JAMES RHODES
DER KLANG DER WUT
WIE DIE MUSIK MICH
AM LEBEN HIELT
Aus dem Englischen von
Giovanni und Ditte Bandini
Nagel & Kimche
Titel der Originalausgabe: Instrumental.
A Memoir of Madness, Medication and Music.
© 2014 James Rhodes. Canongate Books, Edinburgh.
Umschlag: Hauptmann & Kompanie, Zürich © Helmuth Boeger / Getty Images
© 2016 Nagel & Kimche
im Carl Hanser Verlag München
Herstellung: Rainald Schwarz
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-312-00659-5
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Kreutzfeldt digital, Hamburg
«Wenn wir das Trauma zum Fetisch erheben und für nicht mitteilbar erklären, dann sitzen die Überlebenden in der Falle – können sich nicht wirklich verstanden fühlen … Man erweist jemandem nicht dadurch Respekt, dass man zu ihm sagt: ‹Ich werde mir nie vorstellen können, was Sie durchgemacht haben.› Hören Sie sich lieber seine Geschichte an und versuchen Sie sich vorzustellen, Sie würden sie erleben – wie schwer oder unangenehm sich das auch anfühlen mag.»
PHIL KLAY, VETERAN DES US MARINE CORPS
INHALT
Erstes Stück
Bach, Goldberg-Variationen, Aria
Zweites Stück
Prokofjew, Klavierkonzert Nr. 2, Finale
Drittes Stück
Schubert, Klaviertrio Nr. 2 in Es-Dur
Ashkenazy, Zukerman, Harrell Trio
Viertes Stück
Bach-Busoni, Chaconne
Fünftes Stück
Beethoven, Klaviersonate Nr. 32, Op. 111, 2. Satz
Sechstes Stück
Skrjabin, Klavierkonzert, letzter Satz
Siebtes Stück
Ravel, Klaviertrio
Vladimir Ashkenazy, Itzhak Perlman, Lynn Harrell
Achtes Stück
Schostakowitsch, Klavierkonzert Nr. 2, 2. Satz
Neuntes Stück
Bruckner, Sinfonie Nr. 7, 2. Satz
Zehntes Stück
Liszt, Totentanz
Elftes Stück
Brahms, Ein deutsches Requiem, 1. Satz
Zwölftes Stück
Mozart, Sinfonie Nr. 41 («Jupiter»), 4. Satz
Sir Charles Mackerras, Dirigent
Dreizehntes Stück
Chopin, Etüde in C-Dur, Op. 10/1
Vierzehntes Stück
Chopin, Fantaisie in f-Moll, Op. 49
Fünfzehntes Stück
Ravel, Klavierkonzert in G-Dur, 2. Satz
Sechzehntes Stück
Schumann, Geistervariationen für Klavier
Siebzehntes Stück
Schubert, Sonate Nr. 20, D 959, 2. Satz
Achtzehntes Stück
Beethoven, Klavierkonzert Nr. 5 («Emperor»), 2. Satz
Neunzehntes Stück
Rachmaninow, Rhapsodie über ein Thema von Paganini
Zwanzigstes Stück
Bach, Goldberg-Variationen, Aria da Capo
Die gesamten Musikstücke könnten gratis angehört werden
PRÄLUDIUM
Von klassischer Musik krieg ich ’n Ständer.
Mir ist klar, dass das für manche Leute kein wahnsinnig vielversprechender erster Satz ist. Aber wenn man das «klassisch» streicht, ist er vielleicht gar nicht so übel. Vielleicht wird er dann sogar verständlich. Denn jetzt haben wir, mit dem Wort «Musik», etwas Universales, etwas Spannendes, etwas Ungreifbares und Unsterbliches.
Musik stellt augenblicklich eine Verbindung zwischen mir und Ihnen her. Ich höre mir Musik an. Sie hören sich Musik an. Musik durchdringt und beeinflusst unser Leben ebenso sehr wie die Natur, die Literatur, wie Kunst, Sport, Religion, Philosophie und TV. Sie ist der große Einiger, die Droge der Wahl für Jugendliche weltweit. Sie schenkt Trost, Weisheit, Hoffnung und Geborgenheit, und das seit Tausenden von Jahren. Sie ist Medizin für die Seele. Ein Klavier hat achtundachtzig Tasten, und diese umspannen ein ganzes Universum.
Und dennoch …
Meine Jobbezeichnung lautet «Konzertpianist», und so ist in diesem Buch zwangsläufig ziemlich viel von klassischer Musik die Rede. Es würde mich kein bisschen wundern, wenn diese Tatsache in den Besprechungen unterschlagen wird. Das mag zum einen daran liegen, dass «Klassik» sich nicht gut verkauft und von vielen als vollkommen unerheblich wahrgenommen wird. Und zum anderen daran, dass alles, was mit klassischer Musik zu tun hat – von den Musikern selbst über die Präsentation des Produkts bis hin zu den Plattenlabels, dem Management, dem Gebaren und der Moral der gesamten Industrie –, nichts Sympathisches an sich hat.
Aber es ist nun mal eine Tatsache, dass die Musik mir das Leben gerettet hat – und sicherlich zahllosen anderen Menschen auch. Sie leistet Gesellschaft, wo keine ist, schenkt Klarheit, wo Verwirrung herrscht, Trost, wo Verzweiflung ist, und reine, hochdosierte Energie, wenn man sich leer, gebrochen und erschöpft fühlt.
Immer wenn ich die Wortverbindung «klassische Musik» höre, bin ich spontan versucht, die Augen zu verdrehen und das Gehirn abzuschalten. Doch dann muss ich an die riesigen Fehler denken, die ich früher machte, wenn ich aus Faulheit etwas verachtet oder verurteilt habe, ohne richtig darüber nachzudenken. Und falls Sie diesen Fehler von sich selbst kennen, möchte ich Sie bitten – geradezu anflehen –, innezuhalten und sich Folgendes zu fragen:
Wenn es etwas gäbe, das weder von der Regierung noch von ausbeuterischen Unternehmern, weder von Apple noch von der Pharmaindustrie hergestellt wird und das dem Leben automatisch, zuverlässig und wiederholt etwas mehr Spannung, Glanz, Tiefe und Kraft schenken kann – würden Sie wissen wollen, was das ist?
