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Der Corona-Effekt – Zwischen Shutdown und Neubeginn: Was wir jetzt über uns lernen können

Als Buch hier erhältlich:

NICHTS BLEIBT, WIE ES NIE WAR? – Bestsellerautorin Christine Eichel über Fragen, die uns derzeit alle bewegen

Die Corona-Pandemie hat uns einen Spiegel vorgehalten: Wer sind wir, wenn das öffentliche Leben stillsteht? Wie reagieren wir auf den kollektiven Stresstest? Während der Krise haben wir viel über uns gelernt. Unsere Bereitschaft zur Solidarität wuchs ebenso wie unsere Beziehungsfähigkeit unter Extrembedingungen. Doch wir erlebten auch das hässliche Gesicht der Krise: Hamstern, häusliche Gewalt, Verschwörungstheorien.

Kritisch, klug und humorvoll schildert Christine Eichel Erfahrungen, die wir alle gemacht haben, und stellt die entscheidende Frage: War die Corona-Krise ein überfälliger Weckruf für unsere Gesellschaft? Nach dem alptraumhaften Wachkoma des Shutdowns regt sich Sehnsucht nach einer neuen Stunde null. Sowohl unser Lebensstil als auch unsere Definition von Freiheit und Verantwortungsbewusstsein steht jetzt auf dem Prüfstand.

Nie schien ein umfassender gesellschaftlicher Wandel derart greifbar – ausgelöst durch eine Krise, die eine Sinnbeschaffungsmaßnahme für eine bessere Zukunft sein könnte.


  • Erscheinungstag: 14.07.2020
  • Aus der Serie: Harper Collins Non Fiction
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 128
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749950386
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

AUSGEBREMST:
UND PLÖTZLICH WAR ALLES ANDERS

Als ich kurz vor Ostern von einem Spaziergang zurückkehrte, lag vor meiner Wohnungstür ein Blumenstrauß. Darin steckte eine Karte mit den Zeilen: »Liebe Christine, es heißt Freundschaft, weil man mit Freunden alles schafft.« Ich war gerührt. Den Strauß hatte mir ein Freund geschickt, und ja, wir mögen einander sehr. Dennoch hätte ich niemals mit diesem Zeichen der Wertschätzung gerechnet, in dem auch ein Versprechen lag: Mach dir keine Sorgen, diese Zeit werden wir gemeinsam überstehen – räumlich getrennt, aber innig verbunden. Vielleicht, so überlegte ich, hat diese entsetzliche Corona-Krise ja auch ihr Gutes? Dass wir uns wieder auf das Wesentliche besinnen? Aber was ist das eigentlich, das Wesentliche?

*

Im März 2020 geschah das vormals Undenkbare: Plötzlich stand unser Land still. Runterfahren hieß die Parole, gesellschaftlich, wirtschaftlich, privat. Mit allen Mitteln sollte die Ausbreitung des hochgefährlichen Virus SARS-CoV-2 verhindert werden, das anderswo bereits Tausende Menschenleben gekostet hatte. Es war eine historische Entscheidung. Um im Bild der Seuche zu bleiben, hatten die politisch Verantwortlichen die Wahl zwischen Pest und Cholera – entweder Leben zu riskieren oder aber ein ganzes Volk in den Ausnahmezustand zu stürzen, mit unabsehbaren ökonomischen, sozialen, psychischen Nebenwirkungen.

Man entschied sich für den Shutdown. Neue Begriffe mussten verinnerlicht werden: Kontaktsperre, Besuchsverbot, Social Distancing. Bald kamen weitere Begriffe hinzu: Reproduktionsrate, FFP-Masken, Superspreader. Wenngleich die diktierte Entschleunigung gesundheitspolitisch notwendig schien, schockierte sie auch. Gut möglich, dass dieser rigorose Shutdown das Virus besiegen würde; aber es gibt Siege, die von Niederlagen begleitet werden. Ungeklärt blieb vorerst die Frage, welche Folgen der Shutdown nach sich ziehen würde. Was bedeutete er für Millionen existenzgefährdeter Menschen, welche Auswirkung würden die Beschränkungen auf die seelische Gesundheit haben?

