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Das kleine Cottage in Cornwall

Als Buch hier erhältlich:

Wer nicht springt, lernt niemals fliegen!

Mit dem Fallschirm den Sprung ins wahre Leben wagen, das war Edies Plan. Doch als ein Schlaganfall all ihre Pläne über den Haufen wirft, bekommt das Wort Neuanfang eine völlig andere Bedeutung. Plötzlich muss sie um ihre Zukunft kämpfen, und wo könnte sie das besser als im zauberhaften Periwinkle Cottage an der Küste Cornwalls mit der Unterstützung der besten Freunde, die sie sich wünschen kann? Hier schöpft sie Hoffnung auf das große Glück.


  • Erscheinungstag: 22.03.2022
  • Seitenanzahl: 432
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749903689

Leseprobe

Für Val, mit Liebe

heroisch: heldenhaft oder großartig,

besonders beeindruckend oder bemerkenswert

 

Leistung: unternommene Anstrengung

und das erzielte Ergebnis

1. Kapitel

Tag 1: Oktober

Fünf Meilen östlich von Salisbury

Heroische Leistung: Der Fallschirmsprung

»Komm schon, Edie, machen wir’s.«

Wir poltern durch den Flugzeugrumpf nach hinten, und als ich den Kopf drehe, ist da ein klaffendes Loch, wo vorher die Tür war. Dann erwischt uns der Sog, und wir werden aus dem Flugzeug gesaugt.

Als Nächstes geschieht das Verrückteste, was mir in meinem bisherigen Leben passiert ist. Ohne Vorwarnung rase ich abwärts. Der Luftstrom bringt meine Wangen zum Flattern; er ist so heftig, dass ich kaum atmen kann. Ich schreie nur und falle. Falle und schreie. Irgendwie erinnere ich mich daran, die Arme und Beine auszubreiten. Dann erstarre ich vor Kälte und schreie weiter. Und würge. Das flache Patchworkmuster der Felder unter uns kommt näher und näher. Es dauert ewig. Wir müssen bald stoppen, sonst werden wir definitiv sterben.

Irgendwie drehen wir uns, und ich entdecke den Kameramann einige Meter unter uns, der fast bewegungslos wirkt. Und bizarrerweise winkt er uns zu. Komische Sache mit dem Winken. Ohne nachzudenken winke ich zurück. Dann drehen wir uns erneut, und ich schaue in den Himmel zu Bella. Ihre Wangen sind verzogen, die Haare kleben ihr im Gesicht, und auch sie winkt wie verrückt.

Dann, als es sich schon anfühlt, als würde es nie enden, gibt es einen Ruck, und der Luftstrom reißt ab. Alles verlangsamt sich, und meine Schreie hören auf. Statt zu fallen, hängen wir an Bändern, und über uns bläht sich der hellblaue Fallschirm am Himmel. Ich kann Dans Stimme wieder hören.

»Der Fallschirm ist offen, es dauert nicht mehr lange. Möchtest du ein paar Drehungen und Kurven fliegen auf dem Weg nach unten … oder einfach den Fallschirm still halten?«

Er macht wohl Witze. »Einfach geradewegs hinunter ist gut … trotzdem danke.«

Es ist so entspannt, dass mir sogar Zeit bleibt, mich umzusehen. Weit unten erkenne ich einen winzigen Traktor, der ein rechteckiges Feld umpflügt, und Autos, die über eine sich durch die Landschaft schlängelnde Straße fahren. Da ist der cremefarbene Block des Hauptgebäudes mit dem Logo in verschiedenen Blautönen auf dem Dach. Ich entdecke sogar meinen glänzenden neuen Audi am Ende des Parkplatzes, wo ich ihn abgestellt habe, damit er nicht getroffen wird. Das Sonnenlicht wird vom Fenster auf der Fahrerseite reflektiert – das muss ein gutes Zeichen sein. Tash, ganz die unterstützende Schwester, sitzt in ihrem blauen Regenmantel auf einem Strohballen neben dem Pavillon. Den einen Arm hat sie um ihre Kinder Tiddlywink und Wilf gelegt, mit der anderen Hand hält sie ihr Handy Richtung Himmel.

Der Boden kommt rasch heran, nah genug, um die einzelnen Grashalme unterscheiden zu können sowie einen Baum in einem schrägen Winkel.

Dans Stimme ist wieder da, seine Hand drückt meinen Kopf an seine Brust. »Okay, wir sind fast unten. Heb deine Beine an, wie wir es dir gezeigt haben.«

Einen heftigen Aufprall später taumeln wir vorwärts, während Dan für uns landet. Dann treffen auch meine Beine auf den Boden, und Leute laufen auf uns zu, um uns abzuklatschen und anschließend die zerknüllten Fallschirme und dazugehörigen Seile zu ordnen. Ich stehe schwankend da und höre einen Jubelschrei. Als ich herumwirbele, sehe ich Bella ebenfalls landen. Ein stechender Schmerz macht sich unterhalb meines Ohrs bemerkbar, als ich mir den Nacken verrenke, aber gleich darauf ist er wieder verschwunden, während Dan mich vom Fallschirm ausklinkt.

»Okay? Wie war’s?« Er grinst breit, und der Video-Typ kommt angelaufen, um meine Reaktion zu filmen.

»K-k-kalt.« Meine Knie schlottern zwar, aber ich fühle mich total lebendig und Wellen des Glücks durchfluten mich. »U-u-und fantastisch!«

Ein Strom von Gedanken schießt mir durch den Kopf. Ich bin so dankbar, dass ich Dan umarmen könnte. Ich habe das Gefühl, nach diesem Sprung alles zu können. Und ich denke, wie cool es wäre, wenn Colin Firth am Boden gewartet hätte. Oder sogar Marcus. Den streiche ich aber schnell wieder. Und wie toll es ist, am Leben zu sein. Und dass ich das hier wieder tun will.

Dann ist Bella bei mir und schließt mich in die Arme. Als wir uns voneinander lösen, steht Tash im Gras, strahlt und reicht uns beiden einen Plastikbecher.

Ich trinke einen Schluck Champagner und schnappe nach Luft. »Ich kann diesen neuen Job wirklich annehmen und es schaffen. Und in zwei Wochen unterschreibe ich den Mietvertrag für meine neue Wohnung, und es gibt überhaupt keinen Grund zur Sorge. Nach diesem Sprung wird jeder Tag einfach grandios!«

Denn wenn du einen Fallschirmsprung überlebst, muss einfach alles danach leicht sein, oder?

2. Kapitel

Vier Monate später …

Man könnte sagen, alles begann am Tag des Fallschirmsprungs. Wie viele Menschen bin ich besessen von Anfängen. Als wäre es für irgendetwas gut zurückblicken, um den genauen Moment zu bestimmen, in dem alles begann. Aber hätte ich nicht mit Marcus Schluss gemacht, hätte ich wohl diesen Sprung nicht gewagt, also hat es vermutlich schon früher angefangen, eben mit der Trennung. Andererseits hätten sich die Dinge mit Marcus nicht so entwickelt, wenn ich den neuen Job nicht bekommen hätte. Daher hat es möglicherweise damit begonnen. Wie dem auch sei, ohne all das wäre ich wohl nicht auf der Reise, auf der ich jetzt bin und die ich mir nicht ausgesucht und schon gar nicht erwartet habe. Und der Rest meines Lebens wird erst beginnen, wenn ich wieder an den Punkt gelangt bin, an dem ich begonnen habe.

Vor hundertneunundzwanzig Tagen hatte ich einen Schlaganfall.

Damals hat es niemand geglaubt. Am Dienstag nach meinem Fallschirmsprung war ich noch berauscht vom Adrenalin. Aber als ich mein Büro bei Zinc Inc in Bath betrat, musste mir mein Boss Jake meinen Morgenkaffee samt Muffin bis zum Schreibtisch tragen, weil ich Nadelstiche im rechten Arm verspürte. Um die Mittagszeit waren meine Finger so taub, dass ich meine Apfeltasche nicht mehr halten konnte. Als ich Jake erklärte, ich sähe einen Regenbogen um seinen Kopf, brachte er mich sofort in die Notaufnahme.

Zuerst dachte man, ich hätte mich im Schlaf verlegen und schickte mich wieder nach Hause. Es dauerte Tage, bis sie einen Pfropfen in einer Ader in meinem Hals entdeckten, der sich zu meinem Gehirn bewegt und die Blutzufuhr blockiert hatte. Schuld daran war nicht direkt mein Fallschirmsprung einige Tage zuvor. Sie meinten, es könnte passiert sein, als ich ruckartig den Kopf bewegte, um Bella zuzuwinken. Oder weil ich zu lange in den Himmel gestarrt habe, bevor es losging. Oder weil ich über den Champagner-Eimer gestolpert bin.

Damals war mir das nicht klar, aber im Gehirn gibt es eine Million kleiner Dinge, deren Namen mir jetzt nicht einfallen, die lauter unterschiedliche Signale an alle möglichen Bereiche des Körpers senden. Wenn die Blutzufuhr in ein bestimmtes Hirnareal unterbunden ist, funktioniert auch der Körper nicht mehr. Genau das ist mir passiert.

Man sollte meinen, wenn die Wissenschaft weit genug ist, um Roboter auf dem Mars landen zu lassen, sollten Ärzte alles darüber wissen, wie der menschliche Körper funktioniert. Aber das Gehirn ist so kompliziert, dass es noch vieles gibt, was selbst die Ärzte nicht verstehen.

Einiges weiß ich allerdings. Ich kann mich glücklich schätzen, denn es hätte viel schlimmer kommen können. Ich kann laufen und sprechen, und dafür bin ich unendlich dankbar. Die Aussichten für die Genesung sind gut – die meisten jungen Menschen kehren nach einem Schlaganfall in ihren Beruf zurück. Und an diese Hoffnung klammere ich mich.

Mein Schlaganfall hat mir Dinge genommen. Momentan habe ich Probleme mit Worten. Ich kann nicht lesen. Mein Sprechvermögen bleibt hinter meinen Gedanken zurück, und viele Worte, die ich vorher kannte, sind nicht mehr da. Auch meine Sinneswahrnehmung ist beeinträchtigt. Manches nehme ich verstärkt wahr, anderes überhaupt nicht mehr. Außerdem hatte ich schon einen Krampfanfall, deshalb kann ich – im Moment – nicht Auto fahren.

