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Der Apfel fällt recht weit vom Stamm

Für Nora steht fest: Nie wieder wird sie in ihr Heimatdorf Jork im Alten Land zurückkehren, wo ihre Familie seit Generationen einen Apfelhof betreibt. Nach einem bösen Familienstreit hat sie das Weite gesucht. Doch ihre störrische Oma Enne nimmt das nicht hin. Die alte Dame verbarrikadiert sich in einem Baumhaus im Apfelbaum und erklärt, erst wieder hinunterzusteigen, wenn ihre Enkelin sich mit der Familie versöhnt. Also bleibt Nora keine Wahl, als nach Hause zu kommen. Sobald sie zum ersten Mal wieder den vertrauten Duft der heimischen Apfelblüten einatmet, wird ihr klar, auf was sie all die Jahre verzichtet hat. Und als dann auch noch Ben, ihre große Jugendliebe, plötzlich wieder vor ihr steht, nimmt das Gefühlschaos erst richtig seinen Lauf.


  • Erscheinungstag: 23.03.2021
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749950539
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

#unerwartetverlobt

Wer eine Verlobung bekannt gibt, sollte seinen Verlobten zuvor über die Verlobung informieren.

(Aus: Tipps für Frischverliebte)

»Deine Oma sitzt im Apfelbaum. Du musst nach Hause kommen.«

Nora blinzelte irritiert und versuchte die Aussage des Anrufers zu verstehen. Instinktiv presste sie den Telefonhörer fester gegen das Ohr. Als würde ihr das helfen, den Satz zu erfassen. Ihre Oma? Aber die wohnte im Alten Land, mehrere Hundert Kilometer von ihrer Arbeitsstelle in Köln entfernt.

Vor Schreck hatte sie sich verstempelt, sodass der Gebucht-Stempel nicht wie sonst an der exakt gleichen Stelle aufgebracht war. Er war verrutscht. Wie ärgerlich. Dabei nahm sie ihren Job als Buchhalterin sehr ernst.

Der Gedanke verging jedoch, als sie begriff, wer sie angerufen hatte. Diese Stimme! Dunkel und freundlich, klar und männlich, zugewandt und … nein! Das konnte nicht sein.

»Ben? Bist du es?«, fragte sie ungläubig.

»Legst du auf, wenn ich Ja sage?«

»Ich leg so oder so auf. Privatgespräche sind im Büro streng verboten. Was das angeht, kennt mein Chef kein Pardon.« Aus einem Instinkt heraus hätte Nora beinahe den Hörer auf die Gabel geworfen und damit den unheimlichen Anruf aus ihrer Vergangenheit gekappt. Beinahe. Doch dann erinnerte sie sich an Bens ersten Satz. »Oma sitzt im Apfelbaum? Aber was macht sie da? Wie ist sie da hochgekommen? Und vor allem: Warum tut sie das?«

»Das musst du sie schon selbst fragen. Sie sagt lediglich, dass sie mit dir reden will. Bis du nicht da bist, streikt sie im Apfelbaum. Okay. Im Baumhaus, aber kurios ist das trotzdem.«

»Wie lange sitzt sie denn da schon?«

»Es sind jetzt exakt sechs Tage. Sie ist direkt nach der Trauerfeier für deinen Papa dort raufgeklettert. Seitdem sitzt sie dort.«

Nora verschlug es die Sprache. Selbst für ihre manchmal leicht exzentrische Oma war das eine harte Nummer. Wie kam sie auf so eine Idee?

»Ich kann nicht nach Hause kommen«, sagte Nora mechanisch. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie die Luft angehalten hatte. Vor Schreck. Vor Überraschung. Vor Fassungslosigkeit.

Ihre Oma. Im Apfelbaum. Und Ben, der sie aus diesem Grund anrief.

Ihre Finger begannen vor Aufregung zu zittern, wie immer, sobald sie mit ihrer Vergangenheit konfrontiert wurde. Es war ihre Geißel. Ihr Fluch. Deshalb hatte sie in den letzten Jahren jeden Kontakt vermieden, auch wenn es ihr an manchen Tagen das Herz zerriss. An Geburtstagen. An Weihnachten. Zu Familientreffen. All das hatte ohne sie stattgefunden.

Ohne sie stattfinden müssen.

»Ich weiß, wie schwer dir die Rückkehr fällt, aber ich fürchte, es gibt keine andere Möglichkeit. Du musst zu uns kommen.«

»Ruft die Feuerwehr!«

»Haben wir schon. Oma hat sie mit Steinen beschossen. Erinnerst du dich an die alte Flitsche, die wir damals im Baumhaus gebunkert haben? Die hat sie in Betrieb genommen. Sie hat uns darüber hinaus deutlich klargemacht, dass sie nicht wie eine räudige Katze gerettet werden muss. Die Feuerwehr ist wieder abgerückt. Das war denen zu heiß. Sie wollten Oma nicht für verrückt erklären und sie gegen ihren Willen runterholen.«

Die freiwillige Feuerwehr ist auch nicht mehr das, was sie mal war, dachte Nora missmutig. »Irgendwann wird sie schon runterkommen«, murmelte sie und glaubte selbst nicht dran.

»Du kennst doch deine Oma. Die verhungert und verdurstet eher, als dass sie die Segel streicht. Du musst kommen. Ernsthaft, Nora. Ich bin mit meinem Latein am Ende.«

Nora atmete tief durch, versuchte sich zu beruhigen. Du könntest einfach auflegen, dachte sie. Blockier die Nummer und tu so, als hätte Ben niemals angerufen.

Doch das konnte sie nicht. Nicht mehr. Der Damm, den sie zum Schutz gegen ihre Vergangenheit aufgebaut hatte, war löchrig geworden. In dem Moment, in dem sie Bens Stimme gehört und die Neuigkeiten von ihrer Oma vernommen hatte.

Ben. Einerseits hatte sie sich danach gesehnt, seine Stimme eines Tages wieder zu hören. Andererseits hatte sie sich davor gefürchtet und es auf jeden Fall vermeiden wollen. Er hatte ihr wehgetan. Sehr weh. Sie hatten sich gegenseitig unglücklich gemacht. Und das, wo sie einst das absolute Traumpaar gewesen waren. Auch jetzt ließ sein Anruf ihr Herz schneller und schneller schlagen.

»Nora? Bist du noch da?«

»Nein. Äh, ja. Aber nicht mehr lange. Wie kommst du an diese Nummer, Ben?« Sie ließ ihre Stimme absichtlich drohend klingen, damit sie nicht länger in den höheren Tonlagen kiekste. Das tat sie immer, wenn sie aufgeregt war. Bens Stimme zu hören, brachte sie völlig aus dem Konzept. Das war schon immer so gewesen. Sie kannten einander, seit Nora bei der Schwimmprüfung abgesoffen war und er sie aus dem Wasser gezogen hatte. Trotz der Atemnot hatte sie als Sechsjährige schon erkannt, dass er wahnsinnig schöne Augen hatte. Sie waren beste Freunde geworden, und später, so mit zwölf, hatte er ihr den ersten Kuss gestohlen. Die Anziehungskraft zwischen ihnen war unbestreitbar. Auch jetzt weckte allein sein Atemgeräusch im Telefonhörer die seit Langem schlafenden Glühwürmchen in ihrem Magen auf. Sie zappelten und tanzten vor Freude. Nora zwang sie zur Landung und bemühte sich, sich zu konzentrieren. Das Gespräch war zu wichtig. Sie musste wissen, wie er sie gefunden hatte. »Ich warte auf eine Erklärung«, knurrte Nora möglichst drohend.

Ben ließ sich Zeit mit der Antwort. »Ich hab …«

»Frau Graf?«

Mist! Nora war dermaßen auf das Gespräch konzentriert gewesen, dass sie ihren Chef nicht bemerkt hatte. Der stand plötzlich wie aus dem Boden gewachsen vor ihr und starrte sie mit finsterer Miene an.

»Wir müssen reden«, sagte er ernst.

Nora rutschte das Herz in die Hose. Auch das noch. »Ich muss Schluss machen«, wisperte sie hastig in den Hörer und legte auf, bevor Ben zum Protestieren kam. Sie spürte, wie ihr Gesicht vor Aufregung zu glühen begann. Seltsamerweise dachte sie als Erstes an den verrutschten Gebucht-Stempel auf der neuesten Rechnung. So etwas passierte ihr sonst nie. Hatte ihr Chef das etwa bemerkt? Normalerweise achtete sie als Einzige derart pedantisch auf solche Kleinigkeiten. »Herr Forster, was kann ich für Sie tun?«, fragte sie freundlich, doch viel zu ängstlich. Wie konnte solch ein kleiner Mann einen derartigen Schrecken verbreiten?