Mindestens so verstörend wie solche Fragen war die Krise in den Köpfen. Sie erzeugte einen kollektiven Reflexionsdruck: Was ist wirklich wichtig? Wer bin ich, wenn ich keine Freunde mehr treffe, wenn Bespaßungen wie Partys, Clubs, Sport, Fußballspiele, Konzerte, Theater, Vereinsleben wegfallen? Was bleibt von mir übrig, wenn ich in finanzielle Turbulenzen gerate? Habe ich mich womöglich nur über das Außen definiert? Und, nicht weniger dramatisch: Falls ich tödlich erkranke – muss ich mir dann vorwerfen, mein bisheriges Leben verschwendet zu haben, in der frohgemuten Illusion, steinalt zu werden?

Zivilisationsmüde Aussteiger gingen von jeher ins Kloster oder durchwanderten menschenleere Landschaften, um sich derartigen Sinnfragen zu stellen. Jetzt waren wir alle dran. Unfreiwillig und zumeist ungeübt in derlei Überlegungen. Stille kann ohrenbetäubend laut sein, geschenkte Zeit zur Leere werden; oder man füllt sie mit neuen Gedanken, im Windschatten von Ängsten und Zweifeln.

Angesichts der Frage nach dem Sinn des Seins wies der Philosoph Martin Heidegger auf die erkenntnisfördernde Funktion der Angst hin. Wenn gewohnte Bezugsgrößen wegfielen und die Dinge ihre Bedeutung verlören, seien wir auf uns selbst zurückgeworfen. Dafür braucht es allerdings starke Nerven. Nichts weniger war gefragt als ein Speed Dating mit uns selbst: Binnen kürzester Zeit mussten wir uns in der Selbstisolation genauer kennen und – im besten Fall – mögen lernen.

Die erzwungene Einkehr führte zu einer rasant schnellen Verengung des Blickwinkels. Es war interessant zu beobachten, wie rasch all die heftig geführten Diskussionen über Klimawandel, Migrationspolitik, Transgendertoiletten und Mindestabstandsregeln für Windräder verstummten. Als sei im Angesicht des Virus unsere Debattenkultur nur noch ein Ornament der von sich selbst ablenkenden Gesellschaft.

Gleichzeitig verblasste der Traum des Höher, Schneller, Weiter eines entgrenzten Lebensstils. Wir setzten die Masken auf. Und demaskierten vieles, was wir bis dato für unverzichtbar hielten – Shoppen, Essengehen, Reisen, Konsumieren ohne Limit. Als sei die Pandemie ein überfälliger Test; als hätten wir einen apokalyptisch angeschärften Weckruf gebraucht, um darüber nachzudenken, wo wir eigentlich stehen und wohin wir wollen.

Bereits jetzt zeichnet sich ab, dass diese Herausforderung kein Sprint war, sondern ein Marathon werden könnte. Sehr wahrscheinlich befinden wir uns am Vorabend eines Epochensprungs. Man mag zwar darüber streiten, ob die mentalen Folgen der Krise nur ein Strohfeuer sind oder einen dauerhaften Erkenntnisgewinn nach sich ziehen werden; doch Virologen warnen bereits, Corona sei nur eine Generalprobe gewesen. Schaudernd blicken wir in den Abgrund weiterer tödlicher Pandemien. Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy meint gar, in einer restlos vernetzten Welt werde die Ausnahme zur Regel, und resümiert: »Eine ganze Zivilisation ist infrage gestellt.« Das macht etwas mit uns. Krisen folgen einer eigenen Logik. Sie tragen die Aufforderung einer Läuterung in sich, frei nach Rilke: Du musst dein Leben ändern!

