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Das Schicksal weiß schon, was es tut

Als Buch hier erhältlich:

Gemeinsam das Leben meistern – mit allen Höhen und Tiefen

In einem Augenblick ist Rob der beliebte Sportler, mit dem alle Jungs befreundet sein wollen und dem die Herzen der Mädchen zufliegen. Im nächsten Moment steht er vor einem Scherbenhaufen: Sein Vater hat die Familie in Verruf gebracht, Rob wird zum Außenseiter. Auch für Maegan ist die Schule nach einem entsetzlichen Fehler die Hölle. Ausgerechnet diese beiden müssen gemeinsam an einem Schulprojekt arbeiten. Hat das Schicksal etwa einen Plan für Rob und Maegan? Oder besitzt es einfach nur einen besonderen Sinn für Humor?

Trifft mitten ins Herz: Einfühlsam schreibt Brigid Kemmerer über die schwierigen, schicksalhaften Momente des Erwachsenwerdens!

»Man mag das Buch nicht mehr aus der Hand legen, sobald man angefangen hat. Eine klare Leseempfehlung!« jugendbuch-couch.de


  • Erscheinungstag: 08.11.2019
  • Seitenanzahl: 352
  • Altersempfehlung: 14
  • Format: Hardcover
  • ISBN/Artikelnummer: 9783748800118

Leseprobe

Für Marie Kate Castellani,
die mir nie irgendetwas durchgehen lässt

Wie jeden Morgen frühstücke ich mit meinem Vater.

Das heißt, ich esse. Er sitzt in seinem Rollstuhl und starrt in die Richtung, in die Mom ihn geschoben hat. Wenn ich Glück habe, bleibt die Spucke in Dads Mund. Wenn er Glück hat, blendet ihn das Sonnenlicht nicht.

Heute haben wir beide nicht besonders viel Glück.

Ich beschalle die Küche mit Alternative Rock, und das so laut wie nur möglich. Als er noch die geistige Fähigkeit dazu hatte, regte er sich über diese Art von Musik immer mächtig auf. Keine Ahnung, ob er sie jetzt überhaupt noch mitbekommt.

Mir gefällt die Vorstellung, dass er sie noch hören kann.

»Rob!«, brüllt Mom von oben, wo sie sich für die Arbeit zurechtmacht. Früher hat sie nie gebrüllt.

Früher hatte sie auch keinen Job.

Hinter uns liegt ein tolles Jahr.

»Rob!«, ruft sie erneut.

Ich blicke über den Tisch zu Robert Lachlan senior und schiebe mir einen Löffel Müsli in den Mund. »Was glaubst du, meint sie dich oder mich?«

Ein Speichelfaden hat mittlerweile einen kreisförmigen Fleck auf seinem Hemd hinterlassen.

»Was ist?«, schreie ich zurück.

»Stell das bitte leiser!«

»Okay.« Tue ich natürlich nicht.

Bis vergangenen Frühling ahnte ich nicht mal, dass es eine richtige und eine falsche Art gibt, wenn man sich umbringen will. Hält man sich den Lauf einer Waffe an die Schläfe und drückt ab, kann man nämlich trotzdem überleben.

Es ist auch möglich, das Ziel zu verfehlen und sich das halbe Gesicht wegzublasen, aber glücklicherweise hat Dad das nicht gemacht. Ich weiß nicht, ob ich ihm am Tisch gegenübersitzen könnte, wenn das passiert wäre.

Es ist schon so alles schlimm genug. Vor allem, wenn man bedenkt, was er angerichtet hat, bevor er versuchte, Selbstmord zu begehen. Das Zuvor ist schlimmer als alles andere.

Den Selbstmord kann ich noch irgendwie verstehen.

Mom meint, Dad ist es wichtig, mich in seiner Nähe zu wissen. Ich frage mich, warum. Meine Anwesenheit hilft auch nicht, seine Gehirnwindungen auf magische Weise zu verbinden, sodass er wieder laufen und sprechen und mit anderen Menschen normal zurechtkommen kann.

Wenn ich einen Zauberstab in die Finger kriegte, mit dem ich Dad wieder zusammensetzen könnte, würde ich es tun.

Klingt selbstlos. Bin ich aber nicht. Ich bin egoistisch.

Noch vor einem Jahr hatten wir alles.

Jetzt haben wir nichts mehr.

Und der lebende, atmende Grund dafür sitzt am anderen Ende des Küchentischs.

Ich stehe auf und schalte die Musik ab. »Ich gehe jetzt!«, rufe ich.

»Hab einen schönen Tag in der Schule«, antwortet Mom.

Als ob das möglich wäre.

Meine Schwester übergibt sich im Badezimmer. Na großartig.

Ich möchte ihr am liebsten meine Hilfe anbieten, Papiertaschentücher reichen oder ein Glas Wasser, aber schon gestern hat sie mich deswegen angeblafft.

Mom sagt, das sind die Hormone. Vielleicht hat sie recht, allerdings war Samantha noch nie jemand, den andere als sonderlich nett bezeichnen würden. War man ihrer Meinung, war man ihre beste Freundin. Wenn nicht, musste man sich vorsehen.

Als Samantha die Zulassung fürs College hatte, schmissen die Hälfte der Cops von Dads Polizeirevier ihr zu Ehren eine Party. Es kommt eben nicht oft vor, dass Kinder von einfachen Leuten an einer Elite-Uni angenommen werden – noch dazu mit nichts Geringerem als einem Lacrosse-Vollstipendium.

Genauso selten ist es, dass sie schwanger zurückkehren.

In einer kleinen dunklen Ecke meines Herzens bin ich froh, diesmal nicht das Problemkind zu sein.

Aber ich verdränge den Gedanken sofort wieder und schiebe die Reste beiseite. Denn so zu denken ist meiner Schwester gegenüber nicht fair. Und anders als sie galt ich schließlich immer als nett.

Na ja, zumindest bis letzten Frühling. Danach begannen die Leute, mich als Betrügerin zu bezeichnen.

Die Toilettenspülung ist zu hören. Wasser läuft. Eine Minute später schließt sich leise Sams Zimmertür.

Mom taucht im Türrahmen zu meinem Zimmer auf. Sie trägt ­einen Bademantel und ein zum Turban gewickeltes Handtuch um den Kopf. »Wenn du fertig bist, kann Dad dich zur Schule fahren«, erklärt sie liebevoll.

»Ja, gleich.«

»Ich sag’s ihm.« Sie bleibt noch kurz im Türrahmen stehen. »Maegan … wegen des Zustands deiner Schwester …«

»Du meinst, das Baby?« Ich werfe einen prüfenden Blick in den Spiegel. Ist der Pferdeschwanz nicht vielleicht ein Fehler? Meine helle Haut wirkt blass, und schon jetzt scheine ich erschöpft. Mal ganz abgesehen davon, dass heute der 1. November und es draußen eiskalt geworden ist, hat auch noch eine Fensterscheibe in meinem Klassenraum einen Sprung.

Mom kommt langsam in mein Zimmer und schließt vorsichtig die Tür hinter sich. »Ja. Das Baby.«

Ich frage mich, ob Samantha gehofft hatte, die Schwangerschaft zu verheimlichen – sogar vor unseren Eltern. An diesem Wochenende wollte sie sowieso nach Hause kommen, also überraschte ihr Besuch niemanden. Ich glaube bloß nicht, dass sie geplant hatte, durch die Haustür zu treten, Mom zu umarmen und ihr gleich da­rauf auf die Füße zu kotzen.

Sogar das wäre noch zu erklären gewesen, aber dann brach Sam sofort in Tränen aus.

Und Mom ist keine Vollidiotin.

Andererseits standen sich Mom und Sam schon immer nahe. Vermutlich hätte Sam es ihr ohnehin erzählt. Nur eben vielleicht nicht unbedingt in dieser schwungvollen Form direkt auf die Füße.

Ich greife nach einem bunten Schal. »Was ist mit dem Baby?«

»Deine Schwester möchte, dass noch niemand davon erfährt.« Mom wringt die Hände. »Sie ist erst in der zehnten Woche, und sie versucht … sie versucht zu entscheiden, was sie tun soll.« Pause. Kann meine Mutter sich tatsächlich nicht überwinden, das Wort Abtreibung auszusprechen? »Ich bitte dich, ihren Wunsch zu respektieren.«

Ich ziehe eine Jeansjacke über den Pulli. »Ich erzähl niemandem etwas.«

»Maegan, deine Schwester braucht jetzt deine Unterstützung.«

»Mom. Niemand redet mit mir. Wem sollte ich also davon er­zählen?«

»Rachel?«

Meine beste Freundin. Ich halte kurz inne.

