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Die falsche Zeugin

Als Buch hier erhältlich:

Der atemberaubende neue Thriller der SPIEGEL-Bestseller-Autorin

Anwältin Leigh musste schon immer härter kämpfen als andere. Denn ihre Kindheit war geprägt von Gewalt und wurde vor Jahrzehnten durch ein brutales Verbrechen abrupt beendet. Seitdem sucht sie Schutz hinter der unauffälligen Fassade ihres gutbürgerlichen Lebens. Bis sie den Auftrag bekommt, die Verteidigung eines mutmaßlichen Vergewaltigers zu übernehmen. Der Fall könnte Leighs Karriere einen mächtigen Schub verpassen. Doch als sie dem Angeklagten gegenübersteht, wird ihr klar, warum er ausgerechnet sie als seine Anwältin auserkoren hat. Sie kennt ihn. Und er kennt sie. Und er weiß genau, wovor Leigh seit zwanzig Jahren davonläuft.

»Eine vielschichtige Handlung um Verbrechen, Schuld, Erpressung und Solidarität […].« Axel Knönagel, dpa

»Slaughter ist spannend wie immer […]« NZZ am Sonntag

»[…] brillant konstruierte(r) Thriller-Plot […]«.»So stimmt in diesem ebenso komplexen wie knallhartem Roman alles.« Hartmut Wilmes, Kölnische Rundschau


  • Erscheinungstag: 23.11.2021
  • Seitenanzahl: 592
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749902194

Leseprobe

Für meine Leserinnen und Leser

Die Vergangenheit ist nie dort,
wo du sie vermeintlich zurückgelassen hast.

KATHERINE ANNE PORTER

SOMMER 1998

Callie hörte aus der Küche, wie Trevor an das Aquarium klopfte. Sie schloss die Hand fester um den Kochlöffel, mit dem sie den Plätzchenteig umrührte. Er war erst zehn. Sie vermutete, dass er in der Schule gemobbt wurde. Sein Vater war ein Arschloch. Der Junge war allergisch auf Katzen und fürchtete sich vor Hunden. Jeder Psychologe würde einem sagen, dass Trevor die armen Fische terrorisierte, weil er verzweifelt um Aufmerksamkeit buhlte, aber Callie konnte es nur mit Mühe ertragen.

Klopf-klopf-klopf.

Sie rieb sich die Schläfen, um die aufkommenden Kopfschmerzen zu vertreiben. »Trev, klopfst du an das Aquarium, wie du es nicht tun sollst?«

Das Klopfen hörte auf. »Nein, Ma’am.«

»Bist du dir sicher?«

Schweigen.

Callie klatschte Teig auf das Backpapier. Das Klopfen setzte wie ein Metronom wieder ein. Immer bei drei klatschte sie wieder einen Batzen Teig auf das Blech.

Klopf-klopf-klatsch. Klopf-klopf-klatsch.

Callie schloss gerade die Ofentür, als Trevor plötzlich wie ein Serienmörder hinter ihr auftauchte. Er schlang die Arme um sie. »Hab dich lieb.«

Sie drückte ihn genauso kräftig wie er sie. Die Anspannung, die ihren Schädel umklammerte, lockerte ihren Griff. Sie gab ihm einen Kuss auf den Scheitel. Er schmeckte salzig von der schwärenden Hitze. Er stand vollkommen still, aber seine nervöse Energie ließ sie an eine zusammengepresste Feder denken. »Willst du die Schüssel auslecken?«

Die Frage wurde beantwortet, bevor sie ganz gestellt war. Er zog sich einen Küchenstuhl an die Arbeitsfläche und führte sich auf wie Puh der Bär, wenn der den Kopf in einen Honigtopf steckt.

Callie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Sonne war vor einer Stunde untergegangen, aber im Haus war es noch immer brütend heiß. Die Klimaanlage funktionierte kaum, und der Ofen hatte die Küche in eine Sauna verwandelt. Alles fühlte sich klebrig und feucht an, sie selbst und Trevor eingeschlossen.

Sie stellte den Wasserhahn an. Das kalte Wasser war unwiderstehlich. Sie spritzte es sich ins Gesicht, dann besprenkelte sie zu seiner Begeisterung Trevors Nacken.

Als er aufgehört hatte zu kichern, reinigte Callie den Kochlöffel unter dem Wasserstrahl und legte ihn zum Trocknen in das Abtropfgestell mit dem gespülten Geschirr vom Abendessen. Zwei Teller. Zwei Gläser. Zwei Gabeln. Ein Messer, um Trevors Hotdog zu schneiden. Ein Teelöffel für den Klecks Worcestersoße, den sie ins Ketchup gerührt hatte.

Trevor gab ihr die Teigschüssel, damit sie sie spülen konnte. Er zog den linken Mundwinkel hoch, wenn er lächelte, genau wie sein Vater. Er stand neben ihr an der Spüle und lehnte seine Hüfte an ihre.

»Hast du an das Glas vom Aquarium geklopft?«, fragte sie.

Er blickte auf. Sie bemerkte das intrigante Blitzen in seinen Augen. Genau wie bei seinem Vater. »Du hast gesagt, es sind Anfängerfische. Und dass sie wahrscheinlich sowieso nicht überleben.«

Eine gemeine Antwort, die ihrer Mutter würdig gewesen wäre, lag ihr auf der Zunge. Dein Großvater wird ebenfalls sterben. Sollen wir ins Pflegeheim fahren und ihm Nadeln unter die Fingernägel stecken?

Callie hatte die Worte nicht laut ausgesprochen, aber die Feder in Trevor spannte sich noch ein wenig mehr. Sie fand es immer verstörend, wie genau er ihre Gefühlsregungen erfasste.

»Okay.« Sie wischte sich die Hände an ihren Shorts ab und wies mit einem Kopfnicken zum Aquarium. »Wir sollten rausfinden, wie sie heißen.«

Er blickte misstrauisch drein, da er in ständiger Furcht lebte, einen Witz als Letzter zu verstehen. »Fische haben keine Namen.«

»Natürlich haben sie welche, Dummkopf. Die lernen sich doch nicht am ersten Schultag kennen und sagen: ›Guten Tag, mein Name ist Fisch.‹« Sie schubste ihn sachte in Richtung Wohnzimmer. Die beiden zweifarbigen Schleimfische schwammen eine nervöse Runde im Aquarium. Während des mühsamen Aufbaus des Salzwassertanks hatte Trevor mehrfach das Interesse verloren. Bei der Ankunft der Fische hatte sich seine Aufmerksamkeitsspanne auf die einer Fruchtfliege verringert.