In den vergangenen vier Monaten habe ich jede mögliche Therapie gemacht und sämtliche zur Wahl stehenden Medikamente genommen. Mein Zustand hat sich schon deutlich verbessert, und jetzt liegt es bei mir. Mein Wagen steht zu Hause in der Garage. Jake, mein Boss, zahlt mir einen geringen Betrag, bis ich mich weit genug erholt habe, um wieder zu arbeiten. Ich muss nur meinen Weg dorthin zurückfinden, wo ich vorher war, Schritt für Schritt. Es geht vielleicht nur langsam voran, und ich werde Geduld brauchen. Aber ich denke, wenn ich aus einem Flugzeug springen kann, bin ich zu so ziemlich allem fähig. Wenn ich mich darauf konzentriere, bekomme ich auch das hier hin. Ich will wieder der Mensch sein, der ich vorher war. Und nun werde ich für eine Weile nach Cornwall fahren, weil es die beste Chance bietet, mein Leben wieder auf die Reihe zu bekommen.

Man darf gespannt sein …

3. Kapitel

Tag 133: Mittwoch, 14. März

St. Aidan, Cornwall

Heroische Leistung: Cornwall finden

»Periwinkle Cottage, das erste auf der linken Seite in der Saltings Lane – das ist es!«

Ich blicke auf ein weitläufiges Steincottage mit einem glänzenden Schieferdach und himmelwärts ragenden Schornsteinen, nur eine windige Wiese weit vom Rand der Klippe entfernt. Die Veranda, vor der wir gehalten haben, sieht genauso aus wie auf den Fotos, die Mum mir gezeigt hat. Seit wir Bath heute Morgen verlassen haben, sage ich mir die Adresse im Stillen auf, und mein benebelter Kopf fühlt sich an, als hätte ich einen Kontinent durchquert, nicht bloß ein paar Countys. Jedenfalls ist es die weiteste Fahrt, die ich seit einer ganzen Weile gemacht habe, aber es war wichtig, sie durchzuhalten. Dank Dads Freund Hal, einem Uber-Fahrer, bleibt mir die Peinlichkeit erspart, mit über dreißig von meinen Eltern gebracht zu werden. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten fühle ich mich fast wieder wie eine richtige Erwachsene.

Während wir die Küste entlang nach St. Aidan hineinfuhren, betrachtete ich den Strand und die Lichterketten, die zwischen den blau gestrichenen Laternenpfählen gespannt waren. Gischt traf auf die Frontscheibe des Taxis, und ich sah die an den Hängen verstreut stehenden, rosa und weiß verputzten Cottages an. Die ganze Zeit verspürte ich dabei ein Kribbeln im Bauch. Wir kamen an den hübschen Häusern am Hafenbecken vorbei, den am Kai schaukelnden Booten und den gegen den Winterwind geschützten Ständen der Muschelverkäufer. Dann ging es hinauf über die gewundenen Kopfsteinpflasterstraßen, in denen es dicht an dicht Patisserien, Cafés und Läden mit Surfboards und neonbunten T-Shirts gibt. Sogar eine Hochzeitsboutique der gehobenen Preisklasse findet sich dort. Wir kamen an Häusern vorbei mit kleinen Fenstern und bunt gestrichenen Haustüren, und hinter jeder Kurve bot sich eine neue Aussicht aufs Meer zwischen den Hausdächern. Dann waren wir oben auf dem Hügel und sahen von Steinmäuerchen begrenzte Weiden, und die schmale Straße wurde zu einem unbefestigten Weg. Das erste Cottage auf der linken Seite war es also. Jetzt, wo ich tatsächlich hier bin, wird das Kribbeln in meinem Bauch richtig heftig.

Während ich aussteige und die Wagentür mühsam schließe, entgeht mir nicht, dass die von meiner Mum versprochene kornische Sonne fehlt. Ich betrachte staunend die Weite des Meeres jenseits der Klippe, aber statt blau und funkelnd ist das Wasser noch dunkler als der Gewitterhimmel. Im Augenblick ist es mir jedoch völlig egal, ob es hier aussieht wie auf einer Ansichtskarte. Was zählt, ist, dass ich da bin und es geschafft habe. Das erste Mal seit meinem Sprung aus dem Flugzeug ein Erfolgserlebnis. Das muss ein gutes Zeichen sein.

»Ich komme klar mit dem Gepäck. Danke für alles, Hal.«

Ich weiß, er hat es eilig, zu seinem nächsten Auftrag zu kommen, daher klettere ich über alte Farbtöpfe und Trittleitern auf der Veranda, läute die Schiffsglocke neben der Tür und warte.

Idealerweise hätte ich gern rasch mein Gepäck aus dem Weg, damit niemand sieht, wie viel Zeug ich mitgeschleppt habe, aber auch, damit Mums Rollreisetaschen nicht auffallen. Als Marcus und ich uns getrennt haben, hat er sämtliche Designerkoffer behalten, wahrscheinlich weil sie alle ihm gehörten. Schrulliges, neonbuntes Gepäck mag ja ganz nett sein für Leute im Alter meiner Eltern, aber mir ist es entsetzlich peinlich. Nicht dass ich zu diesen Markenfetischistinnen gehöre, aber eine Frau hat eben gewisse Standards.

Hal sitzt schon wieder im Wagen, und ich stehe hier neben meinem Gepäck, deshalb ziehe ich erneut am Glockenband und winke Hal zum Abschied zu. Als er auf die Straße abbiegt, erinnere ich mich daran, dass meine Mum die Mittagsschläfchen meiner Tante erwähnt hat, und meinte, dass ich einfach hineingehen solle, falls niemand aufmacht. Also drehe ich den Türknopf, aber die Tür lässt sich nicht öffnen, deshalb läute ich noch einmal, lauter und kräftiger als zuvor. Hal meinte, wir lägen gut in der Zeit; vielleicht ist meine Tante losgegangen, um etwas zum Nachmittagstee zu besorgen. Da ich weiß, wie gern die Leute in meiner Familie plaudern, könnte es sein, dass ich den ganzen Tag hier stehe.

Aber ich bin in Fahrt. Dies ist die neue, mutige kornische Version von mir, und ich werde mich nicht von einer Kleinigkeit wie einer verschlossenen Tür aufhalten lassen. Als meine Mum von der berühmten wohltuenden Seeluft in St. Aidan sprach, hat sie irgendwie vergessen zu erwähnen, dass die mir kräftig ins Gesicht pusten würde. Ich fasse mir in die Haare, um wenigstens den Rest meiner Frisur zu retten, trete hinaus in den Wind und betrachte das langgezogene Cottage. Ich lasse den Blick über die vielen salzbespritzten Fenster gleiten, auf der Suche nach einem Lichtschein in der Spätnachmittagsdämmerung. Auf den Fensterbänken stehen weder Blumen noch sonstige Pflanzen, und die meisten Jalousien sind heruntergelassen. Ich halte bei einem schmalen Schiebefenster inne, dessen Rahmen in der Mitte nicht ganz aufeinanderliegen. Ein sicheres Zeichen dafür, dass es nicht verschlossen ist, und als ich eine der Trittleitern auf der Veranda berühre, steht meine Entscheidung fest. Ich kann hier warten, bis ich ins Meer geweht werde – was vermutlich innerhalb der nächsten Sekunden passieren wird bei diesem Sturm –, oder ich steige durch das Fenster ein und das Teewasser kocht, wenn der Kuchen kommt. Es hieß, ich solle ruhig hineingehen, und genau das werde ich tun. Nur dass ich durch ein Fenster im ersten Stock klettere, statt unten durch die Haustür zu marschieren. Solange ich mir die Schuhe ausziehe, sobald ich drin bin, wird meine Tante nichts zu beanstanden haben.

Das Fenster befindet sich auf halber Höhe, es ist also gar nicht so hoch, und die Leiter ist leicht und verstellbar. Ein paar Sekunden später bin ich schon oben und finde es vor, wie ich vermutet habe – nicht eingehakt, es lässt sich hochschieben. Ich ziehe mich hinauf und denke, dass ich meiner Tante unbedingt sagen muss, sie soll in Zukunft besser darauf achten, dass ihre Fenster verschlossen sind. Aber dann geschieht etwas anderes.

Man kennt ja diese Momente, in denen man eine Jeans im Laden aussucht, die gerade passend aussieht. In der Umkleidekabine stellt man jedoch fest, dass sie viel kleiner ist, als man beim ersten Hinschauen gedacht hat. Wie man es auch versucht und zerrt, man bekommt sie kaum bis über die Knie. Das passiert mir mit dem Fenster. Als ich hineinzukriechen versuche, sieht die Lücke groß genug aus, aber plötzlich stecke ich an der Hüfte fest. Über mir ist Platz, also liegt es an der Breite. Und noch etwas Ungutes kommt dazu – ich stelle nämlich fest, dass das Fenster gar nicht im ersten Stock liegt, sondern hoch oben im Flur. Selbst wenn ich mich hindurchschieben kann, wie ich es beabsichtigt habe, stürze ich ab, statt bequem auf wundervoll festem Holzfußboden zu landen.

Während ich mit den Beinen strampele, um freizukommen und dabei denke, dass es schlimmer ja wohl kaum geht, höre ich hinter mir jemanden rufen.

»Was zur Hölle tun Sie da?«

Es ist ein Mann, und wenn meine Tante nicht plötzlich aufgetaucht ist, meint er mich. Ich erstarre und suche nach einer Erklärung, aber ich bekomme nur ein Wimmern heraus.

»Einbruch und älteren Menschen einen Schrecken einjagen, das wird Sie teuer zu stehen kommen!«

Meine Tante wäre ganz schön gekränkt, zu den älteren Menschen gezählt zu werden, weshalb ich schon ein bisschen sauer bin. Es gelingt mir, den Kopf zu drehen und Schultern unter mir zu erkennen, die eine zerschlissene Jeansjacke ausfüllen. »Was zur Hölle geht Sie das an?«, rufe ich zurück.