Vor Schreck fallen Mom beinahe die Augen aus dem Kopf. »Maegan. Hast du ihr etwa schon davon erzählt?«

»Nein! Nein. Natürlich nicht.«

»Du weißt, dein Vater mag keinen Tratsch.«

Der Einwand stimmt mich nachdenklich. Denn Dad will ich nicht enttäuschen. Also, ich will ihn nicht wieder enttäuschen. »Ich verrate nichts.«

»Kein Wort zu niemandem, Maegan.« Ihr Gesichtsausdruck wird streng. »Ich muss mich darauf verlassen, dass wir auf dich zählen können.«

Ich zucke zusammen. Dad hupt vor dem Haus.

Schnell schnappe ich mir meinen Rucksack. »Ich muss los.«

»Benimm dich!«, ruft Mom mir nach.

Das sagt sie jedes Mal, wenn ich das Haus verlasse.

Früher antwortete ich: »Das tue ich doch immer.« Aber mittlerweile stimmt das nicht mehr.

Darum entgegne ich seitdem: »Ich werd’s versuchen.« Und knalle die Haustür hinter mir zu.

Vor dem Haupteingang zur Eagle Forge Highschool tummeln sich jede Menge Schüler. Überall Leute. Sie belagern den Schulhof, schieben sich in Richtung Eingang und durch die nicht allzu breite Halle. Sie schmeißen die Spindtüren zu und fluten bis zur allerletzten Minute vor Unterrichtsbeginn jeden erdenklichen Raum im Gebäude. Es gab einmal eine Zeit, da hätte ich vom Parkplatz marschieren können und all die Leute hätten sich vor mir geteilt wie das Rote Meer, um mir den Weg frei zu machen.

Aber jetzt? Niemand will mehr Rob Lachlan junior sein.

Selbst ich nicht.

Ich nehme nicht den Haupteingang. Der gehört nun zum Hoheitsgebiet von Connor Tunstall. Er lehnt wahrscheinlich lässig an dem runden Betonpfeiler, auf dem der Fahnenmast der Schule an­gebracht ist, und erzählt gerade ein waghalsiges Abenteuer von seinem Wochenende. Neben ihm ein Pappbecher von Starbucks – ein Tall Dirty Chai –, und weil es heute bewölkt ist, hängt die Sonnenbrille vermutlich in einem Knopfloch seiner Vintage-Bomberjacke. Er ist blond mit ein paar unregelmäßigen braunen Strähnen, und ähnlich verhält es sich mit seinen Augen: Er hat ein blaues und ein braunes. Hier bei uns in der Gegend kann einen ein besonderes Aussehen entweder zum Aussätzigen der Gesellschaft stempeln oder bis ganz an die Spitze katapultieren. Connors Familie besitzt richtig viel Geld, also braucht man nicht lange zu raten, wo er gelandet ist. Er spielt Lacrosse – und hat sogar einen Privatlehrer –, darum hat er den Körperbau von jemandem, mit dem man sich besser nicht anlegt.

Gott, ich klinge, als wäre ich von ihm besessen. Bin ich nicht.

Früher war er mein bester Freund.

Nach dem Ende unserer Freundschaft übernahm er den vorderen Schulhof. Sein Dad erzielte einen gerichtlichen Vergleich.

Mein Dad bekam eine gerichtliche Vorladung – und später, selbst verschuldet, eine Kugel in den Frontallappen seines Gehirns.

Und da wären wir nun, acht Monate später.

Ich parke auf dem Seitenparkplatz, und während sich der bitterkalte Novemberwind durch meinen Parka frisst, laufe ich um die halbe Schule, bis ich mich am Hintereingang bei der Bibliothek ins Gebäude schleiche. Dabei findet meine erste Stunde ein ganzes Stück entfernt in der Nähe des Haupteingangs statt, aber der Umweg ist mir egal, und ganz sicher macht mir die Einsamkeit nichts aus.

Außerdem muss ich in der Bibliothek noch Bücher zurückgeben, also linse ich durch die Fenster entlang des Flurs. Der Bibliothekar ist nicht da, deshalb schlüpfe ich schnell durch die Tür. Eigentlich sollen wir warten, um die Bücher von einem Angestellten entgegennehmen zu lassen – irgendeine Sache mit Verantwortung oder so, denke ich mal –, aber ich lege meine Bücher immer einfach auf den Tresen. Ich zahle lieber zehn Dollar für ein Taschenbuch, das deswegen vielleicht verloren geht, als Mr. London zu begegnen.

In der Bibliothek scheint der Luftdruck anders als überall sonst zu sein, als ob die Bücher eine besondere, damit verbundene Stille verlangen. Ich bewege mich leise über den Teppichboden und lasse die zwei Hardcoverausgaben geräuschlos auf den Kunststofftresen gleiten. Danach mache ich auf dem Absatz kehrt, um nur schnell wieder zu verschwinden.

»Mr. Lachlan.«

Verdammt.

Ich bleibe stehen. Drehe mich um. Mr. London kommt aus dem Lagerraum hinter dem Tresen. Er wischt sich die Hände an einer Serviette ab und kaut immer noch auf dem rum, was auch immer er gerade gegessen haben mag. Er ist mager und drahtig und geht auf die sechzig zu. Er trägt ein schwarzes Poloshirt, das an den Ärmeln farbig abgesetzt ist, doch das Schwarz passt nicht zu seiner blassen Haut.

»Ich werde die gleich ins System eingeben«, sagt er, als wäre ich nicht schon auf halbem Weg zur Tür, und schiebt die Bücher zu seinem Computer.

Er schaut mir nicht in die Augen.

Ich versuche nicht, in seine zu sehen. Tatsächlich habe ich keinen Schimmer, ob seine Bemerkung eine Aufforderung an mich war, zu bleiben und zu warten, während er in seine Tastatur tippt, oder ob es sich eher um eine Art Erlaubnis zu gehen handelte, aber während ich noch darüber nachdenke, stehe ich schon viel zu lange unschlüssig herum.

Jetzt ist es peinlich.

Mr. London scannt die Barcodes auf den beiden Buchrücken. Es sind dicke High-Fantasy-Romane, und als er sie wieder auf den Ausleihtresen legt, entsteht ein dumpfes Geräusch. »Wie fandest du die Bücher?«

Was will er von mir, etwa eine Empfehlung? Die Geschichten waren lebensverändernd. Ich bin die ganze Nacht aufgeblieben, um zu lesen.

Das stimmt sogar. Denn ich habe kein Sozialleben.

Doch dann wird mir klar, dass seine Frage reine Routine ist. Immer wenn wir uns begegnen, entwickelt sich das Ganze genauso peinlich für ihn wie für mich. Wahrscheinlich empfindet er eine Art Pflicht, mich mit professioneller Höflichkeit zu behandeln, so als hätte ihm meine Familie nicht sämtliche Ersparnisse geraubt und würde ihn nicht auch noch an seinem Arbeitsplatz verfolgen.

Ich zucke mit den Schultern und betrachte ein Poster, das Edgar Allan Poe zeigt. »Sie waren gut.«

»Nur gut? Neal hat sie förmlich verschlungen.«

Neal ist sein Ehemann. Der ist pensionierter Lehrer im Ruhestand und stammt aus irgendeiner anderen Stadt. Mr. London wollte letztes Jahr eigentlich auch in den Ruhestand gehen, doch er und sein Mann haben meinem Vater ihre privaten Rentenkonten anvertraut.

Jeder einzelne Cent war längst futsch, bevor Dad geschnappt wurde.

Ich räuspere mich. »Ich muss jetzt zur ersten Stunde.«

Das ist Schwachsinn, und das weiß Mr. London auch. Die Schulglocke läutet erst in zwanzig Minuten.

»Nur zu«, meint er. »Die Bücher sind wieder als ausleihbar im System.«

Ich stürze davon und flüchte, als wäre ich ein Straftäter. Im Rücken kann ich förmlich Mr. Londons Blick spüren.

Und ich frage mich: Wäre es besser, wenn ich den Ruf hätte, meinen Vater zu verachten? Wenn ich nicht in den Schulferien als Praktikant in seinem Büro gearbeitet hätte? Wenn er nicht bei jedem Lacrosse-Spiel aufgetaucht wäre, den Arm um mich gelegt und mit dem Können seines Sohns auf dem Spielfeld angegeben hätte?

Bedauerlicherweise hasste ich ihn nicht. Auch nicht, als ich später all das Flüstern mitbekommen habe.

Wusste Rob davon? Das musste er doch wissen.

Ich habe gar nichts gewusst.

Dad bringt mich in seinem Polizeiwagen zur Schule, wie immer. Ich wünschte, er würde mich auf der Rückseite des Gebäudes rauslassen, wo die anderen Kids nicht sehen, wie ich aus der schwarz-weißen Limousine steige, aber er meint, wer mitbekommt, dass er ein Cop ist, lässt sein kleines Mädchen in Ruhe.

Er hat recht. Alle lassen mich in Ruhe. Denn niemand redet mit mir.

Das hat aber nichts damit zu tun, dass er ein Cop ist.

