
Widmung
Für meine Mutter, die Blumenfee
In Erinnerung an Michela Di Pompeo,
eine unvergessliche Freundin
Zitat
Wenn wir nach langer Odyssee
wieder in das alte Zuhause zurückkehren,
stellen wir verdutzt fest,
wie sofort die ursprünglichen Gewohnheiten bis ins kleinste Detail wieder in uns aufleben.
Gaston Bachelard: Die Poetik des Raumes
Prolog
Ein Bauernhof in der Toskana
Ein Bauernhof in der Toskana ist Sinnbild einer Landschaft, die dank Regisseuren, Künstlern und Schriftstellern Berühmtheit erlangte. Seine Schönheit, die bestimmt wird vom Einklang mit der Natur und dem Rhythmus der Felder, lehrt uns Langsamkeit und die Besinnung auf das Wesentliche. Die Wände bestehen aus Stein oder gemischtem Mauerwerk, das Dach ist mit handgefertigten Ziegeln gedeckt und manchmal von einem Türmchen mit Taubenschlag gekrönt. Vor der nach Süden ausgerichteten Fassade befindet sich der Dreschplatz, auf dem früher das Korn gedroschen wurde. Seitlich davon stehen ein oder mehrere Bäume, zum Beispiel ein Nussbaum, der dem Anwesen Schatten spendet. Oft führen lange Alleen aus Zypressen dorthin. Sie sind Symbole der Treue und scheinen zum Verweilen einzuladen.
Val d’Orcia, Toskana, 1925
Maria öffnete das schmiedeeiserne Tor und ging durch die von Zypressen gesäumte ansteigende Allee auf das Haus zu, das bald das ihre sein würde. Kaum war sie oben angelangt, lächelte sie freudig überrascht. Vor ihr lag ein herrlicher, wenn auch etwas verwilderter Garten, dahinter erhob sich ein großes Bauernhaus mit harmonischen Proportionen.
Sie lehnte sich an einen Baumstamm, um ein paar Minuten lang in dem Anblick zu verweilen, und strich sich dabei über ihren schwangeren Bauch, der sich unter dem schwarzen Kleid, wie es die Bäuerinnen trugen, wölbte.
An diesem Haus gefiel ihr alles. Von den unverputzten Steinwänden, auf die die Maisonne schien, über die Weinlaube, die der Fassade Schatten spendete, bis hin zu dem Taubenschlag, der über dem Gebäude aufragte.
Sie überquerte den Dreschplatz und schaute sich um.
Links lag ein Weinberg, der mindestens einen Hektar groß war, rechts stand ein großer Nussbaum, im Hintergrund zogen sich zwei elegante Reihen Zypressen den Hügel hinauf zum Castello Torrelupo.
Im Schatten der Weinlaube bemerkte Maria einen kleinen Steintisch. Sie setzte sich, schloss die Augen und genoss die Brise, die ihr sanft über das Gesicht strich.
»Wie schön wäre es, mit Niccolò hier zu wohnen«, flüsterte sie vor sich hin.
Sie schob diesen Gedanken sofort wieder beiseite und erhob sich, um die Weinstöcke, die sich an der Laube hinaufrankten, von Nahem zu betrachten. Diesen würde sie Rosen beipflanzen, wie es üblich war, um die Reben vor Krankheiten zu schützen – und weil es noch schöner aussah, wenn sich die beiden Pflanzen miteinander verflochten.
Sie wandte sich dem Dreschplatz zu und dachte an die anderen Dinge, die sie vorhatte. Vor dem Haus ein Beet voller Blumen anlegen, zur Linken eine Trockenmauer bauen, die den Weinberg vom Garten trennte, am Nussbaum eine Schaukel für das Kind aufhängen, das sie erwartete.
Wieder lächelte sie.
Wahrlich ein Herrenhaus, sagte sie sich.
Die anderen jungen Frauen im Tal konnten von so etwas nur träumen. Es war sehr großzügig von Niccolò, dem Vater des Kindes, das sie unter dem Herzen trug, es ihr zu schenken.
Nur schade, dass nicht er ihr Bräutigam war. Niccolò war der künftige Graf von Torrelupo, und sie war nur ein Bauernmädchen; und auch wenn alle sie für das schönste Mädchen der Gegend hielten, war eine solche Eheschließung undenkbar.
»Mach dir keine Hoffnungen«, hatte Niccolòs Mutter, die Gräfin, zu ihr gesagt, als sie die Neuigkeiten vernommen hatte. »Du musst auf deinem gottgewollten Platz bleiben. So hat er die Dinge geordnet, und so sollen sie auch bleiben.«
Maria hatte diesen Satz nicht ganz verstanden, doch als die Gräfin sie wieder entließ und ihr erlaubte, den Saum ihres Gewandes zu küssen, hatte sie sich verneigt.
Ohne irgendetwas zu empfinden, hatte Maria zugeschaut, wie die Gräfin in ihre Kalesche stieg, die sie zurück auf die Burg brachte. Sie wusste, dass Niccolòs Mutter recht hatte.
Wie viele junge Frauen waren seit Menschengedenken von den Adligen verführt und dann im Stich gelassen worden? Genau so waren die Dinge nämlich geordnet.
Das war normal und im Grunde besser so.
Niccolò liebte sie, aber dieses Gefühl reichte nicht aus, um die Regeln und Grenzen dieser Welt außer Kraft zu setzen, in der die Bäuerinnen sich allein schon durch die Farbe ihrer Kleidung von den Töchtern der Adligen unterschieden; die Bäuerinnen durften nur Schwarz tragen.
Feine Gesichtszüge, weiße Haut, rotblondes Haar, mit dem sie, laut Niccolò, Botticellis Primavera ähnelte, zählten da nicht.
Sie unterschieden sich zu sehr in Herkunft und Bildung, und wenn ihre Schönheit erst einmal vergangen wäre, würde er sich ihrer schämen.
Niccolò ließ sie jedoch im Gegensatz zu dem, was üblicherweise passierte, nicht im Stich. Vor seiner Abreise nach Paris, wohin er geschickt wurde, um nicht mehr in ihrer Nähe zu sein, erwirkte er von seinem Vater, dass sie einen Bauernhof bekäme. Die Gräfin überzeugte außerdem Giovanni, den Sohn des Stallknechts, Maria zu heiraten. Im Gegenzug erhielt er zwanzig Hektar Land, das er in Halbpacht bestellen konnte.
Die Grafen waren gut zu mir, sagte sich Maria. Sie waren zu nichts verpflichtet, dennoch hatten sie ihr geholfen. Sie war ihnen dankbar und ebenso Giovanni, weil er eingewilligt hatte, sie zur Frau zu nehmen.
Sie hatte einen Fehler begangen. Sie hatte sich zu einer unmöglichen Liebe hinreißen lassen, wohl wissend, dass es so enden würde. Doch nun war die Zeit des Träumens vorbei; zusammen mit Giovanni würde sie ein zufriedenes Leben führen und ihm weitere Kinder schenken.
Sie nahm eine Bewegung in ihrem Bauch wahr und lächelte.
»Hoffentlich wird es ein Mädchen«, murmelte sie und berührte dabei die Stelle, an der sie den Tritt gespürt hatte.
Ein Mädchen, für dessen Bildung Niccolò aufzukommen versprochen hatte. Ein Mädchen, das die leibliche Tochter eines Grafen wäre, das farbige Kleider trüge, einen Bauernhof ganz für sich allein erben und das – trotz aller Ermahnungen der Gräfin, dass sich an ihrer Lage nichts änderte – ein anderes Leben führen würde.
Ja, für ihre Tochter würde alles anders werden.
Sie würde sie Ada nennen.