Lange waren wir ein Vollkaskovolk, das zwar die German angst erfunden hatte, aber auch die Vorstellung, wir seien gegen existenzielle Bedrohungen weithin abgesichert: durch den Sozialstaat, das Gesundheitssystem, die ordnungspolitischen Rahmenbedingungen. Überspitzt gesagt bestand für viele das größte Risiko des Alltags darin, mit drei Prozent Handy-Akku aus dem Haus zu gehen. Nun überholte die Wirklichkeit jegliche Sicherheitsgewissheit. Die neue Meta-Erzählung trug den Namen Untergang, und nicht von ungefähr kam die Rede vom großen Change auf. Eine Nichts-wird-sein-wie-vorher-Vision geisterte durch die Köpfe. Sicher, das herbeigesehnte Ende des Shutdowns entsprang primär dem Wunsch, endlich in die Normalität zurückzukehren; zugleich regte sich aber auch die Sehnsucht nach einer neuen Stunde null: alles auf Anfang, mit den Lernprozessen der Krise gewappnet.

Aber was haben wir überhaupt gelernt? War die Corona-Krise nur ein kurzes Intermezzo, einem albtraumhaften Wachkoma gleich, oder eine Sinnbeschaffungsmaßnahme für eine bessere Zukunft? Welche Konsequenzen ergeben sich für unsere politische Landschaft, für Gesellschaft, Arbeitswelt und nicht zuletzt für uns ganz privat?

Solchen Fragen geht dieses Buch nach. Es schildert Erfahrungen, die wir alle in den letzten Monaten gemacht haben. Die Ängste und die Absurditäten, die beklemmenden Erlebnisse wie die positiven Überraschungen; unsere Furcht vor Krankheit, Tod und Existenzverlust ebenso wie die kuriosen Begleiterscheinungen des nationalen Notstands. Entziehen konnte sich niemand. Wir alle mussten uns auf einmal in einem Koordinatensystem verorten, dessen Achsen ein ungewohnt paternalistischer Staat vorzeichnete. Daher kommen wir nicht umhin, unsere Definition so basaler Begriffe wie Freiheit, Mündigkeit, Meinungsfreiheit und Zukunftsfähigkeit zu überprüfen.

Schon jetzt kann man feststellen: Die Corona-Krise war und ist eine mentale Provokation für alle, die an die defensive Kraft der Normalität und an die Verheißungen des Weiter so glaubten. Es war dem First-Night-Effekt aus der Schlafforschung vergleichbar: Wenn wir zum ersten Mal an einem ungewohnten Ort übernachten, nehmen wir uns selbst und unsere Umgebung überdeutlich wahr. Dabei erodieren einige Gewissheiten. Auch im Vergrößerungsspiegel der Krise erlebten wir uns anders als erwartet, vom Hamstern bis zum Gehorsam, vom seelischen Lockdown bis zum kritischen Blick auf unseren Lebensstil. Wer weiß, vielleicht werden wir das Jahr 2020 dereinst als einen Wendepunkt betrachten, an dem wir den Imperativ des Orakels von Delphi neu beherzigen mussten: Erkenne dich selbst.

1

GEFANGEN DAHEIM:
DIE UNFREIWILLIGE WIEDERENTDECKUNG DER PRIVATHEIT

Ende März 2020 entdeckte ich eine Karikatur auf Instagram. Kein Geringerer als Superman sitzt daheim im Sessel, gewohnt schneidig im engen blauen Trikot, allerdings ungewöhnlich entspannt. Neben ihm steht eine sichtlich erzürnte Frau und herrscht ihn an: »Tust du denn gar nichts, um das Coronavirus zu bekämpfen?« Superman, der eine Zeitung mit der »Stay home«-Schlagzeile in der Hand hält, erwidert lässig: »Das tue ich doch gerade.«

*

Die Zeichnung war ein Werk des indischen Illustrators Nithin Suren. Geteilt hatte sie Smriti Irani, Ministerin für Textilwirtschaft und Ex-Bildungsministerin Indiens. Mit dem augenzwinkernden Cartoon wollte sie ihre Landsleute ermahnen, den Lockdown zu befolgen. Auch die Polizei von Mumbai teilte den Cartoon, und nun war der Erfolg nicht mehr aufzuhalten. Das Bild des untätigen Superman ging viral – ein Begriff übrigens, der uns in Corona-Zeiten nicht mehr ganz so glatt über die Lippen geht, und die Botschaft wurde international verstanden: In diesen außergewöhnlichen Zeiten muss selbst Superman zu Hause rumsitzen, wenn er die Welt retten will. Also bleibt gefälligst daheim.