Das hängt ausschließlich damit zusammen, dass ich vergangenes Schuljahr beim SAT, dem Eignungstest fürs College, geschummelt habe – und daraufhin die Ergebnisse von rund hundert Schülern für ungültig erklärt wurden.

Dad streckt den Arm aus und drückt meine Schulter. »Schönen Tag, meine Süße«, sagt er mit dunkler, dröhnender Stimme. Eine gute Stimme für einen Cop. »Schick mir eine Nachricht, wenn du abgeholt werden willst, okay?«

»Okay.« Als ich mich zu ihm hinüberlehne, um ihm einen Kuss auf die Wange zu geben, quaken aus seinem Funkgerät irgendwelche Codes. Dad riecht nach Seife und Menthol. »Hab dich lieb, Daddy.« Aber er greift schon nach dem Funkgerät.

Dann stehe ich draußen in der Kälte, und Dads Streifenwagen fährt los.

Erst in einer Viertelstunde läutet es zur ersten Stunde, und auf dem Schulhof ist es schweinekalt, dennoch lungern überall vor der Tür Schüler herum, die nicht scharf darauf sind, ihren Schultag früher als nötig zu beginnen. Die meisten huldigen Connor Tunstall, der gegen den Fahnenmast lehnt und von irgendeiner Party am Wochenende erzählt.

»Ernsthaft«, meint er. »Die haben es nicht mal zu zweit geschafft, das Bierfass die Treppe runterzutragen. Am Ende habe ich das allein übernommen.«

»Ganz allein?«, rufen seine Groupies im Chor und flattern aufgeregt um ihn herum. »Kannst du mich hochheben? Ich wette, du schaffst es sogar, mich und Sarah gleichzeitig hochzuheben.«

Connor grinst die beiden an. »Kommt her. Mal sehen.«

Argh. Mit so einem Typen würde ich mich nicht abgeben. Er und Rob Lachlan waren die Helden der Schule, bis Robs Dad geschnappt wurde, weil er das Geld seiner Kunden unterschlagen und daraufhin versucht hat, sich den Kopf wegzuschießen. Jetzt hockt Connor allein auf dem Thron. Keine Ahnung, was mit Rob geschehen ist. Er wirkt neuerdings wie ein Geist, der flackernd von Kurs zu Kurs schwebt. Wir haben zusammen Mathe, sonst hätte ich keinen Schimmer, dass er überhaupt noch zur Schule kommt.

Rachel, meine beste Freundin, löst sich von der Menschenmenge vor dem Highschoolgebäude und bewegt sich auf mich zu. Sie wartet jeden Morgen auf mich, obwohl ich ihr gesagt habe, dass sie das nicht tun muss. Am Ende des letzten Schuljahrs ist das Drama eigentlich schon etwas abgeebbt.

Davor konnte ich allerdings kaum einen Schritt auf dem Schulhof machen, ohne angespuckt zu werden. Wenn die Testergebnisse von hundert Schülern für ungültig erklärt werden, hat das eben ein paar Konsequenzen.

Rachel ist eine der wenigen, die zu mir gestanden haben, als ich in Schwierigkeiten geriet. Es ist nicht einfach, weiterhin zu den Intelligenzbestien der Schule zu gehören, wenn alle denken, dass man sich das Ganze erschwindelt hat. Rachel und ich sind praktisch seit unserer Geburt Freundinnen, darum weiß ich, dass sie mir immer den Rücken freihalten wird.

Sie hakt sich bei mir unter, obwohl sie viel größer ist als ich und es bestimmt nicht bequem für sie ist. Ihr Dad ist einer dieser schwergewichtigen, blonden, nordisch wirkenden Cops, während Rachels Mom ihren mexikanischen Vorfahren ähnelt und klein und rundlich ist. Deshalb hat Rachel eine etwas dunklere Hautfarbe und ­lockiges dunkles Haar. Und von der Seite ihres Dads hat sie die kräftigen, breiten Schultern und eine Körpergröße von einem Meter achtzig geerbt. Sie ist größer als die meisten Jungs der Oberstufe und hübscher als die meisten Mädchen.

»Meinst du, Connor Tunstall steht jeden Morgen vor dem Spiegel und bewundert sein Muskelspiel?«, fragt sie.

»Machst du Witze? Wahrscheinlich schießt er sogar jeden Tag ein Selfie davon.«

Rachel öffnet lachend die Eingangstür zur Schule. »Wie geht es Sam?«

Mir gefriert sofort das Herz in der Brust. Die Worte meiner Mom hallen mir im Kopf. »Was?«

»Du hast doch erzählt, dass sie Freitagabend krank war.«

Richtig. Das habe ich gesagt. Eigentlich wollten Rachel und ich ins Kino gehen, aber dann kam Sam nach Hause und übergab sich. »Oh. Ja. Es geht ihr besser. Hatte sich bloß den Magen verdorben.«

Klingt wie eine Lüge. Keine Ahnung, ob es daran liegt, dass ich die Tochter eines Cops bin, doch ich bin eine echt miese Lügnerin. Darum bin ich im April auch gleich eingeknickt, als man mir vorwarf, betrogen zu haben. Rachel durchschaut mich bestimmt, und als Nächstes spucke ich ihr dann die Wahrheit direkt vor die Füße.

Aber sie durchschaut mich nicht. Sie wirft mir nicht mal einen amüsierten Blick zu, sondern nimmt mir die Erklärung einfach so ab und zieht mich weiter in Richtung ihres Spinds.

Das ist irgendwie nicht gut.

Drew, Rachels fester Freund, wartet schon, als wir bei den Schränken ankommen. Er ist groß, hat eine dunkelbraune Hautfarbe und dunkle Augen und ist körperlich wie geschaffen für einen Linebacker, was Sinn ergibt, denn er spielt Football. Seine Eltern betreiben ein vornehmes Restaurant am Stadtrand und erwarten meist, dass er abends dort aushilft, darum leiden unter dem Job und dem Sport manchmal seine Noten.

Ich kenne Drew seit der Grundschule, allerdings sind er und Rachel erst seit dem Sommer zusammen, nachdem er sie betrunken angerufen und ihr seine Liebe gestanden hat. Ich kann mir romantischere Ouvertüren vorstellen, aber Rachel schien es nichts auszumachen. Insgeheim halte ich Drew für ein bisschen ruppig, doch zu Rachel ist er lieb. Und sie war mir eine so gute Freundin, dass ich mich revanchieren möchte.

Drew legt den Arm um Rachels Taille und gibt ihr einen schmatzenden Kuss.

Ich seufze. Rachel lächelt.

Vermutlich kann ich eher eine gute Freundin sein, wenn ich nicht beim Austausch von Körperflüssigkeiten zusehen muss. »Ich muss los zu Mathe«, verkünde ich schnell und wende mich ab.

»Immer schön die Augen auf das eigene Blatt richten und nicht abschreiben«, ruft Drew hinter mir. Dann bricht er in schallendes Gelächter aus.

Rachel versucht, ihn zum Schweigen zu bringen, aber es ist zu spät.

Ich habe es gehört.

Zeit für Mathe. Lasset die Bildung beginnen.

Eigentlich bin ich ziemlich gut in Mathe. Ich bin in den meisten Fächern gut. Dad bestand darauf, als er noch eine angesehene Persönlichkeit war – oder falls man Lust auf Haarspaltereien hat: als er vorgab, eine angesehene Persönlichkeit zu sein. Es ist schließlich nicht möglich, damit herumzuprahlen, dass der eigene Sohn zu den Klassenbesten gehört, wenn das nicht stimmt. Ich bin nicht Nummer eins oder so, aber unter den besten fünfundzwanzig. Früher war ich sogar nur unter den besten fünfzig, aber da hatte ich auch noch ein Leben außerhalb der Schule und Geld für Lacrosse. Jetzt habe ich nichts mehr zu tun, außer Hausaufgaben zu machen und mir die Nächte mit Fantasyromanen um die Ohren zu schlagen.

In früheren Zeiten hätte ich mich über einen Typen wie mich lustig gemacht.

Was hat Nelson auf dieser Party verloren? Sollte er nicht zu Hause sein und auf seine Aufnahmebestätigung für Hogwarts warten?

Diese Art von Witzen war genau mein Ding. Dabei ist Harry Potter gar nicht mal so übel.

Manchmal wünschte ich, ich würde auf eine Privatschule gehen. Nicht, weil ich ein Snob bin – obwohl ich das wahrscheinlich schon war, wenn man’s genau nimmt. Aber nein, das meine ich nicht: Als Dad gefasst und unser Vermögen eingefroren wurde, hätte ich die Privatschule sowieso verlassen müssen. Doch dann hätte ich auf eine öffentliche Schule wechseln können, wo mich niemand kannte.

Und noch mal Nein. Es musste auf alle Fälle eine öffentliche Schule sein. Dad wollte nämlich, dass die Leute den Eindruck haben, unsere Familie sei ein ganz normales Mitglied der Gesellschaft. Und dass wir uns nicht zu gut seien für eine ganz normale Schule – no, Sir.