1
Loft im Industriestil
Eine moderne Stadtwohnung, die Zweckmäßigkeit und Effizienz ausstrahlt. Für ihre Einrichtung werden vorzugsweise neutrale Farben und Grautöne verwendet sowie Designobjekte, die an die Sechziger- und Siebzigerjahre erinnern, Betonböden, Metallregale und Beleuchtungssysteme wie in einer Fabrik. Durch den Einsatz von Stahl wird psychologisch Stärke und Sicherheit vermittelt.
London, Mai 2017
Durchhalten.
Ich tauche in türkisfarbenem Wasser, hin und wieder spüre ich, wie jemand auf der benachbarten Bahn an mir vorbeischwimmt. Sehe das rasche Ausschlagen der Beine und wie die Arme unter der Oberfläche abwechselnd nach vorne gestreckt und wieder eingezogen werden.
Ganz normal atmen, alles ist unter Kontrolle.
Ich schließe die Augen und konzentriere mich: einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen.
Gut, ich schaffe das. Ein Gefühl der Ruhe breitet sich im Körper aus, das Wasser ist lauwarm und angenehm.
Dann mache ich den Fehler, die Augen wieder zu öffnen und das Schwimmbad vor mir zu betrachten, in seiner vollen Länge. Vor meinen Augen, jenseits der Tauchermaske, die ich aufhabe, liegen knapp fünfzig Meter Wasser, und das Türkis wird immer blauer, das Wasser immer tiefer.
Ich spüre Panik in mir aufsteigen. Es sieht aus wie ein Abgrund, zwar ein horizontaler Abgrund, aber dennoch ein Abgrund.
Ich habe das Gefühl zu ersticken und fange an zu keuchen, in meine Tauchermaske scheint keine Luft mehr zu gelangen.
In Atemnot schließe ich erneut die Augen.
Durchhalten, durchhalten, durchhalten, wiederhole ich innerlich. Ich kann mich jetzt nicht lächerlich machen, es ist doch nur ein Tauchkurs.
Aber nein, ich schaffe das nicht.
Ich bewege mich unkontrolliert, sinke in die Tiefe, Wasser dringt in mein Mundstück ein, steigt mir in die Nase.
Zwei Arme packen mich und ziehen mich nach oben.
Ich reiße mir die Tauchermaske herunter. »Hilfe!«, brülle ich.
»Isabel, beruhige dich«, sagt meine Freundin Kate, die mich an den Rand des Schwimmbeckens zieht.
»Hilfe!«, rufe ich wieder, meine Stimme geht in Husten unter, während mich die anderen fassungslos anschauen und der Lehrer ins Wasser springt, um mir zu helfen, das Becken zu verlassen.
Als ich auf dem Trockenen bin, denke ich darüber nach, was geschehen ist. Tatsache ist, dass ich zwar schwimmen kann, aber schon immer Angst gehabt habe, unter Wasser die Augen zu öffnen.
Ich hasse die Tiefe. Man weiß nie, was sich dort verbirgt: glitschige Algen, Tiere mit Tentakeln, unförmige Weichtiere, Krustentiere mit riesigen Zangen … Kurz und gut: eine dunkle, gefährliche, unbekannte Welt.
Mir persönlich sind klare, messbare Dinge lieber, die keine Überraschungen bergen. Ich möchte die Situation immer unter Kontrolle haben.
Es ist kein Zufall, dass ich Controllerin bin.
Im Bereich Planung und Controlling in der Niederlassung einer großen internationalen Bank in London.
»Was soll mir ein Tauchkurs schon bringen?«, frage ich Kate eine Viertelstunde später in der Umkleidekabine, während ich mich mit einer Lotion eincreme. »Ich habe mich nur angemeldet, weil ich mit Jack eine Meeressafari auf den Seychellen machen wollte.« Mir bricht die Stimme, als ich den Namen meines Ex-Verlobten ausspreche, einer der brillantesten Investmentbanker der Niederlassung, in der Kate und ich arbeiten.
»Vielleicht fährst du ja mit einem anderen hin«, erwidert meine Freundin mit ihrem üblichen Pragmatismus.
»Ein Jammer, dass er mit … mit ihr dort sein wird«, stottere ich, weil es mir nicht gelingt, den Namen der Frau auszusprechen, die mir den Verlobten ausgespannt hat: Fiona, der aufsteigende Stern der Abteilung für Kommunikation und Events, in der auch Kate arbeitet. Fiona ist groß, elegant, naturblond, superschlank und, als würde das nicht genügen, sechsundzwanzig Jahre alt – vier Jahre jünger als ich.
Wenn man bedenkt, dass Jack und ich schon vom Heiraten gesprochen haben. Vor allem ich, aber er hatte ja nicht widersprochen. Hatte er nicht sogar vorgeschlagen, mir mit dem Kredit für die Wohnung, die ich gerade gekauft hatte, zu helfen?
»Er hat dauernd wiederholt, dass wir verlobt sind, und trotzdem …«, fange ich an zu jammern.
Kate schaltet den Föhn ein, um ihre Haare zu trocknen. »Tatsache ist, dass du das erst bist, wenn du den hier am Finger hast.«
»Das stimmt«, räume ich ein, während ich den riesigen Diamanten anschaue, den sie an der linken Hand trägt. Ein Geschenk von ihrem Ex.
»Gib niemals einen Ring zurück«, erklärte sie mir damals, als sie sich getrennt hatten; sie klang dabei wie jemand, der klare Vorstellungen vom Leben hat.
»Jedenfalls scheinst du nie viel davon gehalten zu haben, auf eine Meeressafari zu gehen«, fügt sie hinzu.
»Ich dachte mir immer, dass es ein wenig unbequem sein könnte, Urlaub auf einem Boot zu machen«, rechtfertige ich mich.
»Ist das alles, was du zu einer Reise auf die Seychellen zu sagen hast?«, platzt sie ungläubig heraus.
»Ja. Es wäre bestimmt auch schön geworden, aber stell dir mal vor: alle zusammen, ohne eigenes Bad, in Kabinen von zweifelhafter Sauberkeit.«
Kate lacht. »Das ist mal wieder typisch für dich! Mich wundert nicht, dass Jack wütend geworden ist, als du auf seinen Vorschlag hin geantwortet hast, dass du dir das noch überlegen musst.«
»Schon«, stimme ich zu, als ich mich an die Szene erinnere.
Jack explodierte und warf mir vor, dass ich undankbar sei und sich viele Frauen die Finger danach lecken würden, an solche Orte zu reisen.
Nur zwei Tage nach diesem Streit sah ich, wie er Fiona im Konferenzraum küsste. Ich blieb wie angewurzelt stehen, was sie dazu nutzte, sich wieder zurechtzumachen und schnellstmöglich den Raum zu verlassen.
»Ich mische mich da nicht ein, das ist eure Angelegenheit«, hatte sie gesagt, bevor sie im Flur verschwand.
»Unsere Angelegenheit?«, schrie ich ihr nach, sobald ich mich vom ersten Schock erholt hatte.
Jack packte mich am Arm und versuchte, mich zu beruhigen. »Fiona hat recht.«
Ungläubig entwand ich mich seinem Griff. »Ist das alles, was du zu sagen hast?«
Ich erwartete, dass er sich tausendmal entschuldigen und mir sagen würde, dass das alles nur ein dummer Fehler gewesen war. Allerdings täuschte ich mich da gewaltig. Es kam weder eine Erklärung noch eine Entschuldigung.