Ihr Chef war das, was man im Volksmund als »abgebrochener laufender Meter« bezeichnete. Klein, untersetzt, mit fliehender Stirn und grimmigem Gesichtsausdruck. Um seine Statur zu kompensieren, trug er die teuersten Anzüge, die modernsten Schuhe und die dickste Uhr. Unter anderen Umständen hätte sich Nora über ihn lustig gemacht, doch Herr Forster war nicht lustig. So gar nicht.

Er konnte seinen Untergebenen das Leben zur Hölle machen.

Nora öffnete den Mund, um eine Erklärung für das Privatgespräch und den verunglückten Stempel hervorzuwürgen, doch er kam ihr zuvor. »Ich bewundere wirklich Ihren Arbeitseifer, Frau Graf, aber das geht langsam zu weit. Sie sind beurlaubt. Für die nächsten zwei Wochen. Mein herzliches Beileid.«

Abermals war Nora lediglich in der Lage, verwirrt zu blinzeln. Was geschah hier? »Beurlaubt? Aber was habe ich denn getan?«, fragte sie entsetzt.

»Sie haben gar nichts getan. Ihr Verlobter hat mich angerufen und uns über den Tod Ihres Vaters in Kenntnis gesetzt. Er wollte sich beschweren, weil Sie angeblich keinen Urlaub für die Urnenbeisetzung Ihres Vaters genehmigt bekommen haben. Mir ist bewusst, dass ich eine Urlaubssperre verhängt habe. In dem Fall mache ich allerdings eine Ausnahme. Selbstverständlich sollten Sie jetzt bei Ihrer Familie sein. Ich bin ja kein Unmensch.«

Das war glatt gelogen, doch Nora hütete sich, ihn zu korrigieren. Herr Forster war ein Unmensch! Aber warum musste er sich ausgerechnet in dieser Situation auf seine gute Erziehung besinnen?

»Ich … meine Projekte … ich kann nicht …«

»Ihre Projekte sind bei Frau Humpert in den besten Händen. Sollte sie Fragen haben, wird sie sich bei Ihnen melden. Jetzt müssen Sie gehen. Laut Ihrem Verlobten hat er bereits ein Bahnticket gebucht. Um vierzehn Uhr geht Ihr Zug Richtung Heimat. Gute Reise und … äh … abermals herzliches Beileid!« Mit diesen Worten nickte ihr Herr Forster noch einmal zu und verschwand in seinem Büro.

Ihr … Verlobter? Welcher Verlobte denn? Fassungslos starrte Nora ihrem Chef hinterher. Sie träumte. Das war die einzige Erklärung. Ein echter Albtraum. Erst als sie das Geräusch von Rollen auf dem Laminat vernahm und sich ein spitzer Ellenbogen in ihre Rippen bohrte, konnte sie sich aus ihrer Starre lösen.

Sie drehte den Kopf und blickte ihre Arbeitskollegin und beste Freundin Annabelle an. Die zog eine Augenbraue in die Höhe.

»Stimmt das? Dein Vater ist gestorben?«, fragte sie mit einem seltsamen Unterton. Nora brachte lediglich ein schwaches Nicken zustande, woraufhin sich Annabelles skeptische Miene in tiefe Betroffenheit verwandelte. »Oh, Nora! Das tut mir von Herzen leid!« Sie wollte sie in die Arme nehmen, doch Nora hob hastig die Hände und wehrte sie ab.

»Nicht, Annabelle! Du brauchst mich nicht zu bedauern. Mein Vater und ich haben uns seit acht Jahren nicht gesehen. Ich hatte eigentlich nicht vor, zur Urnenbeisetzung zu gehen. Die Trauerfeier mit Sarg hab ich ohnehin schon verpasst.«

Dass ihr dieser Entschluss beinahe das Herz gebrochen hätte, erwähnte Nora lieber nicht. Sie war lange hin- und hergerissen gewesen. Sollte sie nicht doch gehen? Aber wie sollte sie dann mit Ben umgehen? Mit ihrer Mama? Das alles war so kompliziert. Sie hatte sich selbst in eine unmögliche Lage gebracht und wusste nicht mehr, wie sie daraus entkommen konnte. Letztlich hatte sie sich gegen einen Besuch entschieden. Das war wohl besser für alle Beteiligten.

»Was? Bist du verrückt geworden? Nora! Dein Vater ist gestorben. Natürlich musst du hin. So zerstritten könnt ihr gar nicht sein«, rief Annabelle prompt.

Mittlerweile war sich Nora auch nicht mehr so sicher, ob ihr Entschluss klug gewesen war. Ganz tief in ihrem Inneren war sie sogar ein wenig erleichtert über den Anruf. Ihre Oma zwang sie zurück. Sie hatte ihr die Entscheidung abgenommen.

»Wenn du um vierzehn Uhr am Bahnhof sein willst, solltest du langsam los«, holte sie Annabelle aus den Gedanken. »Was immer auch passiert ist: Sieh die Beisetzung als Möglichkeit, damit abzuschließen. Fahr hin, regel alles und komm zurück. Je schneller, desto besser. Ich halte in der Zwischenzeit die Stellung und pass auf, dass dir die Humpert nicht den Posten stibitzt. Die reibt sich schon die Hände. Endlich hat sie die Chance zu zeigen, was sie kann. Oder auch nicht.«

Annabelle und Nora blickten gleichzeitig zu dem Schreibtisch in der Ecke, wo Susanne Humpert wie ein Geier hockte und wild auf ihre Tastatur einhämmerte.

»Sie wird alles tun, um mir möglichst viele Fehler nachweisen zu können«, prophezeite Nora düster. »Wenn ich in zwei Wochen zurückkomme, werde ich wieder Fußvolk sein, und sie hat sich meine Arbeit unter den Nagel gerissen. All die Jahre für die Katz. Außerdem stempelt sie immer vollkommen ohne Ordnung. Das macht mich ganz kirre.«

Annabelle zog eine Augenbraue in die Höhe. »Ist klar«, sagte sie ironisch. Dann seufzte sie. »Ich passe schon auf, dass die Humpert dir nicht alles versaut, rate dir jedoch: Komm möglichst schnell zurück. Trotzdem solltest du fahren.«

Nora gab nach, schon allein um keine weitere Ermahnung ihres Chefs zu riskieren. Wenn der einen so klaren Befehl erteilte, sollte man besser gehorchen.

Mit einem weiterhin unguten Gefühl stand sie auf und zog ihre schwarze Handtasche unter dem Schreibtisch hervor. Ihr Terminplaner musste natürlich mit, genau wie ihr in der Schublade verstecktes Handy und ihr Lieblingsstift mitsamt Notizblock. Nein. Besser waren drei Stifte. Falls einer nicht funktionierte und der andere farblich nicht passte. Es war außerdem immer gut, eine dritte Option dabeizuhaben. Ihr neuester Ratgeber mit dem Titel Wie neugeboren ohne Zucker durfte ebenfalls nicht fehlen. Nora dachte zwar im Traum nicht daran, ohne Zucker zu leben, aber es beruhigte sie, darüber zu lesen und andere für ihr Durchhaltevermögen zu bewundern.

Ben hätte über diesen schrägen Gedankengang jetzt herzhaft gelacht, dachte sie mürrisch. Er hatte ihren Hang, Ratgeber zu lesen, ohne sich je daran zu halten, schon immer witzig gefunden.

Wieso nur fanden so viele Leute ihre kleinen Marotten seltsam? Mit finsterer Miene räumte sie den Ordner des letzten Kunden zurück ins Regal, richtete ihn parallel zur Regalkante aus und sortierte ihre Marker nach Farben, ehe sie in der Schublade verschwanden. Natürlich mit exakt dem gleichen Abstand.

Annabelle beobachtete sie schweigend. Aus Erfahrung wusste sie, dass Nora gerade nicht gestört werden durfte. Sonst musste diese noch mal von vorne anfangen. »Und sobald du wieder da bist, will ich alles über deinen Verlobten wissen«, sagte sie plötzlich.