Jeder hat das Zeug zum Millionär! Man muss einfach nur klug sein und beim guten alten Rob Lachlan senior investieren.

Ernsthaft. Dad hat solche Werbespots gemacht. Auf YouTube kursieren überall Parodien auf die Abzocke.

Ein Wunder, dass wir das Haus behalten durften. Es ist auf den Namen meiner Mom eingetragen, darum wurde es nicht wie alles andere beschlagnahmt. Ich weiß nicht, ob Dad derart weitsichtig war, aber immerhin landeten wir nicht auf der Straße.

Trotzdem musste sich Mom einen Job suchen. Die beiden stritten darüber. Bevor er den Abzug betätigte.

Ich erinnere mich an die Auseinandersetzungen. Sie brüllte, wir hätten Farbe für fünftausend Dollar an der Wand, aber kein Geld für Lebensmittel. Die Konten bei der Bank waren eingefroren. Die Kreditkarten waren eingefroren. Er versicherte ihr immer wieder, dass sich der Sturm bald legen würde.

Alles okay, Carolyn. Alles ist gut. Das ist alles nur ein Missverständnis. Bitte, Schatz. Du wirst sehen.

Oh ja. Wir sahen es. Als blutrote Spritzer auf der Wand.

So. Mathe.

Unsere Lehrerin heißt Mrs. Quick. Sie ist in Ordnung. Nicht besonders auffallend. Sie trägt immer beigefarbene Hosen und T-Shirts, hat olivfarbene Haut, glattes braunes Haar und eine eckige Brille auf der Nase. Sie ist vielleicht dreißig Jahre alt, vielleicht auch vierzig – keine Ahnung. Sie akzeptiert keinen Scheiß, dafür liefert sie uns auch keinen. Einige Lehrer haben ihren Unterrichtsraum bunt gestaltet, um für eine angenehme Atmosphäre zu sorgen, aber der von Mrs. Quick wirkt dank ein paar Pinboards, an denen Schwarz-Weiß-Ausdrucke von mathematischen Gleichungen hängen, und den ansonsten leeren Wänden schmucklos. Sogar ihr Pult ist sauber und ordentlich, alle Papiere und das Unterrichts­material verwahrt sie in der verschlossenen Schublade. Nur die Uhr über der Tafel gibt einen Hinweis auf eine verborgene Schrulle und Geisteshaltung: Die Ziffern sind durch Gleichungen ersetzt, sodass dort statt der Zwei beispielsweise die Quadratwurzel aus vier steht.

Ich mag ihren Unterricht, denn alle halten die Klappe und arbeiten still vor sich hin. Ich habe kein Bedürfnis nach Kontakt.

»… sucht euch einen Partner für ein gemeinsames Projekt, an dem wir in den kommenden zwei Wochen arbeiten werden«, höre ich Mrs. Quick plötzlich sagen. »Manches wird außerhalb der Schule zu erledigen sein, darum solltet ihr am besten jemanden finden, den ihr ohne viel Aufwand treffen könnt.«

Schnell sehe ich mich im Raum um. Einige Mitschüler drängeln herum, schließen sich zusammen und tauschen bereits Plätze mit anderen. Überall wird gelacht und Faustcheck gemacht, nur nicht in meiner Ecke.

Vielleicht sind wir eine ungerade Anzahl von Schülern, sodass ich allein bleiben kann.

Nein. Stopp. Vielleicht fasst Mrs. Quick dann aber auch drei Schüler zusammen. Das wäre übel.

Noch mal schaue ich mich im Klassenraum um. Alle scheinen schon einen Partner gefunden zu haben.

Ich atme schneller. Ähnlich wie in der Bibliothek hocke ich hier schon viel zu lange rum und drehe mich innerlich im Kreis. Ich muss mit Mrs. Quick sprechen. Vielleicht hat sie Mitleid mit mir.

Maegan Day redet gerade mit ihr. Ich kenne Maegan kaum, aber sie ist außer mir die einzige Schülerin, die nicht gleich aufgesprungen ist, um sich mit jemandem zusammenzuschließen. Nachdem sie im vergangenen Schuljahr beim SAT betrogen hat, bekam sie Schwierigkeiten, aber nähere Einzelheiten weiß ich nicht. Dafür steckte ich zu der Zeit zu tief in meinem eigenen Familienschla­massel.

Ihren Dad kenne ich aber. Er war der erste Cop, der uns verhört hat, nachdem Mom den Notruf gewählt hatte.

Mrs. Quick schaut auf. »Hat jeder einen Partner? Maegan sucht noch einen Partner.«

Im Raum wird es ganz still. Niemand sagt irgendwas. Auch ich nicht.

»Einmal Betrüger, immer Betrüger«, murmelt irgendwer.

»Ich kann das Projekt auch allein machen«, meint Maegan schnell. Es klingt, als wäre es genau das, was sie sich erhofft. Das haben wir also gemeinsam.

Mrs. Quick wendet sich ihr wieder zu. »Ich möchte aber, dass die Aufgabe in Teams bearbeitet wird. Such dir eine Gruppe, der du dich anschließen kannst. Drei Leute sind auch in Ordnung.«

Das heißt, sie wird mich auch einer Gruppe zuweisen.

Ich räuspere mich. »Ich brauche noch einen Partner.«

Genauso gut hätte ich sagen können: Ich brauche noch eine Darmspiegelung.

»Danke, Rob«, entgegnet Mrs. Quick. »Maegan, bitte schön.«

Maegan zögert einen Moment, dann dreht sie sich um. Sie geht zu ihrem Platz und setzt sich.

Neben mir ist ein Platz frei – weil ich in der hintersten Ecke des Raums sitze. Mein Lieblingsplatz, es sei denn, ein Lehrer weist uns andere zu. Maegan könnte sich ihr Zeug schnappen und herüberkommen.

Doch auch neben ihr ist ein Platz frei, denn in der ersten Reihe will kaum jemand sitzen.

Ich möchte aber nicht umziehen.

Mrs. Quick hat jedoch etwas gegen Sturköpfe. »Rob, bitte setz dich neben Maegan, damit ihr gemeinsam mit der Aufgabe anfangen könnt.«

Daraufhin schiebe ich mein Schulbuch in den Rucksack und schlurfe in die erste Reihe.

Seit zwanzig Minuten hören wir Mrs. Quicks Erläuterungen zu den einzelnen Punkten der Aufgabe zu, und Rob Lachlan hat mich noch nicht ein einziges Mal richtig angesehen. Schlimm genug, dass mich die Lehrer nur von der Seite beäugen, da brauche ich das nicht auch noch von ihm.

Einmal Betrüger, immer Betrüger. Keine Ahnung, wer das gesagt hat, aber ich frage mich, ob es vielleicht Rob war. Er wirkt echt nicht glücklich darüber, mein Partner zu sein. Sein Haar ist oben irgendwie ziemlich lang und ungepflegt und hängt ihm in die Augen, als müsste ihn seine Mutter daran erinnern, mal zum Friseur zu gehen. Wir waren nie miteinander befreundet, und weil er mich nicht anschaut, weiß ich nicht, welche Farbe seine Augen haben. Auf seinen blassen Wangen sind ein paar Sommersprossen verstreut und wirken wie ein Überbleibsel von Sommerbräune, die einfach nicht verschwinden will. Rob trägt ein eng anliegendes schwarzes Langarmshirt von Under Armour.

Sein Leben mag scheiße sein, doch auch wenn er aus seinem sozialen Umfeld vertrieben wurde, hat er immer noch die Figur eines Vorzeigeathleten.

Und ich bin immer noch ich.

Mrs. Quick skizziert unser Projekt, das tatsächlich ganz spannend klingt – wir sollen unterschiedliche Gegenstände aus unterschiedlichen Höhen fallen lassen und jeweils den Aufprall und die Flugbahn berechnen –, aber ich betrachte lieber weiterhin insgeheim den Jungen neben mir.

Er macht sich dürftige Notizen. Schaut stur auf den Block vor sich. Und wirkt, als wäre er überall lieber als jetzt hier.

Die Glocke läutet, und er schmeißt sofort seine Sachen in den Rucksack. Immer noch kein Zeichen von ihm, dass wir ein Team sind.

Nachdem ich bei meinem Betrugsversuch erwischt wurde, nahmen plötzlich alle Leute an, dass ich mich zu einer totalen Faulenzerin entwickelt hätte. Hab ich nicht, aber vielleicht ist das der Grund für das Problem hier.

»Hey«, spreche ich Rob an.