»Ich will das mit Fiona nicht beenden. Du musst zugeben, dass sich unsere Beziehung längst totgelaufen hat. Du bist wie erloschen, wenn wir zusammen sind, immer total kontrolliert. Sie hingegen ist lebhaft, unberechenbar, sexy.« Er versuchte, die Verantwortung mir zuzuschieben, ohne dass es ihn kümmerte, wie sehr mich seine Worte verletzten. Unerbittlich fuhr er fort und erzählte mir, dass ihre Affäre schon auf dem Bankenkongress in Denver begonnen hatte, zu dem ich nicht mitgekommen war, weil ich unter Flugangst leide.
In Schockstarre hörte ich ihm zu. Bis zu diesem Moment war mir Jack immer perfekt erschienen. Eine vernünftige Wahl, die mich beruhigt hatte. Mit ihm konnte ich mir eine Familie, konnte ich mir Kinder vorstellen. Vielleicht empfand ich keine große Leidenschaft für ihn, doch das schien mir ein durchaus positiver Aspekt zu sein, würde er mich doch davor schützen zu leiden.
Ich hatte mir Jack ausgesucht, weil er mir ähnlich war – einer, der keine Überraschungen für mich bereithielt. Wir kamen gut miteinander aus, hatten dasselbe studiert und beschäftigten uns beide mit Zahlen. Meine Familie mochte ihn, und er hatte einen soliden Job. Ich dachte, das würde genügen, doch ich hatte mich geirrt. Mit einem Schlag waren meine Pläne zunichtegemacht worden; was ich noch ein paar Sekunden zuvor für meine Zukunft gehalten hatte, löste sich von einem Moment auf den nächsten in nichts auf.
Kate holt mich in die Gegenwart zurück. »Ich bin fertig, willst du den Föhn?«
Ich nehme ihn und fange an, mir die Haare zu föhnen, auch wenn ich weiß, dass sie dadurch nur noch schlimmer werden – aufgebauscht und stumpf, als hätte sie jemand toupiert. Ich beneide Kate um ihre Haare, die schon nach fünf Minuten glatt und glänzend sind.
»Gut gemacht jedenfalls, dass du für eine Weile aus dem Büro verschwindest, das ist eine super Strategie.« Meine Freundin nimmt das Gespräch im Tonfall eines Menschen, der sich mit Männern auskennt, wieder auf.
»Ich halte es nicht mehr aus, zuzuschauen, wie sie vor meiner Nase auf den Fluren herumturteln.«
»Wie dem auch sei, als ich Jack sagte, dass du über einen Monat Urlaub genommen hast, schien er ziemlich überrascht, und erst recht, als ich ihm erzählte, dass du in die Toskana fährst.«
»Echt?« Ich schöpfe Hoffnung.
»Die Tatsache, dass du ins Ausland gehst und dann auch noch fliegst, hat ihn ganz durcheinandergebracht. Vielleicht ist es kein Zufall, dass er sich heute im Büro mit Fiona gestritten hat.«
Ich bin begeistert. »Im Ernst?«
»Ja, an der Kaffeemaschine.«
Ich schalte den Föhn aus und greife nach meiner Tasche, um mein Handy zu suchen. »Dann rufe ich ihn an.«
Kate reißt mir die Tasche aus der Hand. »Wann wirst du endlich lernen, dich rarzumachen? Du musst für eine Weile verschwinden, das haben wir doch gerade besprochen!«
»Und für wie lange?«
»Mindestens deinen ganzen Urlaub lang, lass ihm Zeit, bis er Fiona nicht mehr als etwas aufregendes Neues betrachtet.«
Ihr Gesicht leuchtet auf, als sei ihr soeben eine zündende Idee gekommen.
»Warum bleibst du nicht einfach bis Juni in Italien? Du könntest zu dem Kongress wieder auftauchen, den wir gerade in der Toskana organisieren. Fiona wird dann mit einer anderen Tagung beschäftigt sein, und er würde ohne sie kommen.«
»Ich werde auf keinen Fall so lange wegbleiben.« Noch bevor ich überhaupt abreise, kann ich es nicht erwarten, nach London zurückzukehren. Ich liebe diese Stadt und halte sogar die viel geschmähte englische Küche für eine der besten der Welt.
»Du kannst dein Programm doch immer noch ändern, das wäre wirklich ein optimaler Plan. Allerdings nur unter der Bedingung, dass du in Topform und anderer Stimmung zurückkehrst. Hat Jack nicht gesagt, dass du wie erloschen wirkst? Beweis ihm das Gegenteil. Zeig ihm, was er verloren hat. So wie Kate Middleton Prinz William zurückerobert hat, als sie sich getrennt hatten.«
»Unter den gegebenen Umständen wird es etwas schwierig werden, die Stimmung aufzuheitern«, murmle ich. Der tatsächliche Grund für meine Reise schmerzt mich nämlich noch mehr als die Angelegenheit mit Jack.
Kate sieht mich verständnisvoll an. »Entschuldige. Ich hatte für den Moment vergessen, dass du wegen eines Testaments dorthin reist.«
»Ja.« Ich nicke traurig.
»Eine Tante, nicht wahr?«, hakt sie nach.
»Sie war sehr viel mehr als das. Bis ich achtzehn war, habe ich jeden Sommer bei ihr in ihrem Haus verbracht.« Meine Stimme bricht, als ich mich daran erinnere, wie ich Tante Ada zum letzten Mal gesehen habe – vor anderthalb Monaten in Paris, wahrscheinlich in den Tagen, an denen Jack auf diesem verdammten Kongress in Denver war. Sie war schon über neunzig, trotzdem hatte ich nicht damit gerechnet, sie so bald zu verlieren. Für sie vergeht die Zeit nicht, dachte ich, und Tante Ada tat immer so, als würde alles gut gehen. Ich habe es gerne geglaubt.
»Die Schwester deines Vaters?«, fragt Kate teilnahmsvoll.
»Meines Großvaters, eigentlich seine Halbschwester mütterlicherseits. Sie war schon sehr alt, deshalb ist es nicht wirklich überraschend, dass es so gekommen ist.« Ich will nicht mehr darüber reden, denn dann kommen mir die Tränen, und ich zeige nur ungern meine Gefühle.
»Dann rufe ich ihn also nicht an?«, frage ich, weil ich nicht mehr an Ada denken will. Gleichzeitig versuche ich, meine üppige Mähne zu bändigen. Würde ich sie nicht aufhellen, wäre sie rabenschwarz. Italienische Haare wie die meines Vaters, dem ich ähnle. Von meiner Mutter habe ich nur die grünen Augen und die britische Staatsangehörigkeit.
Kate verdreht die Augen. »Wie oft soll ich es dir noch sagen? Du darfst dich bis zum Kongress im Juni nicht blicken lassen. Sonst ruinierst du alles.«
»Hoffentlich kostet mich dieser Urlaub nicht meinen Job. Bei dem Kredit, den ich aufgenommen habe, kann ich es mir nicht leisten, ihn zu verlieren«, sage ich, und vor Angst schnürt sich mir die Kehle zu.
Es war sehr schwierig, in diesem Zeitraum Urlaub zu bekommen, denn der Abschluss der Halbjahresbilanz steht an. Man hat ihn mir nur bewilligt, weil ich seit fünf Jahren nie mehr als eine Woche am Stück abwesend war und weil dank meines perfekten Ablagesystems eine Einarbeitung meiner Stellvertreterin nicht notwendig war.
»Wie viel von deinem Kredit musst du denn noch zurückzahlen?«, fragt meine Freundin.
»Zweihundertzweiundneunzigtausend und vierhundertsechsunddreißig Pfund«, erwidere ich mit der Präzision der Controllerin.
»Aber hast du nicht sechshunderttausend Pfund von deiner Familie bekommen?«, fragt sie überrascht.
»Doch, aber das hat nicht gereicht.«
»Dann kostet die Wohnung also …« Kate rechnet.