Es war ein smart erzählter Paradigmenwechsel. Unsere Vorstellung von Heldentum ist das mutige Eingreifen: Zivilcourage beweisen, sich aktiv für andere einsetzen, Kinder aus brennenden Häusern retten. Nun wurde Passivität zum Gebot der Stunde. Gleichwohl war die Rede davon, wir befänden uns im Krieg. Die Kampfmetapher klang einfach besser als das, was die meisten erlebten – die von der Regierung befohlene Desertation aus dem öffentlichen Leben in die schützende Hülle des Zuhauses. Eine passive Kriegsführung sozusagen, ohne Uniform, dafür im Jogginganzug; abwarten, stillhalten und nur vor die Tür gehen, wenn es wirklich notwendig ist.

Das war neu. Neben den vielen sichtbaren Helden, die weiterhin für andere da waren – Ärztinnen und Ärzte, Pflegekräfte, Supermarktmitarbeiter –, gab es plötzlich Millionen unsichtbarer Helden. Ihr Heroismus bestand schlicht darin, in Pyjamas und Pullovern daheim auszuharren. Eigenartig wirkte das insofern, als auf einmal die Couchpotatoe zum Leitbild aufstieg. Der Stubenhocker, lange als spießig belächelt, weil er sich den Lustbarkeiten der Spaßgesellschaft da draußen verweigert, wurde notgedrungen zum neuen Ideal. So wie auch das Nichtstun, das in unserer Sprache immer ein bisschen nach Nichtsnutz klingt. Faulheit hat einen traditionell schlechten Ruf, zumal in Deutschland mit seinem hohen Arbeitsethos und der sprichwörtlichen teutonischen Tüchtigkeit. Fleiß und Selbstoptimierung waren oberstes Gebot – bis der Shutdown kam. Da war auf einmal Chillen erlaubt, nein, gefordert.

Immerhin, für notorisch umtriebige Naturen gewährten selbst die Einschränkungen des Shutdowns genügend Raum für Betätigungen aller Art. Sie misteten erst mal aus, was vor den Recyclinghöfen zu Staus mit stundenlangen Wartezeiten führte. Danach wurde renoviert, und nun bildeten sich die Schlangen vor den Baumärkten. Wenn das Zuhause schon zum Gefängnis wurde, dann wenigstens mit frisch gestrichenen Gitterstäben. Auch Balkon und Garten bedurften der Nestpflege, und da die Gartencenter geöffnet blieben, drängelten sich hier ebenfalls diejenigen, die es sich erst mal so richtig schön machen wollten. Das Marketing stimmte jedenfalls. »Zuhause ist, was Ihr daraus macht«, warb ein Baumarkt. Sehr sinnig.

Doch irgendwann waren alle Dachböden entrümpelt, alle Wände neu tapeziert, alle Stiefmütterchen gepflanzt. Daraufhin setzte das große Ausatmen ein. Einfach nur dasitzen – so wie es Loriot in seinem grandiosen Sketchklassiker parodiert hat. Eine ganze Nation fiel in den Dornröschenschlaf. Zwischen Kiel und Konstanz herrschte Friedhofsruhe, die Straßen leer gefegt, die Plätze verwaist, Theater, Kinos, Fußballstadien geschlossen. Es war ein nie da gewesenes Experiment mit 83 Millionen Probanden. Keine Kita, keine Schule, kein Erscheinen am Arbeitsplatz. Im Gegenzug Homeoffice und Homeschooling, Tätigkeiten also, für die wir nicht mal griffige Worte hatten, weshalb wir uns mit Anglizismen behelfen mussten.

Die eigenen vier Wände wurden zum Bollwerk gegen die gefährliche virenverseuchte Welt da draußen. My home is my castle. Home sweet home. Das geschah bekanntlich nicht freiwillig. Die Kollateralschäden ließen daher auch nicht lange auf sich warten. Eher harmlos wirkte noch die Erstverwahrlosung. Da die gewohnten Strukturen und Rhythmen fehlten, vergaß mancher zu duschen und lümmelte tagelang in denselben Klamotten auf dem Sofa herum.

