, und sagte noch mal, wenn wir kein Aufsehen erregen, können wir ein Leben lang die schlimmsten Instinkte hegen, und niemand wird davon wissen. Mit der Freiheit passiert es nur den unvorsichtigsten Dummköpfen, schlechte Menschen zu sein. Alle anderen passen auf und fügen sich erhobenen Hauptes in die Gesellschaft ein. Und was sagt uns das?, fragte ich. Was uns das sagt?, griff er, entzückt von meinem gespielten Interesse, meine Worte auf. Ja, gab ich etwas provozierend zurück, was wollen Sie damit eigentlich sagen, was bedeutet so eine versponnene Behauptung in der Praxis? Er legte den Kugelschreiber wieder aus der Hand und erhob sich mit einem Gesichtsausdruck, als würde er mich gleich mit einem nicht enden wollenden Redeschwall überschütten, kam dann aber, nach kurzem Zögern, direkt zur Sache. In einer Zeit, in der wir alle gute Menschen sind, muss die Schuld bei den Unschuldigen liegen, antwortete er. Ich dachte an die Unschuldigen. Ich bin kein Mitleidsmensch, es gibt keine Unschuldigen. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, bitte, könnten Sie nicht in Erfahrung bringen, wie es meiner Frau geht? Wir sind schon zwei Stunden hier, und dafür, dass ihr nach dem Kaffee schlecht wurde, ist das schon ganz schön lange, finde ich. Immer mit der Ruhe, immer mit der Ruhe, hier stellt Gott die Uhren. Ich glaube nicht an Gott, antwortete ich, die Menschen reichen mir. Denken Sie etwa, erwiderte er, ich glaube an ihn? Nein, das ist nur so eine Redensart, man plappert nach, was die anderen sagen, ohne groß darüber nachzudenken.

Ich trat ans Fenster. Der Tag war trübe, nicht nebelig, sondern von einer so dichten Helligkeit, dass man sie kaum durchdringen konnte, die Augen brannten mir wie bei einem drohenden Unwetter. Er stand ebenfalls auf und sagte, es ist so schwül, ich hasse solche Tage. Wie ich, antwortete ich. Er fragte, wegen unseres Gespräches… Sie sind doch nicht böse, Senhor Silva, oder? Ach, i wo, sagte ich. Das sind so Dummheiten, die einem durch den Kopf gehen, wenn man zu viel über das Leben nachdenkt, betonte er, weil, über den Tod nachdenken, das macht Angst. Nur zu, werden Sie nicht müde, es zu tun, ich denke genauso über das Leben nach, und wie Sie wissen, bin ich im Moment sehr in Sorge um das Leben meiner Frau. Einen Augenblick lang blickten wir forschend zum bleiernen Himmel, als wollten wir, dass es endlich loskrachte, aber nichts geschah. Der Mann brach das Schweigen und erklärte, er heiße ebenfalls Silva. Cristiano Mendes da Silva, und sogleich stellte ich mir uns beide als die zwei Seiten einer Medaille vor, ich, der António Jorge da Silva aus dem Busch, so wie es der Name sagt, und er der Silva aus Europa, mit geschwollener Brust, als hätte er das ganz allein hingekriegt. Er fuhr fort, wir alle in diesem Land kommen aus dem Busch, fast alle. Wir wachsen hier wie Gestrüpp, das ist es. Wir sind Wildwuchs, pflichtete ich ihm bei, wobei ich bereits wie jemand, der um eine Feuerpause bittet, gezwungen lächelte. Genau, stimmte er mir zu, Wildwuchs aus dem Busch, mit Menschengesicht, wir breiten uns im Gelände immer mehr aus und machen einen anständigen Eindruck, sind aber noch ungezähmt, ohne jede Erziehung. Ich verzog das Gesicht und antwortete nichts. Dann konnte ich mich nicht länger zurückhalten und widersprach, von wegen, natürlich sind wir Leute mit Erziehung. Und er, geradezu mit Tadel in der Stimme, ja, aber die Erziehung ist diesem Land übergestülpt worden, eingeprügelt, finden Sie nicht? Ich fand, dass dieser Silva ein Riesenhornochse war, mit seinem Gerede sog er mir alle Energie aus den Knochen, und er würde mich noch so in Rage bringen, dass ich meinen Vorsatz vergaß, ruhig zu bleiben. Er ließ nicht locker, wollte es unbedingt auf die Spitze treiben, wir sind aber gute Menschen, wir können glauben, was wir wollen, wir werden immer gute Menschen sein. Wir Portugiesen sind es wirklich, vergessen Sie das nie, Kollege Silva. In mir kann niemand mehr, wie früher einmal, einen Hinterwäldler sehen, wir sind Europäer, ich bin ein europäischer Silva, und es gibt viele, die es nicht sind, weil sie es noch nicht eingesehen haben oder sie haben es einfach noch nicht begriffen. Doch eins sage ich Ihnen, es ist unvermeidlich. Alle werden dahin kommen. Es wird Zeit. Es wird Zeit. Eines Tages sind wir Bürger einer einzigen Welt. Gleiche unter Gleichen, alle gleich und glücklich, und das nicht aus Pflichtgefühl. Wir sind dabei, uns über die Welt auszubreiten, wie es sich gehört, und irgendwann sind wir auch keine ungezähmten Wilden mehr und breiten uns nicht mehr kriechend aus, wie Gestrüpp, weil wir uns immer besser zu benehmen wissen, wir sind dann immer vielseitiger und haben Unmengen von Interessen, voll mit subtilsten Nuancen, wie die großen Männer der Geschichte. Eines Tages, verdammt, da sind wir sogar alle voll vernünftig.