Er zerrt am Reißverschluss seines Rucksacks. Sein Kopf hebt sich den Bruchteil eines Millimeters. »Hey, was?«

»Meine Noten liegen mir echt am Herzen. Du darfst das hier nicht locker angehen.«

Er hört auf, an seinem Rucksack herumzufingern. Mit fast tödlich leiser Stimmte beginnt er zu sprechen, und ich erwarte eine böse Stichelei, aber stattdessen sagt er: »Ich habe eine Eins in diesem Kurs. Überleg dir, was ich tun soll, und ich werde es tun.«

Ich folge ihm aus dem Klassenzimmer. »Warum hast du Mrs. Quick nicht geantwortet, als sie nach einem Partner gefragt hat?«

»Was?«

Wegen des Lärms in den Gängen kann ich Rob kaum verstehen, aber ich möchte ihn nicht einfach so davonkommen lassen. Eigentlich muss ich in die andere Richtung zum Englisch-Leistungskurs, aber ich folge Rob trotzdem durch die Massen von Schülern. »Als sie fragte, ob noch jemand einen Partner braucht, hast du nichts gesagt.«

»Na und?«

Ich will, dass er es sagt. Ich will, dass er es zugibt. »Du wusstest, dass es um mich ging. Wenn du nicht mein Partner sein willst, sag’s bitte einfach.«

»Ich will nicht dein Partner sein.«

Abrupt bleibe ich mitten im Gang stehen. Er sagt das so … ge­radeheraus. Ohne Gefühl. Ohne mich anzuschauen. Sogar ohne stehen zu bleiben. Das ist übler als ein verächtlicher Blick. Es ist eine Tatsache.

Ich will nicht dein Partner sein.

Mir ist, als hätte er mir gegen die Brust geboxt. Ich kann mich nicht bewegen. Am schlimmsten ist, dass ich darum gebeten habe. Buchstäblich.

Während ich nur dastehe und versuche, mich zu erholen, taucht er zwischen den anderen Schülern unter und verschwindet wie ein Geist.

In der Mittagspause in der Cafeteria teile ich mir mit Rachel einen Salat. Weil wir morgens keine gemeinsamen Kurse haben, ist das meine erste Gelegenheit, mich über Rob Lachlan auszuheulen.

»Schwänz das Projekt«, sagt Rachel. »Weigere dich mitzumachen.«

»Ja, okay.« Ich stochere mit der Gabel im Salat. »Aber ich brauche diese Note. Es warten nicht auf alle von uns College-Fonds.«

Rachel schnappt sich eine Cocktailtomate. »Was kann ich dafür?«

»Du kannst überhaupt nichts dafür.« Ich seufze und bin gereizt, obwohl ich wirklich nicht verstehe, warum. Vielleicht liegt es an Drews Bemerkung von heute Morgen, vielleicht liegt es an Rob. Ich sollte das wohl trotzdem nicht an Rachel auslassen.

»Worum geht’s?« Drew schwingt ein Bein über die Bank auf Rachels Seite des Tisches und setzt sich neben sie. Auf seinem Tablett stapeln sich zwei Burger, eine Schüssel Brokkoli, ein Becher Joghurt und zwei Tüten Chips.

Rachel rückt näher zu ihm, bis sie den Kopf an seine Schulter legen kann. Drew gibt ihr einen Kuss aufs Haar, zieht den Deckel vom Joghurt ab und leckt ihn sauber.

Die beiden sind bezaubernd. Und widerlich.

An ihn geschmiegt, kommt Rachel sofort zur Sache. »Maegan ist eingeteilt worden, mit dem Schwerverbrecher des Jahrgangs zusammenzuarbeiten.«

Drew schaufelt sich Joghurt in den Mund und folgt ihrem Blick. »Rob Lachlan?«

»Yep.« Sie schaut in die äußerste Ecke der Cafeteria, wo Rob allein an einem Tisch hockt. Er beißt in ein Sandwich, das er gerade aus einer braunen Papiertüte geholt hat, und vor ihm auf dem Tisch liegt aufgeschlagen ein dickes Buch. Im Viel-Lesen holt er mich bestimmt nicht ein, und genauso wenig wird er mich schlagen, wenn es darum geht, wer eine Eins in Mathe bekommt. Eigentlich dachte ich immer, dass er zu den Schülern gehört, deren Noten dank der Spenden der Eltern an die Schule aufgebessert wurden – oder dank seines Talents auf dem Lacrosse-Spielfeld.

»Sein Dad hat sieben Millionen Dollar unterschlagen«, sage ich. »Nicht er.«

»Soweit wir wissen«, entgegnet Rachel.

Sie klingt kaltherzig, aber nur sechs Tische von Rob entfernt sitzt Owen Goettler, ein Junge, dessen alleinerziehende Mom nie viel Geld hatte und die das letzte bisschen, was sie noch besaß, an Robs Vater verloren hat. Owen hat glatte helle Haut ohne jegliche Pickel, worum er vielleicht zu beneiden wäre, wenn nicht das strähnige braune Haar wäre, das ihm bis über den Kragen hängt. Owen knab­bert an einem öden Käsesandwich – eines von denen, die an Schüler verteilt werden, die sich kein richtiges Mittagessen leisten können. Vermutlich passt sein ganzes Zuhause größenmäßig in Robs Wohnzimmer.

Der hat zwar auch keinen Teller mit Delikatessen vor sich, aber mehr als eine Käsescheibe zwischen zwei Scheiben Brot. Ich finde, die beiden sollten gezwungen werden zu tauschen. Nicht bloß das Essen. Sondern alles.

»Nur weil man es nicht beweisen konnte, heißt das nicht, dass er nicht auch Dreck am Stecken hat«, stimmt Drew zu.

»Sein Dad hat versucht, sich umzubringen«, sagt Rachel nun ­leiser.

»Um sich vor dem Gefängnis zu drücken«, grummelt Drew.

»Hat dein Dad nicht Rob zu dem Selbstmordversuch verhört? Oder seine Mom?« Rachel verzieht das Gesicht. »Oder … so ähnlich?«

Ich schweige. Das hatte ich ganz vergessen. Dad redet am Ess­tisch vor der Familie nicht oft über die Arbeit, aber er lädt gern alles bei Mom ab. Die beiden sprechen nicht besonders leise. Manchmal belausche ich sie.

Dad hat Rob zu dem Selbstmordversuch befragt.

Der arme Junge, meinte Dad damals an jenem Abend. Er hat es nicht verdient, ihn so zu finden.

Momentan ähnelt die Aufregung in meiner Familie einem Wes­pennest, aber festzustellen, dass die Schwester schwanger ist, ist nicht damit zu vergleichen, den eigenen Vater zu finden, nachdem der versucht hat, sich zu erschießen.

Ich hole einen Notizblock aus meinem Rucksack und reiße ein Blatt ab. Dann schreibe ich meinen Namen und meine Telefonnummer darauf und falte das Papier.

»Was hast du vor?«, fragt Rachel.

»Ich gebe ihm meine Nummer, damit wir eine Zeit vereinbaren können, um an dem Projekt zu arbeiten.« Ich seufze. »Egal, was er getan hat oder was sein Vater getan hat. Mir kommt es vor, als würde die Hälfte der Lehrer in dieser Schule nur darauf warten, dass ich es wieder vermassele. Aber alles wird gut. Ist ja nur Mathe.«

Als ich mich Rob nähere, schaut er nicht auf. Seine Augen kleben geradezu an dem Buch vor ihm, obwohl es unmöglich ist, dass er mich direkt vor seinem Tisch stehend nicht sieht.

Ich habe Lust, ihm den Zettel ins Gesicht zu werfen.

Mache ich aber nicht. Sondern ich schiebe ihn sachte neben sein Buch. »Hier ist meine Nummer«, sage ich. »Schreib mir eine Nachricht, wann du dich treffen möchtest. Wenn du willst, können wir uns bei dir zu Hause …«

»Nein.« Rob beginnt, die Serviette und die Überreste seines Essens zusammenzuknüllen, und stopft sie in die braune Papiertüte. »Wir können uns bei dir treffen.«

Mein Zuhause ist von einer griesgrämigen Schwester besetzt, die sich rund um die Uhr übergibt. Nein danke. »Ich möchte auch nicht bei mir zu Hause sein.«

»Gut. Meinetwegen.« Endlich schaut er mich an, und das derart tadelnd, als wäre ich diejenige, die alles verkompliziert. Er stopft den Zettel mit meiner Nummer in seinen Rucksack. »Wir können uns auch im Café vom Kaufhaus Wegmans treffen. Ist mir egal.«

Er ist dermaßen feindselig. Ich zögere einen Augenblick und rufe mir unsere bisherige Bekanntschaft in Erinnerung, als hätte ich irgendein wichtiges Detail vergessen. »Schau … ich weiß … ich weiß, ich bin im vergangenen Frühling in Schwierigkeiten geraten, aber ich bin keine Betrügerin. Und ich will wirklich gute Noten haben. Wenn du ein Problem mit mir hast, frag Mrs. Quick, ob du tauschen kannst.« Pause. »Oder ich werde es tun.«

Rob steht auf und wirft sich den Rucksack über die Schulter. »Ich habe kein Problem mit dir. Wenn du den Partner wechseln willst, nur zu«, sagt er mit tiefer, rauer Stimme.

