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Das Weihnachtskleid

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Weihnachten in Chicago: ein zauberhaftes Kleid, ein attraktiver Handwerker und die große Liebe

Nach dem Tod ihres Vaters erbt die junge Modejournalistin Meg ein Haus in Chicago – kurz vor Weihnachten zieht sie dorthin, um sich die verschiedenen Anliegen der Mieterinnen und Mieter des Gebäudes zu kümmern, wie es ihr Vater jahrelang getan hatte. Innerhalb kürzester Zeit wachsen ihr die meist älteren Bewohnerinnen und Bewohner wider Erwarten sehr ans Herz, und besonders der Handwerker Logan lässt ihr Herz höher schlagen. Doch dann findet ein Kleid, das jeder Trägerin Glück zu bringen scheint, seinen Weg zu ihr. Wird Meg hier nicht nur die große Liebe, sondern auch eine Zukunft für sich als Modedesignerin finden?


  • Erscheinungstag: 27.09.2022
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365001110

Leseprobe

An meine Lektorin Tessa:
Ich werde dich dazu bringen, Weihnachten zu lieben.

Kapitel 1

»Du darfst mich nicht einfach hier allein lassen«, flüstert meine beste Freundin ins Telefon. Sie klingt beschwörend und entsetzt. Im Hintergrund höre ich, wie Lillianna Cox, die schlimmste Chefin der Welt, einen ihrer legendären Wutanfälle zelebriert.

»Und ob. Das ist das einzig Gute an dieser ganzen vertrackten Situation. Ich muss mir das nie wieder anhören.«

Das ist wohl nicht die Antwort, die Cassie hören will.

»Meghan Ann Julliard! Du steigst jetzt sofort wieder ins Flugzeug und kommst zurück nach New York. Ich schaffe das nicht allein. Ich habe läuten hören, dass sie uns an Heiligabend Überstunden machen lässt, und sie notiert sich jeden, der Silvester nicht zu ihrer Party erscheint. Dann …«

Sie bricht ab, die Leitung ist tot. Vermutlich hat Lillianna sie erwischt. Persönliche Telefonate sind bei Stitch verboten, und da es sich um das derzeit angesagteste Modemagazin handelt, findet sich jeder mit jeder Regel und der schlimmsten Chefin der Welt ab, nur um dort arbeiten zu dürfen. Ich selbst habe vier Jahre lang versucht, in diese Redaktion reinzukommen … und ein knappes halbes Jahr später, voilà: Ich lasse es hinter mir.

Deshalb sehe ich jetzt, als ich in der Hochbahn sitze und den Himmel über Chicago vorbeiziehen sehe, nicht die fröhlichen Lichter, die festlich geschmückten Bäume oder das Winterwunderland, das andere vielleicht sehen.

Ich sehe meine Hoffnungen und Träume zusammen mit dem schlammigen Straßenmatsch durch den Gulli rauschen.

Ich lehne die Stirn an das Fensterglas. Die Kälte sickert in meine Haut, und mein Atem beschlägt das Glas.

So hart habe ich gearbeitet, nur um am Ende von Lillianna angeschrien zu werden. Ich habe ihr Kaffee geholt, Besorgungen für sie erledigt, blieb bis spät in die Nacht in der Redaktion, um seichte Modekritiken zu schreiben, habe mich mit launischen Models herumgeschlagen … alles unbedeutende Dinge angesichts des Ziels, Kontakte zu knüpfen, um eines Tages mein eigenes Modehaus zu eröffnen.

Es war nur ein Augenblick, ein Sekundenbruchteil, in dem das Herz meines Vaters aufhörte zu schlagen und sich meine ganze Welt veränderte. Ich vermisse ihn. Und ich vermisse mein Leben in New York. Ich vermisse es, meine eigenen Träume zu haben. Selbst der knallrote Weihnachtskaffeebecher in meiner Hand kann meine Laune nicht heben. Der Zug kommt ruckartig zum Stehen, und ich ziehe den Griff meiner Reisetasche heraus. Leider ramme ich mir dabei den Becher gegen die Brust, der Deckel löst sich und der Kaffee ergießt sich wie ein riesiger brauner Blutfleck über meinen schneeweißen Lieblingsmantel.

Das soll wohl ein Scherz sein!

Ich habe keine Zeit zum Ärgern, gleich schließen sich die Türen, also stolpere ich hinaus, meine riesige Reisetasche im Schlepptau.

Ich stehe an der Ecke Park und Westwood, begutachte den Schaden und atme tief durch.

Mein Mantel ist wahrscheinlich ruiniert.

Mein Leben ist wahrscheinlich ruiniert.

Übersehe ich etwas?

Ich trete auf den Bordstein und bemerke, dass meine weißen Keilstiefel mit Schlamm bespritzt sind.

Meine Stiefel sind auch ruiniert.

Super.

Ich straffe die Schultern und bleibe stehen. Der kalte Wind weht mir durch die Haare, und ich starre auf das verblasste Schild an dem Apartmentgebäude vor mir, das Gebäude, in das mein Vater über vierzig Jahre lang sein Herz und seine Seele gesteckt hat.

Parkview West.

Ich bin sehr lange nicht mehr hier gewesen. Dieser Ort birgt so viele traurige Erinnerungen an meine Familie, Erinnerungen, die ich nur ungern hochkommen lasse. Deshalb musste mein Vater mich in den letzten Jahren zweimal jährlich in NYC besuchen. Um mich nicht zu zwingen, hierherzukommen. So sehr liebte er mich.

Seufzend zerre ich meine Tasche durch die schweren Doppeltüren.

Die Lobby ist noch genauso, wie ich sie in Erinnerung habe. Verblasst, wie der Rest des Hauses. Verblasste beige Möbel, verblasste künstliche Blumen, und am Weihnachtsbaum in der Ecke sind ein paar Birnen kaputt. Die Gewölbedecke der Lobby ist prachtvoll, aber auch wenn das ganze Gebäude an Chicagos glorreiche Zeiten erinnert, ähnelt es auch einer schönen Frau, die in die Jahre gekommen ist und verwelkt.

Was irgendwie passt, wenn man an die meisten Mieter denkt, die hier leben. Ich zucke zusammen. Es stimmt zwar, die meisten Bewohner sind tatsächlich recht betagt, trotzdem war es gemein, so etwas zu denken.

Ich stelle die Tasche ab und höre das Knistern einer Schallplatte. Bing Crosby.

»Hallo?«, ruft eine dünne Stimme von hinten. »Ich komme gleich. Ich muss nur noch an dieses … Oh, nein!«

Es knallt irrsinnig laut, und ich laufe um den Tresen herum.

Eine ältere Dame mit lila Haaren (leuchtend lila, nicht dieses missglückte Silbergrau-Lila) liegt auf zerquetschten Kartons und reibt sich die Hüfte.

»Das gibt einen blauen Fleck«, murmelt sie. Dann sieht sie mich mit trüben Augen streng an. »Sie haben hier hinten nichts zu suchen. Das verstößt gegen die Regeln.«

Ich reiche ihr die Hand und helfe ihr auf. »Ist schon gut. Ich verrate Ihrem Chef nichts.«

»Das können Sie auch nicht. Er ist letzten Monat gestorben. Ich fürchte, Sie müssen mit mir vorliebnehmen. Kann ich Ihnen helfen?«

Ihre rote Brille sitzt schief auf ihrer Nase, und ich kann mich nur mit Mühe davon abhalten, sie zurechtzurücken.

»Geht es Ihnen wirklich gut?« Ich habe meine Hand immer noch an ihrem Ellbogen.