Vielleicht lassen sich ja so auch die vielen Silvas erklären, sagte er lachend. Breiten sich kriechend aus wie Gestrüpp und sind dabei gute Menschen, die Erklärung für die Silvas alle. Und meine Frau?, fragte ich. Könnten Sie mir nicht helfen, etwas über meine Frau in Erfahrung zu bringen? Einen Moment lang war er wie benommen, als ob er gerade aus der Hypnose erwachte, und meinte dann, was kann ich schon machen. Mir wird man nichts sagen, ich bin bloß eine Hilfskraft. Von draußen war ein dumpfer Knall zu hören, als wäre die glanzlose Glasscheibe des Himmels zu guter Letzt zerbrochen und ließe nun den Regen durch. Es regnet gleich, sagte der europäische Silva. Ich schwieg und trat wieder ans Fenster, vom tiefen Bedürfnis beseelt, mich hinauszustürzen.

Plötzlich kam ein Arzt in den kleinen Raum und wandte sich an mich. Senhor António Silva? Ja, antwortete ich. Ihrer Frau geht es gut, wir warten nur noch ein paar Untersuchungsergebnisse ab, sie schläft jetzt. Wir haben sie ruhiggestellt, sie wird also nicht so bald aufwachen, und wir möchten sie gern über Nacht bei uns behalten. Ich lächelte wie ein kleines Kind, das sich verlaufen hat und dem man die Hand reicht. Kann ich auch hierbleiben?, fragte ich. Der Arzt, dessen Interesse an mir schon erloschen war, sagte, nein, nicht auf unserer Station, und verschwand. Der europäische Silva bemerkte dazu, für die ist alles immer ganz leicht, sie haben ein rein berufliches Interesse am Menschen. Für die ist das wie Blumengießen, immer schön gleichmäßig, ich sehe es ihnen genau an, sie hören überhaupt nicht zu. Es ist ihnen egal, was man ihnen sagt, ob der Patient stöhnt oder schreit, sie studieren irgendwelche Unterlagen oder Röntgenbilder, schauen sich die Gesichtsfarbe der Patienten an und entscheiden, wie es ihnen in den Kram passt. Aber machen Sie sich keine Sorgen, die wissen, was sie tun, sie haben sogar Herz, wenn ich sie recht verstehe. Ohne meine Frau kann ich aber nicht nach Hause, ich kann sie nicht allein hierlassen. Sie sei doch gar nicht allein. Allein ohne mich, das ist die Einsamkeit, um die es mir geht, darum habe ich Angst. Das hat es noch nie gegeben. Jawohl, noch nie in fast fünfzig Jahren Ehe. Wir hatten Glück. Ja, wir hatten Glück. Daran soll es nicht liegen, sagte er, Sie können hier bei mir bleiben, wenn Sie es mit mir aushalten. Sie sind mir sympathisch. Ich rede mit den Wachleuten, und Sie bleiben die Nacht über hier, schauen mir zu, wie ich Formulare ausfülle, und lauschen dem Regen. Ich sage einfach, Sie sind mein Cousin. Wir könnten ja Cousins sein! Wie alt sind Sie? Gerade vierundachtzig geworden. Nicht zu glauben, sieht man Ihnen wirklich nicht an. Ich bin fünfundsechzig und gehe nächsten Monat in Rente. Ich habe genug von der Schinderei, ich will mich endlich auf die faule Haut legen.

Über die Welt draußen brach mit Gewalt der Regen los. Er schlug an die Fensterscheiben, als steckte in ihm ein vielzahniges Ungeheuer, das uns zu verschlingen drohte. Ich sackte auf den Stuhl vor dem Schreibtisch, an dem der andere wieder seine Arbeit aufnahm. Ich fühlte mich umzingelt.

Die Rente, die müsste früher kommen. Noch vor den Rückenschmerzen und der Fahruntauglichkeit. Ich fahre nicht mehr Auto und auch nichts anderes. Die Scheinwerfer blenden mich, und der Lärm und die Leute überall verwirren mich vollends. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie scharf ich darauf bin, zu Hause zu bleiben, ohne was zu tun, bloß spazieren gehen und frisches Gemüse essen. Noch mehr aber habe ich satt, was ich hier tun muss. In diesem Räderwerk bin ich der Hinterletzte. Der letzte Arsch, wenn Sie verstehen. Der Scheißdreck, den keiner machen will, dieser ganze Scheißdreck landet bei mir auf dem Tisch. Und wenn ich durchsehe, wer hier rein darf oder rein muss, fertige ich das Leben ab, als hätte ich Lust, möglichst schnell einen Strich darunter zu ziehen. Ich bin einer von denen, für die das Leben nur Schmerzen bedeutet hat. Je früher ich mich hinlegen und ausruhen kann, umso glücklicher bin ich. Das hier ist sehr gut für einen, der gerade anfängt und noch gesund und munter ist. Aber für unsereins, die Älteren, ist es schon traurig, herzukommen und zu sehen, wer krank ist und wer stirbt. Jeden Tag das Gleiche. Wir existieren, um zu sterben, da können Sie sicher sein, und es gibt kein Wunder, das irgendwelche Engel oder Heilige vorbeischickt, um jemanden wiederauferstehen zu lassen. Wer hin ist, ist hin und kommt nicht wieder auf die Beine. Ich sehe das hier genau. Es gibt kein Erbarmen für die Gerechten oder Guten, am Ende sind sie genau solche kreideweißen Leichen wie die Bösen oder Geizigen, sie kommen genauso in den Sarg, und wissen Sie, was das Unglaublichste daran ist?, ihre Eltern haben genauso für sie gebetet. Es passt alles genau zusammen, um zu beweisen, dass wir alle zu Staub werden und von genau derselben Kraft sind, und mehr nicht. Wenn dieser Regen nur ein bisschen stärker wird, kommt er noch hier rein. Im Ernst, das ist schon vorgekommen. Einmal gab es hier ein Unwetter, das hatte offenbar eine Rechnung offen mit uns. Es hatte schon erste Schläge ausgeteilt, in der Umgebung, meine ich, als es aber das Krankenhaus erreichte, muss es hier jemanden gekannt haben. Unsere milchspendende Gottesmutter vielleicht. Es trommelte damals so wild an die Fenster, dass nach ein paar Minuten, ich weiß nicht mehr genau, wie es passierte, etliche Scheiben zu Bruch gingen. Und der Sturm war hier, wo wir jetzt sind, so stark, dass ich nur deshalb nicht in Einzelteile zerlegt wurde, weil ich die Katastrophe vorausgeahnt und mich am Boden verkrochen hatte. Ich wollte sehen, was kommen würde. Jetzt ist es was anderes. Es ist alles verstärkt worden. Das hier geht nicht bei irgendeinem Platzregen in die Brüche. Seien Sie beruhigt. Nicht einmal, wenn es dieses Gewitter auf Sie persönlich abgesehen hat, kann es Sie hier drin erwischen. Ich wollte Ihnen nur ein bisschen Angst machen.