»Einschließlich Renovierung neunhunderttausend Pfund«, komme ich ihr zuvor.
»Ah«, ist ihr einziger Kommentar.
Verkrampft spreche ich weiter, die Summe, die ich ausgegeben habe, macht mich nervös. »Ich weiß, das ist ein absurder Betrag. Aber Shoreditch ist gerade total angesagt, und man weiß ja, was Immobilien in diesem Viertel wert sind. Außerdem ist das Gebäude, in dem sich die Wohnung befindet, früher eine Kirche gewesen, und das Wohnzimmer ist riesig und doppelt so hoch wie normal. Den neuen Look habe ich selbst konzipiert. Alles ist im Loft-Stil, wie es Jack gefällt: Stahl, Kristallglas, Beton, Industrie-Accessoires und Vintage-Teile. Der letzte Schrei und sehr kostspielig, ein bisschen wie er.«
»Mach dir keine Sorgen, Isabel! Du musst das als Investition sehen.«
»Aber ich habe die Wohnung gekauft, damit wir dort zusammenleben.«
»Und nun hast du eine eigene Wohnung.« Kate versucht, mich dazu zu bringen, das Positive zu sehen, was ihr allerdings nicht gelingt. Ich denke an all die Träume, die zerbrochen sind: Zusammenleben, Hochzeit, Kinder, Weihnachtsbaum, Kaminfeuer, zusammen alt werden.
Kate stupst mich an. »He, Isabel, hörst du mich?«
Ich fahre zusammen. »Ja, entschuldige. Was hast du gesagt?«
»Dass die Wohnung jetzt wenigstens dir gehört.«
»Mir? Du meinst wohl, zu gut einem Drittel der Bank, deren Kredit ich womöglich nicht zurückzahlen kann. Jack wollte sich ja beteiligen. Eigentlich.« Ich werde immer deprimierter. Ich bin nicht nur sitzen gelassen worden, sondern stecke jetzt auch noch in finanziellen Schwierigkeiten.
»Ich hoffe, ich kriege das alles hin.«
»Hm … vielleicht hat deine Tante dir was vererbt?«
»Zweihundertzweiundneunzigtausend und vierhundertsechsunddreißig Pfund von einer Großtante? Ich bin nicht die einzige Nichte.«
»Okay, vergiss es. Aber lass uns jetzt gehen, ich bin mir sicher, du findest eine Lösung«, sagt sie und sammelt ihre Sachen ein.
Als wir nach draußen treten, empfängt uns ein typischer Londoner Tag, grau, mit anhaltendem, hartnäckigem Nieselregen, der sich niemals zu einem Unwetter steigert und wahrscheinlich genau deshalb Ewigkeiten dauert.
Kate zieht einen Schirm aus ihrer Tasche und hält ihn mir hin. »Teilen wir uns den?«
Ich mustere sie: Mit der schlichten Eleganz ihres Trenchcoats von Burberry, den Jeans, den Ballerinas und dem perfekt gewellten Haar sieht Kate einfach makellos aus. Wäre sie eine Wohnung, wäre sie ein großes gutbürgerliches, in Cremetönen gehaltenes Apartment.
»Nein danke«, erwidere ich. »Schlimmer können die Haare sowieso nicht mehr werden.« Ohne meinen Spezialföhn ist es ausgeschlossen, sie glatt zu bekommen, also habe ich meine stumpfe, toupierte Matte so stramm wie möglich zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
Kate hakt sich bei mir unter. »Schluss damit! Wo ist das Auto?«
»Da drüben. Das schmutzige.«
»Ach, du bist doch verrückt, man kann sich darin spiegeln!«, ruft sie. »Wann ist eigentlich die Beerdigung?« Inzwischen sind wir am Auto angelangt.
»Die war schon. Meine Tante ließ verfügen, dass ihr Tod erst bekannt werden sollte, wenn ihre Asche ins Meer gestreut worden ist.«
»Du hast mir noch gar nicht erzählt, wo genau du hinfährst.«
»Nach Torrelupo«, murmle ich, weil es mir die Brust zusammenzieht.
»Wo ist das?«
»Im Val d’Orcia.«
Kates Gesicht hellt sich auf. »Echt? Ich habe gehört, dass es dort wunderschön sein soll. Mal abgesehen vom Anlass, beneide ich dich! Schon seit Ewigkeiten will ich in die Toskana.«
»Ich hab absolut keine Lust, aber anscheinend muss ich bei der Testamentseröffnung unbedingt dabei sein.«
»Du würdest also lieber gar nicht hinfahren?«
»Genau. Und zwar nicht nur wegen des Tods meiner Tante.« Die Worte sind heraus, noch bevor ich sie zurückhalten kann.
»Weswegen sonst noch?«
»Ach, nichts. Die Toskana gefällt mir einfach nicht«, erwidere ich kurz angebunden.
»Du hältst dich also lieber inmitten von Beton unter grauem Himmel auf als zwischen Weinreben, Zypressen und unter blauem Himmel?«, fragt Kate ungläubig.
»Dieser Ort entspricht mir einfach so gar nicht«, sage ich nur.
»Aber du stammst von dort!«, ruft sie.
Ich schweige einen Moment, während Erinnerungen in mir aufsteigen, die ich schon immer vergessen wollte.
»Mein Vater ist aus der Toskana«, erwidere ich schroff. »Ich bin Engländerin, zu einhundert Prozent.«
2
Reihenhäuser
Reihenhäuser vereinen die Vorzüge eines traditionellen mehrstöckigen Hauses mit der Wirtschaftlichkeit und Sicherheit einer Gemeinschaftsanlage. Sie vermitteln den Eindruck von Komfort und Schutz, bergen aber eventuell die Gefahr, dass die darin Lebenden das Gefühl bekommen, nicht mehr als Individuen wahrgenommen zu werden. Diese Häuser zeichnen sich durch ihre Standardisierung und durch die Herauslösung aus dem landwirtschaftlichen Kontext aus. Um der Monotonie entgegenzuwirken, empfiehlt sich ein möglichst origineller und individueller Einrichtungsstil.
Am darauffolgenden Tag bin ich schon in der Toskana, in einem Wagen, den ich am Flughafen Rom-Fiumicino gemietet habe.
Es ist Mai, und die frühe Sommersonne scheint auf die grünen Hügel des Val d’Orcia, das von Reihen von Zypressen durchzogen ist, die sich dem türkisblauen Himmel entgegenrecken. Auf den Feldern blüht roter Mohn. Hier und da ziert eine Steinhütte die Landschaft.
Während ich Richtung Norden fahre, tauchen rechts und links der Straße die ersten Weinreben auf, und das unverwechselbare Profil des Montalcino zeichnet sich immer imposanter vor mir ab.
Ich fahre langsamer, denn ich tauche in die Ruhe dieser Landschaft ein, die in den langen Sommern, die ich bei Tante Ada verbracht habe, meine Welt war. Da ist er – der Geruch von frisch gemähtem Gras, der schon meine Kindheit durchzog, derselbe frische Wind, der mich im Gesicht kitzelte, der Duft nach Akazienblüten, deren große weiße Rispen ich mit der Tante sammelte, um sie hinterher in Pfannkuchenteig auszubacken.
Nichts scheint sich in den zwölf Jahren seit meinem letzten Besuch verändert zu haben.
Ein Kreisverkehr holt mich wieder ins Hier und Jetzt zurück.
Denn wenn eines in Italien definitiv nicht mehr so ist wie früher, dann sind es die Kreisverkehre, die anstelle von Kreuzungen eingerichtet worden sind. Sie haben sich vervielfacht, und für uns Engländer, die wir es gewohnt sind, auf der linken Seite zu fahren, sind sie ein wahrer Albtraum.
