×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Das Haus des Leuchtturmwärters«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Das Haus des Leuchtturmwärters« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Das Haus des Leuchtturmwärters

Als Buch hier erhältlich:

1962: In einem kleinen Haus am Fuße des Leuchtturms ist Else aufgewachsen. Seit dem Tod ihrer Mutter lebt sie hier allein mit ihrem Vater, der für die Wartung des Leuchtfeuers zuständig ist. Doch je älter sie wird, desto kritischer sieht sie das strenge Regime der DDR und beschließt zu fliehen.

1992: Nach der Wende erinnert sich die Autorin Franzi an ihre wunderschöne Kindheit als Tochter eines Leuchtturmwärters und kehrt zurück an die Ostsee in das Haus am Leuchtturm. Hier hofft sie, Inspiration für ihren neuen Thriller zu finden, doch dann entdeckt sie unter einem losen Dielenbrett ein altes Tagebuch und beginnt zu lesen …

»Die Drehbuch– und Roman-Autorin Kathleen Freitag verschränkt in ihrem gefühlvollen Roman gekonnt zwei Zeitebenen miteinander.«Münchner Merkur

»Eine wunderbare Lektüre für verregnete Tage oder gemütliche Urlaubstage.«Gesundheit aktiv


  • Erscheinungstag: 23.03.2021
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749950584
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG
1962

Das grelle Licht schmerzte in ihren Augen, doch sie wollte ihm nicht die Genugtuung geben wegzusehen. Ihre Lider fühlten sich bleischwer an, so wie der Rest ihres Körpers.

Die letzte Nacht hatte sie nicht viel Schlaf bekommen. Die Pritsche in dem kleinen fensterlosen Raum, in den man sie gesteckt hatte, war viel zu hart gewesen. Trotz der dicken Wände, deren bedrohlicher Eindruck auch nach Stunden nicht gewichen war, war stetig ein kühler Luftzug durch den Raum gezogen. Sie war noch immer vollkommen durchgefroren. Auch die dünne kratzige Wolldecke, die man ihr nach mehrmaligen Bitten gegeben hatte, hatte daran nichts zu ändern vermocht.

Das Deckenlicht in dem zellenartigen Raum war immer wieder angegangen. Stets dann, wenn sie kurz davor gewesen war, endlich einzuschlafen. Anfänglich hatte sie geglaubt, dass es Zufall gewesen war. Gegen Ende der Nacht war sie sich jedoch sicher gewesen, dass sie die helle Lampe absichtlich angeknipst hatten, um ihr die nötige Ruhe zu rauben, die ihr Körper und Geist so dringend nötig hatten.

Die Schmerzen in ihrem Fuß hatten durch die Tabletten, die sie ihr gegeben hatten, zwar nachgelassen, doch sie hatte geahnt, dass der Zustand nur allzu trügerisch war. Denn angesehen hatte sich die Verletzung niemand.

Seit gefühlten Stunden dröhnten in ihren Ohren nun die immer selben Fragen, die ihr der Mann, der auf der anderen Seite des Tisches saß, mit beinahe bewundernswerter Beharrlichkeit stellte. Vor ihm lagen ein kleiner Notizblock und ein Stift. Die Tischlampe war auf sie gerichtet. Der Stuhl, auf dem sie saß, war aus Holz und Metall zusammengeschraubt und drückte unangenehm unter ihrem Gesäß. Ihr Mantel hing an einem Garderobenständer, der wie eine traurige Strohpuppe sein Dasein in der Ecke fristete. Mehr Inventar, das sie von diesem Verhör hätte ablenken können, gab es in dem Raum nicht.

Plötzlich sprang der Mann auf, stützte sich mit seinen Händen auf den Tisch und beugte sich zu ihr herüber. »Nun machen Sie schon den Mund auf. Wem gehörte das Boot?«, fragte er mit dräuender Stimme und kam noch ein Stück näher. »Wer hatte die Idee zur Republikflucht? Sie, Ihre Freundin oder der Musiker?« Mit einem bohrenden Blick sah er ihr direkt in die Augen. Angst kroch in ihr hoch. Sie blieb stumm. Vorerst.

FRANZI
1992

Die Allee schlängelte sich unaufgeregt durch die weite Landschaft. Windschief säumten die Linden die schmale Straße, die mehr einem Betonschachbrett glich als einer Landstraße. Hinter den Bäumen lagen die Felder. Der Weizen, der hier überwiegend angebaut wurde, wuchs hoch und kräftig. Wie kleine Farbtupfer sprenkelten weißgelbe Margeriten und blaue Kornblumen sowie roter Mohn den goldseidigen Getreideteppich. Bei jedem Windstoß verbeugten sich die Halme ehrfürchtig vor den Gesetzen der Natur. Das sanfte Rascheln klang wohlig und vertraut. In weiterer Entfernung leuchteten auch ein paar Rapsfelder in kräftigem Gelb. Das Meer war jedoch immer noch nicht zu sehen. Franzi musste sich eingestehen, dass der Weg länger war, als sie ihn in Erinnerung hatte.

Beinahe stapfend folgte sie der Straße. Ein Auto, das sie hätte mitnehmen können, war schon lange nicht mehr an ihr vorbeigefahren. Die beiden Koffer, die sie bei sich trug, wurden gefühlt mit jedem Schritt schwerer. Nun ärgerte sie sich, dass sie die alte Reiseschreibmaschine ihrer Großmutter eingepackt hatte statt der Elektrischen, die sie vorletztes Jahr von Peter zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Sie hatte das Ding gar nicht gewollt, schließlich liebte sie es, beim Schreiben die runden Typenhebel mit den Buchstaben auf die papierbespannte Schreibwalze sausen zu lassen. Die Geräusche, die sie dabei erzeugten, entwickelten sich in ihrem Kopf zu einer Melodie, die den Takt ihres Schreibens vorgab. Es half ihr, sich zu konzentrieren. Zumindest hatte es bei ihren ersten drei Romanen geholfen. Hätte Peter ihr nur einmal richtig zugehört, hätte er das auch gewusst.

Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn, doch Franzi hatte keine Hand frei, um ihn wegzuwischen. So lief sie weiter.

Plötzlich riss das Riemchen ihrer rechten Sandale, und Franzi stolperte beinahe über die lose Sohle. Sie stellte die Koffer am Straßenrand im Schatten einer breiten Linde ab. Auf den Größeren setzte sie sich und zog den kaputten Schuh aus. Verärgert warf sie ihn in den schmalen Graben, der den Straßenrand säumte. Auch die Schuhe waren ein Geschenk ihres Ex. Kein Wunder also, dass ihre Liebe eher einer Stichflamme geglichen hatte als einem wohlig-warmen Kaminfeuer, dachte sie bei sich.