Glauben Sie, den Autos könnte was passieren?, fragte ich. Ich weiß nicht, ich glaube, heutzutage schwimmen die Autos wie Spielzeugschiffchen auf dem Wasser, bis sie sich dann irgendwann vollgesogen haben und untergehen. Welches ist Ihr Wagen?, wollte er wissen. Der da. Die graue Schrottkarre da, ziemlich alt schon. So leicht, wie die ist, wird sie in null Komma nichts vom Wasser weggespült. Machen Sie sich keine Sorgen. Nehmen Sie doch Platz, Senhor Silva, nehmen Sie Platz und trinken Sie einen Kaffee. Wenn Sie möchten, da ist ein neuer Kaffeeautomat, der Kaffee ist ganz passabel. Das Krankenhaus hier ist der reinste Pfusch. Wie kann es sein, dass sich ein Parkplatz bei starkem Regen in einen Swimmingpool verwandelt? Das Krankenhaus steht schon seit Ewigkeiten. Das Beste wäre, es abzureißen, alles sollte man abreißen und neu aufbauen, aber anders, so, dass man nicht rot wird vor Scham, wenn man es sieht.

Ich setzte mich hin und versuchte, Abstand zu gewinnen. Ich wollte meinen Gedanken nachhängen und sehen, ob die Wirklichkeit irgendwas anderes bringen würde. Nicht da, wo ich war, nicht mit diesem Mann, auch nicht mit diesem Regen, der jeden Moment mein Auto fortspülen konnte. Laura würde mich bestimmt auslachen dafür, wie schlecht ich ohne sie zurechtkam. Du brauchst eine Mutter, die für dich sorgt, sagte sie immer. Ich wollte nicht unbedingt wissen, ob ich mit vierundachtzig in meiner Frau meine Mutter sah, die ich brauchte, um einigermaßen über die Runden kommen. Wahr war, dass mich alles, dem ich allein gegenüberstand, überforderte. Wir waren schon so lange in Rente, dass wir gewohnt waren, den ganzen Tag aufeinander angewiesen zu sein, im Guten wie im Schlechten, und mit einer gewissen Sehnsucht nach den Kindern mussten wir eben klarkommen. Sie mochte nicht besonders, was ich dachte, und noch weniger, dass ich es sagte. Aber mir war klar, dass wir den Kindern nichts mehr vorschreiben konnten, die waren erwachsen und unabhängig, und wir, wir waren nicht genug ausgefüllt. Es war, als wäre man bereit, für bestimmte Sachen zu sterben. Es bliebe nur eine stille Sehnsucht, die süßer sein könnte, wenn sicher wäre, dass unsere Kinder gesund und munter waren und ihr Leben leben konnten, wie es sein sollte. Laura aber wollte lieber glauben, die Kinder würden noch darauf hören, was sie ihnen sagte. Sie glaubte, sie wären von ihrer Lebensweisheit beeindruckt und würden jeden Ratschlag voller Respekt befolgen, und sie würden ihn Ratschlag nennen, um sich bloß nicht dem Gedanken ausgesetzt zu sehen, dass ihre Mutter ihnen Befehle erteilt. Immer wieder machte ich mir den Spaß und sagte mir, es wäre die reinste Illusion, wenn Laura unseren Kleinen, die schon groß waren, etwas befehlen wollte, ganz gleich, was. Wenn sie wortlos aufbrachen und ihr nach einem Besuch bei uns einen Abschiedskuss auf die Stirn drückten, dann weil sie sie und auch mich als das sahen, was wir sind, sie eine liebevolle Alte, die nicht mehr ganz richtig im Kopf, aber liebevoll ist, bei all ihren Fehlern und Unzulänglichkeiten trotzdem liebevoll, eine alte Frau schon, zu alt, als dass man sie noch bekritteln oder versuchen sollte, sie irgendwie umzuerziehen, aber immer liebevoll. Manchmal ärgerte sich Laura, dann trank sie einen Tee und sagte kein Wort mehr, als wäre sie darüber erhaben. Sie beanspruchte ihren Platz als große Dame, wie immer weise durch die Hingabe, die Großherzigkeit und den Glorienschein des Alters. Sie wurde wieder freundlich, öffnete mit leichtem Zittern die Lippen, wollte aber kein Gespräch mehr. Ich trank dann meinen Tee allein und war von unseren Zickigkeiten wie zwei Jungverliebte entzückt. So unreif, als wären wir noch halbe Kinder. So füreinander geschaffen wie nur möglich. Beide mit dem Wissen um den steinigen Weg des Lebens, so dass wir uns nach ein, zwei Stunden zuzwinkerten und neue Liebesschwüre unsere Herzen wieder höher schlagen ließen.