»Ja, nichts passiert.« Sie hebt das Kinn. »Ich helfe nur aus, bis die neue Besitzerin hier auftaucht. Eigentlich sollte sie schon letzte Woche eintreffen, aber es ist ihr wohl etwas Wichtigeres dazwischengekommen«, sagt sie abfällig und mustert mich. »Wollen Sie jemanden besuchen? Wenn Sie nicht auf der Liste stehen, kann ich Sie nicht reinlassen.«

Ihre lila Locken sind starr vor Haarspray.

Ich halte inne. Wurde ich gerade von jemandem beleidigt, der eine rot-lila karierte Hose trägt?

»Ich bin Meghan Julliard. Die neue Eigentümerin.« Ich strecke meine Hand aus. »Und Sie sind …«

»Sylvie Reinhart.« Das kommt wie aus der Pistole geschossen und klingt streng. Dabei ignoriert sie völlig, dass sie mich gerade beleidigt hat. »Ich habe den Laden hier am Laufen gehalten, während Sie sich mit Ihrem Auftauchen Zeit gelassen haben.«

Sie mustert mich von oben herab, dabei ist sie höchstens 1,50 m groß. Auf ihrem T-Shirt steht: Ich bin nicht klein, ich bin nur eine große Elfe. »Was hat Sie so lange aufgehalten? Wir hätten Sie hier gebraucht.«

»Ich hatte … noch einiges zu erledigen«, stammele ich. »Man kann nicht einfach alles stehen und liegen lassen und umziehen. Ich musste einen Nachmieter finden, meinen Job kündigen, ich musste … meine Güte! Warum entschuldige ich mich überhaupt? Jetzt bin ich ja hier!«

»Und das wären Sie lieber nicht«, stellt Sylvie wissend fest und verschränkt ihre schmalen Arme vor der Brust.

»Ist das wichtig?«

»Für mich nicht. Das hier gehört jetzt alles Ihnen. Das Lebenswerk Ihres Vaters.« Sie kramt in ihrer Tasche und reicht mir einen Schlüssel. »Damit lässt sich die mittlere Schreibtischschublade öffnen. Darin liegt eine Liste mit sämtlichen Passwörtern«, teilt sie mir mit, wendet sich ab und will hinausgehen.

»Sylvie?«, rufe ich ihr nach.

Sie bleibt stehen, ohne sich umzudrehen. »Nein. Ich habe keine Zeit, Sie in alles einzuweisen. Sie hätten letzte Woche kommen sollen. Ich muss jetzt Weihnachtseinkäufe erledigen.«

»Sie haben Toilettenpapier unterm Schuh«, sage ich matt.

Sie blickt hinab und sieht den langen Papierstreifen, den sie hinter sich herzieht. Mit einem Räuspern streift sie ihn ab, rauscht dann entrüstet davon und lässt das Papier einfach liegen.

Ich atme tief durch und sehe mich im Büro um.

Mein Vater ist hier allgegenwärtig.

Die Uhr über der Tür geht zehn Minuten nach. Das braune Leder des alten Bürostuhls ist rissig. Pralle Aktenordner sind unsortiert in eine offene Schreibtischschublade gestopft, und die Kartons in den Regalen quellen über. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich ihn fast vor mir, wie er am Schreibtisch zwischen gefährlich schwankenden Papierstapeln mit seinem unvermeidlichen Becher schwarzen Kaffees hockt.

»Ich vermisse dich, Dad«, flüstere ich traurig. Ich setze mich an den Schreibtisch, und der alte Stuhl ächzt unter meinem Gewicht. Das ist eine Unverschämtheit, bedenkt man, dass ich immer noch in der Jugendlichenabteilung einkaufen kann. Ich hebe den Arm des Plattenspielers von der Schallplatte, und als Bing aufhört zu singen, lasse ich meinen Kopf auf die Tischplatte sinken.

So verharre ich ein paar Minuten, bis sich jemand an der Tür räuspert.

Ich hebe den Kopf. Ein gut gekleideter älterer Herr beobachtet mich. Er wartet geduldig, und nur Gott weiß, wie lange er schon dort steht. Er trägt sogar eine Fliege, und … ist das eine Taschenuhr?

»Kann ich Ihnen helfen?« Ich stehe auf.

»Sie müssen Meg sein«, antwortet er herzlich und streckt mir die Hand entgegen.

»Bin ich.«

»Ich bin Tom Rutherford aus 104. Ihr Vater hat ständig von Ihnen gesprochen, junge Lady. Ich habe das Gefühl, als würde ich Sie schon kennen.«

Ich lächle. »Ich hoffe, er hat Sie damit nicht zu sehr gelangweilt.«

»Aber natürlich nicht. Er hat mich mit Ihren Eskapaden in New York City unterhalten. Haben Sie jemals den Winterstiefel gefunden, den Sie in der U-Bahn verloren haben?«

Ich betrauere den Stiefel mit dem Monogramm eine Sekunde, bevor ich den Kopf schüttle. Sie stammten aus einer speziellen Weihnachtsedition vom letzten Jahr, und ich werde nie einen passenden Ersatz bekommen.

»Nein, leider nicht. Aber das ist mir recht geschehen, und ich habe etwas daraus gelernt.«

Er wartet.

»Trinken Sie nie mit Freundinnen vier Cosmopolitans nach der Arbeit.«

Tom lächelt. »Sehr weise, Ms. Julliard.«

»Bitte nennen Sie mich Meg.«

»Danke, Meg«, antwortet er. »Ich möchte Sie an Ihrem ersten Tag nicht gleich überrumpeln, aber es gibt ein Problem: Ich habe immer noch kein warmes Wasser. Sylvie hat mir letzte Woche zwar gesagt, sie hätte die Reparatur veranlasst, aber, und das werden Sie sicher auch feststellen, Sylvie ist manchmal vergesslich, und ich bin mir nicht sicher, ob sie tatsächlich die Handwerker angerufen hat. Könnten Sie das überprüfen?«

»Natürlich!« Ich suche einen Notizblock. »Sie wohnen in 104

Er nickt. »Es ist in der hinteren Ecke des Innenhofs.«

»Beste Lage«, bemerke ich, während ich seinen Namen und seine Wohnungsnummer notiere. Er grinst.

»Ich stand zwei Jahre lang auf der Warteliste für diese Wohnung. Mrs. Bertram war wirklich sehr langlebig. Möge sie in Frieden ruhen.« Er bekreuzigt sich.

»Möge sie in Frieden ruhen«, wiederhole ich, obwohl ich sie nicht kannte. »Wie lange muss Sylvie schon für mich einspringen, Mr. Rutherford?«

»Tom, bitte«, sagt er. Ich nicke. »Hat sie Ihnen gesagt, dass sie einspringt? Sie hat schon immer versucht, Ihrem Vater zu helfen, ob er wollte oder nicht. Unter uns gesagt, ihre ›Hilfe‹ verursacht für gewöhnlich unter dem Strich meist mehr Arbeit, aber sie meint es gut.«

»Sie hat also meinem Vater geholfen?«

»Ja. Wenn Sie etwas über jemanden wissen wollen, fragen Sie Sylvie. Sie ist über alles auf dem Laufenden.«

»Nur ist sie im Moment sicher nicht mein größter Fan«, gebe ich zu. Er lächelt sanft.

»Sie bellt nur, aber sie beißt nicht. Sie hat keine Familie, und Ihr Vater war alles, was sie hatte. Sie hat ihn sehr beschützt.«

»Er war mein Vater«, antworte ich gedehnt. »Es gibt keinen Grund, ihn vor mir zu beschützen.«

»Sie ist eben etwas Besonderes.« Tom zuckt mit den Schultern. »Sie werden schon sehen.«

»Jedenfalls vielen Dank«, sage ich. »Ich weiß diese Vorwarnung zu schätzen. Und ich schicke so schnell wie möglich einen Klempner zu Ihnen.«

»Danke, Meg.« Er zwinkert mir zu, freundlich, nicht anzüglich. »Schön, Sie endlich kennenzulernen.«

»Gleichfalls.«

Er verschwindet und hinterlässt eine Wolke Old Spice. Ich finde den Duft tatsächlich beruhigend, erinnert er mich doch auch an meinen Vater.