In welche Richtung muss ich hineinfahren? Nach links oder nach rechts? Einen Augenblick lang ist mein Kopf leer, und aus Angst, etwas falsch zu machen, bremse ich.
Hinter mir fängt sofort jemand an zu hupen.
»Blöde Kuh!«, ruft er und überholt mich mit bis zum Anschlag gedrückter Hupe.
Mir kommt mein britischer Gleichmut abhanden, und ich antworte mit einer Geste. Dann beschleunige ich und fahre weiter. Plötzlich taucht in der Ferne das auf, was mir in diesem Moment gerade noch gefehlt hat: der dritte Stau, seit ich am Flughafen losgefahren bin.
Ich halte an, schalte den Motor ab und lege den Kopf auf das Lenkrad. Meine Laune ist auf dem Tiefpunkt angekommen.
Ich sehe schwarz. In meinem Leben läuft alles schief, und als wäre das nicht genug, stecke ich jetzt auch noch mitten im Nirgendwo fest. Ich verabscheue diese Landschaft. Ich hasse die Vögel, die fröhlich zwitschern, während ich am Boden bin, ich hasse es, auf der rechten Seite zu fahren, ich hasse die italienischen Autofahrer, und auch wenn uns mein Vater mit dessen Import ein gutes Leben beschert hat, hasse ich den Wein von hier. Niemals hätte ich herkommen dürfen, warum habe ich nicht dem Notar gegenüber darauf bestanden, das Ganze an jemand anderes zu delegieren?
Ich hatte definitiv schon bessere Zeiten.
Es ist erst einen Monat her, dass Jack mich verlassen hat. Mir krampft sich das Herz zusammen. Und beim Gedanken daran, wie ich seine Untreue entdeckt habe, daran, wie er und Fiona sich küssten, würde ich am liebsten das Auto vor mir rammen.
Dass ich in der vergangenen Nacht nur zwei Stunden geschlafen habe und der Flug hierher unfassbar turbulent war, macht die Sache nicht besser. Zudem habe ich enorme Angst vorm Fliegen, wie das berühmte Buch von Erica Jong heißt, das mir Tante Ada einst geschenkt hat.
Ich weiß, die Angst ist kindisch, aber ich kann sie nicht überwinden. Hundertmal habe ich mir schon gesagt, dass ich keine Angst zu haben brauche. Zumindest nicht mehr Angst, als wenn ich meine Familie besuche, die in der Nähe des Flughafens Heathrow wohnt, direkt unter der Flugroute Richtung Süden.
Die Wahrscheinlichkeit, dass mir ein Flugzeug auf den Kopf fällt, wenn ich sie besuche, ist größer, als mit einem Flugzeug, in dem ich sitze, abzustürzen. Aber es nützt nichts. Wenn ich einen Flug buche – was selten der Fall ist –, kommt es mir vor, als würde ich mein eigenes Todesurteil unterschreiben. Ich habe sogar darüber nachgedacht, mit dem Auto zu fahren, es mir aber anders überlegt, als mir klar wurde, wie sehr mir diese Flugangst bisher schon geschadet hat. Vielleicht hätte Jack mich nicht verlassen, wenn ich vor anderthalb Monaten den Mut aufgebracht hätte, in dieses verdammte Flugzeug zu steigen. Dann wäre ich jetzt an seiner Seite und nicht Fiona.
Zum Glück setzt sich die Autoschlange endlich in Bewegung und lenkt mich von meinen düsteren Gedanken ab.
Ich starte den Motor und gebe Gas, biege irgendwann rechts ab und fahre den Hügel hinauf in Richtung des Tals, in dem ich die Sommer meiner Kindheit verbrachte.
Sobald ich die Kuppe passiert habe, wird die Landschaft noch lieblicher.
Beim Anblick der sanften Hügel, die sich vor mir ausbreiten, geht mir das Herz auf.
Hinter jeder Kurve löst etwas anderes Erinnerungen aus: die Gräben seitlich der Straße, in die ich als Kind gern gesprungen bin, die Weinberge, in denen ich bei der Weinlese geholfen habe, der unverwechselbare Duft, der jetzt zum Fenster hereinweht.
Eine Zeit lang freue ich mich, hier zu sein, doch das Castello di Torrelupo, das sich auf der Spitze des höchsten Hügels abzeichnet, macht jegliches nostalgische Gefühl abrupt zunichte.
Blitzartig steigen Bilder in mir auf, die mit diesem Ort und der Arroganz seiner Besitzer – den Grafen Falco di Torrelupo – verbunden sind.
Meine Laune verfinstert sich wieder. Mir kommt Jack in den Sinn, die Wohnung, die unser Heim hätte werden sollen und jetzt nur noch ein abzuzahlender Kredit ist, dann der tiefe Schmerz über den Verlust von Tante Ada … Ich verspüre einen dicken Kloß im Hals.
Plötzlich taucht anstelle einer alten Kreuzung ein Kreisverkehr vor mir auf, und in Gedanken versunken fahre ich links herum in ihn hinein.
Eine Sekunde später bemerke ich meinen Fehler, aber es ist zu spät: Ein Pick-up, der aus der entgegengesetzten Richtung kommt, fährt direkt auf mich zu.
Ich steuere nach links und kann ihm glücklicherweise gerade noch rechtzeitig ausweichen, doch mein Auto dreht sich um sich selbst, und ich lande am äußersten Straßenrand.
Der Wagen kommt zum Stehen, und ich lasse wieder meinen Kopf auf das Lenkrad sinken, erleichtert, so glimpflich davongekommen zu sein.
Als ich den Kopf hebe, sehe ich, dass der Lieferwagen nicht weit entfernt angehalten hat und der Fahrer gerade die Wagentür öffnet. Ich ducke mich und mache mich auf eine Tirade von Beleidigungen gefasst, doch stattdessen fragt mich eine freundliche Stimme, die besorgt klingt: »Alles in Ordnung?« Die Stimme kommt mir bekannt vor.
Ich hebe den Blick und werde mit einem Schlag in die Vergangenheit katapultiert.
Auch wenn ich ihn seit zwölf Jahren nicht mehr gesehen habe, erkenne ich ihn sofort.
Draußen vor dem Auto, auf meiner Seite, steht er: Neri Falco, der junge Graf von Torrelupo. Derjenige, der schuld ist an jenem Unbehagen, das ich empfand, als ich vorhin zu dem Schloss hinaufgeblickt habe, derjenige, den ich nie wieder hatte sehen wollen.
Ich schweige, unfähig, den Blick abzuwenden.
Mit dem hellen Hemd, das seine gebräunte Haut zur Geltung bringt, dem Dreitagebart und den dunkelblonden Haaren, die ihm wirr ins Gesicht fallen, sieht er so gut aus, wie ich ihn in Erinnerung habe. Seine inzwischen erwachsenen Züge und die entschlossene Miene machen ihn sogar noch attraktiver als damals. Nicht mal seine Adlernase stört das Bild. Ganz im Gegenteil, sie lässt ihn kühn wirken.
Als er mich erkennt, scheint es, als würde ein Schatten über seine Augen huschen.
»Isabel?«, flüstert er.
Mein Name aus seinem Mund lässt beinahe mein Herz stillstehen, und einen Moment lang ist es, als wäre ich wieder ein Mädchen und mit ihm zusammen.
Erinnerungen an die Zeit mit ihm überfluten mich: Spiele, Neckereien, verstohlene Blicke, Hände, die sich kurz berühren … das erste große Glück und die erste große Enttäuschung meines Lebens.
Aber das dauert nur einen Augenblick.
Höflich öffnet er mir die Tür und reicht mir die Hand, um mir beim Aussteigen zu helfen.