Senhor Silva, der aus Europa, sah mich ruhig an. Er hatte aufgehört, Formulare auszufüllen, und irgendwie faszinierte ihn meine verträumte Miene. Entschuldigen Sie, Senhor Silva, sagte er, es kommt ja nicht mehr alle Tage vor, dass man hört, wie ein Ehemann mit vierundachtzig Jahren so von seiner Frau spricht. Ich weiß, gewöhnlich ist es so, dass die Männer empfindlicher werden, Angsthasen sind und sich in die Hose scheißen, aber bei Ihnen ist das was anderes, das ist nicht das Gleiche, wissen Sie, wirklich nicht. Ich antwortete, ich verstünde genau, was er meinte. Er beugte sich zu mir herab und setzte ernst und bedächtig hinzu, Sie sind mehr als nur ein guter Mensch, Sie sind etwas Besonderes, Sie haben sich Ihr Alter auf die beste Art verdient, indem Sie Gefühle erwidern, ja, ja, keine Widerrede, denn eine Leidenschaft in diesem Alter und nach so langem Zusammenleben ist einem Menschen vorbehalten, der etwas geben kann. In diesem Augenblick, während der Himmel Fensterscheiben zerschlug oder auch nicht, wirkte diese Nervensäge anders, vielleicht deshalb, weil er den Namen meiner Laura schnell ausgesprochen hatte, als er ihn erwähnte, um mir zum heroischen Wert meiner Liebe zu gratulieren. Die Liebe ist für Helden da, die Liebe ist für Helden da. Vielleicht lag es ja nur an der Uhrzeit, schon drei Uhr morgens, und an der Hölle draußen hinter den Fensterscheiben. Der Mann kam mir erschreckend hellsichtig vor, das Gegenteil von einem minderbemittelten Schwachkopf, so wie die Verrückten manchmal die klarsten und nützlichsten Visionen haben. Eine Sekunde lang sagte ich kein Wort. Ich lächelte und fragte ihn dann, was er von uns halte, von den Silvas, wenn wir als Alte unsere Frauen liebten wie Mütter und alle auf den schlauen Trick verfielen, bei so vielen Sachen eine zweite Kindheit zu erleben. Er riss die Augen auf, bestimmt, weil er begriff, dass er mit mir endlich die Möglichkeit bekommen hatte, einen Freund zu finden. Er antwortete nicht gleich. Er antwortete überhaupt nicht. Aus dem stillen Korridor, in dem man viele Stunden zuvor meine Laura weggebracht hatte, kam eine Schwester, ruhig wie der Tod. Eigentlich durfte ich ja nicht einmal dort sein, aber was hätte es schon genützt, hätte ich die Nacht irgendwo anders verbracht? Wäre es nicht am besten gewesen, ich wäre auch gestorben? Ich presste das Gesicht an die Scheibe. Mein Auto stand unverändert da. Letzten Endes zeigte der Parkplatz eine erstaunliche Leistungsfähigkeit, er schaffte es, das Wasser abfließen zu lassen. Alles war nichts weiter als übermäßige Angst vor den natürlichsten Dingen des Lebens, und dabei wurde der Regen in dem Moment nicht einmal stärker. Es donnerte nicht einmal, und es geschah auch sonst nichts Größeres oder Merkwürdigeres, was bedeuten konnte, dass mich das Unwetter kannte, und ich drückte umso mehr das Gesicht an die Scheibe, damit ich fortgerissen, damit mein Körper oder wenigstens mein Bewusstsein auseinandergenommen würde. Der Regen, Senhor Silva, sagte der andere, kann Ihnen Dona Laura auch nicht zurückbringen, aber ich kann Ihnen sagen, dass die Seele eines Menschen, die in dem Augenblick fortgeht, da der Geliebte seine Liebe auf diese Weise bekundet, sehr schön sein muss. Ich verstand nicht gleich, was er sagen wollte. Ich stürzte zu Boden und verlor für eine Weile das Bewusstsein. Ich konnte ein Niemand sein, wie auch immer es um die Dinge unter solchen Umständen stehen sollte. Erst danach schrie ich und bekam sofort keine Luft mehr, denn diese Theorie, dass es Sauerstoff gibt, dass wir die Lunge benutzen und dass damit alles erledigt ist, die stimmt auch nicht hundertprozentig. Ich lag auf der Erde und wurde von Zuckungen geschüttelt, und die Hände des Mannes und der Frau, die mir dort beistanden, glichen genau den gezähnten Mäulern einer Bestie, die mich verschlingen wollte und auf allen Seiten in mein Wesen eindrang. Entsetzen packte mich, als wäre das Entsetzen etwas Körperliches und wäre allein meinetwegen hergekommen.