Tränen treten mir in die Augen, ich habe nicht damit gerechnet, schon so früh am Tag sentimental zu werden. Dabei war ich noch nicht einmal oben in seiner … ich meine meiner … Wohnung.

»Ach, und, Meg?«, ruft Tom aus der Lobby. Ich strecke meinen Kopf aus dem Büro. »Der Aufzug ist auch kaputt. Im Moment sitzt zwar niemand im Rollstuhl, aber das kann sich ja schnell ändern. Er müsste ebenfalls repariert werden.«

Dann verschwindet Tom im Flur. Obwohl ich nicht mehr hier war, seit ich mit achtzehn mein Studium begonnen habe, weiß ich noch, dass dieses Gebäude sechs Etagen hat. Meine Wohnung liegt im obersten Stock. Und der Aufzug funktioniert nicht.

Früher sind meine Schwester und ich zum Spaß diese Treppe hinauf- und heruntergerannt, aber damals waren wir zehn und zwölf. Seitdem hat sich viel verändert. Vor allem treibe ich keinen Sport mehr nur zum Vergnügen.

Ich betrachte meine große Reisetasche und dann die Treppe. Die Stufen sind noch original, aus Holz mit einem verblichenen grünen Läufer, sie scheint endlos nach oben zu führen.

Dieser Tag wird einfach immer besser und besser.

Als ich Dads Wohnung erreiche, bin ich außer Atem.

Ich stütze mich auf den Koffer, während ich mit den Schlüsseln hantiere, und als ich endlich den richtigen finde, stolpere ich über meine Tasche und falle beinahe durch die Tür.

Als Erstes registriere ich die Stille in der Wohnung.

Diese Art von Stille, die man hören kann.

Ich betrachte das Wohnzimmer, das offenbar noch genauso aussieht, wie mein Vater es an seinem Todestag vor über einem Monat hinterlassen hat. Eine zur Hälfte getrunkene Tasse Kaffee steht auf dem Beistelltisch. Daneben liegt eine aufgeschlagene Zeitung. Über dem Rand des Spülbeckens in der Küche hängt ein Geschirrtuch. An den Wänden Bilder von meiner Schwester und mir, als wir noch jung waren.

Ein Foto von meiner Mutter steht auf dem Kaminsims. Und in der Ecke seine kleine Kiste mit dem selbst gebastelten Weihnachtsschmuck aus meiner Kindheit. Sie ist offen, was bedeutet, dass er unmittelbar nach Thanksgiving mit dem Schmücken angefangen haben muss.

Ich schlucke schwer.

Er muss sich einsam gefühlt haben. Zu Thanksgiving hätte ich nach Hause kommen sollen, aber Lillianna zwang alle, am Feiertag zu arbeiten, und ich habe nicht gewagt, gegen sie aufzubegehren. Ich konnte nicht wissen, dass mein Vater sterben würde, trotzdem habe ich Schuldgefühle.

Seinem Wunsch im Testament entsprechend, ließ ich ihn einäschern und dann im Grab meiner Mutter beisetzen, ohne viel Aufhebens und ohne Feier. Ich hatte das alles von New York aus arrangiert. Beerdigungen finden für die Hinterbliebenen statt, aber ich wollte nicht sehen, wie die Urne meines Vaters in die Erde gesenkt wird.

Jetzt kommen mir Zweifel an meiner Entscheidung.

Mein Vater hätte eine richtige Beerdigung verdient gehabt. Und alle, die ihn kannten, hätten ihm sicher gern die letzte Ehre erwiesen und sich von ihm verabschiedet.

Aber ich kann mich jetzt nicht mit der Vergangenheit befassen. Jetzt bin ich hier.

Aus Gewohnheit gehe ich zu meinem alten Zimmer. Vor der Tür halte ich inne, weiß ich doch, was dahinter auf mich wartet: ein Schrein für meine Schwester. Dem kann ich mich heute nicht stellen. Also ändere ich den Plan.

Stattdessen gehe ich zum Schlafzimmer meines Vaters, das jetzt meins ist, räume eine Schublade frei und packe meine Tasche aus. Dabei achte ich darauf, seine Sachen so zu lassen, wie sie waren. Wann ich so weit sein werde, sie wegzugeben, weiß ich nicht. Ich notiere mir die Dinge, die ich ändern werde, wenn ich kann. Die Wandfarbe … statt Blau lieber Weiß. Keine Gardinen, sondern Stores. Neue Teppiche. Neue Kissen.

Aber nicht heute.

Heute werde ich die Zeit einfach damit verbringen, zu akzeptieren, dass ich hier bin, dass alle meine Verwandten tot sind und ich ganz allein bin.

Und natürlich damit, den Handwerker anzurufen.

Ich weiß nicht viel über Apartmentgebäude mit Mietwohnungen, aber ein nicht funktionierender Aufzug verstößt ganz bestimmt gegen die Hausordnung. Ich suche online nach einem geeigneten Handwerker.

»Ich kann frühestens nächste Woche kommen«, sagt der Erste.

Ich rufe einen anderen an.

»Mein Terminplan ist voll. Die Feiertage, Sie wissen schon.«

»Aber Weihnachten ist doch erst in drei Wochen. Können Sie uns nicht noch kurzfristig einschieben?«

»Nein, tut mir leid. Frühestens nach dem Jahreswechsel.«

Das Gleiche höre ich noch viermal.

Seufzend gebe ich auf, bevor ich mich noch mit dem nächsten scharfen Gegenstand erdolche, und beschließe, stattdessen zu duschen und die Flugzeugkeime abzuwaschen. Ich drehe das Wasser auf, schnappe mir ein paar saubere Klamotten und freue mich darauf, meine Muskeln im heißen Wasserdampf zu entspannen.

Nur … Es kommt kein Dampf.

Eine Prüfung des Wasserhahns ergibt, ja, er ist ganz nach links gedreht. Trotzdem kein Dampf.

Das Wasser ist eiskalt.

»Nicht das auch noch«, stöhne ich.

Ich ziehe meinen flauschigen Bademantel an, marschiere über die Treppe sechs Stockwerke hinunter, ins Büro, und rufe Sylvie an. Sie geht nach dem ersten Klingeln ran.

»Sylvie, tut mir leid, dass ich störe. Ich weiß, Sie machen Weihnachtseinkäufe, aber haben Sie zufällig den Klempner schon angerufen?«

»Natürlich habe ich das.« Sie macht eine Pause. »Glaube ich.«

Ich atme tief durch. »Vielleicht rufe ich kurz an und frage nach. Wie heißt die Firma?«

»Wir beauftragen keine Firma.« Im Hintergrund höre ich Weihnachtslieder. »Wir haben einen festen Handwerker. Er kümmert sich um alle Wohnungen im Block.«

»Okay«, sage ich so geduldig wie möglich. »Kennen Sie seinen Namen?«

»Natürlich kenne ich den!«, fährt sie mich an. »Er heißt Logan Scott, und seine Telefonnummer steht auf der Liste der Passwörter in der Schublade. Was ich ja schon sagte.«

Sie legt auf. Sie hat nicht erwähnt, dass irgendeine Telefonnummer von irgendjemandem auf der Liste steht, das weiß ich genau, aber diesen Kampf werde ich heute ganz sicher nicht ausfechten. Stattdessen krame ich die Liste aus der Schublade, und – siehe da. Da steht die Telefonnummer.

Ich rufe sofort an.

Die Mailbox springt an, also hinterlasse ich eine ausführliche Nachricht. Hilfe! Wir haben kein heißes Wasser, der Aufzug ist kaputt, ich habe keine Ahnung, was sonst noch defekt ist, alle sind beschäftigt, weil Weihnachten ist, und wenn Sylvie Sie schon angerufen hat, warum wurde das nicht längst repariert?