In Callies Knie knackste es, als sie vor dem Aquarium in die Hocke ging. Der pochende Schmerz war erträglicher als der Anblick von Trevors schmutzigen Fingerabdrücken, die das Glas trübten. »Was ist mit diesem Kerlchen hier?« Sie zeigte auf den kleineren der beiden Fische. »Wie heißt er?«

Trevors linker Mundwinkel ging nach oben, als er ein Lächeln unterdrückte. »Köder.«

»Köder?«

»Ja, wenn die Haie kommen und ihn fressen!« Trevor brach in zu lautes Lachen aus und wälzte sich beinahe auf dem Boden vor Belustigung.

Callie versuchte, den Schmerz aus ihrem Knie zu massieren. Sie sah sich deprimiert wie immer in dem Raum um. Der fleckige Flauschteppich war schon irgendwann Ende der Achtziger platt getreten gewesen. Das Licht von der Straße strahlte um die Ränder der orange-braunen Vorhänge. Eine komplett ausgestattete Bar mit einem trüben Spiegel dahinter nahm eine Ecke des Zimmers ein. Gläser hingen von einem Gestell an der Decke, und vier lederne Barhocker drängten sich um das L der klebrigen Holztheke. Der ganze Raum war auf einen riesigen Fernsehbildschirm ausgerichtet, der mehr wog als Callie. Die orangefarbene Couch hatte zwei deprimierende Vertiefungen von ihm und ihr an jedem Ende. Die Rückenlehnen der braunen Clubsessel waren von Schweiß verfärbt. Schwelende Zigaretten hatten Flecken in die Armlehnen geschmort.

Trevor schob seine Hand in ihre. Er hatte ihre Stimmung wieder erfasst.

»Was ist mit dem anderen Fisch?«, versuchte er es.

Sie legte ihren Kopf an seinen und lächelte. »Wie wäre es mit …« Sie versuchte, sich etwas Gutes auszudenken. Ann Chauvie, Dschingis Karpf … »Mr. Dar-Sea?«

Trevor rümpfte die Nase. Definitiv kein Jane-Austen-Fan. »Wann kommt Daddy nach Hause?«

Buddy Waleski kam nach Hause, wann er eben kam. »Bald.«

»Sind die Kekse schon fertig?«

Callie stand mit schmerzverzerrtem Gesicht auf, damit sie ihm in die Küche folgen konnte. Sie inspizierte die Kekse durch die Ofentür. »Noch nicht ganz, aber bis du aus der Badewanne …«

Trevor sauste den Flur hinunter. Die Badezimmertür fiel krachend zu. Sie hörte den Hahn quietschen. Wasser rauschte in die Wanne. Er fing zu summen an.

Ein Amateur hätte sich zum Sieger erklärt, aber Callie war kein Amateur. Sie wartete einige Minuten, dann öffnete sie die Badezimmertür einen Spaltweit, um sich zu vergewissern, dass er auch wirklich in der Wanne war. Sie ertappte ihn, wie er gerade den Kopf ins Wasser tauchte.

Immer noch kein Sieg – nirgendwo war Seife zu sehen –, aber sie war erschöpft, und ihr Rücken schmerzte, und ihr Knie zwickte, als sie den Flur entlangging, deshalb konnte sie nichts anderes tun, als die Zähne zusammenzubeißen, bis sie die Bar erreicht hatte und ein Martiniglas zu gleichen Teilen mit Sprite und Captain Morgan füllte.

Callie beschränkte sich auf zwei kräftige Schlucke, ehe sie sich bückte und nach blinkenden Lichtern unter der Theke suchte. Sie hatte die Digitalkamera vor ein paar Monaten zufällig entdeckt. Der Strom war ausgefallen. Sie hatte nach den Kerzen für Notfälle gesucht, als ihr aus dem Augenwinkel plötzlich ein Blitzen aufgefallen war.

Ihr erster Gedanke war gewesen: Gestauchter Rücken, Wackelknie, und jetzt löst sich auch noch die Netzhaut ab. Aber das Licht war rot, nicht weiß, und es blinkte wie die Nase von Rudolph dem Rentier zwischen zwei der schweren Lederhocker unter der Theke. Sie hatte die Hocker zur Seite gezogen und beobachtet, wie das rote Licht von der Messingfußleiste blinkte, die sich unten um die Bar zog.

Es war ein gutes Versteck. Die Front der Bar war mit einem bunten Mosaik verkleidet. Spiegelscherben zwischen Bruchstücken von blauen, grünen und orangefarbenen Fliesen – all das zusammen machte das gut zwei Zentimeter große Loch unsichtbar, das zu den Regalfächern auf der Rückseite führte. Sie hatte den digitalen Camcorder hinter einem Pappkarton mit Weinkorken gefunden. Buddy hatte das Stromkabel im Regal überklebt, um es zu kaschieren, aber der Strom war seit Stunden ausgefallen, die Batterie war fast leer. Callie hatte keine Ahnung, ob die Kamera aufgezeichnet hatte. Sie war direkt auf die Couch gerichtet.

Was sich Callie eingeredet hatte, war Folgendes: Buddy hatte fast jedes Wochenende Freunde zu Besuch. Sie schauten Basketball, Football oder Baseball, und sie redeten über irgendwelchen Blödsinn, über Geschäfte und Frauen, und wahrscheinlich sagten sie Dinge, die Buddy ein Druckmittel verschafften: die Art von Druckmittel, die er später für einen Geschäftsabschluss verwenden konnte, und wahrscheinlich war die Kamera deshalb da angebracht.

Wahrscheinlich.

Sie ließ das Sprite bei ihrem zweiten Drink weg. Der aromatisierte Rum brannte ihr in der Kehle und stieg ihr in die Nase. Callie nieste und fing das meiste mit ihrem Unterarm ab. Sie war zu müde, um ein Papiertuch aus der Küche zu holen, und wischte den Rotz einfach mit einem der Barhandtücher ab. Das mit einem Monogramm versehene Wappen kratzte auf ihrer Haut. Callie betrachtete das Logo, das Buddys Art so ziemlich auf den Punkt brachte. Nicht die Atlanta Falcons. Nicht die Georgia Bulldogs. Nicht einmal die Georgia Tech. Buddy Waleski hatte sich dafür entschieden, die zweitklassigen Bellwood Eagles zu unterstützen – ein Highschool-Team, das in der letzten Saison kein einziges Spiel gewonnen hatte.