 

2   Das Weiß ist die Lehrzeit

     für den endgültigen Zerfall

 

Ich umarmte den Körper meiner Frau, hielt ihre Hand und legte ihren Kopf an meine Schulter. Ich schaukelte sie ein bisschen, als wollte ich sie in den Schlaf wiegen, oder wie jemanden, der weint und den wir trösten wollen. Alles wird gut, alles wird wieder gut. Was eigentlich unmöglich war, und etwas Unmögliches wird weder besser, noch lässt es sich berichtigen. Wir lehnten an der Wand, hinter den Gardinen, wie wir es als junge Leute getan hatten, wenn wir uns küssen und die Tollheiten von Verliebten anstellen wollten. Vor allen waren wir versteckt, ich und meine tote Frau, die nie wieder mit mir sprechen würde, so sehr ich sie in meiner Verzweiflung drängte, so sehr ich es brauchte, mit ihren Augen zu atmen, so notwendig es für mein Leben war, mit ihrem Lächeln zu atmen, ich und meine tote Frau, die nicht länger Rechtfertigung meines Lebens war und die mir, wenn sie mich so innig wie nur möglich umarmte, alles mit einem Mal gab. Und ich, unglaublich, überließ alles der Achtlosigkeit der Angst und schrie wieder los.

Mit dem Tod müsste auch die Liebe augenblicklich enden, unser Herz müsste sich von jedem Gefühl, das es für den nun nicht mehr lebenden Menschen empfunden hat, entleeren. Wir aber denken, sie ist noch da, sie lebt in uns, eine Illusion, die wir erschaffen, damit der Verlust noch demütigender wird, ehe er uns den Gnadenschuss gibt. Es ist unbegreiflich, wie so etwas geschehen kann. Mit dem Tod müsste alles, was mit dem Verstorbenen zu tun hat, herausgerissen werden. Damit die Last für die Lebenden nicht unmenschlich schwer wird. Das ist die Grenze: die Unmenschlichkeit, wenn man verliert, was man nicht verlieren darf. Als sagte man mir, Senhor Silva, wir nehmen Ihnen die Arme und Beine ab, wir nehmen Ihnen die Augen heraus, und Ihre Stimme verlieren Sie auch, die Lunge, die lassen wir Ihnen vielleicht, aber das Herz, das müssen wir Ihnen wegnehmen, so leid es uns tut, Glück ist Ihnen fortan nicht mehr erlaubt. Ich fiel aufs Bett und glaubte dabei, mich stundenlang im freien Fall zu befinden. Gesichter und immer mehr Gesichter tauchten vor mir auf, und ich fiel und fiel, ohne von etwas zu wissen. Als ich mich endlich erhob, war ich Lichtjahre von dem Menschen entfernt, den ich wiedersehen wollte. Und zu lernen, die Tage zu überleben, das war, als müsste ich mich damit abfinden, langsam, brutal langsam zu sterben, im Widerspruch zu allem, was mir weniger grausam erschien. Und wenn sich mein Herz nicht von der Liebe zu Laura entleerte, würde die Natur auch mich augenblicklich vernichten und mir das Elend ersparen, die Sonne zu sehen, die brennt, ohne sich um irgendeine Tragödie zu scheren.

Man wird als Mensch bitterböse, ganz ohne Zweifel. Man wird böse und wünscht den anderen wenig Gutes, und das Schlechte, das ihnen vielleicht zustößt, ist uns egal oder, um ganz ehrlich zu sein, es tröstet uns sogar, jawohl, als nähme es uns tröstend in den Arm, damit diese Leute nicht strahlen wie die Sonne und uns vor allem nicht ansprechen mit freundlicher Harmlosigkeit, obwohl ihre Zeit doch so knapp ist, und uns zu verstehen geben, wie naiv wir schließlich gewesen sind und dass wir nicht im Geringsten auf den Zusammenbruch von allem vorbereitet waren. Nie bereiten wir uns auf die Wirklichkeit vor. Wir werden furchtbar unsympathische Zeitgenossen, selbst wenn wir mit der Geringschätzung, die wir unablässig nähren, intelligent umgehen. Und gefährlich werden wir nur deshalb nicht, weil Altsein bedeutet, verletzbar zu sein und alles andere als tapfer, daher auch der Sprung in der Schüssel, den wir haben, wir sind nur noch knochenlose Monster in unnützen Hautsäcken und können uns selbst beim kleinsten Schlagabtausch nicht mehr auf den Beinen halten. Wo es doch so nötig wäre, mit allen und jedem abzurechnen, damit wir uns rächen an der Welt, weil es weiterhin Frühling gibt und die plötzlich blödsinnige Artenvielfalt und das wogende Meer und das Warten auf warmes Wetter und die Weite der Felder und die verdammten blühenden Blumen und Bäume, in denen die Vögel singen, den Hals sollte man ihnen umdrehen, damit sie sich nie wieder in unsere tiefen Verletzungen einmischen. Zum Teufel mit ihnen. Zum Teufel mit den verlogenen Sonntagsreden der Leute, die uns ins Gesicht lächeln und dabei denken, so ist das nun mal, sie sind schließlich alt und müssen sterben, der eine früher, der andere später, ist doch alles in Ordnung so. Sie lächeln, geben uns einen Klaps auf die Schulter, behutsam, bei so einem Tattergreis, und dann ab nach Hause und schnell vergessen, was es tagsüber wieder an unangenehmen Eindrücken gegeben hat. Aber wo bleiben wir, die Tattergreise, das Wabbelfleisch, das nur unnötig lange verbittert? Was für ein tiefer Hass in uns gärt. Unglaublich, dass in einer Zeit, die wir schon für verdorrt und unfruchtbar hielten, überhaupt noch etwas neu in uns aufkeimt.