»Schon mal von Nachbarschaftswache gehört? Ich wohne nebenan.«

Ich atme erleichtert aus, allerdings reicht es nicht, um freizukommen. »Na schön, neugieriger Nachbar, danke für Ihre Besorgnis. Ich habe geklingelt, aber niemand hat aufgemacht, und die Tür war verschlossen, also versuche ich auf anderem Weg hineinzugelangen.«

Seine tiefe Stimme überschlägt sich fast vor Ungläubigkeit. »Sie reiten sich mit jedem Wort weiter hinein. Jeder weiß, dass die Haustür hinten ist – dieser Teil des Hauses ist abgeschlossen.«

Verdammt, warum bin ich nicht selbst darauf gekommen? »Ich besuche meine Tante.« Es sollte weniger jammernd klingen.

»Na, da wünsche ich Ihrer Tante aber viel Spaß mit jemandem wie Ihnen.« Er scheint zu zögern, dann fragt er: »Welche Tante soll das denn sein?«

»Ich … ich … ich.« Die ganze Zeit habe ich mir den Namen des Cottages vorgesagt. »Das werde ich wissen … sobald sie mich daran erinnert hat.«

»Netter Versuch.« Es folgt ein lautes Schnauben. »Das klären wir, sobald Sie unten sind. Und nun kommen Sie bitte die Leiter herunter. Sofort!«

»Nichts täte ich lieber …« Wenn ich nur nicht so quietschig klingen würde. »… aber ich stecke fest.«

»Jetzt reicht’s.«

Die Leiter schrammt an der Mauer und jemand zerrt an meinem Gürtel. Dann spüre ich den stürmischen Wind an den Ohren und bin frei, wenn auch nicht so ganz, denn ich bin zwischen der Leiter und einem harten, heißen menschlichen Wesen, wie meine beste Freundin Bella sich ausdrücken würde, eingeklemmt.

Wenn eine Frau einen Mann als ›heiß‹ bezeichnet, ist es streng genommen die Zusammenfassung von elf entscheidenden Qualitäten; Einfühlungsvermögen und Großzügigkeit zählen da genauso wie Aussehen und Muskeln. Bei einem kurzen Blick hinter mich kann ich nur zerwühlte braune Haare erkennen und Augen, die zur echt sexy Stimme passen, auch wenn sie die völlig falschen Worte sagt. Nach dem zu urteilen, wie er sich gegen meinen Rücken gepresst anfühlt, müsste er fit und muskulös genug sein für Bella. Unter uns gesagt, für ihr ›heiß‹ reichen schon drei Kriterien – Integrität und Sinn für Humor waren ihr nie so wichtig.

Was mich betrifft, halte ich mich von jedem Kerl fern, bis ich wiederhergestellt und wie früher bin. Und der hier hat auch noch meine zwei unangenehmsten Dinge an mir gesehen – mein Gepäck und meinen Hintern. Es wäre also ohnehin sinnlos, selbst wenn er nicht in einer anderen Liga spielen würde.

Jetzt muss ich nur noch herausfinden, wie ich mich befreien kann, ohne von der Leiter zu fallen und mich noch mehr zu blamieren. Ein Stück den Weg hinunter sehe ich einen Jungen mit dem Fuß ins Gras kicken, die Hände tief in die Taschen seiner blauen Steppjacke geschoben. Neben ihm läuft ein kleiner Hund. Und plötzlich ist da noch eine weitere Gestalt, die angerannt kommt, mit der Hand über den Augen und zu mir hinaufspähend, während sie schrill ruft: »Edie? Bist du das?«

»Tante …« Sie sieht nicht angezogen aus, und leider hat sie offenbar auch keine Tüte mit Kuchen bei sich.

»Ich bin Tante Josephine – du erinnerst dich doch an mich, oder?« Wenn man eine Lücke lässt, wo eigentlich ein Wort sein sollte, hilft einem für gewöhnlich jemand. Tante Josephine hat uns erst vor wenigen Wochen in Bath besucht, wer weiß also, was sie mit der Frage, ob ich mich an sie erinnere, andeuten will. »Was um alles in der Welt machst du dort oben, Edie? Und warum bist du mit einem Fensterputzer gekommen?«

»Er ist kein …« Die Details sind zu verwirrend, ich muss mich auf die wichtigen Dinge konzentrieren. »Du hast nicht aufgemacht, und da wollte ich durchs Fenster hereinkommen.«

Ich schaue trotzig hinunter in die schokoladenbraunen Augen mit den Fältchen drum herum. »Tante JOSIE … war’s das, was Sie wissen wollten? Vielleicht verschonen Sie mich dann endlich mit Ihren absurden Beschuldigungen, ich würde einbrechen.«

Der Anblick seiner starken Hand an der Leiter löst ein Prickeln in mir aus. Er sieht mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Fabelhaft. Da wir das geklärt haben, können Sie mir verraten, wer oder was Sie genau sind?«

Ich erinnere mich vielleicht nicht immer daran, wie die Schwester meiner Mum genannt wird, aber die Antwort auf diese Frage kenne ich. »Ich bin glücklicher Single und fest entschlossen, das auch zu bleiben. Warum?«

»Dann wären wir schon zwei, und ich habe auch nicht die Absicht, Ihnen einen Antrag zu machen.« Seine Lippen zucken. »Ich wollte nur wissen, ob Sie Touristin oder von hier sind. Falls Sie nur übers Wochenende bleiben, haben Sie ganz schön viel Gepäck dabei. Oder ist das Ihr Diebesgut?«

Schön, dass er das auch noch angesprochen hat. Ich könnte im Boden versinken. Wenn er schon persönlich wird, dann bitte nicht, solange mein Hintern gegen seine Brust drückt.

»Ich bin hier, um … um bei, äh, diesem Haus zu helfen.« Drei Stunden lang habe ich mir den Namen hergesagt, und nun ist er weg. »Ich werde eine Weile hier sein.«

»Wundervoll. Na, wenn Sie Langzeitgefangene sind, denken Sie dran, dass die Lieferwagen, die zu den Scheunen dort hinten müssen, ziemlich breit sind.« Er wartet, bis ich das zur Kenntnis genommen habe. »Parken Sie also lieber nicht an der Straße, wenn Ihr Wagen teuer oder besonders gepflegt ist.«

»Danke für den Hinweis.« Ich werde ihm nicht verraten, dass mein Wagen sogar beides ist, nur dass ich ihn leider nicht dabeihabe. »Denken Sie doch in der nächsten Saison an Fahrbahnmarkierungen.« Ich bin stolz auf mich, dass mir das Wort einfällt und ich es einigermaßen schlagfertig anbringen kann. Abgesehen davon reden wir hier über einen unbefestigten Weg, auf dem keine Farbe haften würde.

Er zieht ein Gesicht. »Vergessen Sie die Markierungen. Im Sommer sollte hier echt Halteverbot herrschen. Sie haben keine Ahnung, wie oft wir die Wagen von Ausflüglern in die Gärten ziehen müssen, damit sie nicht demoliert werden.« Erneut kneift er die Augen zusammen. »Wie wär’s, wenn ich Ihnen helfe, das Gepäck ins Haus zu bringen?«

Nachdem er vorhin so unfreundlich war, würde ich lieber sterben, als seine Hilfe anzunehmen. »Danke, aber dort, wo ich herkomme, tragen Frauen ihr Gepäck selbst.« Und gibt es Halteverbot überhaupt? Das ist das Problem mit Gedächtnislücken – es fällt einem schwerer, die Wahrheit von Unsinn zu unterscheiden. »Sind wir dann fertig hier? Kann ich runter?«

Endlich rührt er sich und springt einfach nach unten. Er pfeift, und der Hund fängt an, in der Erde zu wühlen. Als ich die Leiter heruntersteige, lächle ich dem Kind zu, löse damit jedoch nur die vage Bewegung einer Braue aus. Ich krame in meinem Gedächtnis, wie ich jemanden auf Nimmerwiedersehen verabschiede, der mich beschuldigt hat, meine Verwandte auszurauben. Aber er geht gar nicht, sondern steigt die Leiter wieder hinauf.

»Was tun Sie denn jetzt?«

Er zuckt mit der Schulter und zieht das Fenster herunter. »Ich schließe das Fenster, damit wir nicht noch mehr Eindringlinge und Gelegenheitsdiebe anlocken.«

Ich schüttele den Kopf. »Ich bin nicht einfach so durchs Fenster. Ich wollte Tee kochen.«

Er ist wieder von der Leiter herunter und legt sie auf den Boden. »Sie müssen das noch von innen verriegeln. Und wenn Sie das nächste Mal dringend Tee wollen, probieren Sie es zuerst hinterm Haus.« Herablassend ist gar kein Ausdruck. »Wenn Sie bleiben, werden wir uns wohl über den Weg laufen.«

Nur über meine Leiche, denke ich und würde es am liebsten laut aussprechen. Aber ich habe keine Kontrolle über meinen Mund. In jüngster Zeit scheine ich touretteartige Neigungen zu haben. Manchmal haue ich Sachen raus, die bestenfalls originell und schlimmstenfalls nur peinlich sind.

»Love you, bye!« Da, schon wieder! Ich schwöre, das bin ich nicht. Ich hab’s in einer Radiosendung aufgeschnappt, während ich im Wagen von einer Baustelle zur nächsten fuhr. So wurden in der Sendung die Anrufer abgewimmelt. Halbwegs wahllos von mir und mittelmäßig peinlich, aber für den geschockten Ausdruck in seinen Augen hat es sich gelohnt. Ich bin ihn losgeworden, und das allein zählt, denn ich kann gut auf Publikum verzichten, während ich neonfarbene Taschen, groß wie Ponys, schleppe.

4. Kapitel

Tag 133: Mittwoch, 14. März

Periwinkle Cottage

Heroische Leistung: Den Wasserkessel finden

»Hier entlang, Edie.«

Ich folge Tante Josie durch das Gartentor am anderen Ende des Hauses, meinen größten Koffer hinter mir herziehend. Hinter dem Cottage wächst Unkraut zwischen den Pflastersteinen und auf dem blassen Rechteck Rasen vom vergangenen Jahr, aber hier sind wir wenigstens ein bisschen vor dem Wind geschützt. Ich bleibe kurz stehen und sehe mir den hübschen kleinen Garten hinter der blassgrauen Steinmauer an und die Fensterrahmen, die dringend Farbe benötigen. Als wir an einem farbig gestrichenen Wintergarten vorbei zur Tür gehen, wird mir klar, dass die Schiffsglocke von hier so weit entfernt ist, dass ich sie ebenso gut auf dem Meer hätte läuten können. Ich folge Tante Josie auf die Veranda, lasse mein Gepäck los und umarme sie.