Etwas ohne Nebenwirkungen, das keinerlei Verpflichtungen, Vorwissen oder Geld erfordert, lediglich ein bisschen Zeit und vielleicht ein anständiges Paar Kopfhörer.
Wären Sie daran interessiert?
Unser aller Leben hat einen eigenen Soundtrack. Viele von uns sind davon enttäuscht, sind reizüberflutet und abgestumpft. Wir werden endlos mit Musik beschallt: durch Filme, Werbespots, Telefonwarteschleifen, in Aufzügen und Einkaufszentren. Die Quantität hat die Qualität längst verdrängt. Mehr von allem ist scheinbar gut. Und welch einen gottverdammten Preis zahlen wir dafür! Auf jede wirklich mitreißende Rockband, Filmmusik und jeden aufregenden Komponisten kommen mehrere tausend Scheißhaufen, die uns bei jeder möglichen Gelegenheit um die Ohren geklatscht werden. Die Industrie, die dahintersteckt, behandelt uns mit praktisch null Respekt und noch viel weniger Vertrauen. Erfolg wird nicht verdient, sondern gekauft, bezahlt, zusammengehurt und uns manipulativ und heimtückisch aufgezwungen.
Unter anderem möchte ich mit diesem Buch Gegenvorschläge zum lauwarmen Selbstbedienungsgebräu machen, das uns die Musikindustrie als sogenannte klassische Musik einflößt. Ich hoffe, darin außerdem aufzuzeigen, dass die Probleme innerhalb der Klassikindustrie und ihre möglichen Lösungen sich auch auf unsere Kultur im Allgemeinen und die Künste im Besonderen übertragen lassen.
Darin verwoben ist meine Lebensgeschichte. Sie ist der Beweis dafür, dass Musik die Antwort ist auf das, worauf es keine Antwort gibt. Davon bin ich fest überzeugt, und zwar deshalb, weil ich ohne Musik nicht existieren, geschweige denn in einem Stück produktiv und manchmal sogar glücklich sein könnte.
Viele würden sagen, es sei viel, viel zu früh für mich, um Memoiren zu schreiben. Jetzt, wo ich diese Sätze schreibe, bin ich achtunddreißig, und die Idee, in diesem Alter eine Autobiographie zu schreiben, mag narzisstisch und selbstgefällig anmuten. Aber über das zu schreiben, woran ich glaube und was mich am Leben gehalten hat, die Ideen darzulegen, die mich seit so vielen Jahren beschäftigen, Kritik zu beantworten und Lösungen für ernste und drängende Probleme anzubieten ist, wie ich glaube, eine lohnende Aufgabe.
Das zu schreiben bin ich berechtigt aufgrund ganz bestimmter Erfahrungen, die ich durchlebt habe und die vielen anderen wohl eher fremd sind. Und da ich es (so weit jedenfalls) ans andere Ende des Tunnels geschafft habe und – in den Augen der Lektorin, die ihrem Chef diese Idee verkauft hat – «etwas aus mir gemacht habe», erhielt ich die Gelegenheit, ein Buch zu schreiben. Was ich zum Totlachen finde, da ich, wie Sie im Lauf der nächsten paar hundert Seiten feststellen werden, von ernsthaftem Wahnsinn befallen bin, einen ziemlich schrägen Begriff von Verlässlichkeit habe, dazu wenig echte Beziehungen und noch weniger Freunde aufweise und weil ich – Selbstmitleid mal beiseite – ein ziemliches Arschloch bin.
Ich hasse mich selbst, habe ständig Zuckungen, sage oft das Falsche, kratze mich in unpassenden Momenten am Arsch (und schnüffle anschließend an den Fingern), kann nicht in den Spiegel sehen, ohne sterben zu wollen. Ich bin ein eitler, selbstbesessener, oberflächlicher, narzisstischer, manipulativer, heruntergekommener, mitleidheischender, weinerlicher, bedürftiger, zügelloser, bösartiger, gefühlskalter, selbstzerstörerischer Oberarsch.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Heute bin ich um kurz vor vier aufgewacht. Vier Uhr früh ist von allen vierundzwanzig Stunden die denkbar schlimmste Zeit. Genauer gesagt, ist die Stunde zwischen halb vier und halb fünf absolut beschissen. Ab halb fünf geht’s: Man kann sich bis fünf im Bett herumwälzen und dann aufstehen, mit dem beruhigenden Gedanken, dass es auch andere Leute gibt, die tatsächlich um fünf aufstehen. Um vor der Arbeit ihr idiotisches Gejogge zu absolvieren, sich für die Frühschicht bereitzumachen, zu meditieren, Yoga zu treiben oder eine selige Dreiviertelstunde zu genießen, in der sie nicht an die Kinder oder die Hypothek zu denken brauchen.
Oder einfach an nichts denken.
Wenn man aber vorher auf den Beinen ist, stimmt ganz offensichtlich etwas nicht mit einem.
Kann nicht anders sein.
Ich habe um 3:47 Uhr angefangen, das hier zu schreiben.
Etwas stimmt mit mir nicht.
Ich habe auf meiner (nachgemachten) Rolex, iPhone-Dockingstation, (echten) IWC, Großvater-, Wand-, Kassetten-Radio-CD-Player-, Casio-, Mickeymaus-Uhr (in chronologisch umgekehrter Reihenfolge) schon genug Vieruhrfrühs verstreichen sehen, um für mehrere Leben bedient zu sein. Da kommt dieser unvermeidliche innere Klick, wie wenn ein Schalter umgelegt wird, der «Scheiß-drauf»-Moment, in dem man beschließt, aufzustehen und weiterzumachen. Sich aus dem Bett und in die Welt hinaus zu wagen. Im Wissen, dass es weh tun wird. Dass es ein langer Tag werden wird.
Ich weiß zum Beispiel, dass ich heute bis um neun Uhr meine vier Stunden Klavier geübt, vierzehn Zigaretten geraucht, eine Kanne Kaffee getrunken, geduscht, Zeitung gelesen, E-Mails beantwortet und das Auto aufgetankt haben werde. Mein kompletter Tag und alles, was ich heute tun muss, wird um neun Uhr geschafft, erledigt, abgehakt sein. Was fange ich überhaupt mit so einer Information an? Was zum Teufel soll ich von neun bis dreiundzwanzig Uhr tun – dem frühesten Zeitpunkt, an dem ich das Licht ausmachen und zu schlafen versuchen kann, ohne mich wie ein geisteskranker Versager zu fühlen?