Als Laura gestorben war, packten sie mich und steckten mich mit zwei Säcken Wäsche und einem Fotoalbum ins Heim. Das haben sie getan. Dann, noch am selben Nachmittag, nahmen sie mir das Album weg, weil sie meinten, ich würde mich damit nur noch mehr in den Schmerz über den Verlust meiner Frau hineinsteigern. Danach, gleichfalls an dem Nachmittag noch, stellten sie mir eine Figur der Heiligen Jungfrau von Fátima ins Zimmer und erzählten mir, mit der Zeit würde ich gläubig werden und beten lernen und so meine Seele retten. Und ein Arzt meinte, irgendwann geben sie alle Ruhe. Ich glaubte, sie erwarteten von mir eine Art Verzweiflungsmotorik, irgendwie Action. So was wie alles Mögliche kaputtschlagen, Möbel umstoßen, die Angestellten tätlich angreifen, die Pfleger, die einen im Notfall festhalten sollen. Das Zimmer ist eine richtige Gefängniszelle, das Fenster lässt sich nicht öffnen. Selbst wenn die Scheibe kaputtgeht, halten einen die alten Eisenstäbe weiter in dem Gebäude gefangen. Mit ergebener Miene blickte ich zu Boden. Ich ergebe mich, dachte ich, zu meinen Füßen die zwei Wäschesäcke und eine Krankenschwester, aus deren schlichten Sätzen man die Überzeugung heraushörte, dass ein alter Mensch in seinem Denken tatsächlich zum Kleinkind wird. Der Schock, so behandelt zu werden, ist furchtbar, und in der ersten Phase kann man erst gar nicht darauf reagieren. Wenn diese Schwester bloß mit ihrem Gelächel aufhören würde, diesem verdammten Gelächel, dann würde ich mir leichter einreden können, dass meine Gefühle nicht wertlos waren und dass die Trauer um Laura nicht aus der Fremde kam, aus der Ferne, und keine Dummheit war, und erst recht nicht beruhte sie auf einem Verbrechen, das mit Einsperren und Ähnlichem zu bestrafen ist. Die Schwester lächelte, und mit größter Verachtung wünschte ich ihr alles Schlechte der Welt an den Hals. Die Arme und Beine sollte man ihr abhacken, dachte ich, ihr die Augen ausstechen, die Zunge herausreißen und sie eine dumme Ziege nennen, genau das verdiente sie. Senhor Silva, mit dieser kleinen Decke haben Sie es heute Nacht schön warm, und Sie werden hier noch viele schöne Träume haben, Sie werden sehen.

Eine Weile sagte ich kein Wort. Man fragte mich, ob ich meine Sachen gleich auf die Kleiderhaken vor mir aufhängen wolle. Ich schüttelte den Kopf, und sie ließen mir meinen Willen. Sie sagten, gut, sie würden mir noch ein paar Minuten geben, damit ich mich im Zimmer umsehen und mich hier eingewöhnen könne, ich solle ruhig mal ans Fenster gehen, mit der Aussicht sei es zwar nicht weither, immerhin gebe es aber einen Garten und einen kleinen Platz, und da gerade der Sommer anfing, würden dort sicher ein paar Leute sein, auch Vögel, und in der Umgebung könnten sogar kleine Kinder mit ihren Fahrrädern herumtollen. Die Zimmer im linken Flügel gehen zum Friedhof. Der Arzt schlug die Augen nieder und setzte eine Miene auf wie jemand, der darin nichts Schlechtes sehen könne. Er sagte noch einmal, ja, das ist wahr, sie gehen auf den Friedhof, aber es wohnen darin Gäste von uns, die ohnehin bettlägerig sind. Ich stand auf und erkannte, was mit Garten gemeint war, der Ort, wo die Kinder, die zauberhaften Kleinen, spielen würden. Ich war mir sicher, dass ich später, wenn mich der Körper vollständig im Stich ließe, bettlägerig werden und dass man mich in eines der Zimmer mit Blick auf den Friedhof verlegen würde, die letzte Station. Tag und Nacht würde ich daliegen und hinausschauen, und im Fenster würde der Himmel hell und dunkel werden über der Erde, die schon den Rachen aufriss, um mich zu verschlingen.