»Mensch, Tante Josie, es ist toll, endlich hier zu sein.« Während ich meine Wange an ihre schmiege, frage ich mich, ob sie immer noch nach Nina Ricci duftet.

L’Air du Temps. In hellgelben Packungen. Oben auf der Flasche eine wunderhübsche Taube aus Milchglas. Als wir Kinder waren, zankten Tash und ich uns darum, wer an ihrer Frisierkommode sitzen durfte. Verglichen mit der unserer Mum war die von Tante Josie sehr exotisch und stets voller eleganter Düfte. Das kommt davon, wenn der Ehemann beruflich reisen muss, in jedem Flughafenshop etwas besorgt und nie einen Geburtstag oder ein Jubiläum vergisst. Im Gegensatz zu unserem Dad, der selten fliegt und nie weiß, welcher Tag gerade ist. Dafür ist er in vielen anderen Dingen großartig. Für Tante Josie passte es gut so, denn ich kann mir nicht vorstellen, wie sie sich selbst Parfum kauft. Während ich sie an mich drücke, kann ich ihre Rippen durch den Stoff von etwas fühlen, was definitiv ein gestreifter Pyjama ist.

Ich sehe sie lächelnd an. »Ein reizendes Haus hast du hier.« Das könnte es zumindest sein, mit etwas liebevoller Zuwendung. Und da komme ich ins Spiel. Ich deute auf die Nebengebäude jenseits der Gartenmauer. »Gehören die auch dir?«

»Ja, das sind alles unsere. Besser gesagt meine.« Sie seufzt. »Harry hatte noch so viele Pläne.« Sein gesamtes Arbeitsleben hindurch hatte er davon geträumt, am Meer zu leben. Tragisch, dass er nur Wochen, nachdem sie hierhergezogen waren, gestorben ist.

Ich nehme sie noch einmal in den Arm. »Du hattest Glück, es zu finden.« In diesem Teil der Welt, wo die Küste sich so malerisch an den Häfen und kleinen Städtchen entlangschlängelt, will jeder einen Blick aufs Meer plus Nebengebäude.

»Es gibt so viel zu tun. Ich bewohne nur ein Zimmer.« Was vermutlich die vielen heruntergelassenen Jalousien erklärt.

»Keine Sorge.« Während ich ihren Arm drücke, fällt mir auf, dass es eine angenehme Abwechslung ist, mal diejenige zu sein, die tröstet. Ich schleppe meine Taschen hinter ihr ins Haus und bleibe beim Anblick der Küche verblüfft stehen.

»Lass uns einen Tee trinken.« Sie füllt den Kessel mit Wasser und verschwindet beinah vor dieser Tapete mit dem wilden Hortensienmuster. Ihre silbernen Pumps verraten noch, wo genau sie steht.

»Da mochte aber jemand Blumen.« Die heißen auch Migräne-Tapeten.

Sie schüttelt den Kopf. »Dank der Tapete konnten wir das Haus kaufen – die meisten Interessenten kamen nicht weiter als bis zum Flur.«

»Ich hole mal die Milch.« Am liebsten würde ich meine getönte Brille aufsetzen, aber ich will Josie nicht kränken, also begnüge ich mich damit, mich zum beruhigenden Weiß des Kühlschranks umzudrehen. Hoffentlich finde ich auch Zucker. Erst als ich die Kühlschranktür öffne, erkenne ich meinen Fehler. Es befindet sich nicht nur keine Milch darin, sondern auch sonst nichts Genießbares, falls man nicht auf farblose Smoothies steht.

»Ist grüner Tee okay? Der wirkt hervorragend auf dein Yin und Yang.« Ihre Miene verrät, dass es keine echte Frage ist. Meine Mum macht es genauso, nur dass sie dazu lächelt. Wenn ich darüber nachdenke, kamen die Scherze immer nur von Harry; nur ist es ein bisschen zu spät, um sich jetzt daran zu erinnern.

»Hast du auf Low-Fat umgestellt?«

»Es gibt einen Milchmann. Ich werde dafür sorgen, dass er deinetwegen noch mal vorbeikommt.« Sie wischt einen unsichtbaren Krümel von ihrem Knie. »Ich habe diese Woche ausfallen lassen.«

Was erklärt, wieso der Milchmann seinen Lebenswillen verloren hat. »Das macht meinen Plan zunichte, uns mit einem Fischabendessen aufzuheitern.«

Sie schiebt eine dampfende Tasse zu mir. »Ich kann die Panade abmachen und dir meine Pommes geben.«

Pommes. Natürlich. So werden die genannt. Bisher sind die Worte Schokolade, Kuchen und Karamellpudding mühelos verfügbar gewesen. Jetzt, wo sie mich daran erinnert hat, fühle ich das Loch, wo mein Magen sein sollte.

»Hast du deinen Wagen noch?« Mum hat das bereits überprüft. Ich weiß, ich bin wegen der Ruhe und Erholung hier, aber ohne Auto ist dieser Ort hier ein Albtraum. Mit dem Wagen könnten wir schnell bei der Fisch&Chips-Bude sein.

»Der ist schon eine Weile nicht mehr gefahren.« Ihre Mundwinkel sinken weiter nach unten. »Fährst du, wenn er anspringt?«

Mist. »Sorry, Tante … Tante …«

»Josie.«

»Nein, ich fahre nicht. Deshalb bin ich auch per Uber hergekommen.« Tante Josie. Das muss ich in meinen Kopf hineinkriegen. Was meinen Führerschein betrifft, hoffen wir alle, dass ich ihn in ein paar Monaten zurückbekomme. Könnte auch länger dauern. Dabei fällt mir noch etwas ein. »Behelligt dich der Mann, der die Straße ein Stück weiter runter wohnt?«

Ihre Nasenflügel beben. »Kein Problem – die Lieferwagenfahrer wissen alle, dass sie die Fahrbahn frei halten müssen, also sehe ich ihn nicht oft.«

Lieferungen. Meine innere Alarmglocke klingelt. »Wann warst du das letzte Mal unterwegs?« Ich beobachte, wie sie ihr Oberteil zurechtzupft, während sie überlegt.

»Ich besuche deine Mum alle zwei Monate, das weißt du.«

»Aber du ziehst dich auch abgesehen davon richtig an?« Muss sie.

»Ich verzichte nie auf Unterwäsche.« Sie atmet tief ein und sitzt aufrecht. »Deine Mum und ich haben beide eine Schwäche für Schlafzeug von Cath Kidston. Ich nehme an, du auch, oder?«

»Du hast diesen blau-rot gestreiften Pyjama von Cath Kidston?« Früher habe ich auch am liebsten Freizeitkleidung getragen, aber in letzter Zeit fühle ich mich im Pyjama tagsüber wie eine Invalidin. Und ich mag mich irren, aber diese Streifen habe ich im Laden in Bath noch nie gesehen.

Ein schuldbewusster Ausdruck huscht über ihr Gesicht. »Eigentlich ist es Harrys Pyjama.« Ihre Hände stecken in den Taschen, und während sie die Jacke um die Hüften festzieht, hebt sie trotzig die Nase. »Die sind warm. Er hatte so viele, dass ich meine Garderobe damit bestreiten kann.«

»Toll.« Ich lasse es betont heiter klingen, als sei es vollkommen normal, dass sie die Pyjamas meines toten Onkels trägt. Aber da es nun mal bescheuert ist, muss ich fragen: »Wann hast du zuletzt einen Mantel angezogen und warst in St. Aidan?«

»Beim ersten Treffen mit Trenowden, dem Notar, wegen des Testaments.« Sie hält inne und dreht ihren Ehering, der locker an ihrem Finger sitzt. »George dort ist sehr nett, seitdem hat er mir Sachen gebracht.«

»Aber das muss schon eine ganze Weile her sein.«

»Nur etwas über ein Jahr.« Ihr Ton wird fröhlicher. »Du weißt ja, wie das ist. Harry war der Extrovertierte. Ich gehe kaum allein aus, wenn ich keinen kenne.«

Das ist viel schlimmer, als irgendwer gedacht hat.

Sie trinkt einen Schluck Tee. »Wie dem auch sei, genug von mir. Du siehst gut aus.«

Ich sage ihr nicht, wie oft ich das höre oder dass ich mich dadurch jedes Mal wie eine Heuchlerin fühle. »Ich werde dir mein Geheimnis zeigen.« Ich bringe lächelnd mein Schminktäschchen zum Vorschein.

Sie rückt näher. »Laura Geller Balance-n-Brighten? Wie hilft das deinem Verstand?«

Ich muss lachen. »Das ist nicht für meinen Verstand, nur für mein Gesicht.« Nie war mein Schminktäschchen so voll. Wenn andere Eigenschaften an dir dich im Stich lassen, zählt dein Aussehen umso mehr. Das ist ein weiterer Grund, weshalb ich derartig an meinem schwarz-weiß karierten Mantel hänge und an meiner eng geschnittenen Audrey-Hepburn-Hose.

»Du meinst, zur Konturierung? Muss ich auch mal probieren.« Sie nickt wissend. »Ich kümmere mich vielleicht nicht so um die passende Kleidung, aber egal, wie schlecht ich mich fühle, ich schminke mich.«

»Make-up geht dir also nie aus?«

Sie schüttelt den Kopf. »Du hast doch bestimmt schon von Amazon Prime gehört? Es ist die Mehrkosten wert, die liefern dir direkt bis an die Terrassentür vom Wohnzimmer.«

»Gehen wir da jetzt hin?« Ich schütte meinen restlichen Tee in die Spüle und folge ihr in einen Raum, in dem gigantische Farne und Mohnblumen zwischen dunklen Balken an den Wänden wachsen und einem das Gefühl vermitteln, in einem Gewächshaus gefangen zu sein.

Sie setzt sich auf die Kante eines cremefarbenen Leinensofas. »Durch deine Arbeit bist du sicher an üppiges Dekor gewöhnt, oder?«

Mit den Designs habe ich nicht so viel zu tun, aber wir lassen es nie dermaßen außer Kontrolle geraten wie hier. Wie soll ich es formulieren, ohne unhöflich zu sein?