Peter und sie hatten sich vor vier Jahren kennengelernt, kurz nachdem sie ihren ersten Roman veröffentlicht hatte. Er hatte damals eine Juniorprofessorenstelle an der Historischen Fakultät der Hamburger Universität innegehabt. Schon zu Beginn ihrer Beziehung hatten sich die Unterschiede offenbart. Während sie mit Vorliebe nach einem langen Tag am Schreibtisch durch die Bars St. Paulis gezogen war, hatte er weiter bis in die Morgenstunden über seiner Doktorarbeit gebrütet. Nur zweimal war er spontan gewesen. Das erste Mal, als er sie in einem kleinen Standesamt am Hafen geheiratet hatte. Und dann noch einmal, nachdem Grabowski auf der Pressekonferenz am 9. November 1989 versehentlich die Mauer geöffnet hatte. Noch in der Nacht waren sie in seinen kleinen VW Käfer gestiegen und für eine Stippvisite nach Ostberlin gefahren.

Dass ausgerechnet er ein Jahr und einen großen Streit später in die wiedervereinte Stadt zurückgekehrt war, um einen Job bei der Gauck-Behörde anzufangen, hatte sie mehr als überrascht.

Franzi kramte in ihrer Jackentasche und zog eine zerknüllte Zigarettenschachtel heraus. Sie drehte und wendete die knisternde Hülle. Noch fünf Zigaretten warteten darin, geraucht zu werden. Sie zögerte und war drauf und dran, ihrem Verlangen nachzugeben. Doch schließlich steckte sie die Packung wieder zurück in ihre Tasche und blickte auf. Die Sonne stand bereits tief und kitzelte die ersten hohen Wipfel des Kiefernwaldes, der am Horizont emporragte.

Erst jetzt bemerkte sie, dass sie den Wald aus Kindertagen kannte. Früher hatte sie jeden Abend neben ihrem Vater am Fenster gestanden und mit ihm auf ebenjene dicht bewachsene Baumgruppe geblickt. Ungeduldig hatte sie ihn dabei immer wieder gefragt, wann es endlich so weit sei. Doch er hatte sich von seiner Jüngsten nie aus der Ruhe bringen lassen. Erst wenn die Konturen der dicken kerzengeraden Baumstämme vor dem bloßen Auge verschwammen, hatte er genickt. Verlässlich wie die Gezeiten hatte er so jeden Abend den Sonnenuntergang vorhergesagt.

Franzi seufzte erleichtert, weit entfernt war sie von ihrem Ziel also nicht mehr. Sie streifte auch die zweite Sandale von ihrem Fuß, schnappte sich die Koffer und betrat nun barfuß die Straße. Auf dem warmen Asphalt ging sie entschlossenen Schrittes weiter.

Und tatsächlich, hinter der nächsten Biegung konnte sie den Leuchtturm endlich sehen.

Eine Viertelstunde später stand Franzi vor dem rotbraunen Turm. Ein erleichtertes Lächeln legte sich auf ihr Gesicht, während sie die beiden Koffer auf dem sandigen Trampelpfad abstellte, der von der Landstraße zu der Anhöhe führte. Ein wenig ehrfürchtig blickte sie sich um.

Es war gut vierzehn Jahre her, dass sie das letzte Mal an dieser Stelle gestanden hatte. Und doch war alles so, wie sie es in Erinnerung hatte. Das Gras stand jetzt höher als damals, und die drei Stufen zur Eingangstür des Leuchtturmes verschwanden hinter dornigen Brombeerstrauchästen. Die schwere Holztür war mit einem dicken Vorhängeschloss verriegelt. Die schmalen Fenster, die wie Perlen auf einer Kette übereinandergereiht der dicken runden Backsteinmauer etwas Verwunschenes gaben, waren provisorisch mit Brettern zugenagelt. Ob die Scheiben noch intakt waren, konnte Franzi von hier unten nicht sehen. Die beiden dicken weißen Streifen, die unterhalb der Galerie zur Tageskennung für die Seefahrer den Turm umrundeten, waren verblasst. Das Geländer der kleinen Aussichtsplattform, die den Turm umgab, hatte durch die Witterung an der einen oder anderen Stelle Rost angesetzt. Gepflegt hatte das wetterempfindliche Metall wohl seit Jahren niemand mehr. Doch der gläserne Laternenaufbau unter der Kuppel des Turmes hatte von seiner alten Pracht nichts eingebüßt.

Franzi fragte sich, ob die Fresnel-Linse, die das Licht der zuletzt auch elektrisch betriebenen Glühlampe über viele Jahre bis weit hinaus ins Meer geschickt und die Seefahrer vor den tückischen Gewässern an der hiesigen Ostseeküste gewarnt hatte, noch intakt war.

Neben dem Turm stand das Wärterhaus, in dem sie die vier glücklichsten Jahre ihrer Kindheit verbracht hatte. Auch dieses eher schlichtere Gebäude war von außen verriegelt und wurde offensichtlich ebenso seit Jahren nicht genutzt. Der Efeu hatte die Mauern, die zwei separate Wohnungen beherbergten, fast erobert.

Im hinteren Teil des weitläufigen Grundstücks konnte sie das Maschinenhaus erspähen. Früher durfte sie diesen kleinen Verschlag, in dem auch das Notstromaggregat stand, nicht betreten.

Das Meer, das sich hinter der kleinen Anhöhe des Leuchtturmgehöfts auftat, konnte sie von hier aus noch nicht sehen. Die Büsche vor dem Abhang, der zum Strand hinunterführte, waren hochgewachsen. Doch das Rauschen der Wellen, die mit gemächlicher Geduld auf dem sandigen Küstenstreifen ausliefen, war auch hier klar und deutlich zu hören. Bei dem vertrauten Geräusch schlug Franzis Herz höher.

Aus der Tasche ihrer Jeansjacke zog sie einen Schlüsselbund, den sie in Lüstrow von der Sekretärin im Gemeindebüro bekommen hatte. Der Bürgermeister, mit dem sie postalisch den Mietvertrag für eine Wohnung im Wärterhaus inklusive Zugang zu allen Gütern des Gehöfts abgeschlossen hatte, war nicht da gewesen, was Franzi keineswegs bedauert hatte. Bei ihrem ersten und einzigen Telefonat hatte er eher einen unangenehmen Eindruck gemacht. Ihre Idee, den Sommer über am Leuchtturm wohnen zu wollen, hatte er nur belächelt. Doch das Geld, das sie ihm für die Miete angeboten hatte, hatte er trotzdem gerne angenommen. Offensichtlich hatte er von seinen westdeutschen Amtskollegen schnell gelernt, was Kapitalismus bedeutete.

Ihre Wohnung in Hamburg hatte sie für die kommenden Monate untervermietet. Ein Zurück gab es also nicht mehr. Sie würde die nächste Zeit hier am Meer in Schreibklausur verbringen.

Franzi steckte den Schlüssel für die vordere Wohnung ins Schloss. Der Leuchtturmschlüssel hing noch nicht am Bund. Den sollte sie später aber noch bekommen, hatte man ihr versprochen.

Die Wohnungstür ließ sich nur schwer öffnen und knarrte, als Franzi sie aufstieß. Ein muffig-feuchter Geruch schlug ihr entgegen. Offensichtlich war lange niemand mehr hier gewesen, um die Räume zu lüften.