Ihr Verlobter! Nora erstarrte. Den hatte sie ganz vergessen. Wie kam ihr Chef nur darauf, dass sie einen … oh, verdammt. »Ben«, knurrte Nora. Das war die einzige Erklärung. »Na, warte. Wenn ich dich in die Finger bekomme, wirst du was erleben!«

Er hatte es getan. Er hatte sie wirklich angerufen. Unfassbar. Bens Hand verkrampfte sich leicht vor lauter Anspannung, als er sein Handy in die Hosentasche zurückschob. Sein verräterisches Herz überschlug sich regelrecht, und er fühlte sich, als sei er hundert Meter gesprintet.

Nora.

Die Gefühle, die ihre Stimme in ihm ausgelöst hatte, waren vollkommen konträr. Er war noch immer so wütend auf sie. So verletzt. All die aufgestauten Empfindungen kamen mit voller Wucht zurück. Vermutlich ahnte sie nicht einmal, wie böse er wirklich auf sie war. Sie fühlte sich als Opfer, aber das war sie nicht. Nicht komplett.

Welcher normal denkende Mensch verschwand einfach von einem Tag auf den anderen? Niemand! Er war vor Angst um sie fast gestorben. Das konnte er ihr einfach nicht verzeihen.

Doch da waren noch die alten, lange verbuddelten Gefühle. Sie hatten einander geliebt. Bis zu dem Tag, an dem Nora abgehauen war.

»Und, was hat sie gesagt?«

Das war Oma Enne, die ihn aus seinen trüben Gedanken riss. Eigentlich hatte er das Telefonat in Ruhe zu Hause führen wollen, doch die alte Dame hatte das spitzbekommen. Sie hatte ihm so lange ihre Kaffeeklatschfreundinnen auf den Hals gehetzt, bis er klein beigegeben und den Anruf unter dem Apfelbaum geführt hatte. Und er hatte es versaut. Zumindest fühlte es sich so an.

»Sie hat aufgelegt«, rief er nach einer Weile zu der wartenden alten Dame in luftiger Höhe hinauf. Seit Oma Enne auf den Baum geklettert war, litt sein Nacken. Ständig nach oben gucken zu müssen, war anstrengend.

»Ich hab doch gesagt: Lass mich mit ihr reden.«

»Und ich hab gesagt: Du darfst gerne mit ihr reden, wenn du dafür runterkommst.«

Enne brummelte verärgert. Sie mochte es nicht, erpresst zu werden. Natürlich war sie nicht auf seine Bedingungen eingegangen.

»Wie hat sie denn geklungen?«, hakte sie nach.

»Ruppig und kurz angebunden. Was hast du denn erwartet? Sie ist seit acht Jahren verschwunden und wollte nicht gefunden werden. Da gefällt es ihr bestimmt nicht, dass ich sie aus heiterem Himmel anrufe.«

»Ich bin auch noch immer beeindruckt von deinen detektivischen Fähigkeiten, mein Junge. Jetzt musst du nur noch an deinen Überredungskünsten feilen. Ruf sie noch mal an.«

»Im Leben nicht!«

»Dann komme ich auch nicht runter, streike weiter und halte dich dadurch von deiner immens wichtigen Arbeit ab. Viola sagt, die Beregnungsanlage funktioniert bei den südlichen Apfelbäumen nicht. Wenn Frost kommt, gehen wir pleite, weil die Blüten erfrieren. Das ist dann allein deine Schuld. Weil du mich gezwungen hast, dich abzulenken.«

Ben seufzte. An diesem Punkt waren sie schon tausendmal angekommen. Oma Ennes Logik war genauso verdreht wie genial. Mist. Er hatte so gehofft, die Verantwortung endlich abgeben zu können. Deswegen hatte er das Gespräch mit Nora auch ausgiebig vorm Spiegel geübt. Jedes Wort. Dass sie einfach auflegen könnte – damit hatte er nicht gerechnet.

Egal! Er brauchte Nora nicht. Seit Jahren kam er gut ohne sie klar, da würde er ihre Oma schon noch vom Apfelbaum runterbekommen. Irgendwie.

»Oma Enne, es ist vorbei. Nora wird nicht kommen, also gib auf«, sagte er jetzt deutlicher. Natürlich war die alte Dame nicht wirklich seine Oma, aber jeder nannte sie so. Wirklich jeder. Selbst die noch älteren Frauen des Ortes.

»Sie ruft an.«

»Wird sie nicht.«

»Wird sie wohl.«

Sein Handy klingelte. Ungläubig starrte er aufs Display. Das war … das war wirklich …

»Ich sag doch, dass sie anruft«, sagte Oma Enne voller Genugtuung in der Stimme.

Ben bezweifelte das. Es war eine unbekannte Nummer, und er wagte es kaum zu hoffen. Mit angehaltenem Atem ging er ran.

»Du hast dich als mein Verlobter ausgegeben?«, wurde er gleich darauf angebrüllt.

Ben brauchte kurz, um den Satz zu erfassen. Verlobter? Ach, ja! Aber es war tatsächlich Nora am anderen Ende der Leitung. Zwar war sie richtig wütend auf ihn, aber wenigstens rief sie zurück.

»Ich …«, setzte er an, wurde jedoch unterbrochen.

»Was hast du dir nur dabei gedacht? Mein ganzes Büro denkt jetzt, ich würde bald heiraten. Und ich bin beurlaubt worden. Beurlaubt! Ich bin noch nie beurlaubt worden.«

Das konnte sich Ben gut vorstellen. Nora hatte selbst in der Schule keinen Tag gefehlt. Solange sie fleißig sein konnte, fühlte sie sich wohl. Offenbar galt das noch immer.

»Das tut mir leid … oder auch nicht. Kommst du denn jetzt nach Hause?«

»An dieser Stelle der Diskussion sind wir noch nicht. Der Anschiss wegen deines perfiden Plans, mich nach Hause zu locken, kommt erst noch. Momentan bin ich zunächst stinksauer auf dich, weil du rumerzählst, wir seien verlobt.«

»Wir waren mal verlobt. Und soviel ich weiß, hast du diese Verlobung nie aufgelöst.«

Bumm. Das hätte er besser nicht gesagt. Ben hörte, wie Nora tief einatmete. Es hörte sich an wie eine Kobra, die zischelnd zum Biss ausholte. Mist. Er war mal wieder übers Ziel hinausgeschossen.

Aus dem Augenwinkel sah Ben, wie Oma hektisch von oben herabwinkte und dabei das Zeichen für »Abbruch, Abbruch« machte. Dabei tat sie so, als erwürge sie sich selbst. Offenbar ihre Art, ihm zu vermitteln, dass er das Gespräch falsch anpackte.

»Ernsthaft? Du kommst mir jetzt mit der Verlobung? Da waren wir vierzehn, Ben. Vierzehn! Seitdem ist eine Menge passiert. Unter anderem Helen«, brachte Nora wütend hervor.

Ben verdrehte die Augen. Musste sie jetzt schon mit diesem Thema anfangen? Das war Lichtjahre her. »Das mit Helen tut mir noch immer sehr, sehr leid«, sagte er und wollte noch den Satz Aber du hast mich das auch nie erklären lassen hinzufügen. In letzter Sekunde verkniff er sich das. Es hätte nur zu weiterem Streit geführt.

»Lassen wir das. Wie dem auch sei. Ich komme nach Hause.«

Da war er. Der eine Satz, den er hatte hören wollen. Ben legte den Kopf in den Nacken und blickte in den strahlend blauen Himmel hinauf. Halleluja! Vielleicht geriet dieser Tag doch nicht völlig aus den Fugen. Er hatte es geschafft. Sie hatte es wirklich gesagt. Zwar in einem Tonfall, der Wasser gefrieren lassen konnte, aber immerhin! Nora kam nach Hause.

Wie immer wusste sie genau, was Ben dachte. »Bild dir nichts drauf ein«, brummte sie. »Ich bin sauer auf dich. Und zwar so richtig!«

Das war ihm völlig egal. Er hatte sein Ziel erreicht und konnte vielleicht bald diesem Wahnsinn entkommen. Zumal Oma gerade eine Kreidetafel hob und damit herumwedelte. Kommt sie? stand in krakeliger Schrift darauf.

Ben hob den Daumen und nickte, woraufhin Oma einen kleinen Freudentanz auf der Veranda ihres Baumhauses aufführte. Automatisch hielt Ben den Atem an. Der Baum schwankte bedenklich.

»Ich hole dich ab«, sagte er zu Nora, sobald Enne mit dem Unfug aufgehört hatte.