»Unsere Designs sind weniger … direkt.« Man schnappt halt weniger perplex nach Luft, wenn man es sieht.

»Ein baufälliges Cottage am Meer war Harrys Traum, nicht meiner.« Ihre Fröhlichkeit verschwindet. »Ich würde sofort wieder in mein Tudor-Haus in Harpenden zurückkehren, wenn ich könnte.«

Ihr früheres Haus stammte aus den Neunzigern, nicht aus dem fünfzehnten, elisabethanischen Jahrhundert, und Dad meinte immer, das meiste Holz sei Plastikimitat. Aber die Treppe war Cinderella-mäßig, deshalb waren Tash und ich als Kinder begeistert davon. Außerdem hatten sie einen unfassbar riesigen Garten.

»Könnte schlimmer sein.« Wenn man die Tapete ignoriert, sieht es okay aus.

»Wie meinst du das?« Sie klingt beinah schrill. »Es ist trist und dreckig und praktisch schon von der Klippe geweht, und der nächste tolle Einrichtungsladen ist ewig weit weg.«

»Ach, ich bin ja jetzt da und werde mich darum kümmern.« Ich muss das Haus nur so weit hinkriegen, dass man es verkaufen kann. »Du bist schneller wieder glücklich in Harpenden, als du Heinrich der Achte sagen kannst.« Hoffentlich rede ich da keinen Unsinn. Dass ich das hier hinkriege, ist für uns beide wichtig, um über alles hinwegzukommen. Das Großartige daran ist für mich, dass es nicht wie mein richtiger Job ist, in dem mir alles zu schwerfällt. Das hier kann ich, und es wird toll sein, sich nützlich zu fühlen. Ich werde es hier lieben, mit dem Strand und dem Meer und niemandem, der darüber entscheidet, was ich tun kann und was nicht. Wir passen perfekt zusammen – Tante Josie braucht Hilfe und jemanden, der sie aufheitert. Ich brauche einen Ort, an dem ich bleiben kann, und ein wenig Gesellschaft, während ich mich erhole. Wieder zu der werde, die ich war.

»Es ist sehr gut, dass du hergekommen bist.«

Sie klingt so untypisch dankbar, dass ich ganz gerührt bin. Meine Mum war stets die Schwester mit dem weniger glanzvollen Leben. Wir waren die leicht abgerissene Verwandtschaft, auf die herabgeschaut wurde, nicht diejenige, die zur Rettung auftauchte. Bisher mussten wir auch nie helfen, weil Josie und Harry keine Katastrophen erlebten wie der Rest von uns. Aber jetzt kann sie sich entspannen, die Kavallerie ist nach Cornwall gekommen. Gebt mir ein paar Monate, und ich werde dafür sorgen, dass sie wieder klarkommt – zumindest soweit das möglich ist, wenn man den Lebenspartner verloren hat.

»Ich helfe dir gerne.« Auch wenn ich nicht die leiseste Idee habe, was ich wegen des schlammigen Zeugs im Kühlschrank unternehmen soll. Außerdem kann Tante Dings äußerst stur und hochnäsig sein. Aber mein Aufenthalt hier verschafft mir die Zeit, die ich brauche, um wieder zu werden wie früher und dabei auch ihr Leben umzukrempeln. »Du weißt ja, ich mag es, eine … Dings zu haben.« Das Wort vergesse ich ständig. Ich bin gewissermaßen Managerin von Zinc Inc Interiors für den Südosten. Warum fällt mir das Wort nicht ein?

Ihre Sorgenfalten werden etwas tiefer, während sie nachdenkt. »Mission?«

»Mission, ja, genau. Du bist meine Mission.« Ich stoße einen kurzen Seufzer aus, weil es wie so viele Dinge in meinem Leben nicht ganz passt, aber auch nicht völlig daneben ist. Vorerst muss es genügen. »Wollen wir Pizza bestellen?«

5. Kapitel

Tag 134: Donnerstag, 15. März

Periwinkle Cottage

Heroische Leistung: Tante Josie wieder in die Welt hinaus bekommen

Jeden Morgen gibt es einen kurzen Moment, wenn ich aufwache und langsam zu mir komme, in dem sich alles wie früher anfühlt. Dann geht es drunter und drüber in meinem Verstand, der Anschluss an meinen Körper sucht, und Sekunden später ist alles nachjustiert und ich erinnere mich wieder. Ich bin Edie Browne. Ich bin zweiunddreißig. Und mein Leben wurde auf den Kopf gestellt.

Als ich mir gestern Abend ein Zimmer aussuchen sollte, habe ich das mit der Rosen- und Gänseblümchentapete gewählt. Inmitten dieser überdimensionalen Blumen aufzuwachen, war schon verstörend, aber die orangefarbenen Vögel nebenan wären schlimmer gewesen, und noch schlimmer vermutlich, wenn die Sonne hereingeschienen hätte. Tatsächlich sind Himmel und Meer heute Morgen aber grau; immerhin ist es hell draußen.

Ich trage noch die Uhr, die ich von Marcus bekommen habe. Nicht dass ich die Zeiger derzeit lesen könnte, aber sie war superteuer, und früher fiel es ihm jedes Mal auf, wenn ich sie nicht umhatte. Jetzt trage ich sie als Erinnerung für mich – als eine Art Versprechen an mich selbst, wieder zu mir zurückzufinden. Es ist ein Talisman, der mir hilft, dorthin zurückzufinden, wo ich sein sollte.

Auf dem Weg nach unten zur Küche werfe ich einen Blick ins Wohnzimmer. Tante Josie ist schon auf. Sie sitzt mit halb geschlossenen Augen in einem karierten Pyjama in einer Art Schneidersitz. Das komische Summen, das ich bis nach oben in den Flur mit der Dschungeltapete gehört habe, kommt von ihr. Wenn ich hier wohnen würde, hätte ich es wohl nicht so lange mit all den Affen auf dem Treppenabsatz ausgehalten. Die stünden ganz oben auf der Liste der Dinge, die verschwinden müssten – vorausgesetzt, Tante Josie würde mir helfen, diese Liste zu schreiben. Ich räuspere mich, und sie öffnet die Augen.

»Edie, ich beende gerade meine Meditation. Vielleicht möchtest du demnächst einmal mitmachen?«

»Oh, ich bin nicht so biegsam!« Das ist die nächstbeste Ausrede, die mir einfällt. Da sind zwar einige Leerstellen in meinem Kopf, aber ich bin mir sicher, dass ich bei Yoga einschlafen würde. Koma wäre wahrscheinlich für mich unterhaltsamer als Meditation.

Die Pizzakartons von gestern Abend stehen noch da, und ich nehme mir das letzte Stück meiner riesigen Pizza Hawaii.

Tante Josie macht ihr »Angewidert von St. Aidan«-Gesicht, als sie in ihren Pizzakarton schaut. »Du kannst dir den Rest von meiner auch gern nehmen.« Sie hatte die kleinste, glutenfreie, mit veganem Käse und ohne Tomaten. Und davon hat sie dann nur ein winziges Stückchen geknabbert. So, wie ich den Beilagensalat und beide Stücke Käsekuchen verschlungen habe, käme man nie darauf, dass ich nichts schmecken kann. Ich muss aber essen und hoffe ständig, dass es beim nächsten Bissen endlich besser wird.

»Es gibt zum Frühstück also Pizza?«

»Ich habe ein paar köstliche Säfte. Vielleicht ist die Milch auch schon da. Oder möchtest du Haferflocken?« Sie schüttelt sich.

»Das klingt viel besser.« Ihr Gemüsematsch ist abartig. Porridge ist auch beige, aber irgendwie ist das anders.

»Ich werde dir die Zubereitung erklären.« Sie reißt die Packung auf und füllt sie langsam mit Milch. »Und während wir frühstücken, können wir uns Schwanensee anschauen.«

Mist. »Du magst Piers nicht?« Frühstücksfernsehen ist für Mum und mich ein Ritual geworden, aber ich glaube, Harry und Josie mochten nur BBC. Was Ballett betrifft, bin ich mir nicht sicher, ob ich Männer in Strumpfhosen so früh verkrafte. Was mich daran erinnert, dass der Nachbar gestern in seinem Van vorbeifuhr, als der Pizzalieferant die Straße blockierte. Was für ein Zufall. Versehentlich rief ich wieder »Love you, bye!« und verschwand mit den Pizzakartons. Ich könnte schwören, er sah geschockt aus.

»Ich kann neuerdings keine Nachrichten mehr sehen. Aber es ist echt nett, den Tag mit Ballett zu beginnen.« Während Tante Josie die Porridgeschale zur Mikrowelle trägt, verrät ihre unbewegte Miene mir, dass ich mich von Good Morning Breakfast verabschieden kann. »Drück diesen Knopf und warte, bis es dreimal klingelt. Wirst du dir das für morgen merken, Edie?«

Sie gibt sich große Mühe, deshalb würde ich gern bejahen. Aber ich muss ehrlich bleiben. »Ich werde es versuchen, aber wahrscheinlich nicht.«

Ich bin keine Spielverderberin und auch kein Feigling. Aber als ich mit meinem Frühstück vor dem Fernseher sitze, sind mir das Ballett, die gestreiften Tapeten, die Karos auf dem Pyjama meiner Tante und dieses komische Porridge einfach zu viel. Keine Ahnung, ob ich je farblich getöntes Porridge gegessen habe. Vielleicht, als ich und Marcus in diesen hohen Bergen in Indien waren und beim Sonnenaufgang gefrühstückt haben. Na ja, es gibt für alles ein erstes Mal. Ich setze meine Sonnenbrille auf und schaue mir die Gestalten in Strumpfhosen an, die über den Bildschirm hüpfen.

»Du hast auch mal getanzt, oder?« Das ist irgendwo in meinem Kopf, aber die Details sind weg. Halbwegs rechne ich damit, dass sie mich tadelt, weil ich rede.

»Das ist etliche Jahre her.« Ihr Ton wird gleich milder. »Und einmal stand ich mit Margot Fonteyn auf der Bühne.«

»Wow.« Ich recke in Gedanken die Faust, weil ich das rausgebracht habe.

»Harry hat immer mehr daraus gemacht, als es war.« In Sachen emotionaler Selbstkontrolle reicht Tante Josie niemand das Wasser. Ihr lautes Schniefen muss sich daher darauf beziehen, wie viel von dem Smoothie sie noch vor sich hat.