Oder so etwas in der Art.

Vielleicht klang ich auch ein wenig ungeduldig.

Ich bin gereizt, wenn ich friere und nichts gegessen habe. Und wenn ich in der Öffentlichkeit einen Morgenmantel trage. Warum habe ich mich nicht ordentlich angezogen? Ich bin jetzt die Eigentümerin dieses Gebäudes, also sollte ich mich auch so verhalten.

Plötzlich zieht mich das Gewicht dessen, was ich da tue, wie ein Anker auf den Meeresgrund hinunter. Ich bin für sechzig Mieter verantwortlich, die erwarten, dass ich dieses riesige Apartmentgebäude am Laufen halte. Ich. Die Frau, die erst letzten Monat vergessen hat, ihre Wasserrechnung zu bezahlen. Das kann nicht gut gehen.

Nie im Leben schaffe ich das. Das wird eine Katastrophe. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie man so ein Gebäude verwaltet. Ich werde scheitern.

Energisch schüttele ich den Kopf. Nein. Das war die Stimme von Drake. Nicht meine. Dass ich versage, ist genau das, was mein Exfreund erwartet. Und das ist auch der Grund, warum ich letzte Woche mit ihm Schluss gemacht habe.

Ehrlich gesagt glaube ich nicht einmal, dass ich Drake Dillard jemals wirklich geliebt habe. Jedenfalls nicht so, wie alle anderen zu lieben scheinen, und das war das eigentliche Problem.

Ich wollte eine Beziehung, wie sie meine Eltern hatten, eine, die über Jahrzehnte andauert, in der man aneinander glaubt, ganz gleich, was passiert. Sich gegenseitig unterstützt. Ist das etwa zu viel verlangt?

Drake irrt sich. Ich schaffe das. Ich muss es schaffen. Ich werde nicht scheitern. Ich muss mich einfach nur fragen: Was würde Dad tun?

Ich betrachte die Kisten in den Regalen über mir. Wenn ich sie durchsehe, finde ich es vielleicht heraus. Seufzend stecke ich mein Handy in die Tasche, steige auf eine Leiter und ziehe den Deckel von der nächstgelegenen Kiste.

Ich werde heute keine einzige Minute mehr über Drake nachdenken oder an mir zweifeln.

Ich habe anderes zu tun.

Unglücklicherweise gehe ich dem gerade auf der dritthöchsten Stufe der Leiter nach, als die Bürotür aufschwingt.

Und unseligerweise steht die Leiter direkt vor der Tür, sodass sie umkippt. Ich falle mit den Armen rudernd und höchst ungraziös in die sehr kräftigen Arme eines Mannes mit den blauesten Augen, die ich je gesehen habe.

»Sie müssen Meg sein.« Seine Stimme ist eine Mischung aus sahnigem Karamell und rauchiger Jazzbar und kommt aus einem perfekten Mund, während er mich mit seinen Armen an seine warme, feste Brust drückt. »Ihnen ist schon klar, dass Sie nichts anhaben?«

Er setzt mich ab, und ich versuche, mich zusammenzureißen und wieder zur Besinnung zu kommen. Dabei ziehe ich den Gürtel meines Bademantels fester zu.

»Ja, das ist mir durchaus bewusst. Sind Sie ein Mieter?« Ich bin mir nicht sicher, ob ich hoffe, dass er es ist oder nicht.

Er lacht. »Nein. Ich bin ein bisschen jünger als Ihre demografische Zielgruppe, fürchte ich. Ich heiße Logan. Ich bin Ihr Handwerker.«

Erst jetzt bemerke ich den Werkzeuggürtel an seinen schmalen Hüften. Oh mein Gott, Meghan, was ist los mit dir?

»Hi! Es … tut mir leid, wenn ich am Telefon so … kurz angebunden war«, stammle ich. »Es ist mein erster Tag hier, und hier scheint alles kaputt zu sein.«

»Keine Sorge«, sagt er beschwichtigend. »Es ist nicht alles defekt. Sie haben zwar einen Heizkessel, der aus dem letzten Loch pfeift, aber Ihr Vater und ich schaffen es seit Jahren, ihn am Leben zu erhalten. Und das werden wir auch noch ein paar Monate länger hinkriegen. Am Aufzug ist wahrscheinlich wieder nur eine Sicherung ausgefallen.«

»Wieder?« Ich habe weiche Knie und weiß nicht, ob es an diesem hinreißenden, kompetenten Mann liegt oder an der guten Nachricht, dass doch nicht alles hinüber ist.

»Oh ja. Er muss irgendwann auch ersetzt werden. Aber wir hangeln uns halt so lang.«

»Wir scheinen uns hier viel langzuhangeln«, stelle ich fest. Er lächelt.

»Ja. Ihr Vater war sehr nachsichtig mit den Mietzahlungen eines Teils der Bewohner. Das soziale Netz ist nicht mehr das, was es einmal war, und einige von ihnen … Für sie ist es sehr eng. Er sagt nichts, wenn sie zu spät zahlen.«

»Das klingt ganz nach ihm«, erwidere ich ironisch. Er lächelt wieder.

»Ich habe schon viel von Ihnen gehört«, fährt er fort. »Und nach dem, was ich gehört habe, bezweifle ich, dass Sie gern kalt duschen. Ich sehe erst mal nach dem Boiler, dann kümmere ich mich um den Aufzug. Bin gleich wieder da.«

Er verschwindet aus dem Büro, bevor ich fragen kann, was mein Vater ihm von mir erzählt hat.

Dieser Kerl ist mein Handwerker.

Diese blauen Augen, dieses Lächeln, das Grübchen auf der linken Wange.

Plötzlich erscheint mir Parkview West nicht mehr ganz so schlimm wie vorher.

Kapitel 2

Während ich auf Logan warte, schaue ich an mir herunter. In meinem rosa Bademantel und mit den nackten Füßen sehe ich aus wie eine Verrückte. Ganz zu schweigen davon, dass ich friere, weil es in diesem Gebäude schrecklich zugig ist.

Ich laufe zur Treppe, will schnell in die Wohnung, um mir etwas anderes überzuziehen.

Es ist erstaunlich, dass die dritte Stufe der Treppe nach all den Jahren immer noch knarrt. Jo und ich sind früher immer drübergesprungen, damit wir uns an unseren Vater anschleichen konnten, wenn er spät noch arbeitete.

Das Bild von Dunnottar Castle in Schottland hängt direkt neben dem Treppenabsatz, wie schon seit Jahrzehnten. Jo und ich haben immer so getan, als würden wir dort wohnen und diese Stufen zu dem Steinturm führen, von dem aus man das Meer überblicken konnte. Manchmal war dieser Treppenabsatz aber auch der Turm, und wir Prinzessinnen, die darin gefangen waren.

Erst nachdem Jo gestorben war, habe ich mit diesem Spiel aufgehört, und seitdem ist es nicht mehr dasselbe, diese Treppe hinaufzusteigen.

Auf dem Treppenabsatz in der vierten Etage hängt ein Gemälde von Edinburgh Castle. Mein Vater war von der schottischen Geschichte fasziniert, und ich halte inne, um Atem zu schöpfen. Genau in dem Moment tritt eine Frau aus ihrer Wohnung.

Sie ist groß, schlank und hat schneeweißes Haar, das elegant zu einer französischen Rolle frisiert ist. Sie trägt ein feigenfarbenes Bleistiftkleid mit Perlenknöpfen an der Vorderseite und eine schmale goldene Uhr am Handgelenk. Und sie duftet nach Chanel No. 5.

»Sie müssen Ms. Julliard sein.« Sie spricht leise und hebt eine perfekt manikürte Braue. Verlegen ziehe ich meinen Morgenmantel fester zu.