»Danke, aber das kann ich allein«, sage ich schroff.
Neris Miene zeigt wieder diese Unerschütterlichkeit, die ich so gut kenne. »Das bezweifle ich nicht«, erwidert er leicht ironisch.
Ich steige aus dem Wagen. Neri ist größer als ich.
»Bist du dir sicher, dass alles okay ist?«, fragt er.
»Ja, warum? Sieht man das nicht?«, erwidere ich patziger, als ich beabsichtigt habe. Ihn so plötzlich vor mir zu sehen macht mich nervös. Sein Gesicht gibt nicht den geringsten Hinweis darauf, was er empfindet. Er wirkt, als hätte er mich vorgestern zuletzt gesehen, und auch unser Beinahe-Crash scheint ihn nicht beeindruckt zu haben.
»Nicht so richtig«, murmelt er zweifelnd.
»Ich habe mich nur wahnsinnig erschrocken!«
»Besser so.« Er lächelt, dann wird er wieder ernst. »Du bist Adas wegen gekommen, oder?«
»Das geht dich nichts an«, fahre ich ihn unfreundlich an. Es hat keinen Sinn, sich nach so vielen Jahren noch gekränkt zu zeigen.
Neri zieht eine Augenbraue hoch, wahrt aber die Fassung. Nur ein leichtes Zittern der Lider zeugt von seiner Verärgerung.
»Das mit Ada tut mir leid«, entgegnet er. »Aber ich freue mich, dass es dir gut geht und dass dir nichts passiert ist.«
Er reicht mir die Hand. »Schön, dich wiedergesehen zu haben, Isabel.«
Sein fester, entschlossener Händedruck verwirrt mich, auch wenn ich das nicht will.
Mit einem Ruck ziehe ich meine Hand zurück.
»Ciao«, verabschiede ich mich, steige ins Auto, wende schnellstens und fahre – dieses Mal richtig herum – in den Kreisverkehr. Ich steuere auf das Zuhause meiner Großeltern zu, das jetzt meiner Cousine Giovanna gehört.
Das Haus liegt in einer Talsohle und sieht genauso aus wie das Haus meiner Eltern in England. Mein Großvater hatte uns seinerzeit in London besucht und war so begeistert davon, dass er es vor zwanzig Jahren, kurz vor seinem Tod, auf einem Grundstück nachbauen ließ, das ihm Graf Guido, Neris Vater, verkauft hatte.
Das Bauwerk stieß auf Bewunderung in der Nachbarschaft, einige kopierten es, und bald erhielt das neu entstandene Viertel den Namen Klein England. So kam es, dass heute mitten in der Toskana in einem Tal umrahmt von Weinbergen eine Siedlung im reinen Londoner Vorortstil steht. Häuser, die sich nur in zwei Dingen von dem meiner Eltern unterscheiden: Sie haben alle Jalousien und Bidets – Elemente, die in Italien unverzichtbar sind, selbst bei den fanatischsten Bewunderern der englischen Architektur.
Ich parke vor dem Tor und steige aus, um die Schlüssel zu suchen, die mir Giovanna, die noch bis morgen im Urlaub ist, im Briefkasten deponieren wollte.
Währenddessen denke ich an meine Begegnung mit Neri. Das Wiedersehen mit ihm hat mir den Tag endgültig ruiniert.
Es ist, als läge ein seltsames Gewicht auf meiner Brust, das sich nicht wegschieben lässt.
Eines fehlt noch auf der Liste der Dinge, die ich hasse:
Ich hasse nicht nur die Toskana, die Landschaft, die zwitschernden Vögel, den Wein, die Kreisverkehre, das Rechtsfahren und die italienischen Autofahrer.
Ich hasse auch Neri Falco di Torrelupo.
3
Wandmalereien
Wandmalereien sind seit jeher ein beliebtes Mittel, Innenräume zu gestalten – schon die Etrusker übten sich in dieser Kunst, die Römer ebenso. Einen Höhepunkt erreichte sie in der Renaissance mit den Fresken von Leonardo da Vinci, Michelangelo und Raffael. Wandmalereien entfalten mitunter eine unvergleichliche Wirkung. Kinder können beim Bemalen von Wänden ihrer Fantasie und Kreativität freien Lauf lassen, und Erwachsenen helfen Wandgemälde dabei, den Zauber ihrer Kindheit wiederzufinden.
Es gab tatsächlich mal eine Zeit, in der ich die Toskana liebte. Hier fand ich mein wahres Zuhause, während der Sommerferien bei meiner Tante, bevor mir das Herz gebrochen wurde.
Ada war eine Exzentrikerin von der Art, die alle Kinder mögen. Sie hatte absolut nichts gemein mit meinen anderen Verwandten, nicht einmal mit ihrem Bruder, Großvater Angelo. Vielleicht hatte es mit ihrer Herkunft zu tun, sie war unehelich geboren, das Resultat einer aussichtslosen Liebe zwischen meiner Urgroßmutter Maria, einer Bäuerin, und einem Angehörigen des Landadels, dem Grafen von Torrelupo – was damals in dieser Gegend einer Katastrophe gleichkam. Damit gehörte sie irgendwie nur halb zu unserer Familie.
Einerseits adlig, andererseits aus dem Volk, schien sie das Beste aus diesen beiden Welten zu vereinen. Vornehm und gleichzeitig bescheiden, beschenkt mit einem großen Sinn für Ästhetik und gleichzeitig pragmatisch, war sie ein Freigeist, der Konventionen und Regeln nicht akzeptierte.
Sie war Malerin und lebte in der Toskana und in Paris, wo sie Wladimir heiratete, einen russischen Musiker. Das einzig Bedauerliche war, dass sie keine Kinder bekommen konnte – vielleicht war sie mir deshalb die Mutter, die ich gern gehabt hätte.
Auch wenn ich sie nur im Sommer sah, schenkte sie mir doch die Aufmerksamkeit und Liebe, die ich zu Hause nicht fand und nach der ich mich so sehr sehnte. Ich selbst verdanke meine Existenz einem »Unfall«. Meine Eltern waren erst neunzehn gewesen und eigentlich noch zu jung, um eine Familie zu gründen. Sie mussten sich ein Leben aufbauen, mein Vater etablierte sich als Importeur von italienischen Weinen in England, und meine Mutter arbeitete als Friseurin, um das Familienbudget aufzubessern. Für mich hatten sie kaum Zeit. Es mussten sich immer andere um mich kümmern, tagsüber jemand im Kindergarten und abends ein Babysitter oder Freunde. Dass ich Einzelkind blieb, kann man sich denken.
Als ich meine Tante zum ersten Mal sah, war ich vier, damals im Juli 1991. Meine Eltern lieferten mich bei ihr ab, weil sie allein Urlaub machen wollten.
Ich erinnere mich noch, dass wir mit dem Auto vor dem Tor hielten, meine Mutter mich an die Hand nahm und mit mir zum Haus ging. Ich weinte, flehte sie voller Angst an, mich wieder mitzunehmen, mich nicht einfach dazulassen. Sobald sich allerdings Adas und meine Blicke trafen und sie mich anlächelte, beruhigte ich mich wieder, offenbar spürte ich sofort, dass ich ihr vertrauen konnte.
Sie strich mir zärtlich über die Wange und zeigte auf das Haus.
»Gefällt es dir?«
Ich nickte wie verzaubert. Mit den unverputzten Wänden und dem Türmchen, das in der Mitte aufragte, wirkte es wie ein Schloss auf mich. Und der Garten, von dem es umgeben war, war ganz anders als die englischen Gärten: die Laube aus Rosen und Wein, die Schaukel, die an einem Baum befestigt war, die Farben der Blumen, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, der Duft geheimnisvoller Pflanzen. Es schien ein magischer Ort zu sein, einer, der jede Menge Abenteuer barg.