Und ich weiß, warum ich so oft so früh auf den Beinen bin.
Mein Kopf ist schuld. Der Feind. Meine voraussichtliche Todesursache; Landmine, tickende Zeitbombe, Moriarty. Mein blöder Scheißkopf, der mich dazu bringt, zu weinen und zu schreien und zu brüllen und mir die mentalen Gehirn-Augen vor Frustration auszukratzen. Ständig präsent, konsequent nur in seiner Inkonsequenz, zornig, verzogen, verdorben, pervers, unsinnig, klug, messerscharf, räuberisch.
Folgendes hat sich heute Morgen abgespielt:
La Tête
Ein kurzer Einakter von James Rhodes
Die Personen:
Ein Mann; zerzaust, gestört, stoppelig, mager.
Eine Frau; heiß, blond, zu gut für ihn.
Der Mann liegt neben der Frau im Bett. Seine Augen klappen auf; er sieht seine Freundin.
Sie schläft. Er ist wach und rastlos.
Die Uhr zeigt 3:30.
Durch sein extrem ausdrucksfähiges Gesicht verrät er, dass er nicht mit jemandem zusammen sein dürfte, der so gut ist wie sie. Überhaupt nicht mit jemandem das Bett teilen dürfte. Sich nicht in einer so normalen, gefährlich intimen, all-scheiß-täglichen Situation befinden dürfte.
Das Mädchen ist viel zu hübsch, liebenswürdig, großzügig.
Der Mann umarmt sie. Sie rührt sich nicht.
Er streckt die Hand aus und streicht ihr das Haar von den Augen.
Mann: Ich liebe dich so sehr, mein Liebling. Du fehlst mir. Ich will dich.
Frau: (heiser und bestenfalls halb wach) Ich lieb dich auch, mein Schatz. Es ist alles gut, Baby. Versprochen.
Sie schläft wieder ein.
Der Mann fängt an, ihre rechte Brust zu liebkosen, und küsst ihren Hals. Er stellt sich dabei linkisch an, unangenehm verzweifelt.
Frau: Darf ich noch ein ganz kleines bisschen schlafen, Liebling? Du machst mich so an. Es ist noch fürchterlich früh.
Sie schläft wieder ein.
Passiv-aggressiv stolpert der Mann aus dem Bett, zieht sich geräuschvoll an und schließt die Schlafzimmertür hinter sich.
Er geht in die Küche und schaltet die Kaffeemaschine ein.
Mann: (sie nachäffend) Es ist noch fürchterlich früh … Scheiß drauf.
Pintereske Pause.
Mann: (übellaunig herumschlurfend, zum Publikum gewandt) Sie hasst mich, verdammt. Jedem anderen würde sie schon längst das Hirn aus dem Leib vögeln. Ausgiebig. Wahrscheinlich besorgt sie sich’s gerade selbst und denkt dabei an irgendein Arschloch aus dem Fitnessstudio. An jemanden, der nicht unsicher und weinerlich ist. Einen von diesen selbstbewussten, total souveränen Pennern. Der’s fertigbringt, «Alter» zu sagen, ohne rot zu werden. Glaubwürdig über Fußball reden kann. Den Haupthahn zu finden und zu benutzen weiß.
Er setzt sich mit seiner Tasse Kaffee an den Computer.
Öffnet eine Datei, steckt sich eine Kippe an und fängt an zu tippen.
Mann: (spricht, während er tippt) Meine Liebste,
während ich das hier schreibe, liegst du im Bett und masturbierst beim Gedanken an einen deiner Ex oder deinen Chef – oder irgendeinen anderen gutgebauten, gutaussehenden Wichser. Ich weiß, dass es so ist. Und deswegen muss ich dich von hier aus bestrafen, nur mit Hilfe meines Geistes.
Trinkt einen Schluck Kaffee.
Ich weiß, dass sie all das sind, was ich nicht bin. In meinem Kopf habe ich sie samt und sonders mit einer magischen, mühelosen Personalunion von «Riesenschwanz und totalem Genie» ausgestattet. Ich kann nicht glauben, dass du mir das antust. Ich bin rasend wütend auf dich. So wütend, dass ich am ganzen Leib zittere. Das Adrenalin sprudelt. Meine Atmung explodiert. Ich bin high von zu viel oder zu wenig Sauerstoff, keine Ahnung. Ich hab recht, und du hast unrecht. Ich weiß, woran und an wen du in Wirklichkeit denkst und was du wirklich willst, und das kann nicht, werde niemals ich sein. Danke, dass du mir das so klargemacht hast. Jetzt stimmt meine Welt irgendwie wieder. Die Ordnung ist wiederhergestellt, und die Schmetterlinge können ungestraft davonflattern. Wieder einmal wurde alles, was drohte, mich ein bisschen weniger erbärmlich, ein kleines bisschen glücklicher, zufriedener, menschlicher zu machen, über den Haufen geschmissen und hat sich erledigt. Und es ist noch nicht mal zehn nach vier. Auf dein Wohl, du herzloses, grausames Miststück.
Der Mann richtet den Computerbildschirm exakt aus. Er zieht die Küchenschublade auf, holt ein Messer heraus und schneidet sich die Kehle durch.
Vorhang
Diese Szene, dieses Brecht-Reiz-fördernde Meisterwerk, war – abgesehen vom letzten Satz, weil ich zu feige bin, um wirklich Ernst zu machen – mein heutiger Morgen-Kopf. Er tobt sich Tag für Tag in tausenderlei Variationen aus und bezieht die meisten Menschen ein, mit denen ich in Berührung komme. So funktioniert mein Kopf nun mal, schon immer und wahrscheinlich bis ans Ende meiner Tage. Normalerweise kann ich das etwas besser für mich behalten. Manchmal geht’s in die Hose. Immer ist es da. Und deswegen werde ich das Gefühl nicht los, ein geisteskranker Versager zu sein.