Sie erkannte einiges wieder, als sie sich umsah. Die eichenfurnierten Schränke in der Küche, in der ihre Mutter mit Vorliebe Kompott aus Rhabarber, Pflaumen oder Äpfeln vom eigenen Gehöft eingekocht hatte. Das gezuckerte Obst hatte dann in der ganzen Wohnung einen lieblich-sauren Duft verströmt, den Franzi noch heute in der Nase hatte, wenn sie an ihre Kindheit zurückdachte.

Auf der Schranktür neben dem Spültisch klebte noch immer ein Aufkleber mit einer weißen Taube darauf, die einen Zweig im Schnabel trug. Alle Jungpioniere hatten in der Schule einen solchen Aufkleber geschenkt bekommen. Franzi hatte ihren stolz nach Hause getragen und sogleich einen passenden Platz für das sozialistische Friedenssymbol gesucht. Dass sie sich ausgerechnet den guten Küchenschrank dafür ausgesuchte hatte, war ihrer Mutter nicht gerade recht gewesen. Doch ihr Vater hatte ihr beigestanden und ihren Einsatz für den Weltfrieden gelobt.

Die anderen Räume waren nur noch spärlich eingerichtet, wie Franzi feststellen musste. Die meisten Möbel waren vermutlich nach der Automatisierung des Leuchtturms hinausgetragen worden. Schließlich war gutes Mobiliar auch noch Ende der 70er-Jahre schwer zu bekommen gewesen.

Das Bett ihrer Eltern samt Matratze stand glücklicherweise noch in der Schlafstube. Sie hatte zwar vorsichtshalber ihre Isomatte eingepackt, doch auf einem richtigen Bett träumte es sich doch wesentlich besser.

Auch der alte Ohrensessel, in dem ihr Vater, der Leuchtturmwärter, jeden Morgen seine Zeitung gelesen hatte, stand noch am selben Platz unter dem Fenster im Wohnzimmer. Ein kleiner Sekretär war ebenfalls noch vorhanden. Der Holzstuhl davor sah zwar nicht sonderlich bequem aus, und die Stuhlbeine knarrten etwas, als sie sich zur Probe draufsetzte, doch er hielt ihr Gewicht aus. Und zum Schreiben würde es schon gehen. Vielleicht würde sie dann, wenn sie nicht allzu bequem saß, endlich mit ihrem neuen Roman vorankommen.

Später am Tag, nachdem sie sich auf dem Gehöft noch etwas umgesehen und bei einem Spaziergang am Strand die frische Meeresluft nur so in sich aufgesaugt hatte, packte sie ihre Koffer aus. Die Klamotten verstaute sie in einer kleinen Kommode, die im Flur stand.

Die schwere Schreibmaschine stellte sie auf den Sekretär und setzte sich sogleich motiviert davor. Sie versuchte, sich von dem weißen Papierstapel, den sie zuvor noch neben sich auf den Tisch gelegt hatte, nicht einschüchtern zu lassen. Dieses Mal nicht. Sie nahm das oberste Blatt, legte es in die Schreibmaschine und drehte die Walze, bis die weiße leere Oberfläche sie angriente. Mit zuversichtlichen Fingerschlägen tippte sie: Kapitel eins. Nun war das Papier wenigstens nicht mehr völlig unbeschrieben. Dann lehnte sie sich zurück und überlegte. Eine ganze Weile.

Als der Holzstuhl irgendwann doch unbequem wurde, beugte sie sich wieder vor, hielt ihre Finger erneut tatbereit über die Tastatur. Doch sie schrieben nichts. Wussten sie doch nicht, was sie zu Papier bringen sollten.

Schließlich seufzte Franzi. Aus der Jacke, die hinter ihr über der Stuhllehne hing, holte sie die verknüllte Zigarettenschachtel heraus, zündete sich einen Glimmstängel an und atmete den Rauch tief ein. Sofort bemerkte sie, wie sich ihr Körper entspannte, und auch der Druck, etwas Gescheites zu Papier bringen zu müssen, wich einer trügerischen Zufriedenheit. Zumindest solange sie ihrer Sucht nachgab.

Mit der Zigarette in der Hand stand sie auf und schlenderte durch die Wohnung. Sie betrat ihr altes Kinderzimmer. Es war unmöbliert. Die Leere kam ihr seltsam fremd vor, und doch spürte sie eine kindliche Vertrautheit zwischen den Wänden. Das Fenster war mit dunklem Stoff behangen, den sie mit einem Handgriff herunterriss. Sie öffnete es und sah hinaus. Die Tage waren zu dieser Jahreszeit lang, sodass sie trotz der späten Stunde noch das Meer sehen konnte. Die Wellenspitzen, die sich auf dem Wasser kräuselten, glitzerten in der Abenddämmerung kurz auf, bevor sie wieder abtauchten.

Franzi genoss den Ausblick, während sie noch einmal am Filter ihrer Zigarette zog. Plötzlich fiel die Asche samt Glut auf den Holzfußboden. Reflexhaft wischte sie mit ihren Füßen, die immer noch nackt waren, über den Boden und verbrannte sich fast an der heißen Glut. Die glomm jedoch immer noch.

Etwas hektisch blickte Franzi sich um, schnappte sich schließlich den dunklen Stoff und schmiss ihn auf die Brandstelle. Während sie ihr Gewicht verlagerte, knarrte die Diele.

Als Franzi das Tuch wieder vom Boden hob, war die Glut gelöscht. Nur ein kleiner dunkler Fleck war noch auf dem Holz zu sehen. Franzi hockte sich hin, um das angekokelte Dielenbrett genauer unter die Lupe zu nehmen. Das Knarren hatte sie stutzig gemacht, und tatsächlich schien es nicht allzu fest auf dem Boden zu liegen.

Komisch, dass ihr das früher, als sie das Zimmer noch bewohnt hatte, nie aufgefallen war. Vielleicht hatten sich die Nägel erst mit den Jahren gelockert.

Mit einem Ruck zog Franzi nun an dem Brett, und zu ihrer Überraschung kam darunter eine kleine Aushöhlung zum Vorschein. Ohne darüber nachzudenken, griff sie hinein und spürte Papier unter ihren Fingerspitzen. Es war ein altes Buch, das sie nun aus seinem Versteck zog.

Der Einband war aus schwarzem Leder, etwas abgegriffen, aber dennoch gut erhalten. Ein dünnes rotes Bändchen lugte als Lesezeichen zwischen den Seiten hervor. Franzi schlug das Buch auf. Die Seiten waren in einer geschwungenen Handschrift vollgeschrieben. Die großen ausladenden Buchstaben waren recht schräg gestellt, so als würden sie beinahe aus den Seiten herauskippen. Aufgrund der Weichheit und Ordentlichkeit der Schrift vermutete Franzi, dass sie von einem Mädchen oder einer Frau geschrieben worden war.