Danach packte ich die Wäschesäcke aus und hängte alles so, wie es mir gerade in die Hände kam, auf. Die kraftlosen mechanischen Gesten ließen die Hemden hintereinandergereiht im Schrank verschwinden, und ab und zu spähte jemand durch den Türspalt, um zu kontrollieren, ob ich mich auch anständig benahm. Elisa war bestimmt noch im Haus, vielleicht, um wegen des schweren Entschlusses, ihren Vater hier zurückzulassen, Trost zu suchen beim Arzt, und ich wusste, dass sie noch einmal zurückkommen würde, um sich mit einem verräterischen Kuss zu verabschieden, und sie würde ihr Leben weiterleben und auf dem Heimweg weinen. Als sie hereinkam, hatte ich schon alles in penibler Ordnung aufgehängt, und sie erholte sich etwas von der Angst, die sie gehabt hatte, weil sie sah, dass ich so ruhig war, wie ich es in diesem weißen Zimmer nur sein konnte. Sie trat ein, küsste mich auf die Wange und sagte, es werde mir hier gutgehen. Du wirst gern hier sein, mit neuen Freunden und Menschen, die dir den ganzen Tag Gesellschaft leisten. Ich wollte, dass sie dachte, so würde alles besser sein, ganz, wie sie es sich wünschte, denn bei einer Tochter fehlt uns der Hass, da muss es eben sein. Ich ließ mir von ihr einen Abschiedskuss geben und spürte, wie sie sich Meter um Meter entfernte, als gäbe es zwischen ihrem und meinem Körper eine Schnur, die zerreißen würde, wenn man sie zu weit auseinanderzöge. Ich spürte, dass sie mich alleinließ, um sich in die Arme ihres Mannes und meiner Enkel zu flüchten, wo das Leben aus lauter Alltäglichkeiten bestand, mit Farben an den Wänden. Im Heim, im ganzen Haus, sind alle Wände weiß, und zwischen der eindringlichsten Leere des Himmels und den weißen Wänden gibt es keinen Unterschied. Wir fühlen uns blind, ein Fleck oder eine unebene Stelle im Putz ist schon etwas Besonderes, das wir zu beobachten lernen und das uns hilft, die reichlich vorhandenen sinnlosen Wiederholungen um uns herum zu durchbrechen. Eines Tages müssen wir im Licht verlöschen. Dieses Weiß ist die Lehrzeit für den endgültigen Zerfall.

Man teilte mir mit, Abendessen gebe es in drei Stunden. Bis dahin könne ich mich ausruhen oder herunterkommen, um die Mitbewohner kennenzulernen, die wie ich mit mehr oder weniger großer Angst der Grube entgegensahen. Ich beschloss, allein zu bleiben, weil ich es noch nicht schaffte, mit meinem in jeder Hinsicht um ein Vielfaches angewachsenen Problem fertig zu werden. Ich legte mich auf die Bettdecke und überlegte, wie ich die Wut, die sich in mir angestaut hatte, irgendwie rauslassen könnte. Diese verzweifelte, absolut körperliche Motorik, von der ich sprach, müsste in mir vielleicht endlich die Oberhand gewinnen, um zu zeigen, dass mir das Alter noch nicht völlig das Blut aus den Adern gesogen hatte. Ich presste die Hände zusammen, mit ganz wenig Kraft, die keinen großen Schaden anrichten könnte, wenn ich sie gegen die anderen oder gegen Sachen einsetzte. Es war so, als knipste ich mit einem Schalter die Initiative ein oder aus. So blieb ich liegen. Die tiefe Stille wirkte lähmend und einschläfernd. Ich war wohl nicht besonders müde, doch die hygienische Umgebung verhüllt uns hinter einem Vorhang, und wir bekommen das Gefühl, wir erhielten uns nur dann am Leben, wenn wir uns ernsthaft an der Zeit beteiligten. In dieser Weiße ereignet sich nur die Zeit, dachte ich, nur die Zeit vergeht in ihr. Ich blickte zur Statuette der Heiligen Jungfrau von Fátima und dachte im Stillen, du tust mir leid, du wirst bei den Traurigen an den allertraurigsten Orten der Welt ans Kopfende des Bettes gestellt, und du willst mir beistehen, jetzt, wo ich dir nichts zeigen kann, was es lohnen würde, dass du ständig deine blauen Augen offenhältst und mir die Hände entgegenstreckst. Vielleicht sollte ich die Figur ja zerschlagen. Sie von der Pflicht befreien, mit einer heiligen Feierlichkeit dazustehen, die mit Sicherheit selbst den stärksten Geist überfordert. Vielleicht sollte ich die anderen daran erinnern, dass ich kein religiöser Mensch bin und selbst dann nicht an Phantastereien glaube, wenn ich meine Frau verloren habe.

Man kam mich zum Abendessen holen, und ich ging nach unten. Ich wollte mich nicht gehenlassen, aber plötzlich verlor ich jeden Antrieb und beschloss, nur noch dann zu gehorchen, wenn ich nicht anders konnte. Allein stieg ich die breite Treppe hinunter, in einem kindischen Stolz wollte ich ihnen beweisen, dass ich immer noch alles selber tun konnte, das sollten sie wissen, das war wichtig. Vielleicht lag darin ja eine Chance, ihnen klarzumachen, dass es meine Kinder übertrieben eilig gehabt hatten, mich als Pflegefall ins Heim abzuschieben. Vielleicht war es aber auch nur die Angst, die anderen zu sehen, die schon älter und vergreister waren als ich, und ich wollte noch nicht gleich dazugehören. Ich bin hier nur zu Besuch, redete ich mir ein, selbst wenn ich nicht die geringste Hoffnung hatte, von diesem Ort je wieder wegzukommen.

Als mich Doktor Bernardo sah, ermunterte er ein paar Gäste, mich bei meiner Ankunft mit Beifall zu begrüßen. So wurde ich empfangen, als ich noch nicht die letzten Treppenstufen erreicht hatte. Wer konnte, stand auf und lächelte. Ich wusste nicht, wie ich danken sollte und ob man sich für so was überhaupt bedanken muss. Auf diese Weise trat ich ein in den Kreis der Letzten, während sie sich darüber freuten, dass sie nicht die Einzigen waren und dass einer mehr von diesem Schicksal ereilt wurde. Ich schaute auf den Boden und sah mich nicht groß um. Ich lief weiter zum Speisesaal, suchte mir einen Platz am abgelegensten Tisch und setzte mich, so schnell es ging, hin. Ein paar der Alten wollten nicht zulassen, dass ich so ganz ungeschoren davonkäme. Sie traten an mich heran, um mir zur Begrüßung die Hand zu reichen. Da schon das Essen aufgetragen wurde, schickte man sie zurück an ihren Platz, und ihnen blieb keine Zeit, sich ins Zeug zu legen. Sie stellten sich lediglich kurz vor, etwas verärgert sogar, weil sie sich so einschränken mussten. Mein Tischnachbar war Doktor Bernardo. Er saß vor mir wie ein frischgebadeter Engel, der mich mit Zuckerwattewolken und im Wind zerstiebenden Vogelschwärmen beschenkte. Ich lächelte. Ich kam mir vor wie ein Vollidiot, aber ich lächelte. Das gehört zur Kultur, zu dieser erstarrten Kultur, die alle unsere Absichten verhüllt.