»Nein, danke. Ich komm klar. Ich fahr nur schnell zu Oma, pflück sie vom Baum und bin schneller weg, als ihr meinen Namen buchstabieren könnt. Ich komme nur ihretwegen! Nicht wegen der Beerdigung, nicht deinetwegen.«

Ben atmete tief ein. Na, das war ja mal eine Kampfansage. »Ich hole dich ab«, wiederholte er mit fester Stimme. »Ob du willst oder nicht.«

Damit legte er auf und fragte sich nicht zum ersten Mal, wie er dieses Zusammentreffen überstehen sollte. Nora. Er würde ihren geballten Zorn abbekommen. Ob zu Recht oder nicht, mussten sie noch ausdiskutieren. Es war Zeit, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, um neu anzufangen.

»Sie kommt«, jubelte Oma von oben und warf eine ganze Handvoll Luftschlangen zu ihm herunter. Vermutlich hatte sie die schon in freudiger Erwartung dieses Momentes bereitgelegt.

Es war unheimlich, wie gut organisiert die Frau war. Da hockte sie im Baum und war doch besser ausgestattet als so mancher Supermarkt. Wie sie die Dinge dort hinaufbekam und wer sie ihr besorgte, war Ben schleierhaft.

»Freu dich nicht zu früh«, rief er zu ihr hoch. »Nora ist richtig wütend. Das wird kein netter Besuch, sondern eine Abrechnung.«

»Das ist mir egal. Ich bin hier oben sicher vor ihrem Zorn. Um dich mache ich mir hingegen größere Sorgen. Du willst Nora ernsthaft vom Bahnhof abholen? Gegen ihren Willen? Das ist mutig, mein Freund. Sehr, sehr mutig.«

Mit Mut hatte das weniger zu tun. Eher mit Verzweiflung. Ihm war klar, dass Nora nach ihrer Ankunft erst mal nach Jork fahren würde, um sich ein Hotel zu suchen. Sie würde bestimmt erst morgen hier auf dem Apfelhof erscheinen. Aber Ben rann die Zeit zwischen den Fingern hindurch. Er hatte nicht mehr viel Spielraum, um dieses Drama zu klären. Und das hieß: Er musste Nora vom Bahnhof abholen, um sie so schnell wie möglich hierherzubekommen.

#Exfreundenerven

Einen Exfreund zu daten, ist etwa so clever, wie mit einer Klapperschlange Fangen spielen zu wollen.

(Aus: Zur Hölle mit dem Ex)

Der Zug fuhr langsam in den Buxtehuder Bahnhof ein und rollte am Bahnsteig entlang, auf dem sich nur eine Handvoll Leute tummelte. Nora klammerte sich jetzt noch fester an ihren neuesten Ratgeber, den sie hastig im Bahnhof gekauft hatte. Zur Beruhigung. Sie hatte ihn einfach mitnehmen müssen, immerhin lautete der Titel: Zur Hölle mit dem Ex. Passender ging es nicht. Leider hatte diese Lektüre sie mehr aufgewühlt als beruhigt. Vielleicht sollte sie doch lieber das Zuckerbuch weiterlesen.

Verdammte Ratgeber. Sie sollte endlich einen Ratgeber gegen Ratgebersucht schreiben. Vielleicht hörte sie dann auf, sich mit zu viel Hintergrundwissen verrückt zu machen.

Während ihr Herz immer schneller pochte, starrte sie aus dem Fenster und fragte sich, wie es dazu hatte kommen können. Wieso war sie zurückgekommen?

Dann stockte ihr der Atem.

Nein! Da stand er. Ben. Auf dem Bahnsteig. Er hatte die Hände tief in seinen Hosentaschen vergraben und trat unruhig von einem Bein auf das andere. Alles an ihm schrie nach Nervosität – und damit war er nicht allein.

Noras Welt geriet ins Wanken. Ihr Magen zog sich zu einem festen, immer heißer werdenden Klumpen zusammen. Wie ein Vulkan vor dem Ausbruch. Ein Kribbeln kam hinzu, das sich von ihrem kleinen Zeh aus durch den gesamten Körper arbeitete und ihr sogar das Atmen erschwerte.

Ben.

Er war kantiger geworden. Die Schultern wirkten breiter, der Rücken kräftiger, die Arme muskulöser. Seine ehemals schulterlangen, dunkelbraunen Haare waren zu einer konventionellen Kurzhaarfrisur gestutzt, die ihm sehr gut stand, und das jungenhafte Gesicht war komplett verschwunden. Schon aus dem Zugfenster bemerkte Nora die vielen neuen Falten, den Schatten unter seinen Augen und den fest zusammengepressten Mund. Ben stand unter Strom. Und das nicht erst seit heute.

Der Zug hielt mit einem Quietschen und schleuderte Nora in die Realität zurück. Sie hatte vergessen, einen Notfallplan zusammenzuzimmern. Was sollte sie denn jetzt machen? Sie wollte, nein, sie KONNTE Ben auf keinen Fall gegenübertreten. Das hatte sie sich und ihren Nerven geschworen. Aber … der Buxtehuder Bahnhof war recht übersichtlich. Es war nahezu unmöglich, ungesehen an Ben vorüberzugehen. Und auf ihren hohen Schuhen schon mal gar nicht. Warum hatte sie die Dinger überhaupt angezogen?

Um ein Exempel zu statuieren, erinnerte sie sich selbst. Als sie vom Apfelhof fortgegangen war, hatte sie billige gelbe Gummistiefel vom Discounter, Arbeitshosen von ihrer Mutter und den viel zu großen Regenmantel ihrer Schwester getragen. Sie hatte sich einfach das übergeworfen, was in der Waschküche zu finden war. Nur weg. Das war das Einzige gewesen, das sie hatte denken können.

Heute, acht Jahre später, hatte sie sich ihre besten Kleider angezogen. Ein schwarzes Kostüm, Seidenstrumpfhosen, eine strahlend weiße Rüschenbluse und knallrote Pumps. Ihre Art zu sagen: Ich bin nicht mehr dieselbe. Legt euch nicht mit mir an.

Bloß war Rennen in diesen Schuhen unmöglich, genau wie Schleichen. Die Dinger klackerten wie Stepptanzschuhe.

Weil ihr nichts anderes übrig blieb, duckte sie sich, stieß sich heftig den Kopf am Vordersitz und kauerte sich ungeachtet ihrer schmerzenden Stirn zusammen. Unsichtbar sein. Unter dem Radar bleiben. Das war ihre Strategie. Hoffentlich hatte Ben sie nicht schon längst entdeckt. Aus Noras gebückter Position sah sie jetzt lediglich Beine, die an ihrer Sitzreihe vorüberhuschten. Es wurde merklich leerer und ruhiger. Die Gäste verließen den Zug.

»Moin, die Dame. Hier ist Endstation wegen Bauarbeiten auf der Strecke«, sprach sie ein rundlicher Schaffner an. Er war neben Noras Sitz stehen geblieben und legte den Kopf schief.

Nora wandte sich ihm zu, was in ihrer Position wirklich schwierig war, und bemühte sich um ein freundliches Gesicht. »Weiß ich. Danke.«

»Und was machen Sie dann da? Yoga?«

Ausreden halfen nicht weiter, also rückte Nora mit der Wahrheit heraus. »Ich verstecke mich vor dem Typ auf dem Bahnsteig. Blaue Jeans, dunkler Pulli, extrem gut aussehend. Ist er noch da?«

Der Schaffner blickte durchs Fenster. »Meinen Sie das Katalogmodel? Muskulöser Frauenschwarm mit Sicherheitsschuhen?«

Das mit den Sicherheitsschuhen war Nora entgangen, aber sie nickte. »Verschwindet er?«

»Ja, durchaus.«

Sofort entspannte sie sich. Uff. Ben hatte aufgegeben und trollte sich. Sie wollte sich gerade aufrichten, da grinste der Schaffner plötzlich süffisant.

»Er betritt den Zug«, informierte er sie und drehte sich bereits in Richtung Tür.

Tatsächlich kam Ben herein. Nora konnte ihn aus ihrer zusammengekrümmten Position zwischen der Lücke der beiden Vordersitze auf sich zukommen sehen.