Franzi setzte sich auf den Fußboden, blätterte neugierig zurück auf die erste Seite und begann zu lesen:

15. September 1962

Vater hat mich wieder zur Verzweiflung gebracht. Er ist sturer als eine Seekuh und stummer als eine Miesmuschel. Ich weiß nicht, ob ich wütend sein soll oder traurig …

ELSE
1962

… Es war gestern Abend. Ich habe das Essen für uns zubereitet. Beim Tischdecken habe ich auf ihrem alten Platz wieder eine Kerze aufgestellt. Das habe ich die letzten Jahre auch schon gemacht und fand das ganz schön. So als Gedenken an sie. Aber als Vater kam, hat er die Kerze nicht einmal angesehen. Er hat sich nur an den Tisch gesetzt, ganz stoisch seine Stulle geschmiert und hineingebissen. Gesagt hat er nichts.

Ich habe ihm eine Weile beim Essen zugesehen und selbst keinen Bissen herunterbekommen. Die ganze Zeit habe ich überlegt, ob ich ihn darauf anspreche oder nicht. Schließlich habe ich ihn gefragt, warum er nicht auf dem Friedhof gewesen war. Er hat mich nicht angesehen und nur gemurmelt, dass er viel zu tun hatte.

Doch es war nur eine Ausrede, das weiß ich. Da ist es mit mir durchgegangen. Ich habe ihm gesagt, dass er seinen blöden Leuchtturm auch einmal hätte verlassen können, um sie zu besuchen. Schließlich ist es Mutters Geburtstag gewesen.

Ich habe gesehen, dass er etwas wütend wurde. Aber vielleicht wollte ich das auch, ihn wütend machen. Damit er endlich mal mit mir spricht. Deshalb habe ich ihm wohl auch die Frage an den Kopf geworfen, ob er sie denn überhaupt noch vermisst oder ob sie ihm schon egal geworden ist. Doch statt zu antworten, ist er einfach aufgestanden und gegangen.

Ich habe dann noch eine ganze Weile allein in der Küche gesessen und nachgedacht. Aber Hunger hatte ich keinen mehr.

Else ließ den Füllfederhalter sinken. Grübelnd sah sie von ihrem Tagebuch auf, das vor ihr auf dem Bett lag, und ließ ihren Blick zum Fenster schweifen. Das Meer, das sie von hier aus gut sehen konnte, wurde von der Morgensonne angestrahlt. Endlich würde es mal wieder ein halbwegs warmer Tag werden. Der Sommer, der sich bereits langsam dem Ende neigte, hatte in diesem Jahr mit seinen Reizen allzu sehr gegeizt. Nieselig, trüb und oftmals zu kühl hatten die Sommertage nicht gerade zum Baden und Eisessen eingeladen. Auch das Wasser der Ostsee war nicht nur gefühlt kühler als die Jahre zuvor gewesen.

Den Leuchtturm konnte sie von ihrem Fenster aus ebenso sehen. Die zwei Streifen unterhalb der Galerie leuchteten strahlend weiß. Erst vor ein paar Monaten hatte ihr Vater die Farbe erneuert. Den Rost, der sich immer wieder in das Geländer der Galerie hineinfraß, hatte er gleich mit entfernt. Das Leuchtfeuer im blank geputzten gläsernen Laternenraum unterhalb der runden Kuppel war bereits erloschen. Für die Seefahrer, die die Ostsee passieren durften, war es nun hell genug, um den sicheren Weg durch das Gewässer zu finden. Seit Else denken konnte, lebte sie hier an diesem abgeschiedenen Ort nahe Lüstrow, den sie ihr zu Hause nannte.

Else hatte die Nacht schlecht geschlafen. Der Streit, den man vielleicht nur schwerlich als solchen bezeichnen konnte, war ihr nicht aus dem Kopf gewichen. Ihr Vater hatte mal wieder mehr geschwiegen als gesprochen. Natürlich war seine Schweigsamkeit nicht neu für sie, schließlich hatte er schon immer ein ruhigeres Gemüt. Auch sie war kein Mädchen der redseligen Sorte. Doch in letzter Zeit hatte sie das Gefühl gehabt, dass er einem Gespräch immer mehr aus dem Weg gegangen war. Dabei hatte sie so sehr das Bedürfnis, mit ihm zu sprechen. Auch über ihre Mutter.

Vor neun Jahren war sie aus dem Leben geschieden, freiwillig und ohne jedwede Erklärung. Sie war in die Ostsee gegangen, nicht weit vom Leuchtturm entfernt, und hatte sich ertränkt. Nur ihre Kleider hatte man am Strand gefunden, aber keinen Abschiedsbrief. Else war damals zwölf Jahre alt gewesen und hatte die Welt nicht mehr verstanden.

In den ersten Jahren hatte die Sehnsucht nach ihrer Mutter überwogen. Ihr Vater hatte sein Bestes gegeben, um die immense Lücke, die sie hinterlassen hatte, zu füllen. Als Else jedoch älter geworden war, hatte zunehmend die Frage nach dem Warum auf ihrer Seele gebrannt. Doch aus irgendeinem Grund war ihr Vater nicht dazu bereit gewesen, mit ihr über die vergangenen Ereignisse zu sprechen. Und so konnte sie über den Tod ihrer Mutter nur mit ihrer Freundin sprechen, die sich in den letzten Wochen allerdings auch rargemacht hatte.

Else klappte ihr Tagebuch zu, ging zum Fenster hinüber und hockte sich hin. Mit spitzen Fingern löste sie die Nägel des kurzen Dielenbretts, das vor ihr lag, und hob das Holz hoch. Dann legte sie das Buch in die kleine Aushöhlung, die darunter zum Vorschein kam. Mit geübten Handgriffen verschloss sie das Geheimfach anschließend wieder.

Sie ging zur Waschschüssel und füllte frisches Wasser aus einer Zinkkanne ein. Die Toilette, die außerhalb der Wohnung in einem kleinen Anbau war, teilten sie sich normalerweise mit der anderen Leuchtturmwärterfamilie. Doch derzeit stand die zweite Wohnung leer, was ihrem Vater augenscheinlich nur recht war. Und so kümmerte er sich weitestgehend allein um den Leuchtturm, führte regelmäßig Wartungsarbeiten durch, erledigte die anfallenden Reparaturen, pflegte das Gehöft und beobachtete das Wetter und den Schiffsverkehr. Nur bei den nächtlichen Wachdiensten wechselte sich ihr Vater mit einem Hilfswärter ab, der in Lüstrow wohnte. Und auch Else half selbstverständlich nach Feierabend mit, wo sie konnte, auch wenn ihrem Vater dafür selten ein Dankeschön über die Lippen ging.

Zügig wusch Else sich und steckte ihr dunkelblondes Haar zu einem einfachen Dutt hoch. Anschließend ging sie zu ihrem Kleiderschrank hinüber.

Aus ihrem Äußeren machte Else sich nicht viel. Auch war es ihr egal, dass sie ausnahmslos Röcke, Kleider, Blusen und Damenhosen besaß, die in den volkseigenen Textilwerken in günstiger Massenware für die Arbeiterinnen und Bäuerinnen dieses Staates produziert wurden und in jedem Bekleidungsgeschäft zu erwerben waren. Kleidung musste für sie praktisch sein, sowohl für ihre Arbeit im Gasthof als auch auf dem Gehöft. Deshalb fischte sie aus ihrem Schrank einen wadenlangen schmucklosen Rock aus dunkelblauer Baumwolle sowie eine schlichte helle Bluse und zog sich an.