»Siehst du dir dann den ganzen Tag Margot an?« So schnell mein Mut sinkt, so rasch steigt Panik in mir auf. Es sich vor Dads Ofen gemütlich zu machen und sich Bridesmaids und Love Actually in Dauerschleife anzutun, war ja okay, aber den ganzen Tag Pas de deux halte ich nicht aus.

Sie nickt. »Tanz wirkt sehr therapeutisch.«

»Wir sollten ausgehen.« Das ist leicht zu bewerkstelligen, ich weiß es. Je länger man zu Hause bleibt, umso mehr will man es. »Es gibt doch sicher Kurse. Kannst du nicht nachschauen?« Ich deute auf den Laptop, obwohl ich da nicht viel Hoffnung habe. Was abgelegene Orte betrifft, steht St. Aidan ziemlich weit oben auf der Liste. Während der Sturm Sandkörner gegen die Scheiben bläst, frage ich mich, wie ich mir je habe ausmalen können, am Strand in der Wintersonne zu sitzen.

»Mal sehen.« Sie zieht den Laptop auf ihre Knie und beginnt mit der Suche. »Im Freizeitzentrum gibt’s welche – Makramee oder Korbflechten?«

Das kann noch nicht alles sein, oder? »Lies bitte alle vor.« Ich benutze den Nimm-mich-nicht-auf-den-Arm-Ton für patzige Bauleute, denn selbst der unangenehmste Handwerker kann es nicht mit Tante Josies Sturheit aufnehmen. Da meine Stimmenerkennungssoftware meinen West-Country-Akzent nicht versteht, muss ich dringend an meiner Lesekompetenz arbeiten. In den Renovierungspausen.

»Na schön.« Tante Jo hebt die Brauen. »Holzarbeiten, Autopflege, Kickboxen und Spanischlernen bei der Zubereitung von Tapas.« Sie verzieht das Gesicht. »Die besten Kurse scheint die Singles-Gruppe anzubieten, aber zu denen können wir nicht gehen.«

»Weil die möglicherweise … äh, freundlich sind?« Wir sind beide alleinstehend, falls sie es vergessen haben sollte. Ich bin so was von froh, dass ich zwei Monate vor meinem Schlaganfall mit Marcus Schluss gemacht habe, denn Krankenhausbesuche oder sich um Leute kümmern wäre nichts für ihn gewesen. Um genau zu sein – obwohl ich da nur für mich sprechen kann, nicht für Tante Jo –, ist ein Partner momentan das Letzte, was ich suche.

Ein Schniefen von ihr signalisiert mir, dass die Singles nicht infrage kommen. »Die Kurse im The Whole Earth Centre sind besser. Bemale deinen eigenen Pflanztopf, Molekulargastronomie, vegane Klöße, Hydrokultur für Anfänger, Brustmalen, Handstand-Meisterkurs, Ukulele spielen in einer Stunde …«

»Brust-was?«, hake ich nach.

»Dem Bild nach zu urteilen, scheint es darum zu gehen, dass man sich auf dem Boden rollt und mit den Brüsten malt. Ich bin mir nicht sicher, ob meine groß genug sind.«

Selbst wenn meine es wären, winke ich lieber ab. »Weiter.«

»Boxershorts nähen als Valentinsgeschenk. Ach nein, sorry, schon vorbei.«

»Verdammt.« Ich grinse, aber sie lächelt nicht zurück.

»Innenarchitektur … na, das bringt dir ja nichts. Kreatives Schreiben ist momentan nicht geeignet für dich. Und bei Hochzeitsblumen wären wir fehl am Platz. Bleibt nur Herzchirurg für einen Tag, Zombie für einen Abend oder Ziegenzucht.«

Ich stöhne. »Wer nimmt denn an solchen Kursen teil?«

»Oh, hier ist noch eine handwerkliche Seite.« Sie schaut genauer hin. »Bruchsteinwand oder Verputzen. Da wir das Haus renovieren müssen, wäre das doch ganz nützlich, oder?«

Es ist toll, dass sie offen dafür ist, aber angesichts meiner Situation bin ich nicht scharf drauf, mir auch noch Steine auf die Füße fallen zu lassen.

»Wie wäre es mit Cupcake-Backen?« Cupcake ist ein weiteres Wort, das mir immer einfällt. Zum Glück. Kuchenglasur geht auch, Hauptsache, es ist irgendwie matschig.

»Edie, ich lebe zuckerfrei. Sind wir also wieder bei Makramee?«

Ich bin eine Schlaganfall-Überlebende, ich hätte sterben können. Ich weiß vielleicht nicht, wie spät es ist, aber ich schätze jede Sekunde. »Nee, nicht so ’n Bindfadendings. Das Leben ist zu kurz.«

»Dann Kalligrafie? Harrys Mum hat das früher gemacht, dadurch kamen sehr schöne Weihnachtskarten zustande.«

Das stelle ich mir nicht spannender als das Bindfädenknüpfen vor.

»Hier steht modern, also ist es wohl für junge Leute wie dich gedacht. Man muss sich nicht extra anmelden, sondern zahlt, wenn man tatsächlich hingeht. Dienstagnachmittags in The Deck Gallery.«

»War’s das?« Es ist wichtig, Tante Josie wieder zum Ausgehen zu bewegen, und es wäre gut, wenn ich meine Schreibfähigkeit verbessern würde. Aber ich kann nicht glauben, dass ich so weit gekommen bin und am Ende das mache.

»Kannst du denn noch schreiben?« Sie kennt die Antwort, weil meine Mum sie gebeten hat, mir bei meinen Briefen zu helfen.

»Ein bisschen.« Eigenartigerweise fällt mir das Schreiben leichter als das Lesen. Tash meint, dass dafür verschiedene Teile des Gehirns zuständig sind. Es ist ziemlich nützlich, eine Schwester zu haben, die Ärztin ist. Außerdem hat sie ein Haus, einen Mann und zwei Kinder. Und älter und klüger ist sie auch. Im Ernst, sie hat alles richtig gut hinbekommen.

»Na bitte.« Tante Dings sieht zufrieden aus. »Leckere Häppchen gibt’s auch, steht da.«

Das gibt für mich schließlich den Ausschlag. Für sie nicht.

6. Kapitel

Tag 137: Sonntag, 18. März

Periwinkle Cottage

Heroische Leistung: Kuchen am Sonntag

»Wie du siehst, sind die Scheunen und Schuppen seit einer Weile nicht mehr benutzt worden.« Der Schlüsselbund, den Tante Josie schwingt, ist zu dick für ihre Tasche.

So gern ich mich auch gleich an die Arbeit machen würde, brauchte ich doch erst ein paar Tage, um mich zurechtzufinden. Als ich die putzige Tür des Cottages aufmache, rechne ich fast damit, Rotkäppchen oder Hänsel und Gretel zu sehen. Es ist schon Sonntagmorgen, bis ich es schaffe, mein Klemmbrett hervorzuholen. Als wir uns auf den Weg zu den Nebengebäuden machen, bin ich so arbeitswütig, dass nur noch der Schutzhelm fehlt.

Ich dachte, die Tage würden sich hier in die Länge ziehen, aber seit ich hier bin, gähne ich schon vor der Teestunde. Kaum zu glauben, dass ich früher um vier auf war und selten vor Mitternacht ins Bett gekommen bin. Endlich kann ich meinen dunkelblauen Nadelstreifenpyjama tragen, den Tash mir zum neuen Job geschenkt hat, um scherzhaft meinen »Anzug-Status« zu feiern.

Fairerweise muss ich gestehen, dass der Pyjama bis zu meinem Auszug aus Marcus’ Haus in der Net-a-Porter-Tasche geblieben ist, denn Marcus und ich haben immer nackt geschlafen. Den Klimawandel ignorierend, drehte er tagsüber die Heizung so weit auf, dass ich außerhalb des Bettes kaum mehr als ein knappes Unterhemd und Shorts brauchte. Aber so kann ich wohl kaum herumlaufen, wenn ich mit meiner Tante zusammenwohne. Von der Energieverschwendung mal ganz abgesehen. In einer Familie aus lauter Frauen ist das Thermostat eines der wenigen Dinge, über die Dad die Kontrolle hat. Nach der Zeit mit Marcus kommt mir Dads Temperaturempfinden arktisch vor. Und wer immer diese verdammten Anzeigen erfunden hat, die einem ständig sagen, wie viel Gas verbraucht wird, hat dabei nicht an mich und Mum gedacht.

Tante Jo geht die hufeisenförmig angeordneten Nebengebäude entlang, die an den Garten grenzen, und öffnet jede Tür, um sie beinah genauso schnell wieder zu schließen. Kaum zu glauben, dass sie nicht mehr hier war, seit sie und Harry einen Tag vor seinem Tod die Schlüssel farblich markiert haben. Als ich an der vierten Tür immer noch nichts gesehen habe, dränge ich mich einfach an ihr vorbei und schalte das Licht ein.

»Nette Schalter.« Die sehen ein bisschen schräg und industriemäßig aus, aber wenigstens entdecke ich hier keine Dschungelbestie. Als ich zu den alten Balken hinaufsehe, muss ich an die Baustellen von Zinc Inc denken. »Die Dächer sind neu, und die Böden fühlen sich eben an, das ist schon mal ein guter Anfang.«

»Auf halber Strecke ist den Vorbesitzern das Geld ausgegangen. Deshalb konnten wir es uns leisten.« Tante Jo gibt einen missbilligenden Laut von sich.

»Wahrscheinlich haben die das ganze Geld für die exotischen Tapeten im Haus ausgegeben.« Ich bleibe vor einem neu installierten Holzofen stehen. »Was hatten sie denn hier geplant?«

»Ferienunterkünfte rings um den Hof.« Sie runzelt die Stirn. »Geht mich nichts an. Ich hätte gern einen Raum mit Stuckverzierung.«

Das weiß ich bereits. Unser Haus hatte auch keine, und daran erinnerte sie uns bei jedem Besuch. Ich spähe in einen winzigen Raum und entdecke eine Regenwasserdusche. »Sie sind nicht dazu gekommen, es zu fliesen, aber zumindest die Armaturen sind eingebaut.«

Sie rümpft die Nase. »Sehr schlicht – meine Freunde werden kein Interesse haben, wenn es keinen Jacuzzi gibt.«

Ich schaue aus dem kleinen Fenster. »Viele Vorarbeiten sind schon gemacht. Fehlt noch der Rest.« Das ist der zeitaufwändige und kostspielige Teil, und bei acht Einheiten ist es gut, dass sie nicht jeden Cent umdrehen muss. Vorteilhaft ist der viele Platz und die offene Gestaltung, auch wenn es jetzt gerade eisig ist.