Er sah sich suchend um, woraufhin sich der Schaffner wieder an sie wandte und sie ernst musterte. »Ist er gefährlich? In dem Fall ruf ich gerne die Polizei.«

»Nein, nur eine verflossene Liebe, der ich zu entkommen versuche.«

»Das hat ja gut geklappt«, sagte der Schaffner ironisch. »Wie dem auch sei: Sie müssen beide aussteigen.«

Nora gab daraufhin ihre Kauerstellung auf. Ben hatte sie ohnehin entdeckt. Er kam durch den Gang von rechts auf sie zu, der Schaffner stand links. Sie war eingekesselt.

»Wenn Sie wollen, komplimentiere ich ihn aus meinem Zug. Sie können warten, bis er weg ist«, schlug der Schaffner vor, kurz bevor Ben sie erreicht hatte. »Oder ich renne ihn über den Haufen. Wie im Film, und Sie hüpfen über ihn drüber.«

Nora schüttelte den Kopf. »Ich komm schon klar. Danke.«

Daraufhin tippte sich der Schaffner zum Gruß an seine Schirmmütze und verschwand aus der Richtung, aus der er gekommen war.

Nora hatte es plötzlich eilig. Sie zog ihre Handtasche unter dem Sitz hervor und wollte aufstehen, als Ben sie erreichte.

»Hast du dich etwa vor mir versteckt?«, fragte er amüsiert.

»Nein. Nur was verloren.« Nora wagte kaum zu atmen. Ben war ihr viel zu nah! Sie konnte ihn sogar riechen, was ein Gefühlschaos in ihr auslöste. Er roch noch wie früher. Dasselbe Aftershave, wobei er sich als Jugendlicher nur rasiert hatte, um sich erwachsen zu fühlen. Sein Bartwuchs war damals recht spärlich gewesen. Heute sah das definitiv anders aus, und doch war der Duft derselbe geblieben. Frische Wiese, Bäume … und natürlich Apfel. Alles hier roch nach Apfel, immerhin befanden sie sich im Alten Land, dem größten zusammenhängenden Obstanbaugebiet Nordeuropas.

Es roch für Nora nach Heimat. Und nach Schmerz.

Kurzerhand hielt sie den Atem an, kam sich dann aber albern vor. Sie musste sich Ben stellen. Es half ja alles nichts.

Um aus dem Sitz des Regionalzugs zu kommen, musste sie sich an ihm vorbeiquetschen. Sie bemühte sich, ihre Jugendliebe nicht zu berühren. Vergeblich. Der Gang war einfach zu schmal. Die wild gewordenen Glühwürmchen starteten wieder durch, sobald sie mit der Hand seinen Pullover streifte. Gegen seine Schulter stieß.

Er wich ihr aus und drückte sich gegen den Sitz, damit sie passieren konnte.

Vorbei. Endlich. Sie hielt auf den Ausgang zu wie eine Ertrinkende auf die Rettungsinsel.

Mit solch einem panischen Aufbruch hatte Ben offenbar nicht gerechnet. Sie spürte seine verblüfften Blicke, was ihre Beine nur beflügelte. Auf den hohen Schuhen so schnell zu laufen und dabei auch noch elegant auszusehen, war beinahe unmöglich, doch sie schaffte es durch die Tür. Auf der einen Stufe runter zum Bahnsteig hätte sie sich fast auf die Nase gelegt, sie strauchelte, fing sich aber rechtzeitig. Das hätte ihr gerade noch gefehlt.

»Nora! Wo willst du denn hin?«, hörte sie Ben hinter sich rufen. Er war ihr natürlich gefolgt und sprang deutlich eleganter auf den Bahnsteig als sie.

»Ich muss meinen Bus bekommen.«

»Das ist doch albern. Ich bin mit dem Auto da und nehme dich natürlich mit nach Jork.«

»Nein, danke. Wie ich am Telefon schon gesagt habe: Ich komme allein klar. Außerdem habe ich die Busfahrt schon bezahlt.«

Ben lief neben ihr her und schüttelte genervt den Kopf. »Komm schon. Das ist albern.«

Jetzt blieb sie abrupt stehen. Eine wohltuende Wut überschwemmte ihre aufgepeitschten Gefühle. Ben zu sehen, hatte sie aus der Fassung gebracht, aber an ihrem lang gehegten Groll ihm gegenüber konnte sie festhalten. Der war ein alter Bekannter. Eine Konstante in dieser verwirrenden Entwicklung.

»Ich bin albern? Wer hat sich denn bitte als mein Verlobter ausgegeben, um für mich Urlaub bei meinem Chef zu erlügen? Und wer klettert auf Bäume, um mich nach Hause zu zwingen? Das bin ja wohl alles nicht ich. Also tu mir einen Gefallen und geh wieder dahin zurück, wo du hergekommen bist. Wartet Helen nicht sehnsüchtig auf dich, um dich erneut zu verführen?«

Bens Gesichtszüge entgleisten. Mit diesem Schlag unter die Gürtellinie hatte er nicht gerechnet. Nora eigentlich auch nicht. Sie hatte sich fest vorgenommen, die alten Wunden nicht aufzureißen. Eigentlich hatte sie überhaupt kein Wort mit Ben wechseln wollen. Doch jetzt war es ohnehin zu spät. Er war da, und sie musste damit zurechtkommen.

»Helen und ich …«, setzte er an.

»Sätze, die mit ›Helen und ich‹ anfangen, höre ich mir ganz bestimmt nicht an«, unterbrach Nora ihn hitzig. »Du hast mich mit meiner besten Freundin betrogen, und das tat gleich doppelt weh. Aber darüber sprechen wir bestimmt nicht hier. Eigentlich sprechen wir darüber überhaupt nicht.« Sie schulterte entschlossen ihre Tasche und stöckelte möglichst aufrecht weiter. Allmählich taten ihr vom Laufen die Füße weh. In Köln trug sie am liebsten Turnschuhe. Ihr Chef hatte nichts dagegen, solange keine Kundentermine anstanden. High Heels trug sie nur auf Sitzpartys. Und eben jetzt.

Sie war eine Großstädterin von Welt! Und die ertrugen blutende Füße in viel zu hohen Schuhen stillschweigend und tapfer.

Ben hielt natürlich mühelos mit ihr Schritt. Wenigstens war ihm die Lust am Diskutieren vergangen. Gut so. Nora wusste ohnehin nicht, was sie noch zu besprechen hatten. Warum ging er nicht endlich?

In der Sekunde sah sie den Bus an der Haltestelle stoppen. Sie hatte nur sieben Minuten für das Umsteigen gehabt und dabei einige Zeit im Zug verplempert. Der nächste Bus fuhr erst in einer Stunde von Buxtehude nach Jork.

Entschlossen begann sie zu rennen. Die Genugtuung würde sie Ben nicht gönnen. Auf keinen Fall wollte sie doch noch zu ihm ins Auto steigen, weil sie ihren Bus verpasst hatte. Es war spät, sie war müde und mit den Nerven am Ende. Aber diesen kleinen Sprint würde sie schaffen. Sie musste einfach!

Um auf sich aufmerksam zu machen, wedelte sie mit ihrer Tasche herum und geriet dadurch ins Straucheln, wurde aber nicht langsamer. Wenn sie das getan hätte, wäre der Bus für sie verloren gewesen. Weiter. Immer weiter!

Es kam, wie es kommen musste. Sie blieb mit dem rechten Absatz an einer Unebenheit im Bürgersteig hängen, verlor das Gleichgewicht und stürzte. Zwar fing sie sich noch mit den Händen ab, knallte aber umso härter mit den Knien auf. Nora schrie vor Schmerz und Schock laut auf. Ihre Knie! Ihre Hände! Aua. Am liebsten hätte sie an Ort und Stelle geweint, aber das ging nicht. Ben. Er war schon bei ihr. Starke Hände lagen auf ihren Schultern. Er hockte sich neben sie und griff ihr stützend unter die Arme. So nah und doch so fern.

»Nora, alles okay?«, fragte er besorgt. Allein die Stimmlage jagte ihr einen Schauer über die Haut. Sie weckte Erinnerungen. Nicht nur schlechte. Auch gute.

Sie kniff die Augen zusammen, um diese Gefühlsduselei zu vertreiben.

Nichts war okay. Gar nichts! Ihre Knie taten höllisch weh, ihre Handflächen waren aufgeschürft, und ihr Ego war im Eimer. Wenigstens stand der Bus noch an der Haltestelle. Das brachte Nora wieder auf die Beine und verhinderte, dass sie wie ein Schlosshund heulte und sich in Bens Arme warf. Das war alles so dermaßen absurd.