Als sie aus dem Wärterhaus heraustrat, blieb sie kurz stehen. Ein Blick auf ihre schmale Armbanduhr verriet ihr, dass sie noch etwas Zeit hatte. Sie sah zum Leuchtturm hinüber. Das oberste Fenster, hinter dem sich das Dienstzimmer verbarg, lag im Dunkeln. Ihr Vater hatte seinen Wachdienst beendet. Else zögerte, blickte kurz zum Schuppen hinüber, wo ihr Fahrrad stand. Doch schließlich betrat sie die Wiese und ging am Leuchtturm vorbei Richtung Meer.

Die weichen Halme umspielten ihre Knöchel. Die Schafe, die sie in einer überschaubaren Anzahl von einem halben Dutzend hielten, grasten friedlich ein Stück weiter oben am Waldesrand.

Sie lief an den Beeten vorbei, aus deren Boden sie bereits Möhren und Radieschen gezogen und den Salat abgeerntet hatte. Nur die Kartoffeln und Wruken schlummerten noch unter der Oberfläche und warteten darauf, das Licht der Erde zu erblicken. Bald würde sie sich der Ernte annehmen müssen, um auch die letzten Körbe in der Vorratskammer für die kalte Jahreszeit zu füllen.

Else ließ die kleine Anhöhe, auf der der Leuchtturm samt Gehöft stand, hinter sich und betrat einen von Schwarzdornsträuchern gesäumten Trampelpfad, der einen kleinen, nicht sonderlich steilen Abhang hinunterführte. Die Dünen und die Ostsee waren von hier aus schon zu sehen, genauso wie der schmale Strandstreifen, der sich dazwischen entlangschlängelte. Große und kleine Muscheln, angespültes Treibholz, Sandsteine und Hühnergötter sowie büschelweise vertrocknetes Algengras lagen wie zufällig dahingestreut im Sand. Dieser Abschnitt der Küste wurde nicht so akribisch sauber gehalten wie der Strand nahe Lüstrow oder in den Kurorten rund um Rostock. Dort aalten sich die Sonnenhungrigen in den Strandkörben, badeten unter Aufsicht und buddelten im feinen strandgutfreien Sand.

Nur selten verirrten sich Feriengäste auch hierher, was Else keineswegs bedauerte. Schon als Kind hatte sie es gemocht, den Strand fast für sich zu haben. Die Naturbelassenheit dieses abgelegenen Fleckchens machte den Ort zu etwas Besonderem. Nur der neu gebaute Beobachtungsturm der Grenzer, der wenige Kilometer vom Leuchtturmgehöft entfernt hoch und unansehnlich seit diesem Sommer aus den Dünen ragte, störte die Idylle. An den Anblick würde Else sich nie gewöhnen können. Auch nicht an die Soldaten, die mit schweren Stiefeln und scharfem Gewehr regelmäßig am Strand vor dem Leuchtturm entlangschritten und hinter jedem Dünenbusch einen Republikflüchtigen witterten.

Am Ende des Trampelpfads entdeckte Else ihren Vater. Sie hatte gewusst, dass sie ihn hier finden würde. Mit dem Rücken zu ihr stand er vor dem Küstenschutzstreifen und blickte in den Himmel. Neben ihm blieb sie stehen. Zwar schien er ihre Anwesenheit zu registrieren, doch sah er sie nicht an. Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Etwas anderes hatte sie von ihrem Vater auch nicht erwartet.

Else folgte seinem Blick in den Himmel. Eine Weile standen sie so nebeneinander. Und beinahe hätte Else die Zweisamkeit genießen können, wenn nicht das Unausgesprochene zwischen ihnen gelegen hätte.

»Und?«, fragte ihr Vater schließlich, ohne seine Augen vom Horizont abzuwenden.

Etwas überrumpelt sah Else ihn an, wusste erst gar nicht genau, worauf er hinauswollte. Dann deutete er mit einem leichten Kopfnicken in den Himmel, und sie verstand. Sie zögerte kurz, entschied sich aber dann dazu, auf seine Frage einzugehen. Sie wandte ihren Blick wieder gen Himmel und runzelte grübelnd ihre Stirn.

»Die Wolken stehen recht hoch, sind dünn, fransig und weiß, auch auf der Unterseite. Sie ziehen schnell weiter oder lösen sich ganz auf«, sagte sie schließlich. »Es sind Federwolken. Das heißt, es weht da draußen ein starker Wind. Vermutlich Windstärke acht oder neun. Viel Sonne. Regen wird’s nicht geben.«

»Auch die nächsten Tage nicht«, fügte er trocken hinzu.

Else sah ihn verdutzt an. »Das siehst du jetzt schon an den Wolken?«

Er schüttelte den Kopf und tippte sich kurz an die Nase. »Das sagt mir mein Gespür. Außerdem haben wir doch wohl noch ein paar schöne letzte Sommertage verdient, oder?«

Er drehte sich zu ihr um, lächelte leicht verschmitzt und warf ihr einen Blick zu, der ihr so vertraut vorkam, als hätte die Zeit ihre Kindheit nicht längst davongetragen.

Früher hatte sie oft hier gestanden und ihren Vater dabei beobachtet, wie er akribisch den Himmel studiert hatte. In den Wolken lesen, hatte er es immer genannt. Es gehörte zu seinen täglichen Aufgaben als Leuchtturmwärter, das Wetter vorherzusagen. Und er war gut darin von jeher. Dafür hatte sie ihn stets bewundert.

Else erwiderte kurz sein Lächeln, während sie ihm ebenfalls in die Augen sah. Dann räusperte sie sich. Sie wollte so gerne noch einmal versuchen, mit ihm über ihre Mutter zu sprechen. Doch da veränderte sich plötzlich der Blick ihres Vaters. Sein Lächeln wich einem beinahe flehenden Gesichtsausdruck. Er schüttelte dabei sachte den Kopf, so als wolle er sie davon abhalten, die Worte auszusprechen, die ihr bereits auf der Zunge lagen. Das wohlige Gefühl, das Else eben noch zwischen sich und ihrem Vater gespürt hatte, verflüchtigte sich so schnell wie die zarten Wolkenfäden am Himmel.

Else zögerte und wandte schließlich ihren Blick ab. »Ich muss zur Arbeit«, sagte sie. Die Enttäuschung schwang in ihrer Stimme mit. Ihr Vater nickte und Else glaubte, ein kleines erleichtertes Lächeln auf seinen Lippen zu erkennen. Sie rang sich ebenso zu einem versöhnlichen Lächeln durch, bevor sie sich auf den Weg zurück zum Gehöft machte.

Else trat kräftig in die Pedale ihres Fahrrads. Der Rückenwind half ihr nicht nur, die Gedanken an ihren Vater hinter sich zu lassen, sondern auch die verlorene Zeit aufzuholen. Margot, die Wirtin, in deren Gaststätte sie angestellt war, hasste es, wenn sie unpünktlich war.