»Man könnte also den unteren Teil der Wände mit Holz vertäfeln?« Sie zieht die Jacke fester um sich. Von dem optimistischen, fröhlichen Paar, das sie und Harry einst waren, ist nicht mehr viel geblieben. Ich weiß ja, dass sie trauert, aber ich bin seit Tagen hier und habe sie nicht mal andeutungsweise lächeln sehen. Aber wenn sie ahnt, wie viel Arbeit nötig sein wird, um all das in luxuriöse Unterkünfte umzugestalten, ist das nur allzu verständlich.

Jetzt bin ich an der Reihe, das Gesicht zu verziehen. »Vielleicht müssen wir auf derartige Verzierungen verzichten, aber renovieren können wir trotzdem.« Unser Hauptaugenmerk gilt dem Zeitfaktor, nicht dem Geld; sobald ich einen verlässlichen Handwerker gefunden habe, wird es zügig vorangehen. »Denk nur an den Blick aufs Meer.« Am Ende der Wiese hebt sich der Rand der Klippe scharf vor dem grauen Wasser ab, das mit dem wolkenverhangenen Himmel zusammenfließt. Das Wasser hat die Farbe von Eisen, mit Schaumkronen auf den Wellen. Die Wahrheit ist, dass mich, während ich hier durch den Staub stapfe, nicht nur ein weiterer grauer Tag bedrückt.

Ich bin zufällig bei Zinc Inc gelandet, und zwar in dem Sommer, als ich siebzehn wurde. Nach einem schlechten Schuljahr mit jeder Menge Partys schmiss ich die Schule und schaute bei einer Jobbörse vorbei, weil ich gehört hatte, dass es dort T-Shirts umsonst gab. Ich landete beim Gruppenvorstellungsgespräch bei Jake, ohne zu wissen, was Innenarchitektur überhaupt ist. Offenbar suchte Jake nicht nach einem Naturtalent für Teppichmuster, er entschied sich für mich, weil ich alle nervösen Kids innerhalb von Minuten zum Lachen brachte und es schaffte, die Tee-Lady dazu zu überreden, uns ihren privaten Donut-Vorrat zu servieren. Er meinte, Ahnung von Kuchen und ein freundliches Lächeln zu haben, mache sich sehr bezahlt in der Baubranche. Und er hat recht behalten.

Damals hatte die Firma hauptsächlich Aufträge im gehobenen Sektor in London. Dann waren Lofts angesagt, und der Markt boomte: Jeder Reihenhausbesitzer wollte plötzlich alles rausreißen lassen, um das Innere offen zu gestalten. Ich mochte es, mir die Baustellen vor Ort anzusehen, und es zeigte sich, dass ich ein Auge für Details habe. Während Tash eine Intelligenzbestie ist und die Fähigkeit besitzt, Kranke zu heilen, liegen meine Talente darin, Dinge vor meinem inneren Auge zu sehen und widerwillige Handwerker davon zu überzeugen, meinen Ideen zu folgen. Es dauerte nicht lange, bis Jake mich losschickte, um auf den kleineren Baustellen das Personal bei Laune zu halten.

Während das Unternehmen wuchs, habe ich kaum gemerkt, wie ich immer mehr Verantwortung übernahm. Eines Tages verkündete Jake, er gebe mir einen schicken Titel, an den ich mich jetzt nicht einmal mehr erinnere, und noch mehr Verantwortung. Das war toll, aber auch der Grund dafür, weshalb ich nicht mehr ins Bett kam. Und warum es nun vorbei ist mit der Hetzerei von Baustelle zu Baustelle, dem engen Terminplan und extrem frühen Aufstehen, den Qualitätskontrollen und Meetings und großen und kleinen Katastrophen. Tja, und weshalb ich nicht mehr die bin, die ich einmal war.

Tante Jos Stimme unterbricht meine Gedanken. »Sicher, das Meer ist noch immer grau, aber das ist doch kein Grund, so düster dreinzublicken, Edie.«

Ich schlucke und verkneife es mir, sie darauf hinzuweisen, dass ausgerechnet sie Leute nicht wegen ihrer trübsinnigen Miene ermahnen sollte. Stattdessen stoße ich nur einen Seufzer aus. Es sind nicht nur der Status und die Befriedigung aus dem Job, die mir fehlen. Es ist auch die Kameradschaft, das Frotzeln und das Wissen um jede Menge Handwerker, die sich mächtig ins Zeug legen für einen. Vor allem ist es der menschliche Kontakt. Sosehr die Leute mich manchmal auch auf Trab hielten, am Ende des Tages hatte ich mit mehr Menschen gesprochen, als ich zählen konnte.

»Drinnen ist etwas, das dich aufheitern wird.« Tante Josie klingt noch schroffer als sonst.

»Wirklich?« Ich reibe mir den Staub aus den Augen und zwinge mich, an etwas zu denken, das nichts mit Zinc Inc. zu tun hat. Ich will nicht undankbar sein, aber ich bete, dass es keine weitere Ballett-DVD ist. Es ist mir gelungen, sie jeden Tag zu einem Spaziergang zu bewegen, über die gewundenen Straßen bis zum Laden oberhalb des Hafens. Allerdings haben wir beide Ohrenschmerzen vom Wind bekommen. Ansonsten gab es von morgens bis abends Ballett-Tutus. Ich hätte nie gedacht, einmal darum zu betteln, Cash in the Attic und Wiederholungen von Garden Rescue sehen zu dürfen. Oder mich verzweifelt danach zu sehnen, wie meine Mum sagt, Charlie Dimmock ließe sich gehen und könnte sich geschmackvollere Sweatshirts anziehen. Ich will nicht gemein sein, aber wenn mein Zuhause näher läge und Uber nicht so teuer wäre, hätte ich längst das Weite gesucht.

»Heute Morgen ist das Secret Garden-Malbuch angekommen. Und Filzstifte von Faber Castell.«

»Danke.« Wenn sie weniger sensibel wäre, würde ich hinzufügen, wie lieb das sei. Aber ich will nicht riskieren, dass sie mir an die Gurgel geht. Malbücher benutze ich, wenn mein Kopf sich anfühlt, als würde er platzen. Für gewöhnlich kurz nachdem ich an meinen Puzzeln gearbeitet habe, die deutlich weniger Spaß machen, als man vielleicht glaubt. Die Teile zusammenzufügen soll mir helfen, aber wenn es um diese mehrdimensionalen Dinge geht, bin ich völlig aufgeschmissen. Momentan macht es mich fertig, es echt zu versuchen und am Ende doch nur mit einem Haufen Teile dazusitzen.

Es ist seltsam beruhigend, Bilder auszumalen, wenn Ballettmusik läuft. Hauptsächlich male ich Herzen und Blumen aus. Hin und wieder nehme ich mir Bellas Ich hab den Mist satt-Buch vor. Mum war empört, als sie es gesehen hat. Für mich ist es toll, weil es bedeutet, dass Bella mich genau versteht. Aber wir sind ja auch schon seit der Grundschule beste Freundinnen. Schon mit sieben besaß sie die mühelose Fabelhaftigkeit einer Kate Moss. In der am wenigsten luxuriösen Gegend von Bath, in der wir lebten, fiel sie mit ihren violetten Nägeln und den kurzen Jeansröcken auf wie eine exotische Blume. Damals arbeitete ihre Mum bei Tammy Girl und brachte Bella ständig erdbeerroten Lippenstift und Zitronenbrausepulver mit. Bella hat ein so großes Herz, dass sie die Süßigkeiten verschenkte. Meistens an mich. Selbst jetzt funktioniere ich am besten mit Zucker.

In letzter Zeit kommen mir die Tränen, wann sie wollen. Sie laufen mir übers Gesicht, und ich merke es erst, wenn mein Shirt nass ist. Oder mein dicker Wollschal, in den ich mich wegen der Kälte wickle. Wie jetzt.

»Oh, Liebes, weinen nützt auch nichts, Edie – wenn jemand das weiß, dann ich.« Tante Jo hält mich auf Armeslänge von sich und betrachtet mich entsetzt und tadelnd. »Komm, trockne deine Augen. Ich zeige dir die große Scheune, in der Harry seine Werkstatt unterbringen wollte.«

Irgendwie halte ich eine Handvoll von ihrem Mantelärmel fest. »Eigentlich wollte ich dich umarmen. Für das Buch?«

»Nicht nötig – ein Klick, mehr war nicht nötig.« Sie hat sich von mir gelöst.

»Das ist ein hübscher Mantel.« Ich lasse sie noch nicht gehen; wenn sie schon keine Umarmung will, bekommt sie eben ein Kompliment. »Darin siehst du aus wie Paddington. Oder einer dieser Männer, die Leute aus dem Meer retten.«

Sie sieht mich skeptisch an. »Ach, Liebes, das ist mein erster Anorak. Aber tragen Seenotretter nicht Rot statt Gelb?«

»Nein …« Ich weiß es. »Die Feuerwehr ist rot, auf dem Meer ist gelb angesagt.« Und der Mantel von diesem Bären, Paddington, ist meist blau. Tash hatte allerdings einen gelben, damit wir sie auseinanderhalten konnten und uns nicht darum stritten. Nur hat sie meinem die Gummistiefel geklaut, weil ihr die blauen besser gefielen als die roten. Einmal hat sie mir auch die Schokolade aus dem Adventskalender gestohlen. Zum Glück kann ich mich daran noch erinnern, denn ich lasse es sie auch nie vergessen.

»Das Gelb ist zu viel, oder?« Tante Dings schaut an sich herunter.