Ich gewöhnte mich schnell ein. So gerne war ich dort, dass ich darum bat, bleiben zu dürfen, als meine Eltern zurückkehrten, um mich wieder mit nach England zu nehmen. Sie stimmten sofort zu und ließen mich den ganzen Sommer und auch alle folgenden Sommer bei meiner Tante verbringen.
Auf dem Bauernhof war ich glücklich. Ada schaffte es, die Leere zu füllen, die meine ständig abwesenden Eltern selbst dann hinterließen, wenn sie anwesend waren. Bei ihnen war ich einsam, bei ihr nie.
Mit der Zeit entfernte ich mich immer weiter von meinen Eltern, versuchte nicht mehr, ihre Aufmerksamkeit und Zuneigung zu erwecken. Dem Schein nach war ich eine liebe und gehorsame Tochter, doch in meinem Inneren wuchs die Distanz, ich spürte, dass ihre Welt nicht die meine war.
Ada eröffnete mir Horizonte, die meine Eltern mich nicht einmal erahnen ließen; sie war wie ein Wind, der mich auf meine Ziele zuwehte.
»Versprichst du mir, dass du immer deinen Träumen folgen wirst?«, pflegte sie mich zu fragen.
»Versprochen«, antwortete ich dann im Brustton der Überzeugung.
Sie lächelte. »Gut. Nur so kann man glücklich werden.«
Tante Ada wurde mein Vorbild, so sehr, dass ich sie jedes Jahr, wenn sich der Sommer dem Ende neigte und es Zeit wurde, nach England zurückzukehren, anflehte, bleiben zu dürfen, doch jedes Mal ohne Erfolg.
»Nein, so gern wir auch beisammen sind – du musst nach London zurückkehren und ich nach Paris, du in die Schule und ich zu meiner Arbeit.«
Ich liebte es, meine Zeit mit ihr zu verbringen, mehr noch als mit Giovanna, Deborah und Giada, meinen gleichaltrigen Cousinen. Es gefiel mir, sie in Kirchen und Museen zu begleiten, mit ihr zusammen zu malen, ihr zuzuschauen, wie sie Collagen aus alten und mit der Zeit verblassten Papieren anfertigte, deren verblichene Farben sie mich schätzen lehrte genauso wie die der Fresken, die sie mich bewundern ließ. Ich half ihr dabei, Krepppapier zu färben, um daraus Blumen zu basteln, die wir danach in Wachs tauchten, wie man es im achtzehnten Jahrhundert tat, um sie vor dem Vergehen zu bewahren.
An einem jener Tage begann ich damit, Häuser zu zeichnen, die ich dann auf dem Papier einrichtete.
Ich war sechs Jahre alt, und auf die Idee brachte mich mein Barbie-Haus – ein Geschenk meiner Mutter.
Ich konnte mich damals stundenlang damit beschäftigen, die kleinen Möbel darin zu verschieben, um neue Einrichtungslösungen zu finden, und Möbel zu bauen, indem ich Deckel von Schuhkartons mit Stoffresten beklebte und so Betten herstellte, oder indem ich aus Holzstücken Tische und Schränke bastelte.
Irgendwann genügte mir das nicht mehr: Ich wollte selbst das Innere eines Hauses entwerfen, nicht in Rosa wie das Barbie-Haus – die grelle Farbe gefiel mir ohnehin nicht. Ich schenkte es meinen Cousinen, nahm mir ein Heft und teilte die einzelnen Seiten in Vierecke auf, die Zimmer darstellten, die ich dann mithilfe von Buntstiften »einrichtete«.
Auf diese Weise entstand eine Art Bilder-Tagebuch, denn je nach Laune stattete ich die Räume unterschiedlich aus. War ich wütend, wurden die Linien klar, die Möbel kantiger; wenn ich fröhlich war, wurden sie kunterbunt; hatte ich Hunger, stellte ich Essen und Süßigkeiten auf den Tisch; sehnte ich mich nach Zuwendung, zeichnete ich Tante Ada und mich Arm in Arm in einem Zimmer.
Immer wenn ich es durchblätterte, erinnerte ich mich daran, wie ich mich am jeweiligen Tag beim Zeichnen gefühlt hatte.
Tante Ada quittierte meine Experimente mit einem Lächeln.
»Vielleicht hast du deinen Weg gefunden«, murmelte sie. Ich verstand damals nicht, was sie meinte.
In der Verwandtschaft hielt man mich indessen für verschroben.
»Mädchen verbringen normalerweise nicht ihre Zeit damit, in Gesellschaft einer alten Tante zu zeichnen«, erklärte mir eines Tages Tante Lia, die Schwester meines Vaters und die Mutter von Deborah und Giada.
Daraufhin beschloss ich, ab sofort mit meinen Cousinen zu spielen. Im Grunde beneidete ich sie ja auch um ihre geordnete Welt mit liebevollen Eltern, die zu Hause auf sie warteten, und wäre gern ein Teil davon gewesen.
Doch sosehr ich es auch versuchte, es funktionierte nicht. Ich war einfach anders als sie und nicht nur, weil ich zur Hälfte Engländerin war. Ich träumte eben lieber, zeichnete und betrachtete die Landschaft, als mit den anderen zu spielen; es war, als würde ich in einer anderen Dimension leben. Und so blieb ich am liebsten für mich oder bei Tante Ada im Haus.
Jedenfalls bis ich sieben Jahre alt war und Neri kennenlernte.
Ich weiß noch, wie ich ihn zum ersten Mal sah. Er hielt den Kopf gesenkt und wirkte unendlich traurig, begleitet wurde er von seinem Vater, dem Grafen Guido. Neri schwieg die ganze Zeit, in seinen Augen glitzerten Tränen, weil seine Mama einen Monat zuvor gestorben war.
Ab jetzt, erklärte der Vater Tante Ada, würde Neri in Torrelupo wohnen. Graf Guido lebte in Florenz, und für ihn war es schwierig, seinen Sohn allein aufzuziehen, deshalb hatte er beschlossen, ihn seiner Schwester anzuvertrauen, der Herzogin Bona Mussy de la Rocheblanche, die, seit sie Witwe war, auf dem Schloss residierte. Er fände es jedoch gut, wenn sein Sohn auch ein wenig Zeit auf dem Bauernhof verbrächte. »Nur damit er ein wenig durchatmen kann. Wir wissen alle, wie meine Schwester ist«, schloss der Graf mit einem Lachen, in das Ada sogleich einstimmte.
Herzogin Bona war kinderlos und sehr reich, außerdem in der Gegend bekannt für ihre Strenge und ihren Hochmut. Diese Eigenschaften hatte ich auch schon zu spüren bekommen, da Tante Lia ihre Schneiderin war und ich sie einige Male aufs Schloss begleitet hatte, wenn sie Maß nahm oder Kleider lieferte.
Nun betrat also Neri meine Welt, und wir wurden schnell Freunde.
Angesichts des rosa Barbie-Hauses, das ja inzwischen meinen Cousinen gehörte, verzog er angewidert das Gesicht; von den Zeichnungen in meinem Tagebuch war er aber begeistert, und mit einem Mal begriff ich, dass wir denselben Geschmack hatten und er mich verstand.
»Wenn ich mal groß bin, werde ich Häuser einrichten«, erklärte ich ihm. Kaum hatte ich das ausgesprochen, wurde mir klar, dass er abgesehen von meiner Tante der erste Mensch war, dem ich das anvertraute. Als wäre dieser Junge, den ich gerade erst kennengelernt hatte, schon immer mein Freund gewesen!
»Und du?«, fragte ich ihn.