Sie fuhr an den Feldern entlang, auf denen die Bauern das trockene Wetter nutzten, um die Ernte einzufahren. Die Traktoren röhrten mit den Staren um die Wette, die in großen Vogelschwärmen über die Äcker zogen, um in der aufgewühlten Erde Nahrung zu suchen. In der Ferne waren bald die ersten Häuser Lüstrows zu sehen.

Als sie das Ortseingangsschild passiert hatte, fuhr sie an grau verputzten Einfamilienhäusern vorbei, deren Fassaden schon seit dem Krieg vor sich hinbröckelten. Doch die schlichten Mietshäuser, die aufgrund des Wohnungsmangels in den letzten Jahren aus dem Boden gewachsen waren, bestachen auch nicht unbedingt durch Schönheit und Einzigartigkeit.

Else bog in die grob gepflasterte Hauptstraße ein, in der sich die wichtigsten Geschäfte des täglichen Bedarfs wie die Apotheke, die Schusterei, die Fleischerei sowie das kleine HO-Warenhaus befanden. Vor dem Konsum hatte sich eine lange Schlange gebildet. Offensichtlich gab es heute wieder etwas Delikates im Angebot. Doch Else machte sich keine Hoffnung. Wenn sie Feierabend hatte, waren die Regale sicherlich schon wieder restlos leer gekauft worden. Als sie an der Bäckerei vorbeifuhr, stieg ihr der Geruch nach feinem Sauerteig in die Nase, der sie ein Stück des Weges begleitete.

Als sie in die Straße einbog, die zum Hafen hinabführte, konnte sie die Masten der großen Fischkutter sehen. Auch die Schornsteine der Werft, die ebenso am Hafen lag, ragten hinter den Häusern bereits hervor.

Der Gasthof war im unteren Geschoss eines eher unauffälligen Eckwohnhauses gelegen. Unmittelbar an der kleinen vorgelagerten Terrasse bremste sie ab und stieg vom Fahrrad. Die Tür zum Schankraum stand bereits offen, und die Vorhänge der großen Fensterfront waren aufgezogen. Durch die Scheiben sah sie die Wirtin Margot mit ihrer kräftigen, fast burschikosen Statur und dem nach hinten gesteckten grauen Haar am Tresen stehen und geschäftig die Gläser spülen.

An der Wand hinter ihr thronte in einem schlichten großen Bilderrahmen das Porträt Walter Ulbrichts, seines Zeichens Staatsratsvorsitzender der DDR. Ganz unweigerlich zuckte Else jedes Mal kurz zusammen, wenn sie die Schwarz-Weiß-Aufnahme des beinahe freundlich dreinblickenden Mannes sah. Doch Margot bestand darauf, dass sie dort hängen blieb, was Else mehr als überraschte. Schließlich hätte die alte Dame allen Grund dazu gehabt, Ulbricht und die Partei zum Teufel zu jagen.

Der Gasthof hatte nämlich einmal ihr gehört. Über viele Jahre hatte sie die Gaststätte, die ihr Großvater einst eröffnet hatte, als selbstständige Unternehmerin geführt. Selbst zu Kriegszeiten war das Lokal nicht einen Tag geschlossen gewesen, um den gebeutelten Menschen in der Stadt für kleines Geld eine warme Mahlzeit bieten zu können. Manchmal hatte sie sogar ein Auge zugedrückt, wenn jemand nicht einmal einen Heller für ein Stück Brot zahlen konnte.

Als sich die sowjetische Armee in Lüstrow breitgemacht und Angst und Schrecken, insbesondere unter den verwitweten Frauen, verbreitet hatte, hatte sie auch deren gesetzesuntreuen Soldaten erhobenen Hauptes Gulasch und Blinis serviert.

Doch es hatte nichts genützt. Wenige Jahre nach der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik war ihr Gasthaus zwangsenteignet worden. Statt allerdings wie viele andere in ihrer Situation das Heil im Westen zu suchen, war Margot geblieben. Und mehr noch, sie war in die Partei eingetreten und seitdem eine der treuesten Anhängerinnen, die Else kannte.

Sie selbst weigerte sich, das Parteibuch anzunehmen, glaubte Else doch schon lange nicht mehr daran, dass der Sozialismus wirklich funktionieren konnte. Sonst würde er sich wohl kaum hinter Mauern und Stacheldraht verbarrikadieren müssen.

Else schob ihr Fahrrad an der Terrasse vorbei, als sie plötzlich Stimmen hörte. Sie drangen aus einem weit geöffneten Fenster direkt über ihr, das zu einer kleinen Mietswohnung im ersten Stock gehörte. Zuerst verstand Else nicht, was gesagt wurde, doch sie erkannte eine aufgebrachte Männerstimme und eine weibliche Stimme, die beinahe flehend, fast schon verzweifelt klang. Else blieb stehen und lauschte.

»Das können die doch nicht einfach machen«, hörte Else den Mann sagen. Er klang dabei sehr entschlossen.

»Bitte, Frank! Mit deiner Starrköpfigkeit machst du alles kaputt, was wir uns aufgebaut haben«, gab die Frau fast bettelnd zurück.

»Nicht ich bin starrköpfig, sondern die. Und von Literatur haben die auch keine Ahnung. Ich werde noch einmal mit Maier sprechen«, antwortete wiederum die männliche Stimme.

»Nein, tu das nicht. Ich …«

Plötzlich hörte Else ein Zischen. Ertappt drehte sie sich um und sah Margot, die auf der Terrasse stand und sie strafenden Blickes ansah.

»Mädchen …«, ermahnte sie Else. »Manche Dinge sind nicht für unsere Ohren bestimmt. Außerdem hat deine Schicht vor fünf Minuten angefangen. Komm rein, wenn du nicht nacharbeiten willst.«

Else nickte gehorsam. Margot konnte streng sein, aber Else wusste, dass sie auch heute keine Minute länger als notwendig arbeiten würde. Sie lehnte ihr Fahrrad an die Mauer und folgte der Wirtin eiligen Schrittes in die Gaststätte hinein – auch wenn sie gerne gewusst hätte, wie das belauschte Gespräch weiterging.

LULU
1962

Lulu schob die schwerfällige Eisentür des backsteinroten Gebäudes auf und trat auf den Hof hinaus. Die Werfthallen, die das Hauptgebäude umgaben, warfen bereits lange Schatten. Doch die Sonne vermochte zu Lulus freudiger Überraschung noch ausreichend zu wärmen. Sie zog ihre Strickjacke aus und atmete dabei tief durch. Auch wenn die Luft hier nach Öl, Lack und Holzschutzmittel roch, sog sie diese in genüsslichen Zügen ein. Duftete sie doch ebenso nach Feierabend und wohlverdienter Freizeit.

Beschwingt lief sie über den Hof. Bei jedem Schritt hinterließen ihre Pfennigabsätze auf den Pflastersteinen ein klackerndes Geräusch. Ihr blaues Kleid, für das sie fast einen ganzen Monatslohn in einem HO-Bekleidungsgeschäft in Rostock hingeblättert hatte, schwang dabei im Takt mit.