Eine kurze Warnung, bevor Sie weiterlesen: Sollten Sie in der Vergangenheit Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch, Selbstverstümmelung, Einweisung in eine geschlossene Anstalt, psychotropen Substanzen oder Suizidalität gemacht haben, könnte dieses Buch heftige Reaktionen bei Ihnen auslösen. Ich weiß, solche Warnungen werden gewöhnlich nur als zynischer Kunstgriff benutzt, um Leser aufzugeilen und zum Weiterlesen zu bringen – und um ehrlich zu sein, hatte ein Teil von mir tatsächlich diesen Hintergedanken. Aber ich habe nicht das geringste Verständnis dafür, wenn Sie das hier lesen und sich anschließend die Arme aufritzen, beim Gedanken an das, was Ihnen als Kind angetan wurde, ausrasten, den häuslichen Giftschrank plündern, ihre Frau/Töle/eigene Visage grün und blau schlagen und dann mir die Schuld geben. Wenn Sie einer von diesen Typen sind, dann haben Sie mit Sicherheit Ihr ganzes beschissenes Leben lang andere dafür verantwortlich gemacht, dass Sie all diese Dinge getan haben, also hören Sie bitte damit auf und wälzen Sie Ihren pathologischen Selbsthass nicht auf mich ab. Ich habe das, immer wieder mal, selbst getan, und es ist ebenso idiotisch wie erbärmlich.
Dem besseren Teil von mir wär’s sogar am liebsten, wenn Sie dieses Buch gar nicht erst lesen würden. Er wünscht sich Anonymität, Einsamkeit, Demut, Abstand und Abgeschiedenheit. Aber dieses «bessere Ich» ist nur ein unbedeutender Bruchteil des großen Ganzen, und das Votum der Mehrheit geht dahin, dass Sie das Buch kaufen sollen, es lesen, darauf reagieren, darüber reden, mich lieben, mir vergeben, auf eine besondere, persönliche Weise von der Lektüre profitieren sollen.
Und ich wiederhole, dieses Buch wird immer wieder von klassischer Musik handeln. Sollten Sie damit ein Problem haben, bitte ich Sie nur um eins, bevor Sie das Buch wegschmeißen oder zurück ins Regal stellen. Kaufen Sie sich, klauen Sie oder streamen Sie diese drei Alben: Beethoven, Sinfonien Nr. 3 und 7 (Sie bekommen alle neun Sinfonien, gespielt vom London Symphony Orchestra, bei iTunes für 9,99 €); Bach, die Goldberg-Variationen (gespielt von Glenn Gould auf Klavier und idealerweise die Studioaufnahme von 1981, bei iTunes für nicht mal einen Zehner zu haben); Rachmaninow, Klavierkonzerte Nr. 2 und 3 (am Klavier Andrei Gawrilow, 7,99 €). Schlimmstenfalls haben Sie dafür bezahlt, können mit dem ganzen Krempel nichts anfangen und sind um den Gegenwert von drei Pizzen ärmer. Erklären Sie mich auf Twitter zum Arschloch und haken Sie’s ab. Im besten Fall haben Sie die Tür zu etwas geöffnet, was Sie für den Rest Ihres Lebens immer wieder verblüffen, entzücken, begeistern und erschüttern wird.
Während meiner Konzerte spreche ich über die Stücke, die ich spiele, erkläre, warum ich sie ausgewählt habe, was sie für mich bedeuten, in welchem Kontext sie entstanden. Entsprechend werde ich zu diesem Buch einen Soundtrack liefern. So wie man in einem Sterne-Restaurant zu jedem Gang den passenden Wein empfohlen bekommt, soll jedes Kapitel von einem Musikstück begleitet werden. Sie können sich die Aufnahmen auf http://bit.do/instrumental anhören – sie kosten nichts, sind sorgfältig ausgesucht und wichtig. Ich hoffe, sie gefallen Ihnen.
ERSTES STÜCK
Bach
Goldberg-Variationen, Aria
Glenn Gould, Klavier
Im Jahr 1741 gab es einen reichen Grafen, der mit Siechtum und Schlaflosigkeit kämpfte. Wie man das in jenen Zeiten zu tun pflegte, beschäftigte er einen Kammermusikus, der ihm des Nachts, wenn er mit seinen Dämonen rang, auf dem Clavicembalo aufzuspielen hatte. Er war die Barock-Entsprechung des Talkradios.
Der Name des Musikers war Goldberg, und der Graf brachte ihn zu J. S. Bach, damit der ihn unterrichtete. Während einer dieser Musikstunden erwähnte der Graf, dass er es begrüßen würde, wenn Goldberg ein paar neue Piecen hätte, mit denen er Seine Erlaucht um drei Uhr früh nach Möglichkeit ein wenig aufheitern könnte. Xanax gab’s damals noch nicht.
Die Folge war, dass Bach eines der beständigsten und kraftvollsten Werke für Tasteninstrumente aller Zeiten komponierte – ein Werk, das später als die Goldberg-Variationen bekannt wurde: eine Aria, gefolgt von dreißig Variationen, die zuletzt in die Wiederholung der Eröffnungs-Aria münden. Das Konzept von Thema und Variationen ist mit einer Sammlung von Kurzgeschichten vergleichbar, die um einen einzigen, verbindenden Gegenstand kreisen – eine einleitende Geschichte schildert ein konkretes Thema, das jeder folgende Text der Sammlung auf seine eigene Art aufgreift.
Für mich als Pianisten sind sie das frustrierendste, schwierigste, überwältigendste, transzendenteste, tückischste, zeitloseste Stück, das es gibt. Mit mir als Hörer stellen sie Dinge an, die sonst nur die stärksten Psychopharmaka zustande bringen. Sie sind eine Schule der Wunder und tragen in sich alles, was man jemals wissen wollen könnte.
1955 wurde ein junger, brillanter, ikonoklastischer kanadischer Pianist namens Glenn Gould zu einem der ersten Musiker überhaupt, die die Variationen statt auf dem Cembalo auf dem Klavier spielten und aufnahmen. Er wählte sie für sein erstes Album aus – zum Entsetzen der Plattenbosse, die sich etwas Publikumswirksameres gewünscht hätten. Es wurde zu einem der meistverkauften Klassikalben aller Zeiten, und Goulds Aufnahme ist bis heute die Messlatte, die alle anderen Pianisten zu erreichen streben. Noch keinem ist es gelungen.