»Ja, bin ich.« Ich reiche ihr meine Hand. Sie schüttelt sie mit dem gerade richtig bemessenen Druck.

»Ich bin Ellie Wade. Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich hoffe, Sie werden sich hier wohlfühlen. Darf ich Sie vielleicht kurz behelligen? Ich habe kein heißes Wasser mehr.«

Ich seufze tief.

»Das dürfte wohl bei allen so sein. Ich habe schon den Handwerker gerufen. Er ist gerade dabei, den Kessel zu reparieren.«

Sie lächelt, was ihr Gesicht erstrahlen lässt. Einen Moment sieht sie zwanzig Jahre jünger aus.

»Wunderbar!« Sie will die Tür zu ihrer Wohnung wieder schließen, hält dann aber inne. »Möchten Sie eine Tasse Tee, Liebes? Ich würde Sie gerne besser kennenlernen.«

Sie hat so eine würdevolle Aura von Einsamkeit, und es tut mir wirklich leid, dass ich ihre Einladung ablehnen muss.

»Ich wünschte, ich könnte, Ms. Wade …«

»Nennen Sie mich Ellie«, unterbricht sie mich.

»Ellie«, wiederhole ich, »aber ich muss mir unbedingt etwas anderes anziehen, damit ich mit dem Handwerker reden kann. Doch ich hätte gern einen Gutschein für ein anderes Mal.«

»Eigentlich wollte ich mir eine Bemerkung zur Wahl Ihrer Garderobe verkneifen, aber Sie haben ganz recht. Etwas mehr Kleidung wäre vielleicht angebracht.« Sie lächelt. »Unser lieber, lieber Mr. Scott. Sie werden ihn mögen. Jeder mag ihn. Er arbeitete oft kostenlos für Ihren Vater, wissen Sie.«

Ich starre sie erstaunt an. »Kostenlos?«

Sie nickt. »Er ist so ein guter Junge.«

»Offensichtlich.« Allerdings sieht der Junge eher aus, als wäre er mindestens um die dreißig. »Ich richte ihm aus, dass auch Ihr Warmwasser betroffen ist. Ich melde mich später wieder bei Ihnen, Ellie.«

In Rekordzeit sprinte ich die restlichen Stufen hinauf, ziehe mir hastig eine Jeans und einen Pullover an und rase wieder hinunter. Um der alten Zeiten willen springe ich über die knarrende Stufe – und lande gerade, als Logan um die Ecke kommt.

Er sieht mich verblüfft an. Ich verbeuge mich dramatisch. »Ich würde mir neun von zehn Punkten geben«, verkünde ich.

Fältchen bilden sich in seinen Augenwinkeln, als er grinst. »Achteinhalb. Sie haben die Landung nur mit Ach und Krach geschafft.«

»Hm.« Gespielt dramatisch rümpfe ich die Nase, und er lacht.

»Ellie Wade sagt, sie hätte auch kein heißes Wasser. Versorgt der Kessel das ganze Gebäude, und konnten Sie ihn reparieren?«

Logan nickt. »Fürs Erste. Aber was ich vorhin sagte, ist leider wirklich so. In diesem alten Gemäuer sind eine Menge Dinge einfach abgenutzt und müssen irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft ersetzt werden.«

»Das klingt kostspielig«, sage ich.

Er nickt. »Ziemlich.«

»Das Problem gehen wir ein andermal an«, erkläre ich. »Kann der Aufzug repariert werden?«

»Schon erledigt.«

»Ich habe ein bisschen den Eindruck, als sollte man diesem Gebäude schleunigst den Gnadenschuss verpassen«, werfe ich wie beiläufig hin.

Logans Kopf ruckt hoch. »Einige der Mieter leben schon seit mehr als zehn Jahren hier. Sie haben keine Familie und können nirgendwo anders hin, außer in ein Pflegeheim oder in eine betreute Einrichtung. Bitte, tun Sie das nicht.«

Ich mustere ihn und bemerke, dass er die Stirn runzelt. »Sie sorgen sich um sie«, stelle ich fest.

»Das werden Sie auch bald tun. Wenn Sie sie erst einmal kennengelernt haben.«

»Bis jetzt waren alle jedenfalls sehr freundlich zu mir.«

»Ihr Vater war sehr gut zu ihnen«, sagt Logan. »Ich hoffe, Sie folgen seinem Beispiel. Dieser Ort hier ist für die meisten alles, was sie haben.«

»Ich habe gehört, dass Sie sogar Ihre Arbeitszeit hierfür kostenlos opfern.«

Er lächelt schwach. »Das stimmt. Ich habe Jerry – ich meine, Ihrem Vater – nur den halben Preis für Reparaturen berechnet. Und wenn sein Budget auch das nicht zuließ, habe ich eben gewartet, bis er mich bezahlen konnte. Das ist das Mindeste, was ich tun konnte.«

»Aber Sie müssen auch Ihren Lebensunterhalt verdienen«, gebe ich zu bedenken. »Ihre Dienste gratis anzubieten, kommt mir nicht sonderlich profitabel vor. Es ist selten ein gutes Geschäft, wenn man sich in die persönlichen Angelegenheiten eines Kunden hineinziehen lässt.«

Er zuckt mit den Schultern. »Ich lebe allein, habe nicht viele Ausgaben. Es geht mir gut. Außerdem, wenn man sich um seine Kunden wirklich kümmert, ist es manchmal gar nicht zu vermeiden, dass man sich engagiert.«

Er lebt allein. Hat er das absichtlich gesagt?

»Wie dem auch sei«, fährt er fort, »ich muss jetzt los. Haben Sie meine Handynummer, falls Sie mich erreichen wollen? Meine Büronummer haben Sie ja schon angerufen.«

»Sylvie hat sie wahrscheinlich.«

»Allerdings.« Er lacht leise. »Viel Glück, wenn Sie sie aus ihr herausleiern wollen. Sie hütet sie wie ein Hahn den Hühnerstall. Warten Sie, ich gebe sie Ihnen einfach.«

Ich reiche ihm mein Handy, und er tippt seine Nummer ein. »Es war wirklich nett, Sie kennenzulernen«, sagt er, als er es mir zurückgibt.

»Danke, gleichfalls.«

Er öffnet die Haustür, und Schnee weht herein.

»Ziehen Sie sich warm an!«, ruft er im Davongehen. Ehrlich, er sieht wirklich gut aus, wenn er geht.

Ich werde rot, und das hat nichts mit dem Wetter zu tun. Ich brauche dringend eine heiße Dusche, jetzt, wo der Wasserboiler repariert ist, und laufe die Treppe hinauf – obwohl der Aufzug wieder funktioniert.

Im vierten Stock fällt mein Blick auf Ellie Wades Tür, an der ein festlicher Kranz aus roter Stechpalme und einer Schleife hängt. Das spiegelt so gar nicht die stille Traurigkeit wider, die ich empfunden habe, als ich mit ihr sprach. Irgendetwas zieht mich zu ihr.

Also bleibe ich stehen, hole tief Luft und beschließe, dass meine Dusche noch ein paar Minuten warten kann. Ich klopfe leise.

Einen Moment später öffnet Ellie die Tür. Sie hält ein dunkelgrünes Kleid in den Händen.

»Ms. Julliard!« Sie lächelt erfreut. »Sie sind gekommen, um Ihren Gutschein abzuholen! Kommen Sie rein, nur herein.«

»Nennen Sie mich Meg, bitte«, sage ich. Sie schwingt die Tür weit auf, und ich betrete die ruhige Wohnung.

Im Gegensatz zu ihrer Tür ist die Wohnung nicht weihnachtlich geschmückt, was mich überrascht. Stattdessen liegen mehrere ordentliche Stapel mit verschiedenen Gegenständen auf dem Sofa und dem Couchtisch.