Mit einem Ruck schüttelte sie Bens helfende Hände ab und zog sich die Pumps von den Füßen. Ihre Knie bluteten, und ihre hübschen Seidenstrümpfe hingen in Fetzen, aber das war nebensächlich. Sie musste einen Bus erwischen.

Eine ältere Dame hatte die Situation richtig erkannt und dem Busfahrer ein Zeichen gegeben. Sie wirkte genau wie die umstehenden Passanten schockiert, winkte sie aber umsichtig heran.

Nora straffte sich und humpelte stur weiter. Barfuß. Mit den roten Schuhen in der einen und ihrer Tasche in der anderen Hand.

»Nora«, rief Ben ihr hinterher, doch sie ignorierte ihn geflissentlich.

»Das sah ja übel aus«, sagte die Dame zu ihr. »Alles in Ordnung?«

»Ich muss nur den Bus erwischen.«

»Ja, das haben wir bemerkt. Das ist aber kein Grund, sich umzubringen.«

»Für mich schon. Hier geht es ums Überleben. Ums nackte Überleben!«

Nora war irre geworden. Eindeutig. Erst versteckte sie sich, dann rannte sie vor ihm weg, und jetzt war sie auch noch gestürzt und wollte sich partout nicht helfen lassen. Wie konnte man nur so stur sein?

Auf keinen Fall konnte er auf ihren Wunsch eingehen und sie einfach in Ruhe lassen. Das hatte er acht Jahre getan und sich acht Jahre lang dafür verflucht. Jetzt, wo sie endlich wieder hier war, musste er die Chance ergreifen. Er hatte da einiges richtigzustellen. Leider machte sie ihm sein Vorhaben wirklich schwer.

Er hatte nur Sekunden, um sich zu entscheiden. Wenn sie in diesen Bus einstieg, hatte er sie erneut verloren. Zumindest für den Moment. Das durfte er nicht zulassen.

Kurzerhand hüpfte er hinter ihr her.

Nora stand schwankend vor dem Fahrer und kramte mit hochrotem Kopf in ihrer Tasche nach ihrer Fahrkarte. Sein Herz zog sich bei ihrem Anblick zusammen. Sie sah so winzig, so verloren, so verzweifelt aus. Seine sture, toughe Nora. Trotz ihres derangierten Zustandes war sie wunderschön. Die Jahre hatten ihrem Gesicht eine leichte Strenge verliehen, die aber gut zu ihr passte. Die wilden hellblonden Locken hatte sie behalten. Sie hatte versucht, sie in einen strengen Dutt zu verbannen, doch vergeblich. Ihre Frisur war ruiniert.

Und gerade dieser Makel erinnerte ihn stark an seine alte Nora, die sich heute lediglich verkleidet hatte. Die eine Andere sein wollte und trotzdem nicht war.

Dass sein Herz sich dabei kurz zusammenzog, irritierte und alarmierte ihn gleichermaßen. Vorsicht. Ihm war klar, dass seine Gefühle für Nora nicht ganz verschwunden waren. Sie hatten ihre Beziehung nie richtig beendet. Da waren noch so viele offene Fragen. So viele lose Fäden. Zu viele, um damit abzuschließen. Das bedeutete aber nicht, dass er noch hoffnungslos in Nora verliebt war. Es war eine stille Schwärmerei, die er aber mit aller Macht unterdrückte.

Dazu hatte sie ihm zu wehgetan.

Der Busfahrer war mit der Situation überfordert. Er starrte Noras blutige Hände an, die Pumps, dann ihre Knie. »Das war ein übler Sturz. Ich hätte einen Erste-Hilfe-Kasten«, bot er freundlich an.

»Danke, aber ich komme zurecht. Geben Sie mir nur einen Moment, um die Fahrkarte zu finden.« Noras Hände zitterten, während sie wie eine Irre in ihrer Tasche herumwühlte. Das Ticket blieb verschwunden, was seltsam war. Nora verlor sonst nie etwas.

»Gehen Sie ruhig durch. Ich glaub Ihnen. Ihr Einsatz, um den Bus noch zu erwischen, war beeindruckend.«

Erleichtert durfte Nora passieren und bemerkte erst in dem Moment, dass Ben hinter ihr wartete.

»Was willst du denn hier?«, fragte sie entsetzt.

»Ich komme mit. Du bist ja völlig durch den Wind.«

»Ganz bestimmt nicht. Raus aus dem Bus. Das ist meiner.«

»Der ist für alle da. Einmal Jork, bitte.«

Der Busfahrer warf ihm einen kritischen Blick zu, versuchte die Situation zwischen ihnen einzuschätzen. Dann rief er erfreut: »Mensch, Ben, wir haben uns ja lange nicht gesehen.«

Äh … Ben wusste, dass er den Fahrer kennen musste, aber der Name fiel ihm nicht ein. Er musste dringend sein Namensgedächtnis trainieren. »Stimmt. Wie geht’s?«, fragte er ausweichend.

»Gut. Richtig gut. Den Kindern auch. Musst mal dringend wieder vorbeikommen.«

»Ben hat keine Ahnung, wer du bist«, kam es aus dem Inneren des Busses. Das war Nora. Ben spürte, wie er rot wurde. Warum nur kannte ihn Nora so gut? Und seit wann führte sie ihn vor? Das war neu.

Aber er hatte Glück. Der Fahrer drehte sich um und starrte zu Nora, die sich auf einen Zweiersitz kurz vor der hinteren Tür gesetzt hatte.

»Nora?«, fragte er ungläubig.

»Genau die. Schön, dich zu sehen, Jens.« Sie betonte den Namen überdeutlich.

Ah! Jens. Endlich erinnerte sich Ben. Jens war in die Klasse unter ihnen gegangen. Doch Bens Erleichterung währte nicht lange.

»Schmeiß Ben bitte für mich raus, ja? Er verfolgt mich gegen meinen Willen.«

Sofort ruckte Jens’ Kopf zu Ben zurück. Er musterte ihn erneut, diesmal noch kritischer.

Daraufhin setzte Ben alles auf eine Karte. Jetzt half nur noch betteln. »Bitte, Jens, ich muss mit Nora sprechen, aber sie lässt mich nicht. Du kennst mich. Ich bin nicht gefährlich, nur verzweifelt. Wenn du mich jetzt rausschmeißt, wird sie niemals mit mir reden.«

Jens ließ ihn einen Moment schmoren, dann nickte er huldvoll. »In Ordnung. Um der alten Zeiten willen lass ich dich passieren. Aber melde dich mal wieder bei Rieke, ja?«

»Klar, mach ich«, sagte Ben hastig und huschte an Jens vorbei zu Nora rüber.

Die starrte ihn mit vor Wut funkelnden Augen an und zerrte rasch ihre Tasche auf den Sitz neben sich. »Besetzt«, sagte sie zu ihm. »Verräter«, rief sie nach vorne in Richtung Jens. Der zuckte lediglich mit den Schultern.

»Ihr seid das Traumpaar schlechthin gewesen. Ich wage es nicht, mir Amors Zorn zuzuziehen. Festhalten. Wir fahren nach Jork.«

Ben setzte sich möglichst schwungvoll auf den Sitz vor Nora und drehte sich provokativ zu ihr um. Zum Glück saßen nur drei weitere Menschen im Bus, die die Szene verfolgt hatten. Hoffentlich kannte er keinen von denen. Nora und er waren legendär gewesen. Die Nachricht, dass sie wieder da war, würde in dem übersichtlichen Ortsteil von Jork, in dem sie aufgewachsen waren, einschlagen wie eine Bombe.

Nora hatte den Kopf gedreht und starrte demonstrativ aus dem Fenster. Ihr Gesicht spiegelte sich in der Scheibe. Sie sah schrecklich abgekämpft aus. Viel müder als eben noch.

Für eine Sekunde hatte Ben beinahe Mitleid mit ihr. Er hatte sich immer vorgestellt, wie er sie zur Rede stellen würde. Wie er ihr all die ungesagten Worte an den Kopf werfen würde. Doch gerade wollte er sie eigentlich nur trösten. Ein absurder Gedanke! Wahrscheinlich drehten seine Nerven durch.

Weil er im Bus keine Szene riskieren wollte, wählte er einen Umweg. »Tut die Hand sehr weh?«, fragte er vorsichtig.

»Ich werde nicht dran sterben.« Nora wandte ihm den Kopf zu und zog herausfordernd eine Augenbraue hoch. »Aber für dich könnte es eng werden, sobald dich Rieke in die Finger bekommt. Du hast keine Ahnung, wer sie ist, nicht wahr?«

Ben fühlte sich sofort in der Defensive und ärgerte sich darüber. Mist. Sie hatte ihn ertappt. »Das ist Jens’ Frau«, riet er.