Danach zeigte sich, wer Krisenkompetenzen besaß. Unverwüstliche Lebenskünstler erlebten die drangvolle Enge des Familienlebens als unverhofftes Glück, weniger Anpassungsfähige als Zerreißprobe. Verzweifelte Mütter erlagen Weinkrämpfen, weil sie die Rolle rückwärts antreten mussten: Kinder, Küche, Hausaufgaben, während der Gatte Computerspiele daddelte oder zum Netflix-Junkie mutierte. Eine Studie der Potsdamer Sozialwissenschaftlerin Lena Hipp ergab, dass Frauen weit mehr unter der Krise litten als Männer, weil ihnen nun noch mehr Verantwortung zugeschoben wurde – als hätte es nie eine Emanzipation mit fairer Aufgabenteilung gegeben. Die Mehrfachbelastung aus Haushalt, Kinderbespaßung, Homeoffice und Service für den Gatten verschärfte sich durch den Shutdown.

Ohnehin offenbarte das Homeoffice einige Tücken. Wie sollte man sich auf die Arbeit konzentrieren, wenn Kinder ihrem Bewegungsdrang nun zu Hause nachgaben, der Partner tausend Fragen stellte und das World Wide Web zu allerlei Ablenkungen verführte? Wie sich selbst eine Struktur geben, wie psychisch überleben, wenn die Struktur von außen wegfällt? Erste Symptome einer Lockdown-Tristesse machten sich breit. Eine ganze Nation saß auf der Couch, buchstäblich und metaphorisch. Therapievorschläge kamen unter anderem vom Philosophen Slavoj Žižek. Als Survival-Maßnahmen empfahl er Sitcoms mit Konservengelächter, düstere isländische Krimiserien sowie die Kultivierung kleiner Rituale und Marotten, um den dysfunktionalen Alltag zu stabilisieren und den seelischen Zusammenbruch zu verhindern.

Zwischenmenschliche Konflikte waren dennoch unvermeidbar. Viele Paare, die es glänzend geschafft hatten, einander durch getrennte Aktivitäten aus dem Wege zu gehen, erlebten die Krise als Crashtest. Liebesbeziehungen klappen halt besser, wenn man sich auch privat gut versteht, und Letzteres ist bei Weitem nicht die Regel. Erfahrungsgemäß trennen sich Paare am häufigsten nach dem gemeinsamen Urlaub oder nach den emotional hochentzündlichen Weihnachtstagen. Nun kamen die Sollbruchstellen durch die zweisame Isolation ans Licht. Falsche Nähe reizt zur Bosheit, wusste bereits Adorno, und mit Sartre könnte man hinzufügen: Die Hölle, das sind die anderen.

Aber auch Singles traf es hart, ganz gleich, ob jung oder alt. Vielen fiel die Decke auf den Kopf, das selbstbestimmte Alleinleben wurde zur Einzelhaft. Es gab ja kaum mehr Gelegenheit, jemanden physisch kennenzulernen. Die Regeln waren eindeutig: Wenn überhaupt, durften sich nur Personen treffen, die im selben Haushalt lebten; Spazierengehen war mit maximal einer Person aus einem anderen Haushalt erlaubt. Als dann auch noch klar wurde, dass die Risikogruppe der älteren Generation eines besonderen Schutzes bedurfte, schlossen sich die Pforten der Seniorenresidenzen und Pflegeheime. Unzählige alte Menschen litten unter dem Kontaktverbot. Viele verstanden es nicht einmal, weil sie aufgrund beginnender Demenz die Zusammenhänge nicht erfassten und davon ausgehen mussten, dass ihre Angehörigen sie einfach vergessen hatten. Man kann sich diese verzweifelte Einsamkeit gar nicht peinigend genug vorstellen.