»Bitte entschuldigen Sie die Unordnung«, sagt sie, obwohl alles blitzsauber ist. »Ich sortiere gerade ein paar Sachen aus. Kommen Sie herein. Ich mache uns einen Tee. Bitte, setzen Sie sich.«

Ellie wirft das Kleid auf die Armlehne des Sofas, und ich setze mich daneben.

Während sie den Tee zubereitet, schaue ich mich um.

Gerahmte Fotos von ihr und einer jungen Frau hängen an den Wänden und stehen auf dem Kaminsims. Die Ähnlichkeit zwischen der Frau und Ellie ist frappierend. Sie haben die gleiche kräftige Nase, die gleichen funkelnden Augen.

»Ist das Ihre Tochter?«, frage ich, als sie mit einem Teetablett zurückkommt.

»Oh, ja. Meine Betsy. Sie lebt jetzt in London. Sie hat einen großartigen Job, der sie leider sehr in Anspruch nimmt, sodass wir uns nur selten sehen. Aber ich bin sehr stolz auf sie.«

Das ist sie wirklich. Es strömt ihr aus jeder Pore.

Ellie schenkt mir eine Tasse Tee ein, und als ich sie nehme, schiebe ich aus Versehen das Kleid von der Couch. Es fällt zu Boden.

Nachdem ich meine Teetasse auf dem Beistelltisch abgestellt habe, bücke ich mich, um es aufzuheben.

»Das ist ein bemerkenswertes Kleid!«, sage ich, während ich es betrachte. Die Qualität der Verarbeitung ist großartig, der Stoff dick und dennoch dehnbar, und ich kann mir vorstellen, dass er sich perfekt an die Figur einer Frau schmiegt. Durch das Waldgrün schimmern eingearbeitete Goldfäden. Es ist eindeutig ein hochwertiges Partykleid. »Es erinnert mich an Kleider, die Grace Kelly oder Jackie Onassis getragen hätten.« Ich halte es mir vor den Körper, und der weiche, dicke Stoff scheint nach mir zu rufen, als wollte er, dass ich es anziehe.

»Oh ja.« Ellie sieht das Kleid an. »Es ist wunderschön, keine Frage.« Sie nimmt einen Schluck Tee. »Ist es nicht seltsam, dass manchmal die schönsten Dinge wunderbare und schreckliche Erinnerungen gleichzeitig hervorrufen können?«

Ich halte inne, das Kleid noch in den Händen, und sehe Ellie an.

Sie blickt so abwesend darauf, als wäre sie gerade ganz woanders.

»Es tut mir leid.« Ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll. Ich war noch nie gut in solchen Situationen, die eine gewisse Feinfühligkeit erfordern. Einmal habe ich sogar bei einer Beerdigung gelacht. Ich kann es nicht erklären.

»Dieses Kleid habe ich am schönsten und am schlimmsten Tag meines Lebens getragen«, sagt sie und kommt mit einem Blinzeln wieder in die Gegenwart zurück. »Das Leben kann so paradox sein, Liebes. Wenn ich sehe, wie Sie es hochhalten … und wie es fließt … fast so wie damals, als ich es zum ersten Mal angezogen habe. Bitte entschuldigen Sie, ich war in Erinnerungen versunken. Es tut mir leid, ich … Sie können es dort zu den ausgemusterten Dingen legen.« Sie zeigt auf einen Haufen direkt vor mir, aber ich zögere.

»Das Kleid ist so schön, Ellie. Sie können es doch sicher an Ihre Tochter weitergeben. Solche Qualität wird gar nicht mehr hergestellt. Ich weiß, wovon ich rede. Ich arbeite … habe in der Modebranche gearbeitet.«

»Tatsächlich?« Das scheint sie zu interessieren, und sie nimmt noch einen Schluck Tee.

»Ja. Ich habe einen Abschluss in Modedesign gemacht und war dann als Assistentin in New York bei einem Modemagazin beschäftigt. Es war schon immer mein Traum, meine eigene Kollektion zu entwerfen. Früher habe ich die Kleider meiner Schwester für sie geändert, als sie …«

Meine Stimme versiegt, und Ellie sieht mich an.

»Als sie krank geworden ist?«, fragt sie sanft. Ich bin überrascht von dem Kloß in meinem Hals, der sich nach all den Jahren immer noch bildet, wenn ich über Jo spreche. »Ihr Vater hat mir von ihr erzählt. Sie war so ein hübsches Mädchen.«

»Das war sie«, stimme ich zu. »Und ja, ich habe ihre Kleider geändert, als sie krank war. Meine Eltern konnten es sich nicht leisten, ihr ständig neue zu kaufen, weil sie immer mehr abnahm. Durch die Bestrahlung hat sie sehr viel Gewicht verloren.«

»Sie waren so jung und haben schon geschneidert.« In Ellies Stimme schwingt Bewunderung mit. »Ich bin beeindruckt.«

Ich zucke mit den Schultern. »Mir ist das leichtgefallen, schätze ich. Meine Mutter hat immer gesagt, ich wäre dafür geboren. Ich habe sogar Anziehpuppen aus Papier gebastelt, damit ich ihre Kleidung entwerfen konnte.«

Ellie lacht perlend. »Warum sind Sie dann hier?«, will sie wissen. Ihr Blick ist freundlich, aber ihre Frage sehr direkt. Sie scheint sich aufrichtig für mich zu interessieren. Sie macht nicht nur Small Talk.

»Ich bin die Letzte, die von meiner Familie übrig ist«, sage ich schließlich. »Ich musste einfach zurückkommen und dieses Apartmenthaus von meinem Vater übernehmen.«

»Er würde nicht wollen, dass Sie Ihre Träume aufgeben«, wendet sie ein. »Er war sehr stolz auf Sie.«

»Trotzdem hat er mir dieses Gebäude hinterlassen«, antworte ich. »Also muss er gewollt haben, dass ich hierherkomme.«

»Sie könnten es jederzeit verkaufen«, schlägt sie vor.

»Nein, das kann ich nicht. Bei den Grundstückspreisen hier in Chicago kann ich mich nicht darauf verlassen, dass jemand anderes es nicht einfach abreißt und durch ein Hochhaus oder Ähnliches ersetzt. Und Logan hat gesagt, dass viele der Mieter auf dieses Haus angewiesen sind.«

»Nun, ich persönlich bin nicht mehr darauf angewiesen«, gibt sie zurück und gießt frischen Tee in meine Tasse. »Ich ziehe Ende des Monats in eine Seniorenresidenz.«

Ich zucke zusammen. »Oh nein. Ist es wegen des Fahrstuhls? Ich verspreche Ihnen, ich werde dafür sorgen, dass er nie wieder so lange defekt ist.«

Sie lächelt, und ihr Blick wirkt plötzlich traurig.

»Nein, Liebes. Daran liegt es nicht. Meine Tochter macht sich sehr viele Sorgen um mich. Dieses alte Gebäude ist zwar schön, aber auch recht zugig, und der Weg zur Straße und hierher zurück ist etwas beschwerlich. In dieser Seniorenresidenz bieten sie organisierte Ausflüge an, es gibt einen Shuttle-Dienst und Aktivitäten mit Menschen meines Alters. Ich könnte dort Freunde finden. Zumindest hat Betsy mir das erzählt.«

Sie ist ihrer Tochter gegenüber wirklich sehr tolerant.

»Sie sortieren also Ihre Sachen aus, um sich für Ihren Umzug zu verkleinern?«, spekuliere ich.

»Ja. Ich habe über die Jahre doch mehr angesammelt, als ich dachte. Ich wohne seit zehn Jahren hier in Parkview West.«

Sie ist also hierhergezogen, als ich auch noch hier wohnte. Warum habe ich sie nie bemerkt? Weil ich nicht darauf geachtet habe. Ganz einfach.