Ich sitze in meiner Wohnung in Maida Vale. Im zwielichtigen Teil des Viertels nah der Harrow Road, wo Kinder angebrüllt werden und Alkohol und Crack die einheimische Variante von O-Saft und Cornflakes ist. Mein schönes Zuhause im schicken Teil (Randolph Avenue, W9, na klar) verlor ich, als meine Ehe endete – es hatte eine Fläche von einhundertachtzig Quadratmetern, dazu einen neuen Steinway-Flügel, einen großen Garten, vier Klos (Schnauze), zwei Stockwerke und den obligatorischen Kühlschrank der Marke Smeg.
Gut, da waren auch Blutflecken auf dem Teppich, wütende Schreie in den Wänden, und der unbezwingbare, Febreze-resistente Gestank von Ennui, der in der Luft hing. Meine jetzige Wohnung ist klein, aber gut geschnitten, hat nur ein Klo, keinen Garten, ein popeliges japanisches Klavier und den unendlich viel angenehmeren Geruch von Hoffnung und Aussicht auf Erlösung.
Umgeben von allerlei Dirigenten, Produzenten, Technikern, Channel-4-Fernsehbossen und weiß der Geier wem noch, sitze ich hier mit meiner Freundin Hattie, meiner Mama Georgina, meinem Manager Denis und meinem besten Freund Matthew. Diese vier Menschen sind von Anfang an da gewesen, meine Mama ohnehin, die anderen in einem kosmischen Sinn oder jedenfalls seit ein paar Jahren.
Diese Leute sind das Rückgrat. Sie sind mein Alles. In spürbarer und herzzerreißender Abwesenheit meines Sohnes sind sie die lenkenden und leuchtenden Kräfte in meinem Leben. In dunklen Zeiten sind sie mein stärkstmögliches Motiv, am Leben zu bleiben.
Wir sind in meinem Wohnzimmer (Fußboden mit Pizzakartons übersät) und werden uns gleich meine erste Sendung auf Channel 4 ansehen, James Rhodes: Notes from the Inside. Es ist ein großer Moment für mich. Für jeden vermutlich. Aber für mich, für jemanden, der eigentlich überhaupt nicht hier sein dürfte, stellt es viel, viel mehr dar als den grassierenden «Schaut mich an, ich bin im Fernsehen»-Tripper, mit dem Dschungelcamp, Big Brother und Piers Morgan uns alle mittels unablässigen multimedialen In-den-Arsch-Fickens infiziert haben.
Es ist fast genau sechs Jahre her, dass ich aus einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt entlassen wurde.
Meine letzte Klapsmühle verließ ich 2007, bis zur Halskrause voll mit Tabletten, dafür ohne Beruf, Manager, Alben, Konzerte, Knete oder Selbstachtung. Und jetzt werde ich gleich vor einer erwarteten Million-plus Zuschauern zur Primetime in einem Channel-4-Dokumentarfilm mit meinem Namen im Titel erscheinen. Also, ja, trotz obligatorisch empörtem, selbstgerechtem Opfer-Flunsch ist es eine echt große Sache.
Umso mehr, als es ohne weiteres auch eine Channel-5Doku mit dem Titel «Ich aß meinen eigenen Penis auf, damit die Aliens mich endlich in Ruhe ließen, Teil zwei» hätte werden können. Es hätte genauso gut ein Überwachungsvideo aus einer Folge von Crimewatch sein können. Ist es aber nicht. Es ist etwas Brillantes und Ehrliches und Peinliches und Unangenehmes. Wie ein erstes Date, an dem man zu viel (viel zu viel) von sich preisgibt, sich aber nichts daraus macht, weil sie heiß und bildhübsch ist und man vom allerersten Augenblick an am liebsten in sie hineinkriechen und sterben würde.
Die Ausgangsidee unseres Films war, dass Musik heilt. Sie bietet eine Chance auf Erlösung. Sie ist eins der wenigen (nicht-chemischen) Dinge, die sich in unser Herz und unsere Psyche hineingraben und dort wirklich Gutes anrichten können. Also nehme ich einen gigantischen Steinway-Flügel (Modell D, den Besten, den es gibt, und mit seinen gut neuneinhalb Zentnern jedes der hundertzwanzigtausend Pfund wert, die er kostet) in eine geschlossene psychiatrische Abteilung, lerne vier Schizophreniepatienten kennen, und nachdem ich etwas mit ihnen geplaudert habe, spiele ich ihnen einzeln etwas vor. Sie fühlen sich besser, ich gucke wehmutsvoll, wir begeben uns alle auf eine Selbstentdeckungsreise und erreichen eine höhere Sphäre.
So weit, so feuchter-Traum-für-TV-Bosse, so kotz.
Aber es ist ein starker Film. Tipp des Tages in jeder Zeitung und zu Tränen rührend, aber nicht auf eine unangenehme, manipulierende Weise. Sein Alleinstellungsmerkmal ist in den Augen der Presse die Tatsache, dass ich darin nicht nur moderiere und Klavier spiele, sondern «besonders ergreifend» bin (deren Ausdruck), weil ich selbst Psychiatriepatient war und mehrere Monate in geschlossenen Abteilungen verbracht habe. Sie schlucken diese «Vom Opfer zum Star»-Scheiße samt Leine und Schwimmer. Und ich für meinen Teil find es toll. Nehme so viele Radio- und TV-Interviews, doppelseitige Artikel und Zeitschriften-Fotostrecken mit, wie ich nur kriegen kann.
Sollte sich das alles gut entwickeln, dann werde ich meine Vorgeschichte und meinen Krümel Talent dafür einsetzen, Alben zu verscheuern, wohltätige Organisationen zu unterstützen, zu touren, mehr im Fernsehen zu machen und nach Möglichkeit etwas für all diejenigen zu erreichen, die keine Stimme haben. Diejenigen, die mit den schwärzesten, verzweifeltsten Symptomen und Umständen kämpfen und keinen haben, der sie hört – die Vergessenen, Verharmlosten, Einsamen, Isolierten, Verlorenen. Diejenigen, die man, in ihren kleinen inneren Welten eingeschlossen, vor sich hin schlurfen sieht, mit hängenden Köpfen, abgelöschten Augen, ungehört und in eine schreckliche, stumme Ecke gedrängt.