Ich bereue es, Zweifel gesät zu haben. Oft genug finde ich überhaupt keine Worte, dann wieder kommen die falschen heraus, ohne dass ich es will. »Er sieht großartig aus – Gelb ist schwer angesagt in diesem Jahr. Und er hat einen Pelzkragen.« Das weiß ich ganz bestimmt. »Es ist ein Parka. Sehr gut.«

»Du hast recht mit deinen Farben und deiner Mode.«

»Und wie.« Über die Zukunft muss ich mir anscheinend keine Gedanken machen. Ich könnte jederzeit bei H&M anfangen. Allerdings müsste ich erst wieder Bargeld und Zahlen auseinanderhalten können, aber was soll’s.

Ich folge Tante Josie über den gepflasterten Innenhof zu einem großen Steingebäude mit einem Scheunentor, in dessen Mitte sich eine kleinere Tür befindet, durch die wir das enorme Innere betreten. Ich nehme meine Sonnenbrille ab.

»Wow, wenn man sich das ansieht, versteht man, weshalb es oft heißt, Scheunen seien wie Kathedralen. Kein Wunder, dass Harry begeistert war.« Trotz des grauen Tages fällt Licht durch die Fenster in dem hohen Dach, das mit seinen massiven Balken groß wirkt wie ein Dorfsaal. Wenn man mal von den Stapeln alter Bretter überall absieht, ist die Scheune in besserem Zustand als die Schuppen. Obwohl nicht klar ist, welchem Zweck sie dient. Ich gehe zu einem riesigen verglasten Tor auf der anderen Seite und betrachte die nächsten Nebengebäude, die gleich nach einem Rasenstück kommen. »Gehören die dir etwa auch noch?«

»Nein, zum Glück nur die Wiese. Diese Gebäude sind verpachtet – da ist eine Wohnwagenfabrik und noch anderes.« Sie will sich gerade abwenden, hält aber noch einmal inne. »Wer ist das?« Da steht ein Junge am Tor und beobachtet uns durch die Scheibe.

Als ich meine getönte Brille hochschiebe, kommt mir die blaue Jacke bekannt vor. »Der war gestern mit einem Hund unterwegs, als ich ankam, erinnerst du dich?« Und kickte mit der Fußspitze in die Erde, genau wie jetzt. Bevor ich sie darauf aufmerksam machen kann, dass er irgendetwas mit dem neugierigen Typen aus der Nachbarschaft zu tun hat, schließt sie schon die Tür auf.

»Kann ich dir helfen?« Ihr Ton ist so streng, dass der Junge in seine Jacke hineinschrumpft und sein Gesicht fast verschwindet. »Bist du nicht noch zu klein, um allein unterwegs zu sein?« Falls sie ihn ein bisschen aus der Reserve locken wollte, hat es funktioniert.

»Ich bin gar nicht mehr klein. Ich bin sechs.« Er richtet sich auf und wirkt tatsächlich älter. »Hast du Kuchen im Haus?«

»Kuchen?«

Er rümpft die Nase. »Ich kriege nachher welchen, aber ich habe jetzt auch schon Hunger.«

Ich lache über seine direkte Art. »Tut mir leid, ich habe das letzte Stück zum Frühstück gegessen.« Ich werde neuen holen, wenn wir den Mut finden, hinaus in die Kälte und hinunter zum Hafen zu gehen.

Seine Brauen schießen in die Höhe. »Man kann Kuchen doch nicht zum Frühstück essen.«

Ich bin beeindruckt von seiner Empörung. »Kommt ja nicht jeden Tag vor. Eigentlich so gut wie nie. Nur wenn uns die Haferflocken ausgegangen sind.«

Tante Josie räuspert sich. »Wir haben tatsächlich Kuchen im Cottage.« Sie betrachtet ihn kritisch. »Aber du musst dir die Füße abtreten, bevor du hereinkommst.«

»Du hast Kuchen gekauft?« Ich will nicht so schrill klingen, aber hat sie nicht gesagt, sie ernähre sich zuckerreduziert? Und wo hat sie den Kuchen versteckt? Hätte ich gewusst, dass sie welchen hat, hätte ich mir ein Stück nach dem Essen genehmigt.

»Kein Grund, gleich so geschockt zu klingen, Edie. Es ist Sonntag.«

»Und?«

»Das ist eine Ballerina-Sache. Wenn du unter der Woche auf deine Ernährung achtest, darfst du am Sonntag essen, was immer du möchtest.«

»Das machst du?« Mal abgesehen davon, dass es ungefähr eine Million Jahre her ist, seit sie getanzt hat, bin ich noch unentschlossen, ob ich beleidigt sein soll, weil sie mir den Kuchen vorenthalten hat, oder froh, dass sie sich mal etwas gönnt.

»Selbstverständlich, sonst hätte ich wohl kaum diese Figur.«

Sie ist die Hälfte von mir oder meiner Mum, aber wir dachten immer, es läge an den Genen. »Was hast du denn da?«

Sie räuspert sich. »Karottenkuchen – heute Morgen angekommen.« Was erklärt, wieso ich ihn beim Durchsuchen der Schränke nicht entdeckt habe. Sie wendet sich wieder dem Jungen zu. »Wenn du welchen willst, wir sind im Cottage nebenan. Frag lieber vorher deine Mum. Oder deinen Dad. Oder wer sich sonst um dich kümmert.« Pikiert fügt sie hinzu: »Oder sich nicht um dich kümmert.«

»Das ist Barney.« Und damit ist er auch schon losgerannt.

Sie ruft ihm hinterher: »Komm hinten rum. Sag Barney, er kann auch kommen. Wir kochen Tee.« Sie sieht mich an. »Das muss der Fensterputzer sein.«

Ich klemme meine Sonnenbrille fest auf meine Nase. »Barney? Ernsthaft?« Wenn das der Kerl von gestern ist, will ich ihm auf keinen Fall Tee servieren. Es sei denn, es ist grüner Tee. »Übrigens ist er gar kein Fensterputzer.«

»Tja, wie du schon meintest, es ist gut, die Leute besser kennenzulernen.«

»Stimmt wohl.« Jeden, bloß den nicht.

7. Kapitel

Tag 137: Sonntag, 18. März

Periwinkle Cottage

Heroische Leistung: Ein Karottenbeet im Gemüseregal entdecken

Ich bin mir nicht sicher, ob es die Aussicht auf Gäste oder auf hemmungsloses Schlemmen ist, aber sobald Tante Dings mir mein Malbuch gegeben hat, eilt sie davon und werkelt in der Küche. Während sie Tassen und Teller klappernd auf ein Tablett stellt und einen riesigen Teekessel hervorholt, tanzt sie in ihren goldenen Pumps so schnell umher, dass sie Leuchtspuren hinterlässt.

Sie winkt mich zum Raum nebenan und ruft: »Hol den Kuchen, Edie. Er steht im Gemüseregal.«

Da war ich bisher noch nicht, aber nur Augenblicke später bin ich zurück in der Küche und lasse einen rechteckigen Kuchen aus der Schachtel gleiten und staune über die cremige Glasur und die leuchtend orangefarbenen Knubbel mit den grünen Blättern aus Zuckerguss.

Tante Jo schnalzt kritisch mit der Zunge, während sie mich beim Auspacken des Kuchens beobachtet. »Es ist ein Karottenbeetkuchen von M&S, den der Milchmann für mich in Penzance besorgt hat.«

»Großartig.« Obwohl ich noch ein bisschen perplex bin, weil ich herumkommandiert wurde, überreiche ich ihr den Kuchen. In meinem Leben mit Marcus hätte ich diesen Kuchen möglicherweise gedanklich auf meine Rezeptliste gesetzt, um ihn mal seinen Freunden beim gemeinsamen Grillen am Wochenende zu servieren. Meine Desserts waren das Einzige, womit ich sie beeindrucken konnte. Marcus’ Kumpels aus der Kreativszene – und davon hat er eine Menge – hatten Männerfreundschaft auf ein völlig neues Level gehoben. Es war eine Art von Freundschaft, die es, wenn nicht gerade irgendein verrückter Abenteuertrip anstand, kein Wochenende ohne ein Treffen auf irgendeiner Veranda aushielt. Meistens kippten sie Craft Beer mit seltsamen Namen und verbrannten dazu Rindfleischlappen von angesagten Burger-Läden, während sie sich in ihre jüngeren Ichs zurückversetzten. Obwohl sie inzwischen alle Hausbesitzer waren, hatte es wegen der Immobilienpreise in Bristol und der geplatzten Dotcom-Blase keiner zu einem richtigen Garten mit blühenden Blumen gebracht. Daher kauten wir das verkohlte Fleisch auf kleinen Grasrechtecken, hockten dabei auf Bahnschwellen und hörten Wonderwall vor freigelegten Backsteinwänden.

Damals fühlte es sich an, als würden wir unser ganzes Leben lang in den Zwanzigern bleiben und genau das, was wir taten, ewig tun. Dann passierte das Unausweichliche – jemand vergaß die Pille und jemand anders dachte: Warum nicht wir auch? Und ehe wir uns versahen, war Babys zu bekommen nicht bloß angesagt, sondern unter sämtlichen Nicole-Farhi-T-Shirts wölbten sich plötzlich die Bäuche. Und was immer die Leute behaupten, dass sie nämlich ihr Leben durch Kinder nicht ändern würden – sie machen sich nur etwas vor. Ich betrachtete es aus der Sicht der Tante, als Tash Tiddlywink und Wilf bekam. Es war, als wäre ein Hurrikan durch deren Haus gefegt und dann gleich noch mal zurückgekommen, um ihm den Rest zu geben. So gesehen zahlt man mehr für Kinderwagen als für ein Hochzeitskleid von Vera Wang – und unter Marcus’ Freunden gab es massenhaft beides. Anschließend ist jedenfalls nichts mehr wie vorher.

Aber um auf Tante Jos Karottenkuchen zurückzukommen – selbst für eine Kuchenliebhaberin wie mich ist der riesig. Ich bin außerdem beeindruckt davon, wie zuvorkommend die Nachbarn in diesen Gegenden sind. Ich zähle die Karotten und komme bis elf, bevor ich es aufgebe. Es könnte an der Seeluft liegen oder daran, dass Tante Jo mitzählt, während sie ihre Bleib-jung-Dehnübungen vor dem Essen macht. Es ist zumindest weiter, als ich seit Langem gekommen bin, also jubiliere ich im Stillen.

»Wir könnten im Wintergarten Tee trinken, oder? Da wir doch Gäste haben.«

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