»Nun, ich würde es sehr schade finden, wenn Sie hier weggingen«, verkünde ich. »Es wäre schön, eine Freundin hier zu haben.«

»Sie werden Freunde gewinnen, Liebes. Mehr, als Sie zählen können. Alle hier haben schon auf Sie gewartet.«

»Ich hoffe, sie genießen es, unterwältigt zu werden«, antworte ich ironisch.

Sie lacht. »Sie sind witzig. Das gefällt mir.«

Ich lache mit ihr. »Ich flüchte mich immer in meinen Humor, um meine schwierige Persönlichkeit zu verbergen«, sage ich. Sie lacht wieder.

»Sie sind entzückend.«

Ich lege das Kleid auf die Armlehne des Sofas und bewundere den eleganten U-Boot-Ausschnitt. Er ist perfekt.

»Sie haben gesagt, Sie hätten es im besten und im schlimmsten Moment Ihres Lebens getragen?« Ich schaue sie an, und sie wendet den Blick ab.

»Haben Sie jemals jemanden so sehr geliebt, dass Sie dachten, Sie könnten ohne ihn nicht mehr atmen?«, fragt sie.

Ich denke an Drake und schüttle den Kopf. »Nein.«

»Nie?«

»Nie.«

»Nun, Sie haben ja noch viel Zeit«, meint sie dann. »Ich habe dieses Kleid getragen, als ich ungefähr in Ihrem Alter war.«

»Die Geschichte würde ich gerne hören«, sage ich hoffnungsvoll. Der Schein der Flammen im Kamin lässt den Stoff des Kleides schimmern. Es klingt albern, aber allein der Anblick stimmt mich irgendwie ein bisschen glücklicher, als gäbe es endlose Möglichkeiten im Leben. »Ich weiß, wir haben uns gerade erst kennengelernt, aber ein Kleid wie dieses hat bestimmt eine Geschichte, die erzählt werden muss.«

Ellie zögert. »Ich bin mir nicht sicher, ob Sie sie gleich am ersten Tag unseres Kennenlernens hören wollen. Denn es ist kein Märchen mit Happy End.«

»Das ganze Leben ist kein Märchen«, antworte ich schlicht. »Aber manchmal trotzdem wunderschön.«

»Das ist allerdings wahr, Liebes. Manches ist einfach unglaublich schön.« Sie seufzt. »Ich schlage Ihnen ein Geschäft vor. Wenn Sie mir versprechen, dass Sie dieses Kleid noch in diesem Jahr einmal tragen, erzähle ich Ihnen die Geschichte. Es hat eine weitere elegante Nacht verdient.«

»Ich wünschte, ich könnte das versprechen«, sage ich. »Ich möchte die Geschichte wirklich gern hören, aber ich weiß nicht, wohin ich ausgehen sollte. Ich kenne hier niemanden, schon vergessen?«

Sie denkt darüber nach. »Okay. Formulieren wir es anders … Ich erzähle Ihnen die Geschichte, wenn Sie mir versprechen, das Kleid zu tragen, sobald sich eine Gelegenheit ergibt.« Sie wartet auf meine Antwort.

Hier kann ich problemlos zustimmen. Irgendetwas sagt mir, dass ich die Geschichte unbedingt hören muss.

»Nun gut, dann mache ich erst mal frischen Tee.«

Sie lächelt und verschwindet in der Küche. Und ich checke mein Handy.

Nichts von Drake, Gott sei Dank.

Dafür aber zwei verpasste Anrufe und vier SMS von Cassie.

Komm zurück!

Rette mich!!

Ich bringe dich um!

Geh ran!

Ich schüttle den Kopf und antworte ihr.

Dir geht es gut. Du schaffst das. Ich ruf dich heute Abend an.

Ich lege mein Handy gerade weg, als Ellie mit der Kanne zurückkommt.

Sie schenkt uns beiden eine Tasse ein und setzt sich dann wieder auf ihren Platz.

»Frankie war die Liebe meines Lebens«, sagt sie leise und schaut ins Feuer. Der Schein der Flammen verleiht ihrem Gesicht einen weichen Schimmer, und ihre Augen glänzen wie Gold. »Er hat mir einfach den Atem geraubt. Schon wie er ging! So selbstbewusst. Und seine Schultern waren so breit, genau wie sein Lächeln.« Sie legt eine Hand auf ihr Herz, als wolle sie es beruhigen. Ich staune darüber, über eine Liebe, die auch nach Jahrzehnten noch ein Herz zum Flattern bringen kann.

»Sie haben Glück gehabt, dass Sie sie gefunden haben«, erwidere ich etwas lahm.

Sie zuckt mit den Schultern, nickt aber. »Ich weiß. Ich habe ihn am Navy Pier getroffen. Gott, sah er gut aus. Tiefschwarzes Haar, strahlend blaue Augen. Ich wünschte, Sie könnten ihn sehen.« Sie hält inne, und ich weiß, dass sie in Gedanken bei jenem Tag ist, an dem sie ihn kennengelernt hat.

»Er hatte die breitesten Schultern und die schmalsten Hüften, die Sie je gesehen haben. Ich aß gerade meinen Lunch und konnte meinen Blick nicht von ihm abwenden. Er jonglierte mit seinem Essen – einer Orange und einem eingepackten Sandwich – und seinem Charme. Er gab ein bisschen an und versuchte, alle zum Lachen zu bringen. Aber dann verlor er sein Sandwich, und es landete im See. Sie hätten seinen Gesichtsausdruck sehen sollen!« Sie seufzt, und ich weiß, dass sie den Moment ganz deutlich vor Augen hat. Sie drückt wieder eine Hand auf ihr Herz und starrt in die Flammen. »Am Ende habe ich mich sehr galant verhalten und mein Sandwich mit ihm geteilt. Das war der Anfang.«

»Ich liebe diese Geschichte jetzt schon«, sage ich. »Sie ist zum Dahinschmelzen, Ellie!«

Ihre Wangen röten sich. »Ich fange immer an zu schwärmen, wenn ich von ihm spreche. Monatelang hat er mir den Hof gemacht. Wir konnten nicht aufhören, aneinander zu denken. Obwohl wir so unterschiedlich waren, wie wir nur sein konnten. Er stammte aus einer wohlhabenderen Familie, während meine ziemlich arm war. Normalerweise hätten sich zwei Menschen wie wir niemals gefunden. Aber das Schicksal hatte wohl seine Hand im Spiel. Und wir wollten das Beste daraus machen.«

»Das klingt wie Romeo und Julia!«

Sie schüttelt den Kopf. »Deren Liebe hat kein besonders gutes Ende genommen, Liebes«, erinnert sie mich. »Allerdings hat Frankies und meine das auch nicht.«

»Was ist passiert?« frage ich, fast ängstlich. Ist er etwa gestorben?

Über Ellies Gesicht zieht ein Schatten, und ich bereue es, gefragt zu haben.

»Ich wünschte, ich könnte Ihnen vermitteln, wie perfekt wir füreinander waren«, sagt sie. »Wir waren so unterschiedlich, und doch passten wir so perfekt zusammen. Er hatte eine Art an sich, die mich dazu brachte, mich zu öffnen und ihm alles mitzuteilen. Er brachte mich zum Lachen, er versteckte Zettel unter meiner Fußmatte … Es war ein wundervolles Leben. Bis es schlagartig endete.«

Ich atme tief ein und warte auf das, was jetzt kommt.

»Heiligabend stand vor der Tür, und seine Mutter Francesca veranstaltete ein großes Fest – das erste seit dem Tod von Frankies Vater. Sie war eine Dame der besseren Gesellschaft, und auch wenn ich aus einer armen Familie stammte, glaubte ich, sie nach und nach für mich gewinnen zu können. Zumindest dachte ich das.«

»Oh, oh«, murmle ich. Ellie nickt.