Nora schnaubte verächtlich. »Die Schwester«, korrigierte sie ihn. »Diejenige, die schon immer hinter dir her gewesen ist. Wie eigentlich alle Mädchen unseres Jahrgangs. Nur Helen hatte ich nicht auf dem Schirm. Ich dachte, ich könnte ihr vollkommen vertrauen.«

Gefährliches Terrain. Ein Minenfeld. Vor allem, weil es stimmte. Ben war seit der Pubertät der Frauenschwarm von Jork gewesen. Das hatte vor allem an seinem Aussehen und seinem Charme gelegen. Allerdings war sein Herz zu der Zeit längst vergeben gewesen. An Nora.

Er überhörte die Bemerkung über Helen und konzentrierte sich auf Rieke. Schwach erinnerte er sich an ein pummeliges freundliches Mädchen mit strähnigen Haaren und einem klugen Kopf. Stimmt, das war eine der Schwestern von Jens. Oder … oh, nein! Doch nicht DIE Rieke!

»Deinem Gesichtsausdruck nach erinnerst du dich wieder an Rieke«, spottete Nora. »Scheint peinlich zu sein.«

Das war es. Er war ein paarmal mit Rieke ausgegangen, hatte sich dann aber nicht mehr bei ihr gemeldet. Er war buchstäblich von der Bildfläche verschwunden. Dass es sich dabei um Jens’ kleine Schwester handelte, war ihm nicht klar gewesen. »Ich vergesse immer, wer mit wem verwandt ist«, erklärte er genervt.

»Ich weiß. Das hat dich schon öfter in Schwierigkeiten gebracht.« Ein letzter strafender Blick, dann sah Nora betont interessiert aus dem Fenster.

Es war Anfang April, und die Dämmerung hatte bereits eingesetzt. Nur undeutlich waren die vielen Baumreihen zu erkennen. Apfelbäume, die kurz vor der Blüte standen. Ab und zu huschte ein altes Fachwerkhaus aus Backstein am Fenster vorüber. Ben liebte besonders die mit den Reetdächern und weiß gestrichenen Holzbalken. Diese Gegend war von Marschhufendörfern geprägt. Dort lagen die Höfe an der Straße, und die landwirtschaftlich genutzte Fläche begann direkt dahinter.

»Bald ist Apfelblüte«, versucht er, auf ein neues unverfängliches Thema zu lenken. So schnell gab er nicht auf. »Dann kommen wieder Heerscharen nach Jork. Durch die warmen Temperaturen legen die Bäume dieses Jahr einen Frühstart hin.«

Nora brummte lediglich und zeigte damit deutlich, dass sie mit ihrer Heimat abgeschlossen hatte. Das fand Ben sehr schade. Früher hatte es niemanden gegeben, der die Apfelbäume so geliebt hatte wie Nora. Sie war darin herumgeturnt wie ein Äffchen, hatte jede Sorte gekannt, jede Blüte, jedes Blatt. Sie war die Fachfrau in Sachen Baumkrankheiten gewesen und schon mit sieben Jahren mit den Touristen auf die Felder gefahren, um ihnen Vorträge zu halten. Alle hatten gedacht, dass sie einmal die Chefin der familieneigenen Plantage werden würde, aber dann war alles anders gekommen.

»Wie hast du mich überhaupt gefunden?«, fragte Nora unvermittelt.

Ben war so in der Vergangenheit gefangen, dass er einen Moment benötigte, um ihre Frage zu verstehen. Bleib lässig, dachte er. Die Wahrheit war nämlich ein bisschen peinlich.

»Ich stehe in keinem Telefonbuch. Absichtlich. Weil ich nicht gefunden werden wollte«, fuhr Nora fort. Sie wartete, bis Ben sie ansah, um ihn mit Blicken zu erdolchen.

»Das habe ich auch bemerkt. Ich habe jede Nora Graf angerufen, die im Telefonbuch steht.«

»Jede?«

»Jede.«

Nora starrte ihn entsetzt an. »Das … müssen ja eine Menge sein.«

»Das ist korrekt. Es waren eine Menge. Deshalb habe ich jeden Tag eine angerufen.«

»Aber da ich nicht im Telefonbuch stehe, kannst du damit keinen Erfolg gehabt haben. Also? Wie hast du mich gefunden?«

»Das Testament von deinem Vater wird ja bald eröffnet. Das Amtsgericht hat dafür deine Adresse ermittelt. Die wollten sie mir natürlich nicht verraten. Datenschutz. Aber es ist der Name einer Stadt gefallen: Köln. Ich habe dort sämtliche Steuerberatungsgesellschaften angerufen«, gab er schließlich zu. »Irgendwann habe ich einen Treffer gelandet. Deswegen hab ich dich auch im Büro erwischt.«

»Du … was? Unglaublich! Wie lange hast du denn daran gesessen?« Nora war ehrlich fassungslos und definitiv beeindruckt. Wenigstens das.

»Nora?«, riss sie Jens aus der Unterhaltung. »Sorry, ich wollte nicht stören, aber der nächste Halt ist deiner!«

Das stimmte. Ben war so vertieft gewesen, dass er gar nicht auf die Umgebung geachtet hatte. Jetzt erst bemerkte er, dass die Bäume etwas dichter zur Straße standen. Sie näherten sich Jork und damit Noras Familienanwesen. Die Grafs betrieben eine der größten Apfelplantagen der Gegend und lebten etwas außerhalb der Gemeinde im Ortsteil Osterjork. Dank ihres Einflusses hatten sie sogar eine eigene Haltestelle bekommen.

Der Bus verlangsamte das Tempo und fuhr in die Haltebucht ein. Ben stand sofort auf, bemerkte dann aber, dass Nora nicht folgte. Sie saß wie angewurzelt auf ihrem Sitz und krallte sich an ihrer Tasche fest. Entsetzt bemerkte er, wie jegliche Farbe aus ihrem Gesicht wich.

»Nora. Du schaffst das«, sagte er zu ihr.

Sie sah auf, mit Panik im Blick. Langsam schüttelte sie den Kopf. »Das war eine ganz doofe Idee«, murmelte sie.

»Nein. Das ist eine Chance. Komm.« Er reichte ihr seine Hand und ermahnte sich in Gedanken selbst. Er agierte gerade völlig anders, als er geplant hatte.

Nora war kurz davor, seine Hilfe anzunehmen. Dessen war sich Ben sicher. Aber dann hupte Jens und zerstörte den Moment. »Hey, ihr zwei Dramaqueens. Entweder steigt ihr jetzt aus oder ihr fahrt bis Jork. Ich hab es eilig dank euch.«

Jens’ Ermahnung brachte Nora zur Besinnung. Sie sprang wie von der Tarantel gestochen auf, riss die Tasche an sich und bedeutete Ben, sie durchzulassen. Er ließ sie passieren und sprang danach aus dem Bus.

Dann beobachtete er, wie sie zum ersten Mal seit acht Jahren wieder vor der Apfelplantage ihrer Familie stand.

Er hatte sich geirrt. Die alte Nora war fort. Zwar stand sie nun hier, aber sie schien gebrochen zu sein. In Scherben zersplittert und in alle Winde zerstreut. Die neue Nora jagte ihm eine Heidenangst ein. Sie war viel fragiler als früher. Viel scheuer. Gar nicht so kämpferisch wie erwartet.

Wie sollte er ihr in diesem Zustand bloß sagen, was er sich vorgenommen hatte?

Und trotzdem spürte er: Nora war jetzt wieder am richtigen Ort. Zu Hause. Da, wo sie hingehörte. Nora und die Apfelbaumplantage gehörten einfach zusammen. Ohne sie war dieser Hof so leer geworden.

Leider war für sie beide kein Platz hier. Ihre Rückkehr bedeutete unweigerlich seinen Fortgang. Die Frage war nur, ob das mit oder ohne Streit geschehen würde.

#OmastreiktimApfelbaum

Sie sollten erst zu Erpressungen greifen, wenn Leib und Leben in Gefahr sind.

(Aus: Moderne Familien lenken)

Ihr tat alles weh. Wirklich alles. Die Füße hatten Blasen von den Schuhen, die Fußsohlen waren vom Barfußlaufen wund, die Knie vom Sturz zerschrammt, und die Stirn schmerzte vom Grübeln. Noch nie in ihrem Leben hatte Nora sich müder und verletzter gefühlt.