Noch herrschte auf dem Gelände rege Betriebsamkeit. Die Schicht der Arbeiter dauerte noch an, obwohl der Tag in zügigen Schritten dem Ende entgegentrat. Geschäftig luden einige Arbeiter Baumaterial von einem Lastwagen.

Auf die Lieferung aus Stahl, Aluminium und Holz hatten sie wieder einmal mehr als zwei Wochen warten müssen, wie Lulu wusste. Sie hatte den Werftleiter in den letzten Tagen mehrmals durch seine geschlossene Bürotür laut und aufbrausend telefonieren gehört. Anschließend war er jedes Mal wütend ins Vorzimmer gestapft, in dem auch sie in einer Ecke ihren Schreibtisch zu stehen hatte, und hatte sich aus der Schublade bedient, in der die Chefsekretärin Frau Friedrich den guten Brandwein für besondere Anlässe aufbewahrte.

Die Partei interessierte sich nicht für Lieferengpässe, das Plansoll musste trotzdem auf Biegen und Brechen erfüllt werden.

Unter den Argusaugen des Schiffbaumeisters trugen die Arbeiter das Baumaterial, aus dem die Rümpfe für die Fischereiboote gebaut werden sollten, in eine Lagerhalle. Zu Vorkriegszeiten hatte die Werft vornehmlich Yachtboote hergestellt. Doch nachdem sie im Zweiten Weltkrieg beinahe zerstört wurde und nun in staatlicher Hand lag, hatte sie sich auf den Kutterbau spezialisiert. Für luxuriöse Freizeitboote gab es ohnehin keinen Bedarf mehr.

Als Lulu an zwei Arbeitern, die gerade einen Stapel Holzlatten trugen, vorbeiging, pfiffen diese ihr hinterher. Mehr aus Jux, wie ihren grinsenden Gesichtern anzusehen war. Doch bei Lulu bissen sie mit ihrem albernen Balzverhalten auf Granit. Sie drehte sich um und warf den Männern einen kessen Blick zu.

»Hey, ich bin doch kein Hund, der bei jedem Pfiff apportiert.«

Die Männer stießen ein verblüfftes Jauchzen aus, verkniffen sich aber jeglichen weiteren Spruch. Etwas kleinlaut wandten sie sich stattdessen wieder dem Baumaterial zu. Mit ihrer Schlagfertigkeit hatten sie wohl nicht gerechnet.

Lulu ging weiter, ein kleines Schmunzeln konnte sie sich jedoch nicht verkneifen, und wenn sie ehrlich war, genoss sie diese Aufmerksamkeit der Männer sogar ein wenig.

Als sie durch das große gusseiserne Tor hindurchtrat, waren sie jedoch längst wieder vergessen. Ein wenig aufgeregt blickte Lulu sich um. Etwas abseits, auf der anderen Straßenseite, lehnte ein junger Mann lässig an einem lindgrünen Moped. Das Zweirad war zwar nur etwas größer und kompakter als ein Herrenrad, aber immerhin war es motorisiert. Der Mopedfahrer war schlaksig. Seine Schultern, schmal und etwas vorgebeugt, ließen ihn kleiner wirken, als er eigentlich war. Auf der Nase trug er eine runde Brille und seine dunklen lockigen Haare machten auf seinem Kopf offenbar, was sie wollten. Zwar strotzte er auf den ersten Blick nicht unbedingt vor Selbstsicherheit und Charme, doch strahlte er eine gütige Bodenständigkeit aus, die ihn überaus sympathisch wirken ließ. Als er Lulu sah, winkte er ihr zu. Sofort legte sich auf ihr Gesicht ein sonderbar seliges Lächeln, das ausschließlich Frischverliebten vorbehalten war. Eilig lief sie zu ihm hinüber, schlang ihre Arme um seinen Hals und begrüßte ihn überschwänglich mit einem Kuss. Als sie sich wieder voneinander lösten, blickte er sie verschmitzt an.

»Meine Sonne, stürmisch wie immer!«

Lulu zuckte spitzbübisch mit den Schultern. »Ach, Otto! Du weißt doch, man lebt nur einmal!«

Otto lachte auf. Sie deutete auf sein Moped. »Wo wollen wir heute hin?«, fragte sie.

»Lass dich überraschen«, antwortete er geheimnisvoll.

Lulu warf ihre langen braunen Haare, die sie locker mit einem Haarband zusammenhielt, zurück und blickte ihn betont skeptisch an. »Ich hasse Überraschungen!«

Er schüttelte den Kopf. Auf seinem Gesicht lag immer noch dieses Grinsen, das ihre Knie weich werden ließ. »Das tust du nicht! Du liebst Überraschungen.«

Sie griente zurück. »Hast recht. Aber nur, wenn es gute sind!«

»Na dann, steig auf!«, antwortete Otto, während er sich auf sein Moped setzte. Lulu nahm hinter ihm auf dem Bock Platz. Kräftig trat er in die fahrradähnlichen Pedale, sodass der dunkelbraune Koffer, der auf den Gepäckträger gespannt war, wackelte. Als der Motor endlich ansprang, bediente er den Gashebel, und mit einem ohrenbetäubenden Knattern ließen sie die Werft hinter sich.

Sie fuhren durch die engen Straßen der Kleinstadt. Lüstrow, zwar direkt an der Ostsee gelegen, war weniger beschaulich als andere Kur- und Badeorte rund um Rostock. Während auf deren Promenaden ein FDGB-Ferienhaus neben dem anderen stand, arbeiteten die Menschen hier vornehmlich in der Fischerei, Landwirtschaft oder in der Werft, in der auch Lulu angestellt war, seitdem sie vor fünf Jahren die Schule beendet hatte.

Otto lenkte seine Maschine in die Hafenstraße. Hinter dem Damm, der den Ort vor Hochwasser schützen sollte, war das Meer zu sehen. Unaufgeregt schwappten die Wellen gegen den grauen Beton. Ein paar Angler standen auf der Kaimauer und hatten ihre Ruten ausgeworfen. Über ihren Köpfen kreisten die Möwen in der Hoffnung, dem Angler zuvorkommen zu können.

Am Hafen war nicht mehr viel los, als sie ihn passierten. Die Fischer hatten ihre Boote bereits vertäut und den Tagesfang zur Weiterverarbeitung zum Fischkombinat Rostock gebracht. Andere Boote waren an den Holzstegen nicht zu sehen. War es doch außer der Küstenbrigade nur denjenigen erlaubt, auf die Ostsee zu fahren, die einen Fischereischein besaßen.

Ausflugsdampfer, Jollen oder auch nur Gummiboote durften in der DDR ausschließlich auf Binnengewässern gefahren werden. Zu groß war die Angst der obersten Genossen, dass jemand zu weit hinausschipperte.