Aber ich werde das alles auch dafür einsetzen, für mich persönlich etwas zu erreichen. Ich werde es dafür einsetzen, Geld einzusacken und Krempel zu kaufen, den ich nicht brauche. Alles aufzurüsten. Prominent zu werden und mich mit öffentlichem Interesse vollzusaugen. Mein Kopf sagt mir, dass ich das brauche. Dass ich danach schmachte. Weil ich irgendwo an die geringe Chance glaube, dass (finanzieller) Erfolg, gepaart mit Aufmerksamkeit, endlich in Ordnung bringen wird, was mit mir nicht stimmt.
Und wenn’s das nicht tut, dann geh ich nach Vegas, gebe in unverschämt kurzer Zeit eine noch unverschämtere Menge Geld aus und puste mir anschließend die Birne weg.
Wir schauen uns alle die Sendung an. Ich fühle mich unbehaglich, preisgegeben. Ein Gefühl, als würde man eine Stunde lang seine eigene Stimme vom Anrufbeantworter abhören – vor einem Raum voller Leute. Nackt. Kaum etwas lässt einen so sehr die Abgeschiedenheit und Sicherheit einer Gummizelle herbeiwünschen wie die Erkenntnis, dass der eigene Name auf Platz eins bei Twitter klettert, während sich buchstäblich Tausende von Kommentaren, Messages, Tweets, Facebook-Updates einzig um einen selbst drehen. Das ist die Kehrseite, wenn man ein aufmerksamkeitssüchtiges Arschloch ist: Wir schreien so lange «Hier, schau mich an», bis die Leute uns beachten, und wenn sie es dann tun, sind wir verwirrt, scheuen zurück und jammern darüber. Richten Sie einen Scheinwerfer auf ein beliebiges Gemenge von zwielichtigen Motiven, und es wird sich im Normalfall schamrot in eine Ritze verkriechen.
Der Film kommt in meinem unaufgeräumten kleinen Wohnzimmer gut an. Versteht sich. Wir essen. Alle sagen Nettigkeiten, weil man das eben so macht, wenn man nicht gerade ein asozialer Seelenkrüppel ist, und ich kriege alle außer Hattie aus dem Haus und geh ins Bett.
Ich kann an nichts anderes denken als daran, wie bescheuert ich auf dem Bildschirm aussehe, mit schlechtsitzenden Jeans, idiotischem Haar, zweifelhaften pianistischen Fähigkeiten und einschmeichelnder Stimme. Und dass ich mich hätte besser vorbereiten sollen, und ob ich wohl morgen in der U-Bahn erkannt werde und mich wichtig fühlen kann. Und dann fange ich an, mich zu langweilen, und werde wütend auf mich selbst und zwinge mich, über die sechs Konzerte nachzudenken, die in den nächsten zehn Tagen anstehen. Ich erledige meine gewohnte Bettzeitroutine – gehe im Kopf jedes Stück, das ich spielen werde, Takt für Takt durch. Ich überprüfe alle entscheidenden Elemente, die zu einem Konzert gehören: Gedächtnis (im Kopf kann ich mir beim Spielen zuschauen und sehe, wie meine Finger alle richtigen Tasten anschlagen), Struktur (wie hängt jeder einzelne Teil mit den anderen zusammen, wo treten die wichtigen Verschiebungen und Veränderungen auf, wodurch wird das Ganze zusammengefasst und vereinheitlicht?), Dialog (was für eine Geschichte wird erzählt, und wie lässt sie sich am besten zum Ausdruck bringen?), Stimmführung (für welche Stimme entscheide ich mich in einer Passage, in der zwischen den Tönen verschiedene Melodien versteckt sind – für die offensichtliche oder für die unterschwellige, die etwas Neues erzählt?) und immer so weiter. Es ist, als hätte ich einen beschissenen Plattenspieler zur Untermiete im Kopf, mit einem eingebauten Musikkritiker, der einen fortlaufenden Kommentar beisteuert; ich fange jedes Stück an, und jedes Mal, wenn ich patze oder mein Gedächtnis auch nur im Geringsten schwächelt, muss ich wieder von vorn beginnen. Was bei einem fünfundsiebzigminütigen Konzertprogramm eine ganze Weile dauern kann. Aber es erfüllt seinen Zweck und hält mich davon ab, an andere Dinge zu denken, die mich, wenn ich nicht aufpasse, auf einen Weg drängen, der zu nichts als Ärger führt.
Ich schaffe es, drei Stunden zu schlafen. Und sobald ich aufwache, springt es mich an. Dieses Etwas, das mein nahezu ständiger Begleiter ist.
Es gibt eine Sucht, die zerstörerischer und gefährlicher ist als jede Droge, und sie wird selten als solche anerkannt, geschweige denn thematisiert. Sie ist heimtückisch, allgegenwärtig und hat epidemische Ausmaße. Sie ist die Hauptursache der Anspruchskultur, der Kultur der Trägheit und der Depression, die uns umgibt. Sie ist eine Kunstform, eine Identität, eine Lebensweise, und sie hat ein abgrundtiefes, unermessliches Fassungsvermögen für Schmerz.
Ich spreche von der Opferrolle.
Die Opferrolle wird in bemerkenswert kurzer Zeit zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Und da ich mich lange darin gesuhlt habe, hat sie mich so sehr in ihrer Gewalt, dass vieles von dem, was ich tue, mich nur noch fester in dieser selbsterschaffenen Hölle des Opferdaseins verankert.
Als ich ein Kind war, stießen mir Dinge zu, wurden mir Dinge angetan, die mich dazu verleiteten, mein Leben fortan unter der Prämisse zu erfahren, dass ich und ich allein verantwortlich bin für alles in mir, was ich verachte. Offensichtlich konnte mir jemand diese Dinge nur deswegen antun, weil ich schon als Zellklumpen vom Wesen her schlecht war. Und alles Wissen und Verständnis und alle Güte der Welt werden niemals, niemals etwas daran ändern, dass das meine Wahrheit ist. Schon immer war. Immer sein wird.
Da können Sie jeden fragen, der schon einmal vergewaltigt wurde. Wenn der oder die Ihnen etwas anderes erzählt, ist’s gelogen.
Zu einem Happy End kommen Opfer nur in heruntergekommenen Massagesalons in Camden. Wir schaffen es nicht, auf der anderen Seite des Tunnels wieder herauszukommen. Wir sind beschämt, wütend, empört und selbst an allem schuld.