Am liebsten hätte sie sich in ihrem Bett verkrochen, sich einen Ratgeber gekrallt, ihr Bücherregal umsortiert und mindestens zwei Tage und Nächte lang geschlafen. Aber das ging nicht. Erst musste sie ihre Oma vom Baum runterholen.

Sie fröstelte. Sie waren hier nah an der Elbe, und viele Gräben zogen sich neben den Straßen entlang, wodurch es im Alten Land schneller kühl wurde. Ein frischer Wind ließ die Blätter der Bäume rascheln. Instinktiv warf Nora einen kritischen Blick auf die Knospen. Ja. Die Apfelblüte stand kurz bevor. Nicht mehr lange, dann kamen die Heerscharen von Touristen, um das Naturereignis zu fotografieren. Eine wichtige Geldeinnahmequelle für die Familie Graf. Noras Mutter hatte sich zusammen mit ihrer ältesten Tochter Viola immer um die Leute gekümmert. Nora und ihr Vater hatten sich eher draußen wohlgefühlt. Bei den Apfelbäumen.

Es war zwar bereits dunkel, aber der Mond stand hell genug am Himmel. Nora erahnte die vielen Spalierbäumchen seitlich hinter dem Hof. Dicht an dicht standen sie. Das Herzstück ihrer Wirtschaftsplantage. Davor führte ein gepflasterter Weg zum Hof. Dreihundert Jahre war er alt. Durch eine Hecke wurde er von den Spalierbäumchen abgetrennt. Im dahinterliegenden Familiengarten wuchsen die alten Bäume. Jene Apfelbäume, die hoch in den Himmel ragten, zwischen denen das grüne Gras wuchs und die noch Platz zum Ausbreiten hatten.

Für die meisten Touristen war das der Inbegriff von Apfelbaumidylle. Nora mochte beide Seiten des Alten Landes. Die Spalierbäumchen waren notwendig, um die Bauern am Leben zu erhalten. Die Hausgärten erinnerten an alte Zeiten, genau wie die Prachtpforten am Eingang und die alten Inschriften an den Häusern.

Sie musste all ihre Kraft aufwenden, um einen Fuß auf den Privatweg ihrer Familie zu setzen. Die Dellen im Kopfsteinpflaster waren noch da. Sie spürte sie deutlich unter ihren nackten Füßen. Jede Erhebung, jede Rille. Es war, als kenne sie jeden Pflasterstein, jeden Ziegel an der Hauswand. Das kunstvolle Mosaik bestand aus ineinander verschlungenen Mustern. Verschnörkelt und kitschig zugleich. Nichts hatte sich geändert, und doch war alles anders.

Der Wetterhahn hoch oben auf dem Dach des Bauernhauses hing etwas schiefer als sonst, und die Prunkpforte brauchte dringend einen neuen Anstrich, genau wie die Hecke eine Frisur. Aber sonst sah alles so aus wie damals, als sie ihr Zuhause verlassen hatte.

Ben folgte ihr still. Sie atmete tief ein. Ja. Es roch bereits nach Apfelblüten. Heimat. Fast automatisch beschleunigten sich ihre Schritte. Sie musste es hinter sich bringen. Bevor sie die Stimmung des Alten Landes doch noch einlullen konnte.

Nora klammerte sich an ihrer Handtasche fest wie an einem Rettungsring. Ihre Schuhe hatte sie mittlerweile hineingestopft, um die Hände frei zu haben. Ihre Füße brannten wie die Hölle, doch sie ignorierte den Schmerz. Wieso nur hatte sie keine Turnschuhe eingesteckt? Keine Wechselklamotten mitgenommen? Weil du unbedingt die Ratgeber dabeihaben wolltest und die Tasche damit schon voll war, erinnerte sie sich. Und weil sie sich selbst zwingen wollte, sofort wieder abzureisen. Das war eine dumme Idee gewesen. Noch dümmer als die Entscheidung hierherzukommen.

Eine Lampe ging automatisch an, beleuchtete den Pfad. Jemand hatte das Pflaster in diesem Bereich gekärchert. Es glänzte fast wie neu. Vermutlich Viola. Sie hatte sich schon immer um den Außenbereich des Anwesens gekümmert. Je schöner es aussah, desto eher kamen die Touristen in den Hofladen.

Eine weitere Lampe leuchtete auf. Wie ein Spalier. Ein Willkommensgruß.

Nora betete, dass Viola sie nicht bemerkte. Sie hatte keine Lust, sich in ihrem derangierten Zustand ihrer älteren Schwester zu präsentieren. Schnell rein, schnell raus. Das war der Plan.

»Soll ich klingeln?«, fragte Ben hinter ihr.

Sie schüttelte hastig den Kopf. Bloß nicht! Schweigend passierte sie die Prunkpforte und verließ dahinter den Weg, um über das grüne Gras zur alten Streuobstwiese zu gelangen. Die ersten Liegestühle standen bereits parat und warteten auf zahlende Gäste. Allerdings wirkten sie durch Wind und Wetter deutlich mitgenommener, als Nora sie in Erinnerung hatte. Das Gras war auch etwas zu hoch, und die Lampen waren mit Spinnweben überzogen.

Offenbar betrieb Viola noch immer das kleine Café, kam aber deutlich seltener zum Aufräumen als früher. Dabei war dieser Bereich das Aushängeschild. Hier konnten sich Radfahrer im Schatten der Bäume ausruhen, Apfelkuchen nach altem Familienrezept genießen und Apfelsaft schlürfen. Im Garten durften die Bäume noch richtig knorrig wachsen und die Äste ausstrecken.

Nora blieb stehen und gönnte sich eine Atempause. Das Gras kitzelte unter ihren nackten Füßen. Die Strumpfhose war jetzt vollständig zerrissen und rollte sich bis zu ihren Knöcheln auf. Sie sollte sie besser ganz ausziehen, aber sie traute sich nicht, sie über die aufgeschürften Knie zu streifen. Später.

Es war schon merkwürdig. Da hatte sie sich extra fein gemacht, um möglichst würdevoll hier anzukommen, und sah nun noch schlimmer aus als bei ihrem Weggang. Gerade hätte sie viel für ein Paar Gummistiefel gegeben.

Wenn es nicht zum Heulen gewesen wäre, hätte sie gelacht.

Nora zwang sich weiter und hielt auf den hinteren Bereich des Gartens zu. Die wenigsten Touristen liefen bis hierher. Höchstens neugierige Kinder entdeckten das Baumhaus im ältesten und höchsten Apfelbaum der Plantage.

Ben und sie hatten es mit sechs Jahren gebaut. Es war windschief und wackelig gewesen. Ein Sturm – dann wäre es heruntergefallen. Gemeinsam mit ihrem Vater hatten sie es instand gesetzt. Er hatte sie mit viel Mühe davon überzeugt, dass es so nicht bleiben konnte. Sie hatten geweint und protestiert, letztlich aber nachgegeben. Das Ergebnis konnte sich bis heute sehen lassen.

Es war ein richtiges kleines Häuschen, in Schwedenrot gestrichen mit weißen Balken und Fensterrahmen. Sogar eine alte Inschrift hatten sie nachgezeichnet und einen Miniatur-Wetterhahn aufs Dach gesetzt.

Da die Farbe ihr regelrecht entgegenleuchtete, hatte es wohl jemand erst vor Kurzem gestrichen. Das Haus sah prächtig und schön aus, genau wie der stolze Apfelbaum, der es in seinen Zweigen beschützte.

Dank der vielen installierten Lichter im Garten hatte Nora eine perfekte Sicht darauf. Solarbetriebene Leuchten steckten überall im Gras. Eine Art Scheinwerfer war sogar direkt aufs Häuschen gerichtet.

»Deine Schwester hat versucht, Oma Enne durch grelles Licht zu vertreiben. Deshalb auch der Scheinwerfer. Oma hat aber einfach die Fensterläden geschlossen und Vorhänge gestrickt. Sie ist gut vorbereitet für ihren Streik. Außerdem helfen ihr die alten Damen des Ortes. Wann immer sie etwas braucht, besorgen es ihr die Mitglieder des Häkel- und Strickvereins. Das hab ich mittlerweile rausbekommen«, erklärte Ben.

Unfassbar. Auf so eine Idee musste man erst einmal kommen. Aber es sah Oma Enne definitiv ähnlich.

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