Doch ob Singles, Paare oder Familien, sie alle traf der soziale Lockdown unvorbereitet. Wer noch irgend die Energie dazu aufbrachte, nahm die häusliche Gefangenschaft zum Anlass, sich selbst und seinen Liebsten wieder mehr Beachtung zu schenken. Die implizite Aufforderung des Innehaltens trieb teils kuriose Blüten. So jubelte eine BILD-Schlagzeile: »Ohne Kids in der Schule guckte Papa keine Pornos mehr.« In derselben Ausgabe, am Karfreitag 2020, präsentierte das Blatt »5 Gründe, jetzt zu masturbieren«. Das wirkte grotesk, ja absurd, trug aber der Tatsache Rechnung, dass das Privatleben bis in die intimsten Zonen hinein neu erforscht und neu gestaltet werden musste. Ganz Gewitzte luden sich Videoschleifen von südlichen Stränden auf den heimischen Fernseher und setzten sich mit Drink und Bademantel davor. Kreuzfahrtfeeling in Zeiten von Corona, der digitale Eskapismus machte es möglich.

So mancher fiel aber auch ins Nichts. Und da das Nichts ein Loch hat, durch das die Langeweile hereinströmt, mussten Ablenkungen her. Entsprechend hatten die digital gestützten Gesellschaftsspiele Hochkonjunktur. Zu den ohnehin zahlreichen Challenges in den Social Media gesellten sich nun unzählige Corona-Challenges. Sieben Tage lang jeweils das Cover eines Buchs posten, das zur eigenen Menschwerdung beigetragen hat. Sieben Tierfotos posten, unter dem Motto: Wer denkt, man könnte Glück nicht anfassen, hat noch nie eine Katze gestreichelt. Sodann folgten die wichtigsten LP(!)-Cover, Kinderfotos, Musikstücke, Kunstwerke. Es waren Lehrstücke einer ostentativen Selbstvergewisserung: Seht her, man kann mir die soziale Matrix des Alltags nehmen, nicht aber meine kulturelle Identität.

Natürlich gab es auch wesentlich handfestere Challenges für die eigenen vier Wände. Fitnessstudiogänger auf Entzug träufelten Spülmittel auf den Küchenboden, klammerten sich an die Arbeitsplatte und simulierten einen Laufband-Walk auf den glitschigen Kacheln. Es gab akrobatische Turnereien im Wohnzimmer zu sehen, Flicflacs im Flur, Hanteltraining mit Wasserflaschen. Tüftler bastelten Fantasiewesen aus Nudelpackungen und Toilettenpapierrollen, den ikonischen Mangelwaren der Krise, Sportliche spielten Klorollen-Fußball. Sogar Food porn, ein halb vergessenes Genre, nahm wieder zu. Selbst Menschen, die sonst mit klugen Sentenzen oder Bildern von kulturell wertvollen Bildungsstätten aufwarteten, posteten nun Fotos von komplizierten Pastagerichten und selbstgebackenem Kuchen. Bereits kurz nach dem Shutdown war neben Nudeln, Toilettenpapier und Desinfektionsmitteln auch Hefe ausverkauft.

Eine seltsame Lagerfeuerromantik wehte durchs Land. So wie halbwüchsige Pfadfinder lernen, mit einfachsten Mitteln in der Wildnis zu überleben, entdeckte man jetzt die Lust an der Improvisation. Und schnell wurde offenbar: Konsum sediert, Mangel inspiriert. Die Corona-Lifehacks ließen nicht lange auf sich warten. Bald kursierten Anleitungen im Netz, wie man clever durch die Krise kommt. Etwa mit dem »Wuhan-Türöffner«; mittels Feuerzeug, Inbusschlüssel und Klebeband entstand ein Tool, mit dem man berührungsfrei Türgriffe herunterdrücken, Fahrstuhlknöpfe antippen und bei der Kartenzahlung die PIN eingeben konnte. Mund-Nasen-Masken, anfangs schwer zu bekommen, wurden aus BHs geschneidert oder aus Kaffeefiltern und Gummiband gebastelt. Eine ganze Nation erlag dem Sog, dem Mangel ein Schnippchen zu schlagen. Maske vergessen? Kein Problem. Einfach den Kapuzenpulli verkehrt herum an-und die Kapuze übers Gesicht ziehen.

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