In dieser Zeit hatte ich keine Arme und Beine, keine Augen, und ich verlor die Stimme, ich hatte kein bisschen Herz für jemanden übrig und kapselte mich ab. Ich verstand offenkundig, was man zu mir sagte, und ich hätte aufmerksam und respektvoll auf einige Aufforderungen reagieren können, doch wegen meiner Einsilbigkeit begann man gar nicht erst, ein Gespräch mit mir anzuknüpfen. Meine Stimme war versunken in die Feuchtigkeit meiner Eingeweide, und es gab keine Möglichkeit, sie auf der Höhe des Atems zu trocknen. Was mir jedoch Senhor Pereira an diesem ersten Abend sagte, ist bis heute prägend für meine Sicht auf das Heim. Er kam zu mir, buchstabierte seinen Namen und hieß mich willkommen. Dann merkte er, dass ich mich nicht zu einem einzigen Wort herablassen wollte, und verstand. Er sagte nur noch, manchmal gebe es eben auch solche wie mich. Erst wollen sie keinerlei Freundschaften schließen, aber mit der Zeit beginnen auch sie zu reden und Zuneigung für die anderen zu empfinden. Wegen meines grausamen Schweigens sagte er dann, wir dürfen uns nicht einmal über Ihre Ankunft freuen, sie ist nämlich die endgültige Bestätigung, dass Dona Lurdes tot ist, und sie war ein guter Mensch gewesen.

Das Haus kann nur dreiundsiebzig Personen aufnehmen, und damit eine neue reinkommt, muss eine andere raus. Der Abgang war schmerzlich, geschah aber kurz und bündig. Ein paar Alte werden aus den Zimmern geschoben. Ein Bettlägeriger kommt vielleicht in den linken Flügel, schon ganz nahe bei den Toten, und ein anderer bezieht das leer gewordene Zimmer mit Blick auf den Garten. Oft kommt es auch vor, dass die Überlebenden vor den Zimmertüren stehen und weinen, weil sie wissen, dass die früheren Bewohner nicht mehr drin sind. Oder es kommt vor, dass jemand den neuen Gast in den ersten Wochen zurückweist, als hätte sein dringendes Verlangen, hier einzuziehen, die kosmischen Kräfte veranlasst, dem anderen schnell das Leben zu nehmen, so als läge die Schuld beim Neuen. Ich war der lebendige Beweis für den Tod Dona Lurdes’, der beim Fest in der Johannisnacht während des Feuerwerks vor Schreck das Herz stehengeblieben ist, als sie schrie, Hilfe, sie machen die Haustür kaputt. Die Spaßmacher der Johannisnacht liefen den Berg hoch und runter, und das Haus stand da, mitten im Festgetümmel, mit den Alten, die weitererzählten, unsere liebe Dona Lurdes ist gestorben, die Schwester hat zu Américo gesagt, Dona Lurdes ist gestorben, aber sie lassen uns nicht nach oben. Allmählich kamen die Alten im Saal zusammen und sahen zu den Innengalerien ringsum, wo sich die Türen aneinanderreihten. Sie fragten sich, ob es wahr sein kann, dass Dona Lurdes wegen des Wahnsinnskrachs der Raketen vor Schreck das Herz stehengeblieben ist. Was für ein Tod, mitten beim Fest. Was für einen dummen Tod die arme Dona Lurdes erlitten hatte, die ich nun ersetzte. Wenn man daran denkt, dass die Raketen Teufelszeug sind und dass Dona Lurdes vor Angst implodiert war, worin man aber auch eine große Begierde sehen kann, endlich zu erfahren, wie es ist, wenn man stirbt.

Bei der Trauer, der sie sich eilig hingaben, damit sie eine bestimmte Zeit für die folgenden Trauerfälle aufsparten, war ich noch ein Eindringling. Ich war ein Eindringling, der nicht um Dona Lurdes weinen würde, schließlich hatte ich sie gar nicht gekannt. Ich verstand noch nicht, wie anmaßend meine Haltung war, wenn ich nicht reden und keine Kontakte pflegen wollte, und wie sehr die Haltung der anderen schon die von Gleichen war, miteinander verbunden durch ein ganz und gar unausweichliches und gleichrangiges Schicksal, das sie nun vollendeten. Welch klare Landschaft von Alten das hier war. Es kam wenig darauf an, dass ihr Stolz die mehr oder weniger glänzende, wahrhaftige oder geflunkerte berufliche Vergangenheit überhöhte. Viele lügen nämlich schamlos, um sich nicht demütigen zu lassen. Auf das alles kam es aber wenig an, denn am Lebensende waren alle gleich, eine Schar von Verlassenen, die den Staub umgekehrt proportional zum Sand im Stundenglas der wenigen verbliebenen Lebenszeit abrechneten.

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