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Der kleine Laden zum Glück

Als Buch hier erhältlich:

Ein altes Kino und das Rezept zum Glücklichsein

Gemeinsam mit ihren Freundinnen Luce und Dida führt Izzy in einem ehemaligen Kino einen Laden, in dem keine Wünsche offenbleiben. Während Luce traumhafte Vintage-Brautkleider entwirft und Dida die köstlichsten Süßigkeiten Englands backt, lässt Izzy alte Gegenstände, die von ihren früheren Besitzern vergessen wurden, in neuem Glanz erstrahlen. Doch nicht jeder gönnt ihnen dieses Glück. Sie müssen kämpfen, um ihren Traum zu erhalten. Zeit für die Liebe bleibt Izzy dabei kaum, bis sie eines Tages Xander trifft. Die Begegnung und das Kribbeln zwischen ihnen gehen ihr plötzlich nicht mehr aus dem Kopf ...


  • Erscheinungstag: 22.11.2022
  • Seitenanzahl: 448
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365000991

Leseprobe

1. Kapitel

Mittwochnachmittag, 4. Juni

IZZY, LUCE & DIDA

Vintage at the Cinema

Geburtstag und Champagner

»Also, ein paar Worte zur Feier unseres Erfolges, bevor wir zum Kuchen kommen.« Dida warf den Kopf zurück, während sie sich räusperte. Dann stampfte sie mit dem Fuß auf, um die Aufmerksamkeit der Menschen in dem Laden zu bekommen. Allerdings waren die Blicke der meisten ohnehin schon auf dieses Energiebündel in Rot gerichtet, das dort auf ihrem provisorischen Rednerpodest stand. Sie schwenkte ihr Champagnerglas und sah grinsend auf Izzy und Luce hinunter.

Izzy schaute zu dem Banner hoch über Didas Kopf, das im Wind flatterte, der durch die offene Tür hereinwehte. Happy Birthday Vintage at the Cinema in der türkisfarbenen Retroschrift sah fantastisch aus.

Dida hätte ebenso gut mit einem Champagnerglas in der Hand auf die Welt gekommen sein können. Egal welcher Anlass, sie schaffte es immer, dass Moët & Chandon dabei war. Das Gleiche galt für ihre stets präsenten High Heels. Izzy betrachtete kritisch die Holzkiste, die Dida als Bühne diente und die schon Hunderte kleine Dellen von Didas Zehn-Zentimeter-Absätzen aufwies.

»Vintage at the Cinema ist heute drei geworden, und es war eine erstaunliche Reise. Drei Jahre, seit meine andere Hälfte versehentlich das Kinogebäude gekauft hat …« Dida hielt kurz inne, wie jedes Mal, wenn sie den schrecklichen Aidie, den Gatten aus der Hölle, erwähnte. Die Ehe mit diesem Kerl war wirklich anstrengend, aber von dem Spontankauf hatten sie alle profitiert. Es war typisch Aidie, ein sehr fragwürdiges Geschäft wie den Kauf dieses Gebäudes, an dem er gar kein Interesse hatte, zu tätigen. Dass Dida sich das leer stehende Kino unter den Nagel gerissen hatte, war ein Geschenk für alle gewesen.

Sie trank einen Schluck Champagner und redete weiter. »Vor drei Jahren beschlossen Luce, Izzy und ich, einen kleinen Laden in dem leeren Kino zu eröffnen und all diese antiken Sachen anzubieten, die wir so lieben.«

Luce stieß Izzy an und lächelte ihr von der Seite zu. Izzy musste mal wieder schlucken vor Rührung. Sie war so stolz auf ihre beste Freundin Luce, dass sie das Single-Mum-Dasein und ihren Laden für Vintagekleider unter einen Hut brachte. Das Vintage at the Cinema war ein echter Glücksfall gewesen. Davor hatten die beiden gerade ihr Kunststudium abgeschlossen, Luce war schon zusätzlich mit der kleinen Ruby beschäftigt, und sie waren in ihren alten Job im Coffeeshop zurückgekehrt, wo sie schon vor dem Besuch der Uni gearbeitet hatten. Vor dem Laden im Kino waren die Highlights ihrer kreativen Karriere gelegentlich ein Stand auf dem Kunsthandwerkmarkt gewesen. Aber gemeinsam mit Dida hatten die drei erstaunliche Dinge zustande gebracht. Ein Pop-up-Laden war weit weniger einschüchternd gewesen, als irgendwo etwas zu mieten, und angesichts der risikofreien Gelegenheit hatten sie es endlich gewagt, Dinge zu tun, von denen sie jahrelang geträumt hatten.

»Und der Rest ist Geschichte.« Dida machte eine dramatische Pause und übersprang einfach die Mühen und die Schufterei. »Doch allein hätten wir das nicht auf die Beine stellen können. Unseren Erfolg verdanken wir daher auch all unseren Freunden und den anderen Verkäufern, die das hier gemeinsam mit uns zu dem fantastischen Minikaufhaus haben wachsen lassen, das es heute ist. Und natürlich dürfen wir unsere wundervollen Kunden nicht vergessen.« Dida prostete schwungvoll dem Publikum zu und trank einen weiteren Schluck.

Dida hatte ebenfalls einiges erreicht, auch wenn sie anders als Luce und Izzy kaum auf die Einnahmen angewiesen war. Sie hatte nie darüber geklagt, nur Hausfrau und Mutter zu sein, zuständig für einen sehr großen Haushalt sowie für einen Mann, der launisch war wie ein stürmischer Frühlingstag. Aber Vintage at the Cinema hatte ihr die Chance gegeben, aus ihrem chaotischen Zuhause herauszukommen. Jetzt besaß Dida ein ganz neues Selbstbewusstsein und strahlte eine Lebensfreude aus, die sie drei Jahre zuvor nicht gehabt hatte.

Während sie sich jetzt im Laden umschaute, wusste Izzy, dass sie sich mit ihren Vorbereitungen für diese Geburtstagsparty selbst übertroffen hatte. Blumengirlanden hingen zwischen den funkelnden Kronleuchtern über schönen grauen und cremefarbenen Regalen und Frisierkommoden. Kunstvoll vor altmodischen Stoffen arrangierte Stapel aus Koffern und Schrankkoffern rundeten das Bild ab. In den Regalen standen liebevoll ausgestellte Objekte wie eine Reihe von Stillleben. Kein Winkel des Ladens, der nicht aussah wie aus einem Hochglanzmagazin über Landhausstil.

Izzy und Luce hatten Dida auf der Kunstakademie kennengelernt, da waren sie achtzehn gewesen und Dida in den Dreißigern, nach der Geburt ihres ersten Babys verzweifelt auf der Suche nach etwas, das sie bei Verstand hielt. Die Freundschaft festigte sich, als Dida und Luce denselben Geburtsvorbereitungskurs besuchten. Jetzt saßen ihre Kinder Lolly und Ruby zusammen Hand in Hand auf dem Tresen und ließen die Beine baumeln. Ruby winkte Izzy zu, und Izzy schmolz dahin.

Ruby ähnelte ihrer Mutter, wie sie dort saß, eine blasse schlanke Schönheit in geblümten Shorts, neben Didas Tochter Lolly, die sich mit einem pinkfarbenen Rüschenkleid herausgeputzt hatte. Wenn Dida mit dem Champagnerglas auf die Welt gekommen war, dann Lolly mit einer Diamantkrone. Izzy wusste, ohne sich erkundigen zu müssen, von dem Kampf, der heute Morgen in Alport Towers, Didas Haus, stattgefunden hatte, weil Lolly auf Glitzerstiefel in Pink und Orange bestanden hatte.

Dida war jetzt in Fahrt. »Wir waren der erste Vintage-Shop, und als andere folgten, wurde Matlock das Retro-Shopping-Ziel in Derbyshire.«

Izzy und Luce lächelten einander nachsichtig zu. Didas Rede sollte kurz und knackig sein, aber schließlich hatten sie hier etwas Außergewöhnliches geschaffen, und daher badete Izzy für ein paar Minuten im Erfolg. Nach der Erfahrung, wie ihr Vater ihre Mum behandelt hatte, als er sie verließ, war es für Izzy das Wichtigste gewesen, sich ein Leben aufzubauen, ohne sich auf einen Partner verlassen zu müssen, der sich jederzeit aus dem Staub machen konnte. Der Retro-Laden, anfangs mehr ein glücklicher Zufall, hatte ihr Unabhängigkeit verschafft, und dafür konnte sie sich bei ihren wundervollen Freundinnen Luce und Dida bedanken.

»Danke also an Byron von Corks für die tollen Cocktails, die wir so lieben. Dank auch an Gigi von Amandines Patisserie dafür, dass sie uns mit köstlichen Törtchen versorgt hat, besonders die mit Blaubeeren. Außerdem danke ich Evan von Majestic Wine – bitte zähl nicht die Moët-Flaschen …«

Izzy nahm belustigt zur Kenntnis, dass Aidies Name auf Didas länger werdender Liste nirgends auftauchte.

Dida sprudelte weiter: »… und eine riesige Umarmung für meine Mum und meinen Dad. Ich bin so, so dankbar …«

Izzy wusste, dass Didas Mum ein absoluter Albtraum war. Didas Dankesrede geriet außer Kontrolle – wie die Oscar-Dankesrede Gwyneth Paltrows damals. Es wurde Zeit für den Kuchen.

Also setzte Izzy ein strahlendes Lächeln auf und verkündete: »Wollen wir die Gläser erheben und uns den süßen Sachen widmen?« Sie stieß Luces Hüfte mit ihrer an und deutete zu dem fantastischen Turm aus Cupcakes, dekoriert mit Rosen und Kringeln in verlaufenem Blau, Pink und Creme.

Luce unterstützte Izzy. »Tolle Idee«, pflichtete sie ihr mit einem breiten Grinsen bei.

»Okay, um es kurz zu machen …« Dida holte tief Luft, ihre Stimme schwankte jetzt. »Vintage at the Cinema repräsentiert drei Frauen – Izzy, Luce und mich –, und wir haben uns den Hintern abgeschuftet, um etwas wirklich Einzigartiges zu erschaffen, das unsere Hoffnungen und Träume übertrifft.« Dida stieg von ihrer Kiste, legte die Arme um Luce und Izzy und drückte die beiden an sich.

Izzy hatte plötzlich Tränen in den Augen, und obwohl sie um Beherrschung rang, bebte ihre Unterlippe vor Liebe zu Luce und Dida. Vor einem echten Tränenausbruch bewahrte sie nur Didas überwältigender Diorissimo-Duft und der Schmerz in ihrer Schulter, weil Dida sie so fest drückte, dass der Leinenstoff von Didas Jacke ihre nackte Haut kratzte.

»Stoßen wir also an auf das fantastische Vintage at the …«

Dida hielt ihr Glas hoch, doch bevor sie das letzte Wort aussprechen konnte, hallte ein lautes metallisches Geräusch durch den Laden.

Ein Schatten huschte über Didas glückliches Gesicht. »Was ist denn da los …? Kann mal jemand Bescheid sagen, dass dies nicht der geeignete Zeitpunkt für Schlagbohrmaschinen ist?«

Izzy entdeckte draußen vor der Ladentür eine Leiter auf dem Gehsteig.

Luce war vor allen anderen an der Tür und spähte hinaus. »Was haben diese beiden riesigen Zu-verkaufen-Schilder da am Fenster zu suchen?« Sie sah besorgt aus.

Dida bahnte sich den Weg durch die Menge hinaus auf den Gehsteig. Dann schnappte sie sich einen Regenschirm aus einem Blumentopf, klopfte mit dem Griff hart gegen die Leiter und rief zu dem Mann dort oben hinauf: »Entschuldigen Sie mal, was machen Sie da eigentlich?«

»98 Derwent Street, Gewerbefläche zu verkaufen«, erwiderte der Mann aus etwa drei Meter Höhe und klang dabei sehr gelassen.

Dida stutzte, straffte jedoch die Schultern und ignorierte das erschrockene Raunen hinter ihr. »Tut mir leid, aber da muss ein Missverständnis vorliegen«, rief sie nach oben.

Izzy war geschockt. Sie wusste, dass Aidie, Didas Mann, rücksichtslos war, aber so etwas würde er ihnen doch sicher nicht antun. Andererseits hätte ihm eine solche Aktion ähnlich gesehen. Seinen abfälligen Bemerkungen nach zu urteilen, wenn er da war, was glücklicherweise nicht oft vorkam, hatte er etwas gegen Didas wachsende Unabhängigkeit. Der Erfolg seiner Frau stellte eine direkte Bedrohung für einen Kontrollfreak wie Aidie dar. Das Gebäude einfach zu verkaufen, war eine schnelle Methode, seine Macht zurückzugewinnen und es ihnen allen ordentlich zu zeigen. Und wenn er entschlossen war, Didas Traum platzen zu lassen, spektakulär und in aller Öffentlichkeit, war das Timing perfekt.

»Definitiv kein Missverständnis.« Der Arbeiter auf der Leiter klang selbstsicher. »Geben Sie mir nicht die Schuld, ich mache hier nur meinen Job.« Sein Schulterzucken und Seufzen signalisierten, dass ihm derartige Situationen durchaus vertraut waren. Dann wurde sein Ton versöhnlich. »Am besten rufen Sie das Maklerbüro an, meine Liebe, die erklären es Ihnen dann.«

Izzy stand wie angewurzelt auf dem Gehsteig und sah Dida aufbrausen. Die hasste es, »meine Liebe« genannt zu werden.

»Eldon und Trellis. Klar. Das werde ich gleich machen.« Dida klang bedrohlich. »Hoffentlich ist Ihnen bewusst, dass Sie Ihre Zeit dort oben vergeuden. In einer halben Stunde werden Sie wieder hier sein und das Schild abnehmen.«

Didas Kampfgeist in allen Ehren, aber Izzy war mulmig zumute. Sie war sich alles andere als sicher.

Dida rauschte zurück in den Laden, ihr Handy schwenkend. »Das tut mir alles schrecklich leid. Macht euch über die Cupcakes her. In einer Minute wird die Sache geklärt sein.«

Netter Versuch, aber nichts dämpfte Champagner-Euphorie rascher als schlechte Nachrichten. Realistischerweise war diese Party vorbei.

Izzy, Luce und Dida bahnten sich ihren Weg durch die Kunden, die ihre Plastikgläser neben dem unberührten Cupcaketurm abstellten und diskret verschwanden. Izzys Herz raste, und sie wusste nicht, ob sie aus Wut oder Furcht weiche Knie hatte. Dida verschwand in der Küche, doch im Vorbeigehen sah Izzy das Weiße in ihren Augen. Ihre roten Lippen in dem zur Grimasse verzogenen Gesicht erinnerten Izzy an Edward Munchs berühmtes Gemälde Der Schrei, und da wusste sie, dass Vintage at the Cinema in ernsten Schwierigkeiten steckte. Und das waren schreckliche Nachrichten für alle.

2. Kapitel

Mittwochabend, 4. Juni

IZZY

Eine Baustelle in Bakewell

Die Kehrseite von Upcycling

»Hey, Sie! Raus aus meinem Container!«

Izzy erstarrte, rammte die Schulter gegen die rostige Metallwand und duckte sich tiefer, während die Stimme des Mannes über die Baustelle hallte.

Verdammt. Sie ärgerte sich, dass sie für einen letzten Blick zurückgekommen war, obwohl sie sich lieber hätte fernhalten sollen. In gewisser Hinsicht machte die Nachricht, dass das Kino zum Verkauf stand, es wichtiger denn je, dass sie für Vorräte sorgte. Sie würden nicht aufgeben, sondern kämpfen, und die Containerplünderung heute Abend stand symbolhaft für ihre Entschlossenheit. Seit sie, Dida und Luce Vintage at the Cinema gegründet hatten, träumten sie davon, dass das Unternehmen florierte. Welch eine Ironie, dass ihnen ausgerechnet jetzt, wo das der Fall war, das Kino weggenommen werden sollte.

Die Verzweiflung des heutigen Abends erinnerte Izzy an die Zeit, als sie entdeckt hatte, wie viel Spaß das Containern machte. Das war damals gewesen, als ihr Dad ihre Mum verlassen hatte. Bei vier Kids und einer leeren Wohnung war Izzy durch das Containern wenigstens zu Möbeln für ihr Zimmer gekommen. Das hatte ihre Begeisterung dafür geweckt, Dinge zu retten, die andere Leute wegwarfen. Es zeigte sich außerdem, dass sie ein Talent dafür besaß, aus alten, nicht mehr gewollten Sachen etwas Schönes herzustellen. Somit hatte die Trennung ihrer Eltern wenigstens etwas Gutes gehabt. Durch Vintage at the Cinema war ihr Talent erst richtig erblüht.

Ein leer geräumter Kinosaal bot viel Fläche, besonders, da die Möbel, die sie anschleppten, schnell wieder draußen waren. Allerdings war ein Müllcontainer auf einer Baustelle, wo irgendein Kerl einen anbrüllte, nicht der angenehmste Ort für einen Mittwochabend.

»He! Ich sagte, weg da!« Er war also noch da.

Izzy erschauerte. Luce neckte sie jedes Mal für ihr geradezu zwanghaftes Containern. Tatsächlich fand sie es schwer, wenn nicht unmöglich, an einem Container vorbeizugehen, ohne darin herumzuwühlen. Ihrer Erfahrung nach fand man oft genug wahre Schätze. Aber jetzt, mit diesem wütenden Kerl im Nacken, wünschte sie, sie hätte sich von diesem letzten Blick in den zweiten, fast leeren Container nicht verlocken lassen. Sie schloss die Hand um den kleinen Gipsengel, den sie am Boden gefunden hatte. Die Abenddämmerung war keine gute Zeit, um sich erwischen zu lassen, auch wenn sie vorher das Okay der Bauleute eingeholt hatte.

»Glauben Sie etwa auch, Sie könnten einfach mein Fenster einschlagen, nur weil das Haus leer ist?« Da war offenbar jemand wütend, der die ganze Sache völlig falsch auffasste. Er klang noch nicht nah, aber sobald er über den Rand des Containers spähte, war sie geliefert. »Haben Sie mich gehört? Ich weiß, dass Sie hier sind.«

Wütend und redegewandt – das waren die Schlimmsten. Izzy verzog das Gesicht und machte sich bereit für den bevorstehenden Ärger. Der ließ sich beim Containern oft nicht vermeiden. Izzy ertrug es nicht, wenn alte Sachen, die das Potenzial besaßen, noch richtig schön zu werden, weggeworfen wurden. Es brach ihr das Herz, dass hübsche alte Sachen von ignoranten Leuten zerstört wurden, die es nicht besser wussten. Sie selbst sah sich auf einer Art Rettungsmission, und dagegen konnte niemand, der noch bei Verstand war, etwas haben. Allerdings war sie eher nicht überzeugt davon, dass dieser aufgebrachte Typ ihrer Argumentation folgen würde.

Langsam erhob sie sich und schaute über den Rand des Containers, um herauszufinden, mit wem sie es zu tun hatte. Der Mann hatte wie gemeißelte Wangenknochen, sehr dunkle Augen und einen Körper, den die meisten Frauen, die sie kannte, liebend gern aus seiner gut sitzenden Kleidung geschält hätten. Für einen klitzekleinen Moment war sie hin und weg. Sie hatte sich immer gefragt, was ihre Freundinnen meinten, wenn sie behaupteten, sie seien wie vom Blitz getroffen. Jetzt wusste sie es. Ihr entfuhr ein Seufzer.

»Du kleiner Vandale«, knurrte der Typ finster. »Ich dulde kein unbefugtes Betreten meiner Baustelle, also verschwinde, aber flott!«

Puh, und das alles für einen kleinen staubigen Gipsengel.

Izzy richtete sich ganz auf, sodass ihr Kopf und ihre Schultern sichtbar wurden. Zufrieden sah sie, wie der Typ innehielt. Wohl überrascht. Aber dann richtete er den Blick auf ihren Ausschnitt. Das war dann eher …

Oh, Shit. Nichts war ernüchternder als so ein gieriger Blick. Zumal sie von Männern und Liebe ohnehin nichts wissen wollte, dank des tollen Alastair, der drei Jahre lang mit ihren Gefühlen gespielt hatte, um dann den Es-liegt-an-mir-nicht-an-dir-Spruch aufzusagen und ihr vorzuwerfen, sie sei besitzergreifend. Was er wirklich meinte, war, wie sich herausstellte, dass er seit Monaten eine andere hatte. Aber genug davon.

Es hatte wohl keinen Sinn, diesem perfekten Exemplar in dem tadellosen Anzug zu erklären, dass sie alles mit den Bauleuten vorher geklärt hatte. Gar nicht auszudenken, wie er reagieren würde, wenn er erfuhr, dass ihr Van um die Ecke geparkt war, vollgestopft mit Sachen aus dem anderen Container. Der Van voller Aufkleber, auf denen VINTAGE AT THE CINEMA – ALLES RETRO stand. Normalerweise gute Werbung, aber schlecht, um unerkannt zu entkommen.

Das ungute Gefühl im Bauch verstärkte sich. Eigentlich hielt sie sich für jemanden, der angesichts einer Provokation cool blieb – nicht, dass Luce ihr da zustimmen würde. Aber seine ungerechtfertigte Anschuldigung machte sie beinah so wütend, wie er es war.

Hinter ihm sah sie einen Panzer von einem Wagen, in dem er vorgefahren war. Ein solcher Benzinschlucker machte sie noch zorniger. Er war also nicht nur grob und aggressiv, sondern er war auch noch einer von diesen arroganten Typen, die glaubten, ihnen gehöre die Straße und überhaupt die ganze Welt, indem sie einen Scheiß-auf-den-Rest-der-Menschheit-Wagen fuhren. Für solche Leute hatte Izzy nur Verachtung übrig.

Sie mochte vielleicht in seinem Müllcontainer stehen, auf seiner Baustelle, aber er konnte sich auf etwas gefasst machen.

»Wenn Sie nicht so ein verschwenderischer und ignoranter Trottel wären, müssten Menschen wie ich nicht das absolut noch gute Zeug retten, das Sie wegwerfen, oder?« Ein Blick auf das halb renovierte Haus im Hintergrund, mit Stapeln herausgerissener Bodenbretter davor, gab ihr neuen Auftrieb. »Leute wie Sie, die immer nur völlig unsensibel alles rausreißen, verdienen noch viel Schlimmeres als räuberische Vandalen.«

Während sie zähneknirschend Luft holte, bemerkte sie, dass er sie eingehend musterte und der wütende Gesichtsausdruck verschwand. Wunder geschahen immer wieder, aber sie vermutete, dass eher ihre jetzt sichtbare Brust dafür verantwortlich war. Traurig, aber wahr, sie fand ihre Körbchengröße D oft hilfreich, obwohl sie lieber geschlechtsneutral vorankam und aufgrund ihrer Leistung. Es war eine deprimierende Tatsache, dass manche Männer eben so oberflächlich und leicht beeinflussbar waren. Offensichtlich gehörte dieser Herumschreier zu der Sorte.

»Aha, ein weiblicher Mülltaucher also, noch dazu für eine Party gekleidet.« Sein Ton hatte von wütend zu spöttisch gewechselt, als er bei ihr angekommen war und in den Container spähte.

Izzy schaute an ihrem Kleid hinunter. Okay, ihr Fünfzigerjahre-Blümchenkleid saß eng und passte vielleicht nicht hierher, aber war dieses Auftreten wirklich nötig? Sie sammelte doch lediglich ein bisschen Krimskrams ein – na ja, genau genommen einen ganzen Van voll, aber darum ging es nicht. Ohne diesen unwillkommenen Zuschauer wäre es in Kleid und Pumps ein Klacks gewesen.

»Was? Erzählen Sie mir jetzt, dass es hier einen Dresscode gibt?« Sie ließ ihr Kleid wehen, und bei der Kopfbewegung löste sich ihre Haarklammer, sodass die Locken ihr plötzlich ins Gesicht fielen. Verdammt, jetzt kämpfte sie buchstäblich einäugig.

»Marilyn-Monroe-Kurven und Rotschopf? Wer hätte das gedacht?« Er lachte beinah.

Erhobene Braue? Kurven? Sie musste das hier schleunigst beenden.

»Moment mal, könnten wir auf sexuelle Belästigung verzichten?«

Ihr Protest schien zu wirken, denn er zögerte, und als er wieder aufschaute, lag in seinem Blick nichts Lüsternes mehr, sondern nur neue Empörung.

»Sie befinden sich auf meinem Grund und Boden, und Sie setzen meinen Versicherungsschutz außer Kraft.« Er starrte sie finster an. »Verschwinden Sie, bevor ich Sie hinauswerfe.«

Izzy nahm das als Aufforderung zu gehen.

Sie legte die Hände auf den Rand des Containers und stemmte sich hoch, doch nichts geschah. Sie versuchte es erneut und zuckte innerlich zusammen, als die Spitzen ihrer zitronengelben Pumps an der Containerwand entlangschrammten. Authentische Fünfzigerjahre-Schuhe waren nicht die beste Wahl gewesen.

Sie war in den Container gelangt, indem sie auf einen Stapel Paletten gestiegen war, ohne sich zu überlegen, wie sie wieder herauskommen würde. Und nun saß sie fest. Sie biss die Zähne zusammen, stemmte sich auf die Kante und stieß einen genervten Seufzer aus.

Unterdessen hatte der Typ die Hände an den Luxusledergürtel um seine Taille gelegt. »Worauf warten Sie noch?«

Sah er denn nicht, dass sie es versuchte? Sein Benehmen stand in krassem Kontrast zu seinem guten Aussehen. Tatsächlich sah er schrecklich gut aus. Alles an ihm, von den Bartstoppeln bis zu den muskulösen Schenkeln, über denen sich der graue Wollstoff seiner teuren Hose spannte, schrie SEXY.

Sie riss sich zusammen. Was war los mit ihr? Nach dem Armleuchter Alastair hielt sie sich von Männern fern. Besonders von solchen arroganten Kerlen mit kurzen braunen Haaren wie diesem hier. Und seit sie auf dem Weg in die ersehnte finanzielle Unabhängigkeit war, erst recht. Sie biss sich auf die Lippen.

»Nun, worauf warten Sie?«

Seine raue Stimme verursachte ihr eine Gänsehaut, die sofortige Selbstverachtung nach sich zog. Sie saß hier in jeder Hinsicht in der Tinte, und es war an der Zeit zu kapitulieren.

»Ehrlich gesagt, ich komm nicht raus.«

Sie senkte den Blick, um nicht Hohn und Spott in seinem widerlich schönen Gesicht sehen zu müssen.

»Dann seien Sie mal lieber nicht so patzig.« Er gab einen tiefen Laut von sich, der ein Lachen sein konnte. »Was schlagen Sie vor? Soll ich Ihnen helfen oder werfen Sie mir dann bloß wieder sexuelle Belästigung vor?« Er klang gelassen, und er rührte sich nicht von der Stelle. Aber das amüsierte Funkeln in seinen Augen ließ Izzys Herz einen Schlag lang aussetzen.

»Reichen Sie mir einfach nur eine Palette herunter, verzichten Sie auf Schadenfreude und halten Sie den Mund. Bitte.« Sie schaute zu, wie er mit brutaler Leichtigkeit eine Palette in die Höhe schwang. Ein hohler Laut ertönte, als das Holz auf den Containerboden traf und Izzy die Vibrationen in den Fußsohlen spürte.

»Danke.« Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe von knapp einem Meter dreiundsechzig auf und lehnte die Palette gegen die Wand des Containers. Mit einem Fuß prüfte sie die Standfestigkeit.

»Vorsicht. Wenn Sie schon meine Haftpflichtversicherung aushebeln, will ich wenigstens keine Unfälle.«

Du liebe Zeit, dieser Typ war echt ein Spießer. Sie gab ein weiteres ungeduldiges Schnaufen von sich. »Und wenn Sie nicht mit dieser blöden Versicherung aufhören, könnte ich Sie auf meinem Weg hier raus noch zerquetschen.« Dumm nur, dass er sie zu noch mehr Frechheit provozierte, als sie üblicherweise an den Tag legte. Immerhin hatte sie ihn noch nicht verflucht. Sie schuldete Luces Fluchbox zur Finanzierung der Kundenservice-Initiative bereits einen hohen Betrag.

Izzy stieg auf die Palette, schwang sich über den Containerrand, und unglücklicherweise schob sich ihr Kleid genau in dem Moment an ihrem Hintern hoch, als der Typ aufsah. Es war keineswegs ihre Absicht gewesen, ihm einen Blick auf ihre Unterwäsche zu gewähren.

Er taumelte rückwärts, räusperte sich und sah rasch woandershin. »Alles klar da oben?«

Sie wagte nicht daran zu denken, wie viel von ihrem Slip sie ihm zeigte, aber im Grunde kümmerte es sie nicht mehr. Nachdem sie die Pumps weggekickt hatte und bereit zum Sprung war, hörte sie ein Ratschen. Mist. Dass ihr Kleid hängen blieb, hatte ihr gerade noch gefehlt.

»Warten Sie.« Der Typ sprang auf sie zu.

»Immer mit der Ruhe«, erwiderte Izzy keuchend. Sekunden später lagen seine Hände um ihre Taille. Die Luft entwich ihr, während er sie in hohem Bogen herunterhob und sanft neben sich auf den Boden stellte. Sie taumelte gegen sein weiches Jackett und nahm den Duft seines Aftershaves wahr, das für einen derartig griesgrämigen Mann viel zu wundervoll roch. Dann trat er einen Schritt zurück, und nun war sie diejenige, die perplex dastand.

3. Kapitel

Mittwochabend, 4. Juni

DIDA

In der Küche von Alport Towers

Ein Ehemann, der sich übernommen hat

Dida las die Namen in der E-Mail, schlug die Beine übereinander und seufzte dramatisch. Wenn Aidie das Kino zum Verkauf anbot, war es wichtig, das Geschäft ganz normal weiterzuführen. Wie entschlossen Aidie auch sein mochte, ihren Erfolg zunichtezumachen – sie war zehnmal so entschlossen, ihn nicht damit durchkommen zu lassen. Obwohl es ihr noch nicht gelungen war, ihn aufzuspüren und mit ihm zu reden, und sei es am Telefon, war sie doch von seinen Motiven überzeugt. Er missgönnte ihr den Erfolg und wollte vom sich positiv entwickelnden Immobilienmarkt profitieren. Vintage at the Cinema hatte als zögerliches Experiment begonnen, und viel kreative Energie und Talent hatten es zu dem gemacht, was es jetzt war. Auf keinen Fall würde sie das kampflos aufgeben. Allein schon der Gedanke daran ließ ihren Kopf vor Wut auf Aidie fast platzen. Außerdem ärgerte sie sich wahnsinnig darüber, dass sie keinerlei Möglichkeit hatte, ihn aufzuhalten. Statt ihren Erfolg zu feiern und auf einer Champagnerwolke zu schweben, knirschte sie frustriert mit den Zähnen und kostete den bitteren Geschmack der Demütigung.

An diesem Abend hatte sie ihr jüngstes Kind Lolly hastig zu Bett gebracht und war bereit, sich den größeren Aufgaben zu stellen. Der Jubel einer Zuschauermenge beim Fußball bedeutete, dass Eric im Frühstücksraum in FIFA 14 vertieft war.

Dida schaute sich finster in ihrer Küche um. Die abscheuliche apfelgrüne Farbe war eine weitere Erinnerung an Aidies Tyrannei. Dass er sich rundheraus geweigert hatte, die Küchenmöbel in einem passenderen Ton zu streichen, ärgerte sie täglich aufs Neue. Typisch für ihn, dass er die Küche zur Kampfzone erklärt hatte. Dieser Granny-Smith-Skandal, wie sie es nannte, machte sie über das, was heute in dem alten Kino passiert war, noch wütender.

Natürlich hatte Aidie kein Problem damit, da er ja nie lange genug hier war, um irgendetwas sattzuhaben, und sei es etwas so Extremes wie kotzgrüne Farbe. Er kam hereingerauscht und verschwand ruckzuck wieder. Momentan hielt er sich in Litauen auf, wo er »an etwas Großem« arbeitete, was mit Pipelines zu tun hatte. Wie üblich hatte sie keine Ahnung, um was genau es ging. An manchen Wochenenden war er so selten zu Hause, dass ihnen nicht einmal Zeit für einen Streit blieb. Zu Didas Pech war allerdings immer Zeit für Sex, und zwar nicht nur einmal am Tag, sondern gleich zweimal. Bei dem Gedanken daran, wie er seine walartige Masse grunzend auf ihr bewegte, verdrehte sie die Augen und dankte dem Himmel, dass heute erst Mittwoch war und sie sich noch nicht darauf freuen musste. Angesichts dessen, was er sich heute geleistet hatte, würde sie ihm dieses Privileg bis auf Weiteres entziehen. Was einen Neuanstrich der Küche betraf – sobald Aidie die Chance bekam, seine Macht über Dida auszuspielen, ergriff er sie mit seinen pummeligen Händen. Es war an der Zeit, dass er seine eigenen Methoden mal im Schlafzimmer zu spüren bekam.

Didas Gatte war nicht immer aufgedunsen gewesen. Der Mann in den Zwanzigern, mit dem sie neunzehnhundertvierundneunzig bei einer Weihnachtsfeier zusammenkam, war schlank gewesen, wenn auch schon etwas kompakt. Sie war auf ihn aufmerksam geworden, weil er ein Haus besaß und sein Humor damals deutlich besser gewesen war. Aber jahrelanges Essen auf Spesenrechnung hatte seinen BMI in den roten Bereich katapultiert. Sein Erfolg war ein einziger Powertrip geworden, und heute glaubte er, für die ganze Welt verantwortlich zu sein, jedenfalls was die Pipeline-Industrie betraf. Es gefiel ihm, Leute bei der Arbeit herumzukommandieren, und an den Wochenenden brachte er seinen Testosteronüberschuss mit nach Hause, wo er sich auch als Chef aufspielte. Heute hatte er sogar aus der Ferne seine Macht demonstriert – auf die abscheulichste Weise!

Aidie und sein Kontrollzwang. Dida verzog das Gesicht. Sie war daran gewöhnt. Welch eine Ironie, dass sie ohne Vintage at the Cinema, das sie von dem größten Problem in ihrem Leben, nämlich ihrem Gatten, abgelenkt hatte, wahrscheinlich gar nicht mehr hier gewesen wäre, trotz des tollen Zuhauses, das sie selbst geschaffen hatte. Um sich bei Laune zu halten, griff sie gern zu Eiscreme. Für gewöhnlich aß sie gegen zehn zwei Portionen, also in siebzig Minuten. Heute wollte sie sich eigentlich über dunkle Schokolade mit Himbeere hermachen, außerdem Praline und Sahne. Aber an diesem Abend war sie so aufgewühlt, dass sie überhaupt keinen Appetit verspürte, nicht mal auf Eiscreme.

»Mum, ich bin bei FIFA gerade eine Liga aufgestiegen. Hast du Kuchen da?« Eric, den Controller der Playstation noch in der Hand, kam in die Küche, die fransigen Haare halb im Gesicht. Er ging zu den großen Plastikbehältern auf der Küchenarbeitsfläche.

»Nein, und Hände weg von denen da, die gehören Vintage at the Cinema, die muss ich morgen gleich als Erstes abliefern.« Was für eine schlechte Mutter war sie, dass sie Kuchen für die Arbeit hatte, aber nicht für zu Hause? »Wie wäre es mit Eis? Ist Toffee Chip okay?« Sie rutschte von ihrem Hocker, nahm eine Schale, ging zum Kühlschrank und füllte einen Klumpen in die Schale, die sie anschließend Eric hinschob, der ein Grunzen von sich gab.

»Es wäre nett, wenn du dich anständig bedanken könntest.« Sie musste auf Manieren bestehen, obwohl sie schon froh sein konnte, wenn sie in seiner Playstation-Trance mehr als zwei Silben aus ihm herausbekam.

»Danke«, murmelte er und wedelte mit dem Löffel in ihre Richtung.

»Um zehn ins Bett, klar?« Sie redete mit Erics Rücken und seufzte, da er schon über den Marmorfußboden zurückschlurfte, genau wie sein Dad es stets tat.

Eines der vielen Probleme mit Aidie war dieses Außen-hui-innen-pfui-Ding, wie ihre Großmutter sich auszudrücken pflegte. Er prahlte mit seinem fetten Gehalt, aber an der Haushaltskasse beteiligte er sich nicht. Vintage at the Cinema lenkte sie von den ewigen Scharmützeln mit Aidie ab, vor allem aber brachte es Geld ein. Zum ersten Mal, seit sie ihren Job aufgegeben und die Kinder bekommen hatte, erlangte sie eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit.

Als Aidie eines Morgens aus Corks Bar heimgekommen war und erzählt hatte, er habe das alte Kinogebäude ergattert, rief sie sofort Luce und Izzy an. Der Rest war Geschichte, wie sie es in ihrer Rede formuliert hatte, bevor sie grob unterbrochen wurde. Der Erfolg brachte die unabhängige, glücklichere Dida hervor. Nie und nimmer konnte sie wieder die werden, die sie vorher gewesen war. Vintage at the Cinema hatte einen neuen Menschen aus ihr gemacht.

Noch einmal las Dida die Namen in der E-Mail. Jeder, der mit dem Kino zu tun hatte, war dabei. Aber sollte sie Ollie wirklich dazunehmen? Ollie, der vor fünf Monaten plötzlich ans andere Ende der Welt verschwunden war und es seiner Schwester Izzy überlassen hatte, sich zusätzlich zu ihrem eigenen auch noch um seinen Ladenplatz zu kümmern und doppelte Schichten zu schieben. Dida mochte Ollie sehr. Sie hatten ihn am Anfang zum Streichen angeheuert, und er hatte sich als so nützlich erwiesen, dass er blieb. Er fertigte Unikate aus Metall an, außerdem besaß er ausgezeichnete Geschäftskontakte. Dida tippte sich mit dem Daumennagel gegen die Zähne, während sie überlegte. Izzy hatte Ollie zweifellos eine E-Mail geschickt, in der sie ihm die schrecklichen Neuigkeiten mitteilte. Irgendwie schaffte Dida es nicht, diese Katastrophe in Worte zu fassen, nicht mal in der wöchentlichen Rundmail, denn es würde den Albtraum zu real machen. Sie durfte einfach nicht daran denken, ihr Unternehmen zu verlieren.

Auch wenn sie mehr oder weniger für die Verwaltung des Unternehmens zuständig war und dadurch alles bis ins Kleinste selbst organisieren konnte, betrachtete sie es als Gemeinschaftsprojekt. Jeder leistete seinen Beitrag im Rahmen seiner Möglichkeiten, und alle halfen sich gegenseitig. Sicher, die anderen zahlten Dida Miete, trotzdem profitierten alle und hatten überdies noch eine Menge Spaß. Mit Ollie kam man gut aus, und er war zuverlässig, wenn er da war. Dida hatte das Gefühl, dass er nicht nur seiner Schwester fehlte. Luce vermisste ihn mehr, als sie zugeben wollte. Daher ließ Dida ihn vorerst auf der Liste, in der Hoffnung, dass er vielleicht bald zurückkam, nachdem er die E-Mail in irgendeinem fernen Internetcafé gelesen hatte.

Sie warf einen letzten Blick auf den Wochenplan und tippte los:

Das sollte reichen. Sie hoffte, mit der letzten Zeile genug über die heutigen katastrophalen Ereignisse gesagt zu haben. Sie wollte die E-Mail pünktlich um neun abschicken; sie war nicht zwanghaft, aber Verlässlichkeit war wichtig. Auch wenn ihr der Himmel privat auf den Kopf fiel, konnte sie sich doch an den Zeitplan halten.

Noch zehn Minuten, bis es neun wurde.

Genug Zeit für das tägliche Update ihrer Aidie-Spezialtabelle. Sie öffnete seinen E-Mail-Account, tippte sein Passwort ein und verzog das Gesicht wegen des Doppelbluffs. Aidies E-Mail-Account war das Nervenzentrum seines Lebens. Er wusste, dass sie sein Passwort kannte, und er wusste auch, dass sie seine E-Mails las. Das war seine Art, ihr zu beweisen, dass er nichts zu verheimlichen hatte. Wie ihr die Verhandlungen über den Verkauf des Kinos entgehen konnten, war ihr daher ein Rätsel. Von jetzt an würde sie noch wachsamer sein.

Dida war immer wieder erstaunt darüber, wie sorgfältig Aidie sein E-Mail-Konto führte, wo er es doch sonst nicht immer so genau nahm. Eigentlich war er eher schlampig, und wahrscheinlich war ihm deshalb der fatale Fehler in seinem Plan entgangen. Es amüsierte Dida stets aufs Neue, dass er die E-Mails löschte, die sie nicht sehen sollte. Aber genau wie im Haushalt leerte er den Papierkorb nie.

Sie sah sich die gelöschten Dateien an. Wow. Das war selbst für Aidies Verhältnisse ein starkes Stück. Ein gemeinsames Frühstück mit jemandem namens Bambi, ein Treffen um elf mit Viktorya, dann ein Dinner mit Dominika, Elvira und Albina.

Zwei Minuten später hatte Dida die Namen in die Liste mit Aidies Verfehlungen kopiert und Ort sowie Uhrzeit hinzugefügt.

Wäre es um den Ehemann einer anderen Frau gegangen, wäre sie von seiner Standfestigkeit beeindruckt gewesen. Anscheinend hielt er die Sexindustrie Litauens ganz allein am Laufen. Wie er bei dem Pensum noch arbeiten konnte, war ihr schleierhaft. Angesichts der heutigen Entwicklung würde sie die Munition, die sie gegen ihn gesammelt hatte, wohl eher als gedacht benutzen. Nachdem er versucht hatte, ihren Traum zu zerstören, konnte sie sich nicht vorstellen, weiter mit diesem Mann zusammenzuleben.

Jetzt ging es nur noch um das, was Aidie ihr und ihren Freundinnen wegzunehmen versuchte. Leider war es zu spät, um heute Abend noch mehr zu unternehmen. Morgen würde sie sich mit Luce und Izzy zu einem Notfall-Meeting treffen. Und dann würden sie sich die Boxhandschuhe anziehen.

4. Kapitel

Mittwochabend, 4. Juni

LUCE

In ihrer Wohnung

Spitze, Schweiß und Tränen

»Danke für deine Geduld, ich bin fast fertig.« Luce sah von dem Saum, den sie mit Nadeln absteckte, lächelnd zu Steffie auf, der zukünftigen Braut. Sie nahm sich einen Moment, um die verspannten Schultern zu straffen. »Es dauert eine Ewigkeit, bis diese Kleider fertig sind, aber es lohnt sich.«

Steffie bewegte sich ein wenig. »Keine Ruby heute Abend?«

»Ich habe frei. Vermutlich hat der Zuckerschock von der Party heute Nachmittag sie geschafft.«

Steffie lachte. »Es ist nicht dasselbe ohne Ruby, die uns unterhält, während du absteckst.«

Wäre Ruby nicht schon eingeschlafen, als Luces Anprobetermin eintraf, hätte sie die Stimmen gehört, da ihr Zimmer gleich neben dem Wohnzimmer lag. Dann wäre sie im Pyjama hereingeschlichen. Die Wohnung war so günstig und in der Nähe ihrer Arbeit und der Schule, dass Luce mit dem etwas ungünstigen Grundriss gut leben konnte, zumindest vorübergehend. Ihre anderen Secondhand-Kleider und Stoffe befanden sich im alten Kino, aber die Hochzeitskleider bewahrte sie lieber zu Hause auf, weil die Stoffe empfindlich waren und schnell Flecken bekamen. Momentan war ihr Schlafzimmer so voller Spitze und Tüll, dass sie an manchen Abenden das Bett nicht gleich finden konnte.

Bei der Erinnerung daran, dass ihr Arbeitsplatz möglicherweise bald nicht mehr im Kino sein würde, erschrak sie von Neuem so heftig, dass sie beinah eine Nadel verschluckt hätte, die zwischen ihren Lippen klemmte. Die Situation machte ihr Angst. Vintage at the Cinema hatte ihr und Ruby so viel gebracht. Sie konnte sich glücklich schätzen, eine Tätigkeit gefunden zu haben, die sie ausfüllte und ihr ein Einkommen bescherte. Außerdem ermöglichte es ihr, für Ruby da zu sein. Die Gefahr, das zu verlieren, machte sie äußerst nervös. Obwohl sie wusste, dass Izzy und Dida für sie und Luce Himmel und Hölle in Bewegung setzen würden, fühlte sie sich angesichts der Bedrohung plötzlich sehr allein.

Luce versuchte diesen Gedanken mit einem Lächeln zu vertreiben, brachte aber lediglich eine Grimasse zustande. »Wenn Ruby wach wird, ist es unmöglich, sie wieder ins Bett zu bekommen. So aber muss ich mich morgen früh wenigstens nicht mit einem unausgeschlafenen Muffel herumplagen.«

»Trotzdem, sie ist so süß.« Steffie sah wehmütig aus. »Und manchmal auch anstrengend, nehme ich an.«

Wie wahr. Es gab durchaus Zeiten, da wünschte Luce, der Typ, der wegen eines geplatzten Kondoms in der letzten Nacht ihres zweiten Jahres an der Uni seine Gene an ihr Kind weitergegeben hatte, wäre weniger gut aussehend und charmant gewesen. Gefühlvolle braune Augen und Schlagfertigkeit bei einem Spross waren wirksame Waffen, und beides hatte Ruby nicht von ihrer Mutter.

Dabei war Ruby nicht direkt frech, aber manchmal fand Luce, ihr Kind habe nicht genug von ihr mitbekommen. Jedenfalls konnte sie nicht arbeiten und sich gleichzeitig um ihr Kind kümmern.

So hoch ihre Ansprüche an Kindererziehung auch gewesen sein mochten, ehe sie selbst eines bekam, hatte sie jetzt gelegentlich das Gefühl, in jeder Hinsicht zu versagen. Und seit Izzys Bruder Ollie sich auf Reisen begeben hatte, war es noch schlimmer. Erst seit er fort war, hatte Luce erkannt, wie sehr sie sich schon auf ihn verlassen hatte. Wenn sie frühmorgens wach lag, ärgerte sie sich über sich selbst, dass sie ihn für selbstverständlich genommen hatte. Und sie ärgerte sich darüber, dass sie die Dinge zwischen ihnen hatte außer Kontrolle geraten lassen. Es war nur ihre Schuld, dass er abgehauen war. In den ersten drei Jahren nach Rubys Geburt war sie entschlossen gewesen, allein klarzukommen. Das war sie immer noch. Aber während ihrer gemeinsamen Arbeit hatte die Freundschaft mit Ollie ihr immer mehr bedeutet. Heute Abend, wo sie sich allein und verunsichert fühlte, hätte sie sich gern an ihn gelehnt, wohl wissend, wie falsch und schwach und inkonsequent es gewesen wäre. Nur dass er eben nicht mehr da war.

Luce nahm weitere Nadeln, klemmte sie zwischen die Lippen und beugte sich hinunter, um den Rest des Saumes abzustecken.

»Du siehst wunderschön aus, Liebes.«

Steffies Mum, auf der Sofalehne sitzend, beendete das Schweigen. Seit Luce mit Brautkleidern arbeitete und, noch wichtiger, mit Bräuten, hatte sie festgestellt, dass die Rolle der Brautmutter vernünftige Frauen in a) Kontrollfreaks und b) emotionale Wracks verwandelte.

»Taschentuch?« Luce hörte, dass die Stimme der Frau zitterte, daher hielt sie ihr die geblümte Packung Kosmetiktücher hin.

»Danke.« Mrs. Beeston zupfte ein Tuch heraus, schnäuzte sich geräuschvoll und tupfte sich die Augenwinkel.

In ihren schlaflosen Momenten – nicht, dass Izzy sich einen solchen Luxus allzu häufig gestattete, da sie meistens völlig erschöpft ins Bett fiel – übte sie oft ihre eigene Hochzeitsansprache für Ruby, um dieses besondere Minenfeld zu umschiffen und diesen wohl letzten höllischen Part an mütterlichen Pflichten richtig hinzubekommen.

Dennoch sagte sie jetzt nur: »Du siehst wirklich toll aus, Steffie. Diese antike Spitze wirkt so hübsch zu der champagnerfarbenen Seide.«

Obwohl Luce die übertriebene Emotionalität bei Hochzeiten nicht nachvollziehen konnte, nach dem ganzen tränenreichen Drama wegen des Hochzeitskleides liebte sie ihre Bräute und deren Mütter.

»Wir haben so viel Arbeit investiert, und dann verlierst du drei Kleidergrößen oder mehr.« Luce dankte ihrem Glücksstern, dass nicht jede Braut, die sich eines ihrer Brautkleidklassiker aussuchte, für sie und das Kleid eine derartige Zumutung waren wie Steffie und Mrs. Beeston.

»Ich weiß, dass wir unsere Meinung bei den Schuhen dreimal geändert haben«, räumte Steffie ein und verdrehte dabei die Augen. »Aber das erste Paar Rachel Simpson war so hoch, und wir dachten, das zweite Paar wäre perfekt, bis ich die Charlotte Olympias sah.«

Luce dachte lieber nicht daran, dass dieses Paar Schuhe mehr kostete, als sie monatlich für Essen ausgab. Trotz der Tatsache, dass sie dreimal auf den Knien den Saum des Kleides hatte anpassen müssen, blieb ihr Lächeln aufrichtig freundlich. »Hoffen wir, dass wir beim dritten Mal Glück haben.«

Was Izzy und Dida nicht in ihre Köpfe bekamen, war, dass jemand, der so gegen die Ehe war wie Luce, Bräute einkleidete. Luces wahre Einstellung zum Heiraten – niemals! – war ein gut gehütetes Berufsgeheimnis. Und sie alle behielten es um ihres gemeinsamen Unternehmens willen für sich. Izzy und Dida legten großen Wert auf Loyalität und Unterstützung, doch gelegentlich triezten sie Luce wegen ihrer Verkaufsideen und ihres Sexlebens. Zwischen beidem bestand nämlich keinerlei Verbindung.

Luce managte ihr Sexleben äußerst diskret, und das hatte nichts damit zu tun, dass sie eine Mutter war. Wenn Ruby gelegentlich freitags bei ihrer Granny übernachtete, ging Luce aus und brachte manchmal einen sorgsam ausgewählten Mann mit nach Hause. Sorgsam ausgewählt hieß: Nett und auf nicht mehr aus als eine Nacht, da sie unter gar keinen Umständen einen Typen in ihr Leben lassen wollte. Sie hatte nie eine Beziehung gehabt, und es wäre nicht fair gewesen, Ruby unter ihren Fehlern leiden zu lassen. Ruby war es gewohnt, Luce für sich ganz allein zu haben.

Mit Ollie war es irgendwie anders gewesen, er war ihr von einer ganz anderen Seite aus nähergekommen, als hätte Ruby ihn hereingelockt, als sie im Kino zusammentrafen. Ollie und Ruby verstanden sich perfekt, und Luce kannte Ollie seit der Oberstufe. Aber da er sich mit ihrer Tochter so gut verstand, kam er automatisch für Luces Freitagabend-Arrangements nicht mehr infrage. Das war nicht verhandelbar. Diese Grenze würde sie nicht überschreiten.

»Okay, ich bin fertig, Steffie.« Luce steckte die letzte Nadel hinein und setzte sich auf. »Dreh dich mal langsam, dann sehen wir, ob es gleichmäßig ist.«

Sie war nicht religiös, aber sie betete zum Gott der perlenverzierten Schärpen, dass sie jetzt zum letzten Mal auf Händen und Knien vor Steffies Kleid gehockt hatte.

Luce betrachtete mit einem halb geschlossenen Auge Steffie, die sich über den Teppich bewegte und dabei die Hände zu einem gedachten Brautstrauß vor sich hielt.

Luce wandte sich an Mrs. Beeston. »Was meinen Sie, Betty?«

»Ja, es ist reizend.« Mrs. Beeston tupfte sich erneut die Augen, während Steffie vor dem großen Spiegel stehen blieb.

»Steffie?« Luce betrachtete lächelnd Steffies Spiegelbild, und Steffie nickte, wie schon oft. Aber Luce musste einfach optimistisch bleiben.

»Gut, das war’s dann wohl. Ich werde die Näharbeiten per Hand machen, und du kannst es nächste Woche um diese Zeit abholen.« Luce jubelte innerlich. »Zum Glück sind es noch ein paar Wochen Zeit bis zu deinem großen Tag. Hoffen wir mal, dass keine weiteren Änderungen mehr nötig sind.« Luce entfaltete den Paravent, hinter dem Steffie sich umziehen konnte. »Ich werde euch vermissen, sobald die Hochzeit vorbei ist. Die Mittwochabende werden ohne euch und das Kleid nicht mehr dasselbe sein.«

Das Geld würde ihr auch fehlen, besonders nach diesem Nachmittag und dem Zu-verkaufen-Schild. Steffies und Bettys ständige Änderungswünsche hatten ihr und Ruby in den vergangenen sechs Monaten ein geradezu luxuriöses Leben ermöglicht. Na ja, luxuriös – tatsächlich hatten sie ihnen ihr Auskommen gesichert. Luce hatte seit ihrer Abschlussvorführung, die sie trotz allem zwei Monate nach Rubys Geburt hinbekommen hatte, davon geträumt, mit klassischen Kleidern zu arbeiten. Leider waren die Einkünfte immer noch mau.

Während sie wartete, bis Steffie sich umgezogen hatte, hörte Luce den Signalton ihres Handys und sah auf ihre Uhr. »Hm, Punkt neun. Das wird Dida sein, die den Arbeitsplan verschickt.«

Wie lange würde das noch so sein? Sofort kehrte die Angst zurück, doch Luce ließ sich nichts anmerken. Morgen früh würde sie sich mit Izzy und Dida treffen, und gemeinsam würden sie eine Lösung finden. Nur lag bis dahin noch eine ganze Nacht des Grübelns vor ihr. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit wünschte sie, die Nacht nicht allein verbringen zu müssen.

5. Kapitel

Mittwochabend, 4. Juni

XANDER & IZZY

Seine Baustelle in Bakewell

Ein Vandale hätte weniger Ärger bedeutet

»Ein Junge wäre inzwischen wenigstens längst weggerannt«, murmelte Xander, was ihn auch nicht weiterbrachte.

Geistesabwesend verschränkte er die Arme und musterte die taumelnde Diebin, die er gerade auf den Boden gestellt hatte. Irgendwie spürte er immer noch ihre Wärme. Zerbrochenes Glas wäre besser gewesen als diese widerspenstige Frau, die so klein und dünn war, dass sie es nicht mehr allein aus einem Container schaffte. In Anbetracht des schrecklichen Zustandes des Hauses hätten ein paar zerbrochene Fenster auch nichts mehr ausgemacht.

Er hatte es in einer der besseren Gegenden am Rande von Bakewell gekauft in dem Glauben, es sei nur leicht renovierungsbedürftig. Dank der vereinten Bemühungen von Bauarbeitern und Vandalen war er nun stolzer Besitzer einer Ruine. Auch wenn Bakewell unter den Top Ten der begehrtesten Wohnorte im Vereinigten Königreich war, wirkte es auf ihn nicht mehr sonderlich anziehend. Das geschah ihm ganz recht. Immerhin hatte er das Gebäude aus den falschen Motiven gekauft. Die eigene Schwester zum Schweigen zu bringen, war kein guter Grund. Christina mochte eine echte Nervensäge sein, aber eine Grundbucheintragung würde sein Leben nie und nimmer von dysfunktional in sozial akzeptabel verwandeln. Er enttäuschte sie nur ungern, aber manche Dinge waren eben unerreichbar.

Er hatte Beziehungen, enge Freundschaften und feste Wohnorte vor so langer Zeit aufgegeben, dass er vergessen hatte, was normal war. Dass sich einem glamouröse Frauen an den Hals warfen, brachte der Job mit sich, wenn man in der Filmbranche tätig war, und er hatte entsprechende Vermeidungstaktiken entwickelt. Ein Blick auf die trostlose Baustelle genügte, um zu erkennen, dass ihm momentan selbst als erfahrener Bauunternehmer die Motivation fehlte, dieses große Familienhaus fertigzustellen oder gar zu beziehen. Es würde wie bei allen Projekten zuvor damit enden, dass er es wieder verkaufte.

»Na, vielen Dank auch.« Die Worte unterbrachen seine Gedanken. Ihre Stimme war jetzt leiser und weniger unangenehm.

Vermutlich bezog sich das darauf, dass er ihr aus dem Container geholfen hatte. Sie strich ihr Kleid glatt, dessen Knöpfe an der Vorderseite bei jedem Atemzug abzuspringen drohten. Er konnte den Blick nicht von ihr abwenden, und das war schlimm genug.

Dieser Tag wurde immer übler.

»Na schön, die Show ist vorbei«, verkündete sie und nahm so etwas wie eine trotzige Haltung an. »Ich werde meine Schuhe holen und verschwinden.«

Das waren ja mal gute Neuigkeiten, denn er wollte sie so schnell wie möglich loswerden.

Schuhe.

Wenn er ihre Schuhe fand, würde sie verschwinden. Für sein ungeübtes Auge wirkten die gelben Pumps, die er aufhob, nicht gerade fürs Herumturnen auf Baustellen geeignet. Aber was wusste er schon?

»Hier, bitte.«

Er warf ihr die Schuhe zu und wandte sich rasch ab.

»Danke.«

Aus dem Augenwinkel sah er, wie sie sich strecken musste, um die Schuhe zu fangen.

»Autsch.«

Xander hörte ihren Aufschrei und drehte sich genau in dem Moment um, als sie in die Hocke ging.

»Okay, was ist jetzt los?«, fragte er genervt.

Sie setzte sich auf den Boden und besah sich ihren Fuß; dabei rutschte ihr Kleid hoch und entblößte ein sehr langes Bein.

Wow, das hatte ihm noch gefehlt.

»Verdammt.« Ihre Finger waren dunkel, als sie sie von ihrem Fuß nahm.

Er beugte sich vor, um besser sehen zu können. »Ist das Blut?«

Sie ignorierte ihn und die roten Flecken überall auf dem gelben Leder, zog die Schuhe an, stand auf und wollte an ihm vorbeihumpeln.

»Warten Sie.« Er versperrte ihr den Weg. »Lassen Sie mich mal sehen.«

Sie sah aus, als wollte sie sich widersetzen, aber dann überlegte sie es sich und streckte ihm den Fuß hin.

Er deutete das als ein Okay, ging in die Hocke und umfasste ihren Knöchel. »Stützen Sie sich lieber an meiner Schulter ab, sonst fallen Sie noch hin.« Ihre finstere Miene riet ihm, ihr die Entscheidung am besten selbst zu überlassen.

»Na schön, dann beugen Sie mal das Knie, damit ich Ihre Fußsohle sehen kann.« Er wischte das Blut mit dem Daumen weg, verzichtete auf einen Blick nach oben und konzentrierte sich auf die Wunde. »Die sieht tief aus.«

»Das ist nichts.« Sie kramte in ihrer Rocktasche und ließ Bonbonpapier an seiner Wange vorbeiregnen. »Sie haben nicht zufällig ein Taschentuch?«

»Sorry.« Er zuckte mit den Schultern.

»Ich dachte, Männer in Anzügen haben immer eines dabei.« Sie stieß einen verächtlichen Laut aus und zog unvermittelt ihren Fuß zurück. »Dann gehe ich eben.«

Er war noch auf den Knien und sein Gesicht ihrem Kleid so nah, dass er nicht nur den Duft des Waschmittels einatmete. Sosehr er sich auch wünschte, dass sie verschwand, und sosehr sein Herz auch hämmerte, er konnte sie unmöglich verletzt gehen lassen.

»Nein.« Im Nu war er auf den Beinen. »Ich habe einen Erste-Hilfe-Kasten im Wagen und werde Ihnen ein Pflaster holen.«

Sie zögerte, dann schüttelte sie den Kopf.

»Wie wäre es, wenn ich Ihr Nein nicht akzeptiere?« Ein Teil seines Verstandes sagte ihm, dass er sie gar nicht erst hätte berühren sollen; ein anderer Teil erklärte, dass er genau das hatte tun müssen. »Ich werde Sie tragen, damit nicht noch mehr Dreck in die Wunde gelangt.«

»Ich glaube nicht …«

Es gab Situationen, da musste man sich einfach durchsetzen, auch wenn man dadurch wie ein Höhlenmensch wirkte. Also hob er sie kurzerhand auf die Arme.

»Festhalten.« Ein intensiver, süßer Duft stieg ihm aus ihren Haaren in die Nase. Auf keinen Fall würde er es genießen, ihren Körper zu spüren, warm und schwer, der bei jedem Schritt sanft gegen ihn stieß. Ihrem Protest und Gezappel nach zu urteilen, sah sie das genauso.

Er stützte sie mühelos mit einem Arm, als er die hintere Tür öffnete, und setzte sie in den Range Rover. »Rieche ich Kaugummi?«

»Oh, das ist vermutlich mein Tutti-Frutti-Detangler für Kinder, den ich benutze, wenn ich Farbe in die Haare bekommen habe und mir die Zeit fehlt, sie zu waschen.«

»Aha.« Mit dieser Information konnte er nicht viel anfangen. »Lehnen Sie sich gegen die Rücklehne, wenn Sie wollen, und stellen Sie sich vor, Sie seien in dieser Arztserie Holby City …«

Er holte den grünen Erste-Hilfe-Kasten aus dem Kofferraum und klappte ihn auf. Dann umfasste er ihre staubige Wade und untersuchte ihre Fußsohle. Entschlossen riss er die Packung eines Desinfektionstuches auf.

»Sorry, das brennt jetzt vielleicht ein bisschen.« Er spürte, wie sie bei dem ersten Kontakt zusammenzuckte, dann begann er, das Blut abzuwischen, wobei er entschlossen nicht ihren Knöchel betrachtete.

»Sie müssen das nicht tun.«

Xander wischte weiter. »Ich bin verantwortlich, schließlich sind Sie auf mein zerbrochenes Glas getreten.«

»Aber Sie sind ein Range-Rover-Fahrer, und meiner Definition nach kennt ein Range-Rover-Fahrer nicht einmal die Bedeutung des Wortes Verantwortung.«

Er zog an ihrem Knöchel. »Und Sie sind dümmer, als ich dachte, wenn Sie solche Bemerkungen machen, während ich Ihren Fuß in der Hand halte.«

Sie gab ein Schnauben von sich und sank zurück.

»Ich glaube nicht, dass Sie in die Notaufnahme müssen. Da war viel Blut, aber ich glaube, ein Elastoplast genügt. Vielleicht ein Dinosaurierpflaster, passend zum Tutti-Frutti?« Wenn er einfach weiterredete, blieb ihr keine Gelegenheit für streitlustige Kommentare.

Als sie nichts erwiderte, wagte er es, sie anzusehen, und dabei fielen ihm ihre Sommersprossen um die Nase herum auf. Ihre Wangen waren blasser, als er sie in Erinnerung hatte, und sie sah beinah …

Mist. Er klebte das Pflaster auf. »Alles in Ordnung? Falls Sie ohnmächtig werden, sollten Sie sich lieber hinlegen.« Sie wirkte ein bisschen grün um die Nase. »Legen Sie sich hin, atmen Sie tief ein und aus, dann geht es Ihnen gleich besser.«

Ihr Gesicht war jetzt unnatürlich weiß. Er musste beruhigend klingen, nicht verärgert, denn Verärgerung würde nur alles unnötig in die Länge ziehen.

Sanft lehnte er sie zurück und fächerte ihr mit einer Mappe, die er von der Rückbank genommen hatte, Luft zu. Er versuchte zu ignorieren, wie zerbrechlich und hilflos sie aussah. Dummerweise erhaschte er einen Blick auf ein Stück ihres pinkfarbenen BHs zwischen den Knöpfen und schob rasch die freie Hand in die Tasche. Er wedelte heftiger mit der Mappe.

»Keine Sorge, liegen Sie nur still, dann werden Sie sich gleich wieder erholt haben. Hier ist Wasser, davon können Sie trinken, sobald Sie sich besser fühlen.«

Wow, er mied Frauen in der Vertikale schon ständig, da konnte er eine in der Horizontalen auf der Rückbank seines Wagens erst recht nicht gebrauchen. Sie gab ein lautes Stöhnen von sich. Mit etwas Glück würde sie ihn jeden Moment wieder beleidigen. Er wartete, und das Schweigen dehnte sich endlos. Möglicherweise würde ein wenig Konversation sie wieder aufwecken.

»Haben Sie denn irgendetwas aus dem Container holen können?«

»Hab’s dagelassen …«

Es waren nur gemurmelte Worte, aber immerhin redete sie. Das war ein gutes Zeichen.

»Wollen Sie mir sagen, dass Sie nicht bekommen haben, wonach Sie gesucht haben?« Er schüttelte den Kopf. All das auch noch umsonst. Wie dumm war das? »Was war es?« Er beugte sich hinunter, um zu sehen, ob sie sich bewegte. Erneut roch er den Duft von Tutti-Frutti, aber da war noch eine andere, undefinierbare Note, die etwas in ihm auslöste. Die warme Haut einer Frau. Wie lange war es her, dass er das gerochen hatte?

»Ich wollte einen Engel herausholen.« Mittlerweile war sie wieder ganz da.

»Rette einen Wal, adoptiere einen Tiger, berge einen Engel … Möchten Sie Wasser?«

Xander hielt die Luft an, als er ihren Kopf anhob, ihr die Haare zurückstrich und die Flasche hinhielt.

»Bitte …«

Sie hob die Flasche an die Lippen, und als ihr Hals sich beim Schlucken bewegte, zog sich sein Magen zusammen. Während er wartete, zählte er die zerbrochenen Garagenfenster. Dann setzte sie sich auf.

»Bleiben Sie, wo Sie sind.« Er war sich nicht sicher, ob sie eine andere Wahl hatte. »Ich bin gleich wieder da.«

Aus einem Impuls heraus ging er zurück zum Container. Auf diese Weise konnte er wenigstens Distanz zu dieser Frau schaffen, und das war schon mal eine gute Idee. Allerdings verstand er dieses seltsame Bedürfnis nicht, sie zufriedenzustellen.

Er sprang in den Container, fand den Engel und drückte ihn ihr zwanzig Sekunden später in die Hand.

»Danke.« Sie untersuchte den Engel und rieb den Staub ab. »Warum haben Sie ihn überhaupt erst weggeworfen?« Eine zusammenhängende Frage, auf die er gut hätte verzichten können; warum es nicht bei Dankbarkeit belassen?

»Ich hoffe nur, der verletzte Fuß war es wert.« Er hatte keine Lust, einen Vortrag über Verschwendung zu hören.

Sie zuckte mit den Schultern, und ein widerstrebendes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, während sie den Engel in den Händen drehte. »Er ist wunderschön. Ich liebe Engel. Sind Sie sicher, dass Sie ihn nicht wollen?«

Als ihre Miene sich aufhellte, beschleunigte das Xanders Puls, worüber er sich erneut ärgerte. »Ich stehe nicht auf Müll. Wie kommt es eigentlich, dass Engel stets männlich sind?«

Er beobachtete, wie ihr Grinsen breiter wurde, und als sie ihn ansah, waren ihre Augen rauchblau. Die Verletzlichkeit, die er darin sah, berührte ihn.

»Ich weiß nicht. Es ist wohl einfach so.« Sie versuchte aus dem Wagen zu steigen, aber dann zeigte sie erschrocken auf seinen Oberschenkel. »O nein, ich habe Sie mit Blut beschmiert.«

»Das ist nichts.« Er schaute auf den Fleck neben seinem Schritt und war sich nicht sicher, ob er den prüfenden Blick überstehen würde.

»Tut mir wirklich leid.« Immer noch starrte sie auf seinen Hosenschlitz. »Lassen Sie mich für die Reinigung aufkommen?«

»Ehrlich, das ist kein Problem.« Aber es würde eines geben, wenn sie nicht gleich aufhörte, dorthin zu starren.

Endlich hob sie den Blick und sah ihn an. »Dann mache ich mich jetzt lieber auf den Weg. Danke … für den Engel … und dass Sie meinen Fuß verarztet haben.«

Zögerte sie? Flüchtig fragte Xander sich, wohin sie als Nächstes wollte, was sie tun und mit wem sie zusammen sein würde. Wie dem auch sei, es hatte definitiv nichts mit ihm zu tun, und er wollte es auch gar nicht wissen.

»Warten Sie. Soll ich Sie irgendwo hinbringen?« Er hörte sich diese Frage stellen und war einigermaßen entsetzt, weil er die Frau plötzlich ungern gehen lassen wollte. Suchte er einen Grund, den Kontakt in die Länge zu ziehen?

»Danke, aber mein Wagen steht um die Ecke.« Sie humpelte los und warf ihm ein Lächeln über die Schulter zu. »Lieber lasse ich mir die Fingernägel ziehen, als in einem Range Rover zu fahren.«

Xander schaute ihrem ungleichmäßigen Gang über die Baustelle hinterher. Kurz bevor sie das Tor erreichte, hob er die Hand an den Mund und rief: »Passen Sie auf, dass das nicht noch mal passiert.«

Dabei hätte er gar nichts dagegen gehabt; sofort verdrängte er diesen Gedanken. Automatisch bückte er sich, um den Müll aufzuheben, der ihr vorhin aus der Tasche gefallen war. Zwischen dem Süßigkeitenpapier befand sich eine zerknitterte Karte. Vintage at the Cinema. Die ausgeblichene Retroschrift hätte glatt aus einem der Farbkästen seiner Schwester Christina stammen können. Die Adresse kam ihm bekannt vor, vielleicht von seiner Immobilien-App. Dank seines Vermögens meldeten die Makler sich zuerst bei ihm, wenn ein neues Objekt zum Verkauf stand. Ehe er wusste, was er tat, hatte er die Karte schon eingesteckt. Vermutlich, um sie Christina zu geben.

Die Frau hatte inzwischen den hohen Zaunpfeiler aus Stein erreicht. Sie drehte sich noch einmal um und grinste trotzig, dann verschwand sie in der Dämmerung.

6. Kapitel

Donnerstagmorgen, 5. Juni

DIDA

Auf dem Weg zur Schule

Brotdosen und Fluchkassen

»Es ist wirklich wichtig, dass du dich beeilst, Lolly, bitte.«

Es gab viele Gelegenheiten, bei denen Dida ihre Entscheidung bereute, nie die Worte Beeilung oder beeil dich in Gegenwart der Kinder zu benutzen. Dieser Morgen gehörte dazu. Sie hatte geglaubt, sie würde sie sonst so oft rufen, bis es niemanden mehr interessierte. Außerdem sollten ihre Kinder zumindest in dieser Hinsicht ein harmonisches Leben haben, in dem sie sich nie gedrängt oder unter Druck gesetzt fühlten. Früh am Morgen hatte sie diese Ideale noch, aber abends um sechs sah die Sache schon ganz anders aus. In der Nacht zuvor hatte sie wegen des Adrenalinschubs infolge der Wut und der Angst um das alte Kino kaum geschlafen. Um sechs Uhr morgens, als sie gerade wegdämmerte, kam eine Nachricht von Aidie bezüglich des Kinoverkaufs. Sofort war sie wieder hellwach vor Wut. Die abfällige Art, wie er über Vintage at the Cinema als ihr »Laden spielen« sprach, weckte in ihr den Wunsch, ihn zu zermalmen. Die einzige vage gute Neuigkeit bestand darin, dass es nicht so klang, als hätte er bereits einen Käufer gefunden. Dadurch gewannen sie noch etwas Zeit. Doch so mies sie sich auch fühlte, sie durfte ihre Müdigkeit und Gereiztheit nicht an den Kindern auslassen. Leider funktionierte das nicht.

»Wer zur Hölle hielt es für eine gute Idee oder auch nur für möglich, morgens um acht zu einem Schulausflug zu starten? Das ist verdammt noch mal unmenschlich.« Mist, ihr Fluchkonto für heute war jetzt schon deutlich überzogen. »Für die Brotdosen bist du zuständig. Wenn du sie vergisst, werde ich sie dir nicht bringen. Und jetzt schnell ins Auto.« Sie wedelte mit dem Schlüssel, während sie lief, drückte den Knopf und hörte das Klicken, mit dem der Wagen entriegelt wurde.

Eric meldete sich zu Wort: »Du hast heute Morgen schon fünfzehnmal geflucht.«

Dida reagierte genervt. »Du hast es gerade nötig. Du warst kaum wach genug, um deine Frühstücksflocken zu essen. Warum macht ihr noch mal diesen Ausflug?«

Eric zuckte mit den Schultern, setzte sich auf den Vordersitz und zog seine Kopfhörer hervor. »Woher soll ich das wissen? Du warst diejenige, die den Brief lesen sollte.«

Dida verdrehte nur die Augen, warf ihre Tasche und die Brotdosen auf den Sitz, öffnete die hintere Tür und setzte Lolly in den Kindersitz.

Lollys Protest klingelte ihr sofort in den Ohren. »Hey, pass doch auf meine Flügel auf!«

»Ist die Tiara nicht ein bisschen übertrieben für die Schule?« Dida verzog das Gesicht wegen der glitzernden pinkfarbenen Barbie-Krone, als sie Lolly anschnallte. Dann lief sie hastig zur Fahrerseite.

Der tödliche Blick signalisierte ihr, wie dumm ihre Frage gewesen war.

»Berge und Höhlen.« Eric sah sie grinsend an, während sie den Schlüssel ins Zündschloss steckte.

»Was …?« Manchmal war dieser Junge so verdreht.

»Berge und Höhlen, die sehen wir uns an.« Er fischte ein zerknittertes Stück Papier aus seinem Rucksack. »Die Auswirkungen des Tourismus auf die Landschaft rund um Castleton. Erinnerst du dich?«

»Ja, natürlich.« Nicht ganz.

Dida wendete den Wagen auf der gekiesten Auffahrt, fuhr durch das Tor und bremste. Sie klappte die Sonnenblende herunter und nahm einen Lippenstift aus dem Türfach. Egal, wie spät sie dran waren, sie verließ nie ohne Lippenstift das Haus. Marilyn Monroe hatte gesagt: »Gib einer Frau die richtigen Schuhe, und sie wird die Welt erobern.« Dida vertraute in der Hinsicht auf Lippenstift. Ihrer Erfahrung nach durfte man nie die Wirkung von perfekt aufgetragenem Lippenstift unterschätzen. Heute Morgen war er nicht ganz so perfekt aufgetragen, aber es musste genügen. Sie würde jede Hilfe brauchen können. Nachdem sie das intensive Rot des MacRuby Woo aufgetragen hatte, klappte sie die Sonnenblende wieder hoch und sah in den Rückspiegel für die zweite Vergewisserung des Tages – ein Blick auf die Fassade von Alport Towers. Die hohen Schiebefenster, die harmonische Struktur des Mauerwerks und das sanft geschwungene Geländer erfüllten sie stets von Neuem mit einem warmen Gefühl. Dieses Haus gab ihr eine Richtung und Identität. Der flüchtige Blick in den Rückspiegel, wann immer sie wegfuhr, erinnerte sie daran, warum sie durchhielt. Es verhalf ihr zu innerem Gleichgewicht. Heute brauchte sie diesen Anblick mehr denn je, um sich ins Gedächtnis zu rufen, weshalb sie immer noch durchhielt, wo Aidie doch ein solcher Mistkerl war.

Sie atmete tief ein und lenkte den Wagen zwischen den hohen Torpfosten hindurch auf die Hauptstraße von Alport. Sie würde Luce an der Schule mitnehmen und mit ihr zu Izzy fahren, um über das Kino zu sprechen. Gemeinsam würden sie einen Schlachtplan entwerfen.

Nur einen Laternenpfahl weiter fing Lolly an: »Mum, kann ich ein Falabella haben?«

Dida sauste durch den Ort, ohne allzu genau auf die Geschwindigkeitsbegrenzungen zu achten. »Was zur Hölle ist denn ein Falabella?«

»Sechzehn Flüche.« Erics triumphierender Schrei verwandelte sich prompt in Gejammer. »Wenn sie ein Falabella kriegt, bekomme ich aber ein neues Videospiel und eine neue Hose.«

»Niemand bekommt ein verdammtes Falabella, okay?« Was immer das auch sein mochte, Dida würde keines kaufen. Punkt.

»Siebzehn, und es ist noch nicht mal halb acht. Du stellst noch einen Fluchrekord auf.«

Dida atmete tief durch und zählte bis zehn, dann schaltete sie das Radio ein. Sie war es nicht gewohnt, durch Eric unter Beschuss zu stehen. Eigentlich betrachtete sie die Wochentage als Waffenstillstandszeit. Hoffentlich würde Radio One die Kinder zum Schweigen bringen. Calvin Harris konnte sie ertragen. Und was Songtexte über Liebe und Lügen betraf …

Apropos Aidie, da nagte etwas an ihr, mit dem sie sich beschäftigen musste, sobald sie eine Minute Zeit hatte. So viele Namen der Frauen, mit denen Aidie sich traf, fingen mit V an, und alle kamen Dida vage bekannt vor. Im Moment konnte sie nicht viel mit ihnen anfangen. Sie hätte sich gestern Abend näher damit beschäftigt, wenn sie nicht andere Dinge im Kopf gehabt hätte. Aber wo sie jetzt darüber nachdachte, glaubte sie, zumindest einen der Namen schon einmal gehört zu haben. Natürlich war es nicht ungewöhnlich, dass zwei Frauen in Litauen den gleichen Namen trugen. Aber wenn man sich bei Aidie auf eines verlassen konnte, dann darauf, dass er jedes Mal eine andere Frau traf. Es war sozusagen sein Markenzeichen, und es gab ihr eine seltsame Sicherheit zu wissen, dass er nicht von seiner Norm abwich.

Dida überfuhr gelbe Ampelsignale und wurde erst in der Derwent Street langsamer. Ein Seitenblick auf die Ladenfenster von Vintage at the Cinema hatte ihr täglich einen Kick gegeben. Aber heute Morgen verwandelte das Zu-verkaufen-Schild über dem Eingang ihr Herz in Eis.

»Was zur Hölle …?« Drei Läden weiter trat sie auf die Bremse, sodass der Wagen hinter ihr mit quietschenden Reifen bremsen musste und knapp hinter ihrer Heckscheibe zum Stehen kam. Das Sonnenstudio hatte sich über Nacht verändert. Gestern noch war es eine schlichte Front mit kitschiger Werbung für schnelle Bräunung gewesen. Jetzt waren die Fenster mit dunklem Papier zugeklebt, aber schlimmer war das Schild mit der Aufschrift: Liebt ihr euer Retro-Zuhause? Dann schaut rein!

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