Bald schon ließen sie den Hafen und auch die letzten Häuser Lüstrows hinter sich und steuerten auf die abgeernteten Felder zu. Vom Meer entfernten sie sich immer mehr, was Lulu mehr als überraschte. Sie beugte sich auf dem Moped zu Otto vor.

»Fahren wir nicht an den Strand? Heute ist wenigstens Badewetter«, rief sie gegen den Lärm des Motors an.

Otto schüttelte den Kopf, sodass seine Locken nur so nach links und rechts flogen.

»Wohin dann?«, fragte Lulu weiter.

Otto drehte seinen Oberkörper etwas zur Seite. »Fünf Worte!«, rief er ihr zu, während er weiter auf die Straße vor sich schaute. »Lass dich überraschen …«

Lulu stutzte. »Das sind nur drei!«

Er drehte seinen Kopf nun noch ein kleines Stück weiter zu ihr, sodass Lulu das verschmitzte Lächeln auf seinem Gesicht sehen konnte. »… meine Sonne!«, vollendete er seinen Satz.

Lulu seufzte leicht, doch mehr aus Ungeduld und Neugier.

Nach einer kurzen Weile verließen sie die Landstraße und bogen in einen Buchenwald ein. Der Waldboden links und rechts des immer schmaler werdenden Weges wurde feuchter. Moose, in prächtigen Grüntönen, überzogen das Gehölz, das sich zwischen den hochgewachsenen Bäumen nicht zu verstecken brauchte. Die Blätterkronen ließen das Sonnenlicht nur spärlich durchschimmern und zauberten mit dem Wind ein zartes Lichtspiel. Lulu ahnte nun, wohin die Fahrt ging.

Das Lüstrower Moor lag etwas vergessen inmitten der Rostocker Heide. Lulu selbst war bisher nur ein paarmal als Kind hier gewesen. Wandernd hatte sie mit ihrer Mutter dieses versteckte Fleckchen Natur erkundet, das schon damals etwas Märchenhaftes gehabt hatte.

Aus den Wanderschuhen war sie jedoch längst herausgewachsen, und auch der Wanderstock ihrer Mutter staubte seit Jahren auf dem Dachboden ein. Lulu hatte keine Ahnung, wann und warum sie diese Art der Ausflüge, die Lulu so geliebt hatte, aufgegeben hatten.

Hinter moosbewachsenen Erlen tauchte zu Lulus Überraschung ein kleiner See auf. Das Wasser war geruhsam und spiegelglatt, soweit sie das durch den Gürtel aus hochgewachsenem Schilf und Sumpfgras erkennen konnte, der das Gewässer umrundete. Otto lenkte sein Moped über dichtes Wurzelwerk zu einer kleinen Stelle, an der das Ufer sandig und das Wasser scheinbar nicht allzu tief war. Dort bremste er ab und klappte mit seinem Fuß den Mopedständer aus. Lulu stieg nach ihm ab und sah sich immer noch ein wenig verwundert um. Sie hatte nicht gewusst, dass es im Moor einen See gab.

»Wie hast du diesen Ort gefunden?«, fragte sie.

Otto zuckte mit den Schultern. »Durch Zufall, vor ein paar Jahren. Ich komme gerne her zum Nachdenken. Und wenn wir am Strand sind, beschwerst du dich doch immer, dass du dich so beobachtet fühlst.«

Lulu nickte. »Von den Grenzern auf dem Beobachtungsturm. Ich hab das Gefühl, die können einem sogar beim Umziehen unters Handtuch gucken.«

»Hier kann dir niemand was abgucken. Außer vielleicht ein paar Schwarzspechte«, antwortete er, während er seinen Blick über die Baumkronen schweifen ließ. Dann sah er Lulu an, lächelte, und Lulu konnte nicht anders, als ihm einen Kuss auf die Wange zu geben.

Anschließend grinste sie und gab unumwunden zu: »Ist schön hier.«

Otto nickte zufrieden ob seiner geglückten Überraschung und schnappte sich die Picknickdecke, die hinter dem braunen Lederkoffer auf den Gepäckträger gespannt war. Er breitete sie auf einer kleinen erhöhten Lichtung aus, wo der Boden ausreichend trocken war, und setzte sich sogleich darauf. Keck zog er Lulu zu sich hinunter, die sich mit einem erstaunten Juchzen in seine Arme sinken ließ.

Lulu hatte Otto vor ein paar Wochen auf dem Betriebsvergnügen kennengelernt. Zuerst hatte sie nur wenig Lust gehabt hinzugehen, waren doch solche von der parteidurchzogenen Werftleitung organisierten Feierlichkeiten oftmals alles andere als vergnüglich. Doch Erscheinen war Pflicht gewesen, wenn man keinen Eintrag in die Kaderakte riskieren wollte. Zum Glück hatte sie ihre Freundin überreden können, sie zu begleiten.

Zuerst war die Feier mit den scheinbar endlosen Reden der Ortsparteiführer und des Werftleiters über die sozialistischen Errungenschaften unerträglich gewesen. Doch dann hatte sich ihre Meinung plötzlich geändert. Zwischen den Musikern des Rostocker Stadtorchesters, die auf der im Hof der Werft aufgebauten Festbühne die Klassiker des sozialistischen Liedguts zum Besten gaben, war Otto ihr gleich aufgefallen. Seine Locken hatten in der spätsommerlichen Sonne geglänzt. Seine Finger hatten voller Gefühl den Bügel seiner Posaune bewegt und die perfekte Klarheit seiner Töne der drögen marschähnlichen Musik beinahe etwas Glanzvolles gegeben. Er hatte sein Instrument mit solch einer Selbstverständlichkeit gespielt, dass Lulu ihn dafür beneidet hatte.

Nach dem Auftritt hatte sie ihn aus den Augen verloren. Erst spät am Abend, ihre Freundin hatte schon gehen wollen, war er plötzlich vor ihr aufgetaucht und hatte sie zum Tanz aufgefordert. Erfreut und auch ein wenig nervös war sie ihm auf die Tanzfläche gefolgt. Als er ihre Hand genommen hatte, hatte es in ihrem Bauch gekribbelt. Und dieses schöne Gefühl, das sie seitdem jedes Mal in seiner Gegenwart spürte, wollte sie nie wieder missen.

Die Dämmerung war schneller hereingebrochen, als Lulu lieb war. Mit einem rot glühenden Abendhimmel verabschiedete sich die Sonne eindrucksvoll vom Tag, während der Mond noch etwas schüchtern zwischen den Erlen auf seinen Auftritt wartete.

Sie hatten die vergangenen Stunden mit Reden, Lachen und Küssen verbracht. Wobei es eher Lulu gewesen war, die geredet und gelacht hatte. Doch Otto war der erste Mann, bei dem sie nicht das Gefühl hatte, dass er ihr nur aus Höflichkeit zuhörte.

Lulu mochte noch nicht aufbrechen, auch wenn sie wusste, dass ihre Eltern sicherlich schon mit dem Abendessen auf sie warten würden. Nur widerwillig erhob Lulu sich deshalb aus Ottos Armen. Während er die Decke zusammenlegte, ließ Lulu noch einmal ihren Blick über den See schweifen.

Autor