Da saß ich also an diesem Mittwochabend in meinem knackengen Kackwohnzimmer, sah mir dabei zu, wie ich mich in der Glotze wie ein riesiges widerliches Oberarschloch aufführte, und erkannte, dass sich eigentlich gar nichts geändert hat. Tief innen habe ich noch heute, im Alter von achtunddreißig Jahren, wie die meisten von uns, dieses leere, schwarze Loch in mir, das scheinbar nichts und niemand auszufüllen vermag. Ich sage, «wie die meisten von uns», weil, na ja, schauen Sie sich doch um. Unsere Gesellschaft, unsere Unternehmen, unsere sozialen Konstrukte, Gewohnheiten, Süchte und Zerstreuungen werden in einem schwindelerregenden Ausmaß von Unzufriedenheit und Leere bestimmt. Ich nenne das Selbsthass.
Ich hasse, wer ich war, bin und geworden bin, und ganz wie man es uns allen beibringt, bestrafe ich mich unentwegt für die Dinge, die ich sage und tue. Und betrachtet man die Dimensionen, die Intoleranz, Gier, Anspruchsdenken und Funktionsstörungen weltweit angenommen haben, wird klar, dass sich das Problem nicht nur auf einen kleinen, degenerierten Teil der Gesellschaft beschränkt. Wir alle stecken in einer Welt des Schmerzes. Sollte das irgendwann früher einmal anders gewesen sein, ist es heute zumindest mit Sicherheit der Normalzustand. Und darüber bin ich genauso wütend wie über meine eigene Vergangenheit.
Es ist eine Wut, die allem zugrunde liegt, die mein Leben antreibt und das Tier in mir nährt. Und es ist eine Wut, die mich immer wieder daran hindert, meinen ernsthaftesten Bemühungen zum Trotz, zu einer besseren Version meiner selbst zu werden. Mein gottverdammter Kopf scheint ein Eigenleben zu führen, vollkommen außerhalb meiner Kontrolle, unfähig dazu, Vernunft anzunehmen, Mitleid zu empfinden oder Kompromisse einzugehen. Er schreit mich aus tiefstem Innern heraus an. Als Kind ergaben seine Worte für mich keinen Sinn. Seit ich erwachsen bin, lauert er am Fußende meines Bettes und legt schon ein, zwei Stunden, bevor ich aufwache, los. Bis ich meine Augen öffne, hat er sich so richtig in Rage geredet und plärrt mir diese Scheiße entgegen von wegen, wie froh er ist, dass ich endlich wach bin, wie gefickt ich doch heute wieder bin – dass ich viel zu wenig Zeit habe und alles verkacken werde, dass meine Freunde gegen mich intrigieren und ich keinem vertrauen darf, dass ich mit all meiner Kraft versuchen muss, mein Leben wieder klarzukriegen, obwohl es sowieso aussichtslos ist. Ich bin chronisch erschöpft. Es ist eine Art toxisches ICH – ätzend, allgegenwärtig, alldurchdringend, negativ, alles Schlechte in sich vereinend.
Ich spüre es auch jetzt. Mir war gar nicht bewusst, wie scheißwütend ich noch immer war, bis ich anfing, dieses Buch zu schreiben. Wie gut ein bisschen Geld, Aufmerksamkeit und Medieninteresse diese Tatsache verdecken können! Wie meisterhaft Beethoven die Kunst der Ablenkung beherrscht! Warum machen so viele erfolgreiche Leute immer weiter, rennen immer weiter, warum versuchen sie ihre Dämonen dadurch hinter sich zu lassen, dass sie immer mehr Krempel anhäufen, noch mehr Zerstreuungen, noch mehr Lärm suchen, bis sie schließlich platt auf die Fresse fallen und sich selbst zerstören? Weil man die Ursachen einer so überwältigenden Wut nicht abhängen kann.
Ich kann mühelos und mit Vergnügen nach außen schauen und Gründe für meinen inneren Schmerz suchen. Ich kann überzeugend darlegen, inwiefern alles in meinem Leben, jedes Ereignis, jede Situation, jeder Mensch und Ort bis zu einem gewissen Grad dafür verantwortlich ist, dass ich – die meiste Zeit über – so ein erbärmlicher, wutzerfressener Scheißkerl bin.
Und ich kann ebenso überzeugend den Blick nach innen wenden und mich mit dem unerbittlichen Grauen des Selbstvorwurfs vergnügen.
Beides ist ohne Bedeutung, Belang oder Zweck.
Allzu häufig gebe ich jedem und allem die Schuld. Ich bin zeitweise so geistesgestört wütend, dass ich kaum Luft bekomme. Es gibt keinen Ausweg, und nichts schafft Erleichterung außer ein paar teuren und gefährlichen, nur kurz vorhaltenden Dröhnungen. Und diese Wut ist die Belohnung des Opferdaseins – jede Sucht braucht ihre Befriedigungen. Meine sind Wut und Schuldzuweisungen, sie halten mich aufrecht und bringen mich immer wieder durch den Tag.
Glauben Sie mir, diese wüste Mixtur aus Selbsthass und weinerlichem Selbstmitleid, in der ich hoffnungslos zu versumpfen scheine, ist nicht die Person, die ich sein möchte.
Ganz bestimmt nicht.
Wer würde schon so sein wollen? Geschweige denn, es schwarz auf weiß eingestehen?
Ich wäre gern durch und durch demütig. Ein selbstloser Diener der Musik und der Welt und all jener, die weniger Glück haben als ich. Ich würde gern Zeugnis davon ablegen, dass Schrecken ertragen und überwunden werden können. Würde gern helfen, schenken, wachsen und erblühen. Mich schwerelos, frei und ausgeglichen fühlen und ganz oft lächeln.
Aber da hab ich noch größere Chancen, Rihanna flachzulegen.
Letztlich ist der Grund für meine Wut die Erkenntnis, dass in diesem Leben nichts und niemand mir helfen kann, diesen Zustand vollständig zu überwinden. Keine Verwandten oder Ehefrauen, Freundinnen oder Seelenklempner, keine iPads, Pillen oder Freunde. Als Kind vergewaltigt zu werden ist der Everest des Traumas. Wie könnte es auch anders sein?
Ich wurde ab meinem siebten Lebensjahr benutzt, gefickt, gebrochen, als Sexpuppe missbraucht und geschändet. Immer und immer wieder, jahrelang.
Und das kam so:
ZWEITES STÜCK
Prokofjew
Klavierkonzert Nr. 2, Finale
Evgeny Kissin, Klavier
Sergei Prokofjew war einer der großen Revolutionäre der Musik. Er schrieb seine erste Oper mit neun und verdiente sich bereits als Teenager am Sankt Petersburger Konservatorium durch seine aggressiv dissonanten, virtuosen Kompositionen einen Ruf als Enfant terrible der Tonkunst: Er warf alle bestehenden Konventionen der Tonalität über den Haufen und trieb die Musik mit heftigen Tritten in eine neue Richtung.
Noch mehr liebe ich ihn, weil er Kritiken wie die folgende aus der New York Times bekam: «Das Sklavenhaus normaler tonartlicher Verhältnisse wird gesprengt. Er ist ein Psychologe der hässlicheren Emotionen. Hass, Verachtung, Wut, Abscheu, Verzweiflung, Trotz dienen als legitime Modelle für Stimmungen.»
Geil.
1912 bis ’13 komponierte Prokofjew ein Klavierkonzert zum Andenken an einen Freund, der ihm einen Abschiedsbrief geschrieben und dann Selbstmord begangen hatte. Die Musik ist so kreischend, so zornig, so überwältigend geistesgestört, dass viele im Publikum bei der Premiere dachten, er mache sich über sie lustig. Dieses Konzert ist und bleibt eins der schwierigsten Stücke der Musikliteratur, an das sich nur eine Handvoll Pianisten überhaupt herantraut. Einer brach sich während einer Aufführung einen Finger.
Es ist die getreueste musikalische Darstellung des tobenden Wahnsinns, die ich jemals gehört habe.
Ich gehe zur Schule und bin nicht sehr stabil. Es ist schließlich die Schule für «die Großen». Ich bin ein nervöses Kind. Schüchtern und bestrebt, zu gefallen und gemocht zu werden. Ich bin grazil und schön und sehe ein bisschen aus wie ein Mädchen. Die Schule ist schick und teuer, liegt an derselben Straße wie unser Haus und erscheint in meinen Kinderaugen riesig. Ich bin fünf Jahre alt. Ich habe nur wenige Freunde, aber das macht mir eigentlich nichts aus. Ich bin «sensibel», aber nicht zurückgeblieben oder gehemmt. Nur leicht distanziert. Ich liebe Tanz und Musik und habe eine lebhafte Phantasie. Ich bin weitgehend frei von dem ganzen Scheißdreck, der die Erwachsenen bedrückt, und so gehört sich das auch. Meine kleine Welt wächst und entfaltet sich vor mir, und auf der Schule gibt es viel zu erkunden. Auch das, wie es sich gehört.
Eines Tages (ich wollte schon «eines Dienstags» schreiben, aber das war vor über dreißig Jahren, und ich habe absolut keinen Schimmer, welcher Scheißwochentag es war) ging ich mit dem Rest der Klasse in die Turnhalle. Meine erste Turnstunde macht mir Angst. Die anderen Kinder scheinen zu wissen, was sie zu tun haben. Sie können Seil klettern, nach Fußbällen hechten und vor Vergnügen kreischen. Ich bin mehr der Zuschauertyp. Aber Mr Lee, unseren Lehrer, scheint das nicht zu stören. Er wirft mir immer wieder ermutigende, freundliche Blicke zu. Als ob er wüsste, dass ich ein bisschen befangen bin, aber auf meiner Seite wäre und kein Problem damit hätte. Es bleibt alles unausgesprochen, aber es fühlt sich sauber, klar, sicher an.
Ich ertappe mich dabei, dass ich während der Stunde immer häufiger in seine Richtung sehe. Und tatsächlich: Jedes Mal, wenn ich aufschaue, treffen sich unsere Blicke, und seine Augen funkeln ein bisschen. Er lächelt mich auf eine Art an, die keiner der anderen Jungen bemerken würde, und tief innen weiß ich, dass dieses Lächeln nur für mich bestimmt ist. Es kommt mir so vor, als würden der Lärm und das Durcheinander und das Gedränge sich auflösen, wenn er mich ansieht, und ich würde von einem regenbogenfarbenen Scheinwerfer angestrahlt werden, den nur er und ich sehen können.
Es passiert jedes Mal, wenn ich in seiner Stunde bin.
Gerade genug Aufmerksamkeit, dass ich mich ein bisschen besonders fühle, nicht genug, um aufzufallen. Aber immerhin so viel, dass ich mich auf den Turnunterricht freue. Was schon eine Hammerleistung ist. Ich versuche weiter, es ihm recht zu machen, damit er mir ein bisschen mehr Aufmerksamkeit schenkt. Ich stelle und beantworte Fragen, laufe schneller, klettere höher, beklage mich nie, achte darauf, dass meine Turnsachen sauber und ordentlich sind. Ich weiß, er wird das irgendwann anerkennen. Und tatsächlich, nach ein paar Wochen bittet er mich, am Ende der Stunde zu bleiben und ihm beim Aufräumen zu helfen. Ich fühle mich, als hätte ich sechs Richtige, und Selbstachtung wäre der Jackpot. Ein ganz besonderer Preis, ein «Du bist das beste, süßeste und intelligenteste Kind, das ich je unterrichtet habe». Meine Brust schwillt an vor Stolz und pulsiert vor Lebendigkeit.
Wir räumen auf und reden dabei. Reden wie Erwachsene. Und ich bemühe mich, ganz locker vom Hocker zu sein, als wenn mir das andauernd passierte und meine sämtlichen Freunde einhundertdreißig Jahre alt wären und natürlich erwachsen. Und dann sagt er zu mir: «James, ich habe ein Geschenk für dich», und mein Herz setzt einen Schlag lang aus. Er führt mich in den Geräteraum, wo auch sein Schreibtisch steht, und kramt in der Schublade. Und dann holt er im Ernst ein Briefchen Streichhölzer heraus. Knallrot. Nun weiß ich natürlich, dass ich keine Streichhölzer anrühren darf. Und trotzdem gibt mir dieser (umwerfend coole) Mann welche und meint, es wäre total in Ordnung, wenn ich ein paar davon anzünde.