Entweder verliere ich den Verstand, oder es handelt sich um den aalglattesten Versuch von Wortklauberei aller Zeiten. »Nach der Stunde hast du wortwörtlich gesagt, dass du nicht mein Partner sein willst.«

Er zögert. Sein Blick schnellt nach oben. Er denkt an die Situation von vorhin zurück und an das, was er gesagt hat. »Ich meinte nicht dich.«

»Du … hä, was …?«

»Ich meinte nicht dich. Ich meinte, ich will der Partner von niemandem sein.«

Keine Ahnung, was ich darauf antworten soll.

Rob muss annehmen, dass ich fertig mit Reden bin. Er geht vom Tisch weg und wirft seinen Abfall in den Mülleimer. »Wenn du also einen neuen Partner möchtest, bitte schön.«

Ich öffne den Mund. Und klappe ihn zu.

Und wieder verschwindet er, bevor ich auch nur die Spur einer Ahnung habe, was ich eigentlich sagen möchte.

Vor nicht mal einem Jahr habe ich mir zum Mittagessen gekauft, worauf auch immer ich Lust hatte. Ich musste nicht mal bar bezahlen: Ich besaß ein sich automatisch wiederaufladendes Konto, sodass ich in der Cafeteria alles kaufen konnte, ohne auch nur darüber nachzudenken.

Heute diskutiere ich mit mir selbst, ob ich einen Dollar fünfundzwanzig für eine Flasche Wasser verschwenden oder den ganzen Tag das Risiko eines bakterienverseuchten Wasserspenders eingehen sollte. In meinem Portemonnaie steckt zwar ein Fünf-Dollar-Schein, aber die wachsen nicht mehr auf den Bäumen, und ich mag es nicht, Geld von meiner Mom anzunehmen. Ich hasse es, in aller Öffentlichkeit Geld auszugeben. Ob selbst verdient oder von meiner Mutter, ich frage mich dann immer, ob die anderen Leute denken, ich gebe gestohlenes Geld aus.

Also, das habe ich. Damals. Sehr lange Zeit sogar. Ich wusste nichts davon, aber ich habe es getan.

Doch heute habe ich vergessen, mir zu Hause ein Getränk für das Mittagessen einzupacken, und ich bin durstig.

Ich schnappe mir eine Flasche aus dem Regal bei den Kassen und reihe mich schlurfend in die Schlange zum Bezahlen ein. Ich hole das Handy aus meinem Rucksack und spiele ein hirnloses Spiel, damit ich niemanden anschauen muss. Die Schlange bewegt sich in winzigen Schritten voran, wir schieben uns mit jedem Piepen der Kasse ein Stückchen vorwärts.

»Oh, hey, Rob. Soll ich das für dich bezahlen?«

Die Stimme kenne ich. Ruckartig hebe ich den Kopf.

Irgendwie bin ich hinter Connor gelandet. Das zum Thema Kopf einziehen.

Man könnte meinen, sein Angebot wäre aufrichtig gemeint. Sogar warmherzig.

Ist es aber nicht. Er ist ein Arschloch.

»Nein«, antworte ich knapp. Es ist kein Problem, ihm in die Augen zu sehen. Sein Vater ist derjenige, der meinen Dad angezeigt hat. Ziemlich schwer, den Vater des besten Freundes in guter Erinnerung zu behalten, wenn man weiß, dass er einer der Gründe ist, warum mein Dad durch einen Schlauch ernährt werden muss.

Connor zieht einen Zwanzig-Dollar-Schein aus seinem Portemonnaie. Sein Gesichtsausdruck ist entspannt, und sein Tonfall verrät nichts. »Sicher? Ich hab genug.«

Er will mich reizen, zu einem Kampf herausfordern. Verführerisch, vor allem, weil das Adrenalin bereits durch meine Adern pumpt. Am liebsten würde ich meine Hände an seine Brust legen und ihm einen festen Schubs geben. Ihn zu Boden werfen. Mit ihm ringen. Bis Blut fließt. Es wäre schön, all diese Wut irgendwo loszuwerden. Besonders, weil Connor förmlich darum bettelt.

Andererseits gibt es da den Teil von mir, der ihm nicht wehtun möchte. Ein Teil von mir wünschte, dass er wirklich meint, was er sagt.

Nein. Es ist sogar noch übler. Ein Teil von mir vermisst ihn.

Ich hasse diesen Teil.

Mit vierzehn hatten wir diese Dirt Bikes und rasten damit durch die tiefen Wälder von Herald Harbor. In der Gegend regnet es oft, und darum war es dort immer matschig. Einmal haben wir einen Bachlauf falsch eingeschätzt, und Connor blieb mit den Rädern seines Bikes im Matsch stecken. Er flog vom Rad. Fußgelenk verstaucht und Arm gebrochen. Komplizierte Fraktur. Der Knochen ragte aus der Haut. Es war das Entsetzlichste, was ich je gesehen habe.

Na ja. Bis zu diesem Februar.

Aber davor schon. Connor kotzte sich überall voll. Er konnte nicht aufhören, zu weinen und sich zu erbrechen.

Mein Handy hatte kein Netz. Ich erinnere mich, wie Connor seine Finger derart fest in meinen Unterarm krallte, dass die Nägel meine Haut durchbohrten. Er war leichenblass und zitterte. »Lass mich nicht allein hier zurück, Rob. Bitte lass mich nicht zurück.«

Ich ließ ihn nicht zurück. Ich schleppte ihn eine halbe Meile weit, bis wir endlich Handyempfang hatten.

Nachdem ich meinen Vater gefunden hatte, habe ich über diesen Moment im Wald viel nachgedacht. Nachdem die Cops und Sani­täter wieder gegangen waren und unser Haus nach Blut und Erbrochenem roch. Wie ich da Connor angerufen habe, obwohl ich wusste, dass seine Familie meine verachtete. Doch ich hatte niemand anderen, mit dem ich sprechen konnte.

Er ging nicht ans Telefon.

Schluchzend hinterließ ich eine Nachricht auf seiner Voicemail.

Er rief mich nie zurück.

Jetzt steht er vor mir und macht mir wegen einer blöden Flasche Wasser das Leben schwer, während sich auf seinem Tablett das Essen nur so stapelt.

Vielleicht vermisse ich ihn überhaupt nicht.

Ich setze einen entschlossenen Blick auf. »Ich hab selbst Geld.«

»Okay, wenn du dir da sicher bist.« Er grinst, dreht sich wieder nach vorn und schiebt das Portemonnaie in die hintere Hosen­tasche.

Er hat offenbar nicht all sein Geld im Portemonnaie, denn ein Zehn-Dollar-Schein hängt oben locker aus der Tasche und flattert auf einmal zu Boden, direkt vor die Spitze meines Sneakers.

Ich starre das Geld an. Ist das eine Falle? Ein Trick? Ich will den Schein nicht aufheben. Wenn ich ihn aufhebe, muss ich ihn Connor zurückgeben, weil ich nicht möchte, wie man mich dabei beobachtet, dass ich ihn vom Boden grapsche und in meine Tasche stopfe.

Hast du gesehen, wie Rob Lachlan in der Cafeteria zehn Mäuse gestohlen hat? So typisch.

Yep, genau das fehlte mir noch. Ich habe schon genug Stress mit Maegan Day, weil ich wegen unserer Zusammenarbeit nicht vor Freude Konfetti in die Luft geworfen habe.

Ich nehme den Schein vom Boden und drehe ihn zwischen den Fingern. Dann bezahle ich die Flasche Wasser mit meinem eigenen Geld. Als ich mein Wechselgeld habe, folge ich Connor.

»Hey«, rufe ich. »Connor.«

Er ist bereits an dem Tisch mit unserer alten Clique angekommen, aber ich beachte die anderen gar nicht. Connor setzt sein Ta­blett ab und dreht sich zu mir um. Er macht ein misstrauisches Gesicht, als befürchte er, zu weit gegangen zu sein und sich nun von mir eine einzufangen.

Einer kleinen, finsteren Ecke in mir gefällt das.

»Was?«, fragt er.

»Du hast das hier verloren.« Ich halte ihm den Schein hin.

Er wirft einen Blick darauf und schaut mir dann wieder ins Gesicht. Alle am Tisch hinter ihm verstummen. Beobachten aufmerksam die Szene.

Der Symbolcharakter der Angelegenheit bleibt auch mir nicht verborgen.

Der stille Moment ist vorbei. Connors Augen verdunkeln sich. »Behalt es«, meint er schnodderig. »Bezahl damit eure Anwaltsrechnungen.«

Dann dreht er sich um und setzt sich auf eine der Bänke am Tisch. Ich bin entlassen. Keiner schaut mich mehr an.

Ich schließe die Faust um den Geldschein. Ich will verdammt sein, hier nur rumzustehen, um ihm das Geld zurückzugeben. Ich wünschte, ich hätte das Wasser nicht gekauft. Ich wünschte, ich hätte nicht in dieser Schlange angestanden. Ich wünschte, ich hätte nicht nur drei Dollar und fünfundsiebzig Cent für den Rest der Woche.