Er schwieg perplex.
»Ich weiß nicht«, sagte er nach einer Weile. »Meine Vorfahren haben nie gearbeitet.«
Ich lachte über diese seltsame Antwort, nicht ahnend, dass in diesen wenigen Worten alles steckte, was uns einmal trennen würde.
Auch Neri liebte es, Tante Ada zuzuhören, wenn sie uns zu alten Palazzi und Gärten mitnahm. Oder wenn sie uns beibrachte, die Schönheit eines handgefertigten Tässchens zu sehen, und uns dann vorlas, was Pasolini darüber dachte. Sie erklärte uns, dass ein Feld oder ein Weinberg nicht nur nützlich, sondern auch schön sei, und dass jedes Haus eine Seele habe.
»Sie sind wie Menschen«, sagte sie. »Sie erzählen uns von dem Charakter und den Gefühlen derer, die sie bewohnen.«
Neri und ich erfanden ein Spiel, das Häuser wie Menschen hieß und darin bestand, jedem, den wir kannten, eine bestimmte Art von Gebäude zuzuordnen, das ihm ähnelte. »Und wenn er ein Haus wäre?«, fragten wir uns dann.
Bona war für uns der Eispalast, Ada ein Lebkuchenhaus, Deborah und Giada Barbie-Häuser.
Es war unser Geheimnis; die anderen hätten ohnehin nicht verstanden, was wir meinten.
Neri und ich waren immer zusammen.
Wir arbeiteten mit Tante Ada im Weinberg, und als die Zeit kam, halfen wir bei der Weinlese. Tante Ada erlaubte uns, eine Wand im Haus zu bemalen, und wir liebten es. Wir verzierten die gesamte Wand im Flur. Neri malte einen großen Weinstock, ich zeichnete Augen auf die Blätter, damit er aussah, als wäre er verzaubert.
Tante Ada fuhr mit uns durch die ganze Toskana. Sie nahm uns mit in die Abtei Sant’Antimo, wo wir gregorianische Gesänge anhörten, sie zeigte uns die Fresken der Abtei Monte Oliveto Maggiore, und sie brachte uns zur Kirche San Galgano, einer Ruine ohne Dach, wie in einem mittelalterlichen Abenteuerfilm. Dort versuchten wir, das in den Felsen getriebene Schwert herauszuziehen, das sich im Heiligtum oberhalb der Basilika befindet.
Neri war der Einzige, der wie ich diese Dinge zu schätzen wusste, und wir beide teilten noch etwas: denselben dumpfen Schmerz über die Abwesenheit unserer Eltern.
Er und Ada waren die Einzigen, bei denen ich mich zu Hause fühlte, sie waren meine Familie.
Unsere Harmonie wurde gestört, als wir zehn waren. Herzogin Bona, schockiert von der Verlobung ihres Bruders mit einer Friseurin, nahm die Erziehung ihres Neffen nun voll und ganz in ihre Hände. Sie wollte verhindern, dass er womöglich in die Fußstapfen seines Vaters trat, und beschloss, dass er fortan nur noch mit Leuten verkehrte, die sie als ebenbürtig erachtete.
Deshalb wurde nun Baldo, ein Cousin von Neri, in den Sommerferien auf die Burg eingeladen. Er entpuppte sich sofort als gehässiger, missgünstiger Junge.
Baldo war adliger Herkunft; sein Vater war gestorben, nachdem er sein Erbe durchgebracht hatte, und jetzt lebte Baldo mit seiner Mutter in einfachen Verhältnissen, umgeben von Verwandten, die weit mehr Glück gehabt hatten. Ihnen gegenüber verhielt er sich unterwürfig und war neidisch; gegenüber denjenigen, die er als minderwertig betrachtete, war er arrogant.
Er fing sofort an, mich zu mobben. Wegen meiner Herkunft nannte er mich »Bäuerin«, wegen meiner von der Sommersonne gebräunten Haut nannte er mich »schwarze Sklavin« oder »Affe« wegen des Flaums, der mir, als ich mich der Pubertät näherte, plötzlich auf der Oberlippe wuchs.
Am Anfang war mir das egal, und ich ignorierte ihn. Neri übernahm meine Verteidigung, und das genügte mir. Doch allmählich veränderte sich das Ganze. Neri hörte auf, mich zu verteidigen, und fing stattdessen an, über die Witze seines Cousins zu lachen. Als sich dann auf Bonas Initiative hin ein Jahr später noch mehr Kinder von Bekannten und Verwandten dazugesellten, wurde es noch schlimmer.
Die neuen Freunde von Neri hatten Bosheiten aller Art für mich parat, sie traktierten mich mit Wasserbomben, warfen Würmer nach mir, die sie auf der Wiese fanden, und versteckten meine Sachen. Wenn sie Neri und mich zusammen sahen, gab ihnen das Anlass zu Spott.
»Was für ein hübsches Paar!«, rief einer.
»Neri steht auf die Bäuerin!«, schrie ein anderer.
Baldo trieb die Sache auf die Spitze. »Der Sohn eines Grafen und die Tochter einer Friseurin. Wie man weiß, steht man in Torrelupo auf Friseusen«, sagte er eines Tages – wobei er das Wort Friseusen betont abfällig aussprach – und spielte damit auf die Verlobte von Graf Guido, Neris Vater, an. Das war das einzige Mal, dass Neri böse auf seinen Cousin wurde und ihm einen so wütenden Stoß versetzte, wie ich es noch nie von ihm gesehen hatte.
Diese Episode war der Beginn unserer Entfremdung.
Wenn wir allein waren, benahm er sich noch immer wie ein Freund, wenn Baldo und die anderen dabei waren, ignorierte er mich, als würde er sich meiner schämen, und bisweilen schloss er sich ihren Bosheiten sogar an.
Ich war am Boden zerstört. Wie konnte er mich so verraten?
Tante Ada versuchte, mich zu trösten.
»Das ist ganz normal, Isabel, nimm es dir nicht zu Herzen. In diesem Alter ignorieren die Jungs die Mädchen und bleiben unter sich. Später wird sich das alles ändern, du wirst schon sehen.«
Ihre Worte trösteten mich jedoch nicht. Ich wollte nicht warten, und es war mir egal, was normal war. Auch weil ich wusste, dass mir Tante Ada nicht die ganze Wahrheit sagte: Sie schlossen mich nicht als Mädchen aus, sondern weil sie glaubten, dass ich ihnen nicht ebenbürtig war.
Tatsache war, dass ich mich ohne Neri fühlte, als würde ein Teil von mir fehlen. Ein Teil, ohne den ich nicht vollständig war und der jetzt nicht mehr da war.
Unsere Freundschaft hatte nur vier Sommer lang gedauert.
Mit dreizehn verbrachte Neri seine Ferien nicht mehr auf dem Schloss, sondern lernte Englisch im Ausland, und wir sahen uns nicht mehr.
In den folgenden Sommern freundete ich mich mit meiner Cousine Giovanna an. Sie war das absolute Gegenteil von mir, sportlich und ein wenig jungenhaft – ein Tomboy, wie wir in England sagen würden. Sie schrieb sich am Institut für Vermessungstechnik ein, und ich entdeckte bei ihr die gleiche Begeisterung für Häuser, die auch ich schon immer hegte.
Entgegen den Plänen meiner Eltern, die sich ein Wirtschaftsstudium für mich wünschten, beschloss ich, dass ich Architektur mit dem Schwerpunkt Innenarchitektur studieren würde. Auf diese Weise könnte ich meine Leidenschaft für Kunst, die mir Tante Ada vermittelt hatte, mit meinem Interesse an Mathematik verbinden, einem Fach, in dem ich in der Schule brillierte.