»Unterschätzen Sie niemals die Mutter eines Sohnes«, sagt sie. »Das ist eine gute Lektion für Sie, Liebes.«

»Was ist passiert?«

»Er wollte mir auf dieser Feier einen Antrag machen«, antwortet Ellie schlicht. »Ich wusste es. Er hatte es angedeutet, und ich hatte mein ganzes Geld gespart, um dieses Kleid in einem Secondhand-Laden zu kaufen. In dem Moment, als ich es gesehen hatte, wusste ich, dass es für mich bestimmt war. Es fühlte sich einfach … richtig an. Ich bat die Ladenbesitzerin, es für mich zur Seite zu legen, während ich sparte, und sie war so nett. Sie versteckte es für mich unter dem Tresen – zwei Monate lang. So lange dauerte es, bis ich genug gespart hatte. Für passenden Schmuck reichte mein Geld nicht, aber das war mir egal. Ich war so glücklich, ich dachte, ich würde platzen.«

Sie nippt an ihrem Tee, und ihre perfekt lackierten Nägel zittern leicht.

»Sie müssen nicht weiterreden«, versichere ich ihr. »Wirklich nicht. Ich möchte nicht, dass Sie sich aufregen.«

»Es tut gut, es Ihnen erzählen zu können«, gibt sie zurück. »Das macht es real. Manchmal habe ich Angst, dass alles nur ein Traum war. Dass er zu perfekt war, um überhaupt jemals existiert zu haben.«

»Er war real«, sage ich. »Ich kann sehen, wie sehr Sie ihn geliebt haben.« Ich ergreife ihre Hand. Sie lächelt.

»Das habe ich. Ich habe ihn wirklich geliebt. Deshalb war es auch so schwer, ihn zu verlieren.« Sie atmet tief ein. »Francesca war eine Perfektionistin in jeder Hinsicht. Sie wusste, dass Frankie mir einen Heiratsantrag machen wollte, und da alle ihre Freunde dabei sein würden, wollte sie, dass auch dieser Moment perfekt sein würde. Sie bestand darauf, dass ich ihre Saphir-Diamant-Halskette und die dazu passenden Ohrringe trug. Sie waren das letzte Geschenk, das ihr Mann ihr vor seinem Tod gemacht hatte.«

»Das kann ja nicht gut enden«, murmele ich, und mir läuft ein Schauer über den Rücken.

»Nein, hat es auch nicht«, bestätigt sie. »Dabei fing es großartig an. Das Fest war herrlich … Kerzen und Musik und köstliche Speisen. Frankie und ich haben getanzt und getanzt. Ich sah wunderschön aus in diesem Kleid. Ich wusste es, und Frankie konnte seine Augen nicht von mir lassen.« Sie hebt kurz den Kopf, und es fällt mir nicht schwer, mir vorzustellen, wie schön sie einmal gewesen sein muss. Sie ist immer noch eine schöne Frau.

»Ein paar Minuten vor Mitternacht sank Frank auf die Knie, mitten im Raum. Wir hatten so viel getanzt, waren beide vom Tanzen ganz erhitzt, und ich dachte, ich müsste vor Glück sterben. Alle sahen zu, wie er eine Schachtel öffnete mit einem Ring – ein Rubin, umgeben von funkelnden Diamanten. Der schönste Ring, den man sich vorstellen kann. Ich war glücklicher als je zuvor in meinem jungen Leben. Und dann … hörte ich einen fürchterlichen Schrei.«

Ich möchte mir fast die Ohren zuhalten, will den nächsten Teil nicht hören. Aber gleichzeitig klebe ich an ihren Lippen und lausche begierig auf jedes Wort.

»Es war Francesca. Einer ihrer Ohrringe war mir irgendwann aus dem Ohr gefallen. Er war sehr wertvoll, sowohl in finanzieller als auch in emotionaler Hinsicht, eine letzte Erinnerung an ihren verstorbenen Mann. Sie war untröstlich. Wir suchten alles ab, aber wir konnten ihn nicht finden. Irgendwann war sie dann überzeugt, dass ich ihn gestohlen hatte. Ich war ja arm. Sie sagte in jener Nacht schreckliche Dinge zu mir. Frankie konnte ihr ihren Verdacht nicht ausreden, und am Ende bestand sie darauf, dass er die Beziehung mit mir beendet, weil sie mir nicht mehr vertrauen könne.«

Ellies Gesicht ist jetzt schmerzverzerrt, und ich drücke ihre Hand. »Sicherlich hat niemand geglaubt, dass Sie sie bestehlen würden«, sage ich sanft. »Und Frankie ganz sicher nicht.«

»Es war egal, was er glaubte«, sagt sie matt. »Seit sein Vater tot war, war er der Mann im Haus, und das war Francesca sehr wichtig. Sie bestand darauf, dass ich die Feier verließ. Ich werde nie vergessen, wie er mich ansah, als ich hinausging. So traurig, so hilflos und vielleicht auch ein bisschen unsicher. Ich glaube, er war sich tatsächlich nicht ganz sicher, ob ich den Ohrring gestohlen hatte oder nicht. Es brach mir das Herz.«

»Das kann ich mir gar nicht vorstellen«, hauche ich. »Und alle auf der Feier haben es mitangesehen?«

Ellie nickt traurig. »Oh ja. Ich bin hinausgerannt, weil ich die Demütigung nicht ertragen konnte. Noch am selben Abend habe ich eine Tasche gepackt und bin zu meiner Tante nach Indiana gefahren. Ich habe mehrere Jahre bei ihr gewohnt und dort das College beendet.«

»Hat Frankie nicht versucht, Kontakt mit Ihnen aufzunehmen?«

»Er wusste ja nicht, wo ich war, Liebes. Ich habe meine Familie gebeten, es ihm nicht zu verraten. Ich hätte es nicht ertragen, wenn er mir auch offiziell gesagt hätte, dass es vorbei war. Also bin ich einfach weggelaufen.«

»Das kann ich Ihnen nicht verdenken«, sage ich nachdrücklich. »Ich hätte das Gleiche getan.«

»Aber verstehen Sie denn nicht?« Sie dreht sich zu mir um und sieht mir in die Augen. »Ich weiß ja nicht, was dann passiert wäre. Ich hatte nicht genug Mut, es herauszufinden. Stattdessen habe ich jemand anderen geheiratet, jemanden, den ich zwar auch lieb gewonnen habe, aber es war nie ganz dasselbe. Wir haben eine wunderbare Tochter, und unser Leben war sehr schön. Aber ich werde nie erfahren, was hätte sein können.«

»Das ist … tragisch«, sage ich schließlich ganz ehrlich.

»Ich weiß.«

Und jetzt ist mir auch klar, warum diese sanfte Frau diesen Hauch von Traurigkeit ausstrahlt. Ihr Leben ist unvollendet. Ein Leben, das anders hätte sein können.

Gott, hoffentlich passiert mir das nie!

»Es tut mir leid, Ellie.« Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll.

Sie schüttelt den Kopf, als wolle sie die Melancholie abschütteln. »Das muss es nicht«, sagt sie. »Ich habe eine wunderschöne Tochter, und mein verstorbener Mann war ein guter Mensch.«

»Aber er war nicht Frankie.«

»Nein, das war er nicht.« Sie greift nach meiner leeren Tasse. »Es tut mir leid, wenn ich Sie an Ihrem ersten Tag hier traurig gemacht habe. Machen Sie sich keine Sorgen um mich, Liebes. Mir geht es gut.«

Sie steht auf. »Also, vergessen Sie Ihren Teil der Abmachung nicht. Sie müssen das Kleid tragen, wenn sich eine Situation ergibt. Und ich verspreche Ihnen, dass es Ihnen passen wird. Es ist magisch.«

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