Ich wünschte, ich würde nicht derart verzweifelt das Geld be­halten wollen.

Ich wünschte eine Menge Dinge.

Nichts davon geht in Erfüllung.

Als ich kehrtmache, glüht mein Gesicht. Ich begebe mich in die äußerste Ecke der Cafeteria. Maegan und ihre Freunde sind gegangen. Die Flügeltüren hier führen nicht nach dort, wo ich als Nächstes hinmuss, aber ich habe keine Lust, jemandem zu begegnen, den ich kenne.

Owen Goettler sitzt immer noch allein an einem Tisch. Seine Mutter gehört zu den vielen Menschen, die meine Familie verklagt haben. Owen reißt sein Käsesandwich in winzige Stücke. Damit er mehr davon hat, nehme ich an. Er hat mir gegenüber nie ein Wort verloren. Ich habe ihm gegenüber nie ein Wort verloren.

Ich lege den Geldschein vor ihm auf den Tisch. »Hier«, sage ich. »Kauf dir was Ordentliches zu essen.«

Und bevor ich seine Reaktion hören oder meine Meinung ändern kann, stoße ich die Flügeltüren der Cafeteria auf und verschwinde dahinter in einem leeren Gang.

Als ich von der Schule nach Hause komme, ist Samantha im Garten hinter dem Haus. Sie hält einen blauen Lacrosse-Schläger in der Hand und schlägt Bälle gegen das Trampolin in der hintersten Ecke. Ihre Bewegungen sind mühelos und fließend. Der Ball beschreibt einen sauberen Bogen, fliegt gegen die elastische Fläche und springt von dort zurück ins Netz ihres Schlägers. Sie schlägt ihn aus allen erdenklichen Winkeln, aber der Ball findet immer wieder zu ihr zurück.

Ich stehe an der Schiebetür und sehe eine Weile zu. Sie trägt eine Strickmütze über ihrem blonden Haar, dessen Spitzen den Kragen ihres königsblauen Duke-Sweatshirts berühren. Sie ist ein Jahr älter als ich. Ich erinnere mich, vor Jahren genauso hier gestanden zu haben. Damals sah ich zu, wie sie bis spätabends trainierte, um es in ihrem ersten Jahr an der Highschool in die Schulauswahl zu schaffen.

Sie schaffte es ins Auswahlteam. Sie schaffte alles. Sie war der Star der Familie. Egal, wie viel Mühe ich mir gab, nie konnte ich mit­halten.

Ich frage mich, ob sie ihr Stipendium verlieren wird. Das Geld fürs College ist abhängig davon, dass sie spielt. Zu den Wettkämpfen im Frühling wird man sie wohl nicht mitnehmen. Es könnte auch ein bisschen seltsam aussehen, wenn eine schwangere Athletin übers Spielfeld sprintet.

Meine Schwester mit einem Lacrosse-Schläger zu betrachten erinnert mich an Rob Lachlan. Dad sagt immer, dass Kinder nicht für die Fehler ihrer Eltern verantwortlich sind – aber wenn er einen Teenager aufgreift, der was angestellt hat, dann sagt er auch, man könne leicht sehen, wo er das gelernt habe. Robs Vater hat den ­Familien in der Stadt Millionen gestohlen. Selbst wenn Rob davon nichts wusste, müssen seinem Vater alle anderen gleichgültig gewesen sein. Sonst wäre er wohl nicht in der Lage gewesen, Leute zu bestehlen – von denen einige sowieso kaum noch etwas besaßen. Diese Einstellung muss er seinem Sohn doch irgendwie weiterge­geben haben, oder nicht?

Ich muss an Robs Stimme denken, als er sagte: Ich will der Partner von niemandem sein.

Hatte das gleichgültig geklungen? Oder nach irgendwas anderem? Ich weiß es nicht.

Jetzt seufze ich und öffne die Schiebetür ganz. Samantha dreht sich nicht um. Der Ball fliegt weiter gegen das Trampolin und zurück.

»Sieht aus, als würde es dir besser gehen«, sage ich.

Sie antwortet nicht. Der Ball fliegt weiter seine Runden. Ich frage mich, ob Samantha mir leidtun sollte. Aber wie Rob macht sie es einem nicht leicht. Seit sie zu Hause ist, ist sie so schnippisch.

Allerdings bin ich das auch.

»Hast du Lust, mit mir zu trainieren?« Ich bin nicht so gut wie sie, aber ich spiele gut genug, um ihr mehr Abwechslung zu bieten als die gerahmte Gummifläche.

»Ich will jetzt eigentlich keine Gesellschaft.«

Ihre Stimme klingt scharf, und da ist noch ein Unterton, den ich irgendwie nicht einordnen kann. Trotz allem, was zwischen uns passiert ist – sie ist immer noch meine Schwester.

»Geht es dir gut?«

Sie antwortet nicht.

Ich trete von den Stufen der Veranda hinab auf das knirschende Laub im Garten. »Sam?«

Immer noch nichts. Als ich neben ihr stehe, kann ich die getrockneten Tränenspuren in ihrem Make-up erkennen.

Meine Schwester weint selten. Einmal hat sie sich die Schulter ausgekugelt, und damals blaffte sie die Sanitäter selbst auf dem Lacrosse-Feld liegend noch an.

Ein kalter Schauer überläuft mich. Ich erinnere mich an Moms Stimme heute Morgen, als sie meinte, meine Schwester überlege noch, was sie wegen des Babys tun soll.

Hat sie eine Abtreibung machen lassen? Ohne auf jemanden zu warten, der sie begleitet? Mom und Dad sind noch bei der Arbeit, um Himmels willen. Und ich war doch nur sechs Stunden weg.

Aber das würde Samantha ähnlich sehen. Dass sie eine Entscheidung trifft und umsetzt, ohne vorher irgendwem zuzuhören.

»Was ist passiert?«, frage ich leise.

»Ich hab dir doch schon gesagt, dass ich keine Gesellschaft will«, sagt sie. »Aber anscheinend interessiert niemanden, was ich will.«

»Sam. Möchtest du … möchtest du, dass ich Mom anrufe?«

»Nein. Oh Gott. Nein.« Sie fährt sich mit der Hand übers Gesicht. »David hat mich blockiert«, sagt sie noch.

David. Dann hat es also nichts mit dem Baby zu tun. »Wer ist David?« Aber als ich das sage, ist mir schon klar, wie blöd ich bin. »Oh. Oh

Sam wirft mir einen Blick zu. »Yep.« Sie wischt sich erneut über die Wangen. »Er ist der Vater.«

Ich schlucke. »Und er hat dich blockiert?«

»Überall.« Der Ball fliegt mit abrupter, wütender Wucht gegen das Trampolin. »Ich kann ihn nicht anrufen, ihm keine Nachricht schreiben. Ich bin in den sozialen Medien komplett blockiert. Blockiert.«

Ich habe so viele Fragen. »Weiß … weiß er es?«

Der Ball landet in ihrem Netz, und sie hält inne, um mich mit unverhohlener Verachtung anzustarren. »Ja, Maegan. Er weiß es. Natürlich.«

Ich weiche einen Schritt zurück. Schlucke. »Dann … habt ihr euch getrennt?«

»Keine Ahnung. Ich weiß nicht, was los ist.« Ihre Stimme bricht. »Ich wusste nicht … Ich weiß nicht, was ich machen soll.«

»Mit David?«, frage ich zögernd. Seit einiger Zeit weiß ich nur noch wenig über das Leben meiner Schwester. Sie erzählt mir überhaupt nichts mehr. »Oder mit dem Baby?«

»Ich weiß bei beidem nicht, was ich machen soll.« Dann lässt sie den Schläger fallen und drückt die Fingerspitzen auf ihre Augen.

»Bist du sicher, dass ich nicht Mom holen soll?«

»Nein.« Sie reagiert überraschend böse. »Ich kann jetzt nicht mit ihr reden. Und Dad … Dad ist dermaßen enttäuscht …«

Keine Ahnung, was ich machen soll. Früher haben wir alles zusammen unternommen. Als Samantha gerade ihren Führerschein hatte, fuhr sie mich andauernd überallhin. Ins Kino. In die Eisdiele. Zum Essen, wo wir so taten, als wären wir erwachsen, uns einen schönen Abend machten und dafür die letzten Dollar aus unseren Portemonnaies fischten.

So was haben wir seit einer Ewigkeit nicht mehr gemacht. Sogar Sam hat sich von mir distanziert, als ob meine Vergehen sonst irgendwie auf sie abgefärbt hätten.

Jetzt weint meine Schwester richtig und hat das Gesicht in den Händen vergraben.

Ich hole tief Luft. »Möchtest du irgendwohin abendessen gehen?«

Sie nimmt die Hände herunter. »Echt jetzt?«

Zum ersten Mal, seit sie am Freitag nach Hause gekommen ist, klingt sie verletzlich. Samantha, die auf dem Lacrosse-Feld so wild auftritt, dass sie sich den Spitznamen »Schakal« verdient hat.

Rachel und ich nannten sie früher »The Dog«, aber das braucht Samantha nicht zu wissen.

»Yep.« Ich sehe in ihr verquollenes, tränenüberströmtes Gesicht. Dann strecke ich die Hand aus und drücke ihren Arm. »Echt jetzt.«

Als Kinder war Taco unser Lieblingslokal, aber inzwischen waren wir schon seit Jahren nicht mehr dort. In meiner Erinnerung ist das Restaurant groß und laut und voller Lachen. Ein Ort der Wärme und Geborgenheit. Als ich es heute betrete, kommt mir das Restaurant klein und vollgestopft vor, mit gesprungenen bemalten Kacheln an der Wand und aufgeplatzten Kunstlederbänken. Das warme, familiäre Gefühl ist weg, und ich frage mich, ob es überhaupt je zum Lokal gehörte oder ob wir es damals mitbrachten.

Andererseits ist es noch nicht mal fünf. Das Lokal ist fast leer.

Unser Kellner ist ein Junge namens Craig. Er ist süß wie ein Küken: irgendwie flauschig und lebhaft. Er hat sogar orange-blondes Haar, das ihm büschelweise vom Kopf absteht. Erst denke ich, es wäre gefärbt, aber die rötlich-orangen Bartstoppeln an seinem Kinn verraten mir, dass es wahrscheinlich seine natürliche Haarfarbe ist.

Der Blick seiner himmelblauen Augen wandert immer wieder zu Samantha. Unglaublich.

Sie tut absichtlich so, als bemerke sie es nicht. »Ich nehme die Enchiladas«, sagt sie, gähnt und gibt ihm die Speisekarte zurück. »Und eine Cola light.« Sie nimmt keinen Blickkontakt auf.

»Ich nehme die Flautas mit Hühnchen.« Bewusst sehe ich ihn an und weiß zu schätzen, dass er nicht zu beschäftigt damit ist, meine Schwester anzubaggern, um meinen Blick aufzufangen. »Und eine Sprite.« Auch ich reiche ihm die Karte zurück.

»Bringe ich euch sofort«, sagt er.

Samantha reibt sich mit den Händen übers Gesicht und legt sie dann auf die Tischplatte.

»Es ist so schön, mal aus dem Haus und irgendwohin zu kommen, wo mich keiner kennt.«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass Craig dich gern kennenlernen würde.«

Sie rümpft die Nase. »Wer ist Craig?«

Das ist so typisch für sie. »Unser Kellner.«

»Oh. Ja. Ich glaube, wir haben zusammen unseren Abschluss gemacht. Irgend so was.« Sie zieht sich das Haargummi aus den Haaren, und die goldene Mähne fällt ihr über die Schultern. Sie schüttelt sie aus.

Craig steht gerade an der Zapfanlage und starrt sie derart lange an, dass schon Cola über seine Hand läuft. Er flucht und beeilt sich, die Flüssigkeit aufzuwischen.

Ich schnaube. »Sieht eindeutig nach irgend so was aus.«

Schon verfinstert sich ihre Miene komplett. »Wovon redest du überhaupt?«

Vielleicht bekommt sie tatsächlich nichts davon mit. »Vergiss es.«

Craig kommt mit unseren Getränken und serviert sie wortlos.

Meine Schwester sieht ihn kaum an.

»Danke schön«, sage ich demonstrativ.

Sie nippt an ihrem Glas, und er verschwindet wieder.

»Du bist ein bisschen unfreundlich«, flüstere ich ihr zu.

»Ich bin schwanger. Da darf ich das.«

Ich frage mich, wie oft sie das in den nächsten neun Monaten wohl noch sagen wird.

Ich trinke von meiner Sprite und muss daran denken, wie sie vorhin geweint hat. »Dann war David dein Freund?«, frage ich leise.

Aus ihren Augen verschwindet jede Arroganz. Es bleibt nur Traurigkeit. »Das dachte ich.« Pause. »Ich dachte …«

Sie verstummt und schluckt. Ihr Blick verschleiert sich wieder.

Schon will ich meine Hand auf ihre legen, fürchte aber, dass sie ihre dann wegreißt. »Was dachtest du?«

»Ich dachte, er würde eines Tages vielleicht sogar mehr sein.« Schniefend tupft sie sich mit der Getränkeserviette die Augen trocken. »Ich glaube, ich bin ganz schön reingefallen. Weil ich so blöd bin.«

»Du bist nicht blöd, Sam …«

»Doch, bin ich. Ich hätte mich aufs Lernen konzentrieren sollen. Ich hatte mir vorgenommen: keine Jungs. Und dann lernte ich ihn kennen, und alle guten Vorsätze waren weg. Jetzt bin ich schwanger und kann nicht spielen. Selbst wenn ich das Schuljahr noch zu Ende bringe, werden die mein Stipendium niemals verlängern.« Sie wischt sich wieder über die Augen. »Ich habe einen Verhaltenskodex unterschrieben. Darin war solches Fehlverhalten explizit erwähnt.«

Rasch blicke ich zu den Schwingtüren, die in die Küche führen, aber Craig ist nirgends zu sehen. Trotzdem spreche ich leise weiter. »Du darfst doch Sex haben, Samantha.«

Sie verzieht das Gesicht, als würde sie gleich wieder in Tränen ausbrechen, aber sie fängt sich wieder und holt tief Luft. So habe ich meine Schwester noch nie erlebt: verzweifelt und verletzlich. Das Schweigen zieht sich in die Länge, bis ich mir nicht mehr sicher bin, ob sie oder eigentlich ich etwas sagen sollte.

»Warst du schon lange mit ihm zusammen?«, frage ich leise, obwohl ich weiß, dass es nicht so lange sein kann, denn schließlich ist sie erst seit Mitte August auf dem College.

»Fast drei Monate.« Sie tupft sich wieder mit der Serviette die Tränen weg.

»Warum, glaubst du, hat er dich blockiert?«

»Was glaubst du denn?«, gibt sie schnippisch zurück. »Weil er nichts mit diesem Baby zu tun haben will.« Tiefes Luftholen. »Er sagt, es wäre nicht von ihm. Ist es aber. Muss es sein.«

»Ist er der Einzige?«

Sie wischt sich noch mal über die Augen. »Er ist der Einzige. Und der Erste.«

Ich zwinge mich, die Augen nicht vor Staunen aufzureißen. Früher, als wir uns noch nahestanden, haben wir über Jungs geredet. Als wir uns in ihrem Zimmer versteckten, nachdem Mom schon gerufen hatte, wir sollten das Licht ausmachen. Sam ist so energisch und kontaktfreudig, dass ich immer dachte, sie hätte ein halbes Dutzend Jungs am kleinen Finger.

»Ich habe so hart gearbeitet, weißt du?«, sagt sie. »An der Highschool hätte ich jeden Typen kriegen können, den ich wollte. Aber ich habe allen einen Korb gegeben. Ich wollte die Beste sein. Und das war ich auch.« Sie presst die Fingerspitzen auf ihre Augen und seufzt. »Und jetzt habe ich alles weggeworfen.«

Sie holt wieder tief Luft und sieht mich über ihre Fingerspitzen hinweg an. »Was würdest du machen?«

Ich erstarre. Ich glaube nicht, dass meine Schwester mich schon jemals nach meiner Meinung gefragt hat. Zu nichts. Nicht mal früher. Samantha weiß, was sie will, und setzt alles daran, es auch zu bekommen.

Sie nimmt die Hände vom Gesicht. »Du weißt es auch nicht, oder?«

»Nein«, flüstere ich.

Craig erscheint mit unserem Essen, und Samantha verstummt. Er muss die Anspannung spüren, denn er stellt nur schweigend die Teller hin und verzieht sich gleich wieder. Das Essen ist dampfend heiß und duftet intensiv nach Koriander.

Ich schiebe mein Essen auf dem Teller herum. »Möchtest du mein Handy benutzen, um ihn anzurufen?«

Samantha hebt ruckartig den Kopf. »Was?«

»Also. Ich meine nur. Ich bin nicht blockiert.«

Sie sticht mit der Gabel in ihr Essen und nimmt einen Bissen. »Das ist ein bisschen hinterhältig.«

Ich bin mir nicht sicher, ob sie es beleidigend meint, auch wenn es so klingt. »So bin ich eben«, sage ich tonlos. »Mache nichts als Ärger.«

Entweder ignoriert sie meinen Sarkasmus, oder sie hat ihn nicht mitbekommen. Sie streckt mir eine Hand hin. »Hier. Gib es mir.«

Das tue ich. »Du willst ihn jetzt anrufen? Hier im Restaurant?«

»Nein. Ich checke nur sein Instagram.«

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