Ein großer Fisch in einem kleinen Teich.

Callie schüttete gerade den Rest des Rums hinunter, als Trevor ins Wohnzimmer zurückkam. Er schlang wieder seine dürren Arme um sie, und sie küsste ihn auf den Scheitel. Er schmeckte immer noch verschwitzt, aber sie hatte schon genug Kämpfe für heute ausgefochten. Jetzt wollte sie nur noch, dass er endlich schlafen ging, damit sie ihren schmerzenden Körper mit Alkohol betäuben konnte.

Sie saßen auf dem Boden vor dem Aquarium und warteten darauf, dass die Kekse abkühlten. Callie erzählte ihm von ihrem eigenen ersten Aquarium. Welche Fehler sie gemacht hatte. Wie viel Verantwortungsbewusstsein und Pflege nötig waren, damit die Fische gediehen. Trevor war jetzt gefügig. Sie sagte sich, dass es an dem warmen Bad lag, denn sie wollte nicht daran denken, wie das Licht in seinen Augen jedes Mal erlosch, wenn er sah, wie sie sich hinter der Bar einen neuen Drink einschenkte.

Callies Schuldgefühle begannen, sich wieder zu verflüchtigen, als Trevors Zubettgehzeit näher rückte. Sie spürte, wie er sich langsam hochputschte, als sie am Küchentisch saßen. Der Ablauf war vertraut. Eine Auseinandersetzung darüber, wie viele Kekse er essen durfte. Verschüttete Milch. Noch ein Keks-Streit. Eine Diskussion darüber, in welchem Bett er schlafen würde. Der Kampf, ihn in seinen Pyjama zu kriegen. Eine zähe Verhandlung darüber, wie viele Seiten sie ihm aus seinem Buch vorlesen würde. Ein Gutenachtkuss. Noch ein Gutenachtkuss. Die Bitte um ein Glas Wasser. Nicht dieses Glas, das andere. Nicht dieses Wasser, das andere. Schreien. Weinen. Weitere Kämpfe. Weitere Verhandlungen. Versprechen für den nächsten Tag – Spiele, der Zoo, ein Besuch im Wasserpark. Und so weiter und so fort, bis sie schließlich, endlich, wieder allein hinter der Theke stand.

Sie hielt sich davon ab, die Flasche hastig wie ein verzweifelter Säufer zu öffnen. Ihre Hände zitterten. Sie beobachtete ihren Tremor in der Stille des schäbigen Zimmers. Mehr als alles andere assoziierte sie diesen Raum mit Buddy. Die Luft war drückend schwül. Der Rauch aus Tausenden von Zigaretten und Zigarillos hatte die niedrige Decke verfärbt. Selbst die Spinnweben in den Ecken waren bräunlich-orange. Sie zog im Haus nie die Schuhe aus, weil es ihr den Magen umdrehte, wenn ihre Füße in den klebrigen Teppich sanken.

Callie schraubte langsam den Verschluss von der Rumflasche. Der aromatische Geruch kitzelte sie wieder in der Nase, und ihr Mund wurde wässrig vor freudiger Erwartung. Sie spürte die betäubende Wirkung allein schon beim Gedanken an den dritten Drink, der nicht der letzte sein würde, der Drink, bei dem sich ihre Anspannung löste, der Schmerz in ihrem Rücken und das Pochen in ihrem Knie verschwanden.

Die Küchentür flog mit einem Knall auf. Buddy hustete, der Schleim saß fest in seiner Kehle. Er warf die Aktentasche auf die Anrichte. Beförderte Trevors Stuhl mit einem Tritt unter den Tisch zurück. Nahm sich eine Handvoll Kekse. Hielt seinen Zigarillo in der Hand, während er mit offenem Mund kaute. Callie konnte fast hören, wie die Krümel vom Tisch sprangen, von seinen abgestoßenen Schuhen abprallten, sich über das Linoleum verteilten wie winzige klirrende Zimbel. Denn wo Buddy war, da war es laut, laut, laut.

Schließlich nahm er sie zur Kenntnis. Sie empfand wie früher, freute sich, ihn zu sehen, und wartete darauf, dass er sie in die Arme nahm und ihr wieder das Gefühl gab, etwas Besonderes zu sein. Dann fielen ihm weitere Krümel aus dem Mund. »Schenk mir einen ein, Püppchen.«

Sie füllte ein Glas mit Scotch und Soda. Der Gestank seines Zigarillos zog durch den Raum. Black & Mild. Sie hatte ihn nie ohne diese Packung gesehen, die aus seiner Hemdtasche lugte.

Buddy aß die letzten beiden Kekse auf dem Weg zur Bar. Schwere Schritte brachten die Bodenbretter zum Knarren. Krümel auf dem Teppich. Krümel auf seinem verknitterten, schweißfleckigen Arbeitshemd. Krümel in den Bartstoppeln, die seit der morgendlichen Rasur gesprossen waren.

Buddy war an die eins neunzig, wenn er sich gerade aufrichtete, was er aber nie tat. Seine Haut war immer gerötet. Er hatte mehr Haare als die meisten Männer seines Alters, an einigen Stellen wurden sie bereits grau. Er trainierte nur mit Gewichten, deshalb war er mehr Gorilla als Mensch – kurze Taille mit so muskulösen Armen, dass er sie nicht seitlich am Körper anlegen konnte. Callie sah seine Hände meistens zu Fäusten geballt. Alles an ihm schrie: Ich bin ein rücksichtsloser Scheißtyp. Die Leute wechselten die Straßenseite, wenn sie ihn kommen sahen.

Wenn Trevor eine gespannte Feder war, dann war Buddy ein Vorschlaghammer.

Er ließ den Zigarillo in den Aschenbecher fallen, schüttete seinen Scotch hinunter und knallte das Glas auf die Theke. »Schönen Tag gehabt, Püppchen?«

»Sicher.« Sie trat zur Seite, damit er sich nachschenken konnte.

»Meiner war fantastisch. Kennst du diese neue Ladenzeile drüben an der Stewart? Rate mal, wer die Gerüstarbeiten macht?«

»Du«, sagte Callie, auch wenn Buddy nicht auf eine Antwort gewartet hatte.

»Hab heute die Anzahlung bekommen. Morgen gießen sie das Fundament. Geht doch nichts drüber, wenn man Geld in der Tasche hat, was?« Er rülpste und schlug sich auf die Brust, um die Luft herauszulassen. »Hol mir ein bisschen Eis, ja?«

Sie machte sich auf den Weg, aber er packte ihren Arsch, als würde er an einem Türknauf drehen.

»Schau sich einer dieses winzig kleine Ding an.«

Es hatte ganz am Anfang eine Zeit gegeben, als Callie es lustig gefunden hatte, wie besessen er von ihrer zierlichen Statur war. Er hob sie mit einem Arm in die Höhe oder staunte darüber, dass sein Daumen und die Fingerspitzen fast ihre Hüftknochen berührten, wenn er seine Hand quer über ihren Rücken spreizte. Er nannte sie kleines Ding, Baby, Puppe – und jetzt …

War es nur eine Sache mehr, die sie an ihm störte.

Callie drückte den Eiskübel an ihren Bauch, als sie zur Küche ging. Sie warf einen Blick zum Aquarium. Die Schleimfische hatten sich beruhigt. Sie schwammen durch die Sauerstoffblasen des Filters. Callie füllte den Kübel mit Eis, das nach Natron und Fleisch mit Gefrierbrand schmeckte.

Buddy schwenkte auf seinem Barhocker herum, als sie zu ihm zurückkam. Er hatte die Spitze seines Zigarillos abgezwickt und steckte ihn in die Packung zurück. »Verdammt noch mal, mein Mädchen, ich liebe es, wie sich deine Hüften bewegen. Dreh dich mal für mich.«

Sie merkte, wie sie die Augen wieder verdrehte – nicht seinetwegen, sondern ihrer selbst wegen, denn ein winziger, dummer, einsamer Teil von Callie fiel immer noch auf sein Flirten herein. Er war wahrhaftig der erste Mensch in ihrem Leben gewesen, von dem sie sich wirklich geliebt gefühlt hatte. Sie hatte sich nie zuvor als etwas Besonderes gesehen, quasi als auserwählt, als wäre sie alles, was für einen anderen Menschen zählte. Buddy hatte ihr ein Gefühl von Geborgenheit geschenkt.

Aber in letzter Zeit wollte er sie nur noch ficken.

Buddy steckte die Schachtel Black & Mild weg. Er stieß seine Pranke in den Eiskübel, und sie sah schwarze Halbmonde unter seinen Fingernägeln.

»Was macht der Junge?«, fragte er.

»Schläft.«

Er schob ihr die Hand zwischen die Beine, noch bevor sie das Funkeln in seinen Augen bemerkt hatte. Ihre Knie waren komisch gebeugt, so als würde sie auf der flachen Seite einer Schaufel sitzen.

»Buddy …«

Seine andere Hand umklammerte ihren Arsch, sodass sie zwischen seinen bepackten Armen eingeschlossen war. »Sieh mal an, wie winzig du bist. Ich könnte dich in die Tasche stecken, und niemand würde bemerken, dass du da bist.«

Sie schmeckte Kekse, Scotch und Tabak, als seine Zunge in ihren Mund glitt. Callie erwiderte den Kuss, denn Buddy wegzustoßen, sein Ego zu verletzen wäre sehr zeitraubend, und am Ende wäre sie wieder genau da, wo es angefangen hatte.

Trotz all seinem Getöse war Buddy ein Jammerlappen, was seine Gefühle anging. Er konnte einen ausgewachsenen Mann zu Brei schlagen, ohne mit der Wimper zu zucken, aber bei Callie war er manchmal so verletzlich, dass es unheimlich war. Sie hatte Stunden damit verbracht, ihm Mut zuzusprechen, ihn aufzurichten, aufzupäppeln, sich anzuhören, wie seine Unsicherheit einer Meereswelle gleich an den Strand brandete.

Wieso war sie mit ihm zusammen? Sie sollte sich jemand anderen suchen. Sie spielte in einer anderen Liga als er. Zu hübsch. Zu jung. Zu klug. Zu viel Klasse. Warum ließ sie einen dummen Wüstling wie ihn nicht einfach links liegen? Was sah sie in ihm … Nein, sie musste ihm jetzt auf der Stelle genau beschreiben, was sie eigentlich an ihm mochte. Ganz konkret.

Er sagte ihr ständig, dass sie schön sei. Er ging in nette Restaurants mit ihr, in gute Hotels. Er kaufte ihr Schmuck und teure Kleidung und gab ihrer Mutter Geld, wenn sie knapp bei Kasse war. Er würde jeden Mann verprügeln, der sie auch nur schief ansah. Von außen betrachtet wirkte es wahrscheinlich so, als hätte Callie einen absoluten Glückstreffer gelandet, aber sie selbst fragte sich, ob sie wohl besser dran wäre, wenn er zu ihr so grausam wäre wie zu allen anderen. Dann hätte sie wenigstens einen Grund, ihn zu hassen. Etwas Reales, auf das sie verweisen konnte, statt seiner erbärmlichen Tränen oder seinem Anblick, wenn er sie auf Knien um Vergebung bat.

»Daddy?«

Callie schauderte beim Klang von Trevors Stimme. Er stand im Flur und drückte seine Bettdecke an die Brust.

Buddys Hände hielten Callie weiter fest. »Geh ins Bett, mein Sohn.«

»Ich will Mommy.«

Callie schloss die Augen, damit sie Trevors Gesicht nicht sehen musste.

»Tu, was ich sage«, sagte Buddy in warnendem Ton. »Auf der Stelle.«

Sie hielt den Atem an, bis sie Trevor leise den Flur entlangtapsen hörte. Seine Zimmertür quietschte in den Angeln. Dann schnappte das Schloss ein.

Callie löste sich aus Buddys Griff. Sie ging hinter die Bar, fing an, die Etiketten der Flaschen ordentlich auszurichten, wischte die Theke ab, versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie ein Hindernis zwischen sie beide zu legen versuchte.

Buddy lachte auf und rieb sich die Arme, als wäre es nicht brütend heiß in diesem grässlichen Haus. »Warum ist es plötzlich so kalt hier?«

Callie sagte: »Ich sollte nach ihm sehen.«

»Ach was.« Buddy kam um die Theke herum und versperrte ihr den Weg. »Kümmer dich lieber um mich.«

Buddy lenkte ihre Hand zu der Ausbuchtung in seiner Hose. Er bewegte ihre Hand einmal auf und ab, und es erinnerte sie daran, wie er am Seil des Rasenmähers riss, um den Motor zu starten.

»Genau so.«

Callie gab nach. Sie gab immer nach.

»Das ist gut.«

Callie schloss die Augen. Sie konnte die abgezwickte Spitze seines Zigarillos riechen, die immer noch im Aschenbecher schwelte. Auf der anderen Seite des Raums gurgelte das Aquarium. Sie versuchte, sich gute Fischnamen für Trevor einfallen zu lassen.

James Pond. Tank Sinatra.

»Himmel, deine Hände sind so klein.« Buddy öffnete den Reißverschluss seiner Hose. Drückte sie herunter. Der Teppich hinter der Bar fühlte sich nass an. Ihre Knie saugten sich an der Wolle fest. »Du bist meine kleine Ballerina.«

Callie nahm ihn in den Mund.

»Himmel noch mal.« Buddy hielt ihre Schultern in festem Griff. »Das ist gut. Genau so.«

Callie schloss die Augen.

Tuna Turner. Leonardo DiCarpio. Mary-Kate und Ashley Ocean.

Buddy tätschelte sie. »Komm, Baby. Bringen wir es auf der Couch zu Ende.«

Callie wollte nicht zur Couch. Sie wollte es jetzt zu Ende bringen. Dann weggehen. Allein sein. Tief Luft holen und ihre Lungen mit allem füllen, was nicht er war.

»Herrgott noch mal!«

Callie zuckte zusammen.

Aber er schrie nicht sie an. Sie merkte an der veränderten Atmosphäre, dass Trevor wieder im Flur stand. Sie versuchte, sich vorzustellen, was er gesehen hatte. Buddy, der sich mit einer seiner fleischigen Hände an der Theke festhielt, während er mit der Hüfte gegen etwas unter der Bar stieß.

»Daddy?«, fragte er. »Wohin ist …«

»Was habe ich dir gesagt?«, brüllte Buddy.

»Ich bin nicht müde.«

»Dann trink deine Medizin. Los.«

Callie sah zu Buddy hinauf. Er deutete mit seinem feisten Zeigefinger in Richtung Küche.

Sie hörte Trevors Stuhl über das Linoleum kratzen. Die Lehne krachte an die Anrichte. Die Schranktür ging quietschend auf. Ein wiederholtes Klacken, als Trevor den kindersicheren Verschluss des NyQuil drehte. Buddy nannte es seine Augen-zu-Medizin. Von dem Antihistaminikum war er normalerweise die ganze Nacht weggetreten.

»Trink es«, befahl Buddy.

Callie dachte an die zarten Wellenbewegungen in Trevors Kehle, wenn er den Kopf in den Nacken legte und seine Milch hinunterschüttete.

»Lass alles auf der Theke stehen«, sagte Buddy. »Geh in dein Zimmer zurück.«

»Aber ich …«

»Geh in dein verdammtes Zimmer zurück und bleib dort, sonst prügle ich dir die Haut vom Hintern.«

Wieder hielt Callie den Atem an, bis sie Trevors Schlafzimmertür zufallen hörte.

»Der Scheißbengel.«

»Buddy, vielleicht sollte ich …«

Sie stand im selben Moment auf, in dem sich Buddy wieder zu ihr herumdrehte. Sein Ellbogen erwischte versehentlich genau ihre Nase. Das Knacken brechender Knochen durchfuhr sie wie ein Blitzschlag. Sie war so geschockt, dass sie nicht einmal blinzelte.

Buddy starrte sie entsetzt an. »Püppchen? Bist du okay? Es tut mir leid, ich …«

Callies Sinne meldeten sich nach und nach zurück. Laute rauschten in ihre Ohren. Schmerz flutete ihre Nerven. Ihr Blick verschwamm. Ihr Mund füllte sich mit Blut.

Sie rang nach Luft. Das Blut floss in ihre Kehle. Alles drehte sich um sie. Sie würde gleich ohnmächtig werden, ihre Knie gaben schon nach. Sie griff panisch nach irgendetwas, um sich festzuhalten. Der Pappkarton mit den Weinkorken kippte aus dem Regal. Sie knallte mit dem Hinterkopf auf den Boden. Die Korken trafen sie auf Brust und Gesicht wie dicke Regentropfen. Sie blinzelte zur Decke hinauf, sah die zweifarbigen Fische vor ihren Augen hektisch herumschwimmen. Sie blinzelte wieder, und die Fische sausten davon. Luft strömte in ihre Lungen. Ihr Kopf begann im Gleichklang mit ihrem Herzschlag zu hämmern. Sie wischte sich etwas von der Brust. Die Packung Black & Mild war aus Buddys Hemdtasche gefallen, und die schlanken Zigarillos hatten sich über sie verteilt. Sie reckte den Hals und hielt nach ihm Ausschau.

Callie hatte bei Buddy mit einem reumütigen Welpenblick gerechnet, aber er nahm sie kaum zur Kenntnis. Er hielt die Videokamera in den Händen. Sie hatte sie zusammen mit dem Karton versehentlich aus dem Regal gerissen. Ein Stück Plastik war von der Ecke gesprungen.

Leise zischte er: »Scheiße!«

Endlich sah er sie an. In seinen Augen war dieser verschlagene Ausdruck, genau wie bei Trevor. In flagranti ertappt. Ein Ausweg musste her.

Callies Kopf sank auf den Teppich zurück. Sie war immer noch desorientiert. Alles, was sie ansah, pulsierte im Takt mit dem Pochen in ihrem Schädel. Die Gläser, die in dem Bargestell hingen. Die braunen Wasserflecken an der Decke. Sie hustete in die Hand – Blut sprenkelte die Handfläche. Sie hörte, wie Buddy sich bewegte.

Sie sah wieder zu ihm hinauf. »Buddy, ich hatte die …«

Ohne Vorwarnung riss er sie am Arm hoch, und Callie hatte alle Mühe, auf den Beinen zu bleiben. Sein Ellbogen hatte sie härter getroffen, als sie zunächst gedacht hatte. Die Welt war ins Stottern geraten, wie bei einer Plattenspielernadel, die in einer Rille festhing. Callie hustete wieder und taumelte vorwärts. Ihr ganzes Gesicht fühlte sich wund an. Ein kräftiger Blutstrom rann ihre Kehle hinab. Der Raum drehte sich wie ein Globus. War das eine Gehirnerschütterung? Es fühlte sich auf jeden Fall so an.

»Buddy, ich glaube, ich …«

»Halt den Mund.« Er packte sie mit der Hand unsanft im Nacken, schleifte sie durch das Wohnzimmer und in die Küche wie einen Hund, der sich danebenbenommen hat. Callie war zu überrascht, um sich zu wehren. Seine Wut war immer wie eine Verpuffung gewesen, plötzlich und allumfassend. Normalerweise wusste sie, woher sie rührte.

»Buddy, ich …«

Er warf sie gegen den Tisch. »Wirst du jetzt verdammt noch mal die Schnauze halten und mir zuhören?«

Callie langte hinter sich, um sich zu stabilisieren. Die gesamte Küche kippte zur Seite. Gleich würde sie sich übergeben. Sie musste sich zur Spüle schleppen.

Buddy schlug mit der Faust auf die Arbeitsfläche. »Hör verdammt noch mal auf, rumzuzicken!«

Callie hielt sich die Ohren zu. Sein Gesicht war dunkelrot. Er war sehr wütend. Warum war er denn so wütend?

»Ich meine es todernst.« Buddy hatte seinen Ton gemäßigt, aber ein tiefes, unheilvolles Knurren schwang in seiner Stimme. »Du musst mir zuhören.«

»Okay, okay. Ich brauche nur einen Moment.« Callie war immer noch wacklig auf den Beinen. Sie machte einen Schritt zur Spüle. Drehte den Wasserhahn auf. Ließ das Wasser ablaufen, bis es kalt war. Dann schob sie den Kopf unter den kalten Strahl. Ihre Nase brannte. Sie zuckte zusammen, und der Schmerz schoss mitten durch ihr Gesicht.

Buddy hielt den Rand der Spüle umklammert. Er wartete.

Callie hob den Kopf. Das Schwindelgefühl ließ sie fast wieder ins Wanken geraten. Sie fischte ein Geschirrtuch aus der Schublade. Der raue Stoff kratzte an ihren Wangen. Sie presste es unter die Nase, um die Blutung zu stoppen. »Was ist denn?«

Er wippte auf den Fußballen. »Du darfst niemandem etwas von der Kamera sagen, okay?«

Das Geschirrtuch war bereits durchgeweicht. Das Blut lief und lief, aus ihrer Nase, in ihren Mund, ihre Kehle hinunter. Callie hatte sich noch nie so verzweifelt gewünscht, sich einfach ins Bett zu legen und die Augen zu schließen. Buddy wusste sonst immer, wann sie das brauchte. Er nahm sie dann immer in die Arme, trug sie über den Flur und packte sie ins Bett, und dann strich er ihr übers Haar, bis sie einschlief.

»Callie, versprich es mir. Schau mir in die Augen und versprich mir, dass du es niemandem erzählst.«

Buddys Hand war wieder auf ihrer Schulter, aber sanfter diesmal. Die Wut, die in ihm brannte, begann, sich selbst zu verzehren. Er hob ihr Kinn mit seinen feisten Fingern an. Sie kam sich vor wie eine Barbiepuppe, die er in eine bestimmte Pose zu biegen versuchte.

»Scheiße, Baby. Schau dir nur deine Nase an! Ist alles okay?« Er griff nach einem frischen Geschirrtuch. »Es tut mir leid, ja? Herrje, dein hübsches kleines Gesicht … Bist du wirklich okay?«

Callie beugte sich wieder über die Spüle und spuckte Blut in den Abfluss. Ihre Nase fühlte sich an wie ein verklemmter Schalthebel. Sie hatte bestimmt eine Gehirnerschütterung, sie sah alles doppelt. Zwei Blutpfützen. Zwei Wasserhähne. Zwei Trockengestelle auf der Arbeitsfläche.

»Hör zu.« Er packte sie an den Armen, drehte sie herum und drückte sie gegen die Küchenschränke. »Du kommst wieder in Ordnung, ja? Dafür sorge ich. Aber du darfst niemandem von der Kamera erzählen, okay?«

»Okay«, sagte sie, denn es war immer einfacher, ihm nicht zu widersprechen.

»Ich meine es ernst, Baby. Schau mir in die Augen und versprich es.« Sie konnte nicht sagen, ob er besorgt oder wütend war, bis er sie schüttelte wie eine Puppe. »Sieh mich an.«

Callie konnte ihm nur einen flüchtigen Blick bieten. Eine Wolke hing zwischen ihr und allem anderen. »Ich weiß, dass es ein Unfall war.«

»Nicht deine Nase. Ich rede von der Kamera.« Er leckte sich über die Lippen, seine Zunge zuckte heraus wie bei einer Echse. »Du darfst wegen der Kamera keinen Stunk machen, Püppchen. Ich könnte sonst ins Gefängnis kommen.«

»Gefängnis?« Das Wort kam aus dem Nichts, hatte keine Bedeutung. Er hätte ebenso gut Einhorn sagen können. »Warum solltest du …«

»Baby, bitte. Stell dich nicht dumm.«

Sie blinzelte, und als würde man ein Objektiv scharfstellen, konnte sie ihn jetzt deutlich sehen.

Buddy war nicht besorgt, wütend oder von Schuldgefühlen zerfressen. Er hatte panische Angst.

Aber wovor?

Callie wusste seit Monaten von der Kamera, aber sie hatte nie ernsthaft versucht herauszufinden, wofür sie gut war. Sie dachte an seine Wochenendpartys. Die Kühlbox voller Bier. Die rauchgeschwängerte Luft. Den dröhnend lauten Fernseher. Betrunkene Männer, die lachten und sich gegenseitig auf den Rücken schlugen, während Callie versuchte, Trevor herzurichten, damit sie ins Kino, in den Park oder sonst wohin gehen konnten – Hauptsache, sie waren aus dem Haus.

»Ich muss …« Sie schnäuzte sich in das Handtuch. Blutfäden zogen sich wie Spinnweben über den weißen Stoff. Sie wurde klarer im Kopf, aber noch immer klingelten ihr die Ohren. Er hatte sie unabsichtlich fast k. o. geschlagen. Warum hatte er nicht besser aufgepasst?

»Hör zu.« Er grub die Finger in ihre Arme. »Hör mir genau zu, Püppchen.«

»Und du hör auf, mir zu sagen, dass ich zuhören soll. Ich höre ja zu. Ich höre verdammt noch mal alles, was du sagst.« Sie hustete so heftig, dass sie sich vorbeugen musste. Sie wischte sich über den Mund und sah zu ihm hoch. »Nimmst du deine Freunde auf? Ist die Kamera dafür da?«

»Vergiss die Kamera.« Buddy verströmte pure Paranoia. »Du hast eins auf die Birne gekriegt. Du weißt nicht, was du redest.«

Was übersah sie?

Er sagte, er sei Unternehmer, aber er hatte kein Büro. Er fuhr den ganzen Tag herum und arbeitete von seiner Corvette aus. Sie wusste, dass er Buchmacher für Sportwetten war. Er war außerdem ein Auftragsschläger, der für Geld Leute fertigmachte. Er hatte ständig eine Menge Scheine einstecken. Er kannte immer jemanden, der jemanden kannte. Nahm er seine Freunde auf, wenn sie um einen Gefallen baten? Bezahlten sie ihn dafür, dass er Knochen brach, Gebäude niederbrannte, ein Druckmittel fand, um ein Geschäft zum Abschluss zu bringen oder einen Feind zu bestrafen?

Callie hielt an den Puzzleteilen fest, die sie nicht ganz zu einem Bild zusammensetzen konnte. »Was treibst du, Buddy? Erpresst du sie?«

Buddy schob seine Zunge zwischen die Zähne. Er zögerte einen Herzschlag zu lange, ehe er sagte: »Ja, genau das ist es, Baby. Ich erpresse sie. Daher stammt das Geld. Du darfst nicht verraten, dass du es weißt. Erpressung ist ein schweres Verbrechen. Ich könnte für den Rest meines Lebens eingesperrt werden.«

Sie schaute wieder ins Wohnzimmer und stellte es sich mit seinen Freunden vor – es waren jedes Mal dieselben Freunde. Manche von ihnen kannte Callie nicht, aber andere gehörten zu ihrem Leben, und sie fühlte sich schuldig, dass sie eine teilweise Nutznießerin von Buddys illegalen Machenschaften war. Dr. Patterson, der Schuldirektor. Coach Holt von den Bellwood Eagles. Mr. Humphrey, der Gebrauchtwagen verkaufte. Mr. Ganza, der an der Feinkosttheke im Supermarkt arbeitete. Mr. Emmett, der in der Praxis ihres Zahnarztes arbeitete.

Was hatten sie Schlimmes getan? Welche schrecklichen Dinge hatten ein Trainer, ein Autoverkäufer, ein altersschwaches Grapscher-Arschloch um alles in der Welt getan und waren so dumm gewesen, es Buddy Waleski zu gestehen?

Und warum kamen diese Idioten jedes Wochenende wieder, um Football, Basketball, Baseball oder Fußball zu schauen, wenn Buddy sie erpresste?

Warum rauchten sie seine Zigarren? Kippten sein Bier hinunter? Brannten Löcher in seine Möbel? Brüllten auf den Fernseher ein?

Lass es uns auf der Couch zu Ende bringen.

Callies Blick wanderte im Dreieck von dem Loch in der Front der Bar zur Couch genau gegenüber und weiter zu dem riesigen Fernseher, der mehr wog als sie.

Unter dem Gerät war ein Regal aus Glas.

Kabelbox. Splitterbox. Videorekorder.

Sie hatte sich an den Anblick des dreipoligen Kabels gewöhnt, das aus den Buchsen auf der Vorderseite des Rekorders hing. Rot für den rechten Audiokanal. Weiß für den linken. Gelb für Video. Das Kabel führte zu einer Rolle auf dem Teppich unter dem Fernseher. Nicht ein einziges Mal hatte sich Callie gefragt, wo das andere Ende dieses Kabels eingesteckt war.

Lass es uns auf der Couch zu Ende bringen.

»Süße.« Buddy schwitzte Verzweiflung aus. »Vielleicht solltest du nach Hause gehen, hm? Komm, ich geb dir Geld. Ich hab dir ja gesagt, dass sie mich für diesen Job morgen schon bezahlt haben. Am besten, man bringt es unter die Leute, was?«

Callie sah ihn jetzt an.

Sie sah ihn richtig an.

Buddy griff in seine Tasche und zog ein Bündel Scheine heraus. Er zählte sie ab, als würde er damit all die Methoden abzählen, mit denen er sie unter Kontrolle hielt. »Kauf dir ein neues Shirt, okay? Eine passende Hose, Schuhe, was immer. Vielleicht eine Halskette? Dir gefällt doch die Halskette, die ich dir geschenkt habe, oder? Kauf dir noch eine. Oder gleich vier. Mach’s wie Mr. T.«

»Filmst du uns?« Die Frage war ihr herausgerutscht, bevor sie darüber nachdenken konnte, welche Hölle damit losbrechen konnte. Sie trieben es überhaupt nicht mehr im Bett, sondern jedes Mal auf der Couch. Und wann hatte er sie immer ins Bett gebracht? Erst nachdem sie mit dem Sex auf der Couch fertig waren. »Stimmt das, Buddy? Du filmst dich dabei, wie du mich fickst, und zeigst es deinen Freunden?«

»Sei nicht albern.« Sein Tonfall glich dem von Trevor, wenn er schwor, nicht ans Glas des Aquariums zu klopfen. »Das würde ich niemals tun! Ich liebe dich doch.«

»Du bist ein gottverdammtes perverses Arschloch.«

»Pass auf, wie du mit mir redest.« Seine Warnung war nicht nur so dahingesagt. Sie sah jetzt genau, was vor sich ging – was seit mindestens sechs Monaten vor sich ging.

Dr. Patterson, der ihr beim Aufwärmen mit den Cheerleadern von der Tribüne zuwinkte.

Coach Holt, der ihr bei Fußballspielen von der Seitenlinie zublinzelte.

Mr. Ganza, der Callie anlächelte, während er ihrer Mutter aufgeschnittenen Käse über die Theke reichte.

»Du …« Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie hatten sie alle nackt gesehen. Sie hatten gesehen, was sie mit Buddy auf der Couch gemacht hatte. Was Buddy mit ihr gemacht hatte. »Ich kann nicht …«

»Beruhige dich, Callie. Du wirst hysterisch.«

»Ich bin verdammt noch mal hysterisch!«, schrie sie. »Sie haben mich gesehen, Buddy. Sie haben mich beobachtet. Sie wissen alle, was ich … was wir …«

»Ach komm, Püppchen.«

Sie ließ den Kopf vor Scham in die Hände sinken.

Dr. Patterson. Coach Holt. Mr. Ganza. Sie waren keine Mentoren, keine Vaterfiguren oder einfach nette ältere Herren. Sie waren Perverse, denen einer abging, wenn sie zuschauten, wie Callie gevögelt wurde.

»Komm schon, Baby«, sagte Buddy. »Du machst eine viel zu große Sache daraus.«

Tränen strömten ihr übers Gesicht. Sie konnte kaum sprechen. Sie hatte ihn geliebt. Sie hatte alles für ihn getan. »Wie konntest du mir das antun?«

»Was antun?« Buddy klang schnippisch. Sein Blick ging zu dem Bündel Geld. »Du hast bekommen, was du wolltest.«

Sie schüttelte den Kopf. Das hatte sie nie gewollt. Sie wollte sich sicher fühlen. Beschützt fühlen. Sie wollte jemanden haben, der sich für ihr Leben, ihre Gedanken, ihre Träume interessierte.

»Komm, Kleine, du hast deine Uniformen bezahlt gekriegt, dein Cheerleader-Trainingscamp, deine …«

»Ich sage es meiner Mutter«, drohte sie. »Ich erzähle ihr genau, was du getan hast.«

»Denkst du, das interessiert sie einen feuchten Dreck?« Sein Lachen war echt, denn sie wussten beide, dass es stimmte. »Solange das Geld weiter fließt, ist es deiner Mama egal.«

Callie schluckte die Glasscherben, die in ihrer Kehle steckten. »Und was ist mit Linda?«

Sein Mund schnappte auf wie ein Fischmaul.

»Was wird deine Frau dazu sagen, dass du die vierzehnjährige Babysitterin ihres Sohnes seit zwei Jahren fickst?«

Sie hörte das Zischen, als er durch die geschlossenen Zähne Luft einsog.

Die ganze Zeit, seit Callie mit ihm zusammen war, hatte er unaufhörlich von ihren winzigen Händen, von ihrer zierlichen Taille, ihrem kleinen Mund gesprochen, aber nicht ein einziges Mal hatte er die Tatsache erwähnt, dass mehr als dreißig Jahre Altersunterschied zwischen ihnen lagen.

Dass er ein Verbrechen beging.

»Linda ist noch im Krankenhaus, stimmt’s?« Callie ging zu dem Wandtelefon neben der Hintertür. Sie fuhr mit dem Zeigefinger die Liste mit den Notfallnummern entlang, die an der Wand klebte. Noch als sie es tat, fragte sich Callie, ob sie den Anruf wohl zu Ende bringen würde. Linda war immer so nett. Sie wäre am Boden zerstört von der Nachricht. Buddy würde es niemals so weit kommen lassen.

Trotzdem nahm sie den Hörer ab und rechnete damit, dass er gleich klagte und flehte, dass er sie um Verzeihung bat und seine Liebe und Hingabe beteuerte.

Er tat nichts davon. Er klappte nur weiter den Mund auf und zu und stand da wie ein erstarrter Gorilla, die muskelbepackten Arme wölbten sich vom Körper.

Callie wandte ihm den Rücken zu. Sie klemmte den Hörer in ihre Halsbeuge und schob die Spiralschnur aus dem Weg. Berührte die Nummer acht auf der Tastatur.

Die ganze Welt schien stillzustehen, bis ihr Gehirn registrierte, was geschah.

Der Faustschlag in ihre Niere traf sie wie ein Auto in voller Fahrt von hinten. Das Telefon rutschte von ihrer Schulter. Callies Arme flogen hoch, sie wurde von den Füßen gerissen und spürte einen Luftzug auf der Haut, als sie abhob.

Sie krachte gegen die Wand. Ihre Nase wurde platt gedrückt, die Zähne gruben sich in den Rigips.

»Blödes Miststück.« Buddy legte seine Hand an ihren Hinterkopf und donnerte ihr Gesicht an die Wand. Dann noch einmal. Er holte schon ein drittes Mal aus.

Callie ließ sich in die Knie sacken. Sie spürte, wie ihr das Haar aus der Kopfhaut gerissen wurde, als sie sich zu einer Kugel auf dem Boden zusammenrollte. Sie hatte schon früher Prügel bezogen, sie konnte was einstecken. Aber das waren Typen gewesen, deren Größe und Körperkraft ihrer eigenen ähnelte. Die nicht ihren Lebensunterhalt damit verdienten, Leute zu verprügeln. Die noch nie getötet hatten.

»Du drohst mir, verdammt noch mal?« Buddy schwang seinen Fuß wie eine Abrissbirne in ihren Bauch.

Callie hob es vom Boden, die Luft wich aus ihren Lungen. Ein stechender Schmerz verriet, dass er ihr eine Rippe gebrochen hatte.

Buddy war neben ihr auf den Knien, in seinen Augen lag ein irrer Blick. Speichel sammelte sich in seinen Mundwinkeln. Er krallte eine Hand um ihren Hals. Callie versuchte wegzukrabbeln, aber sie landete auf dem Rücken. Er setzte sich rittlings auf sie, sein Gewicht war unerträglich. Der Würgegriff um ihren Hals wurde noch fester, ihre Luftröhre bog sich bis an die Wirbelsäule. Sie schlug mit den Fäusten nach ihm und versuchte, ihn zwischen die Beine zu treten. Einmal. Zweimal. Ein Treffer von der Seite genügte, damit er seinen Griff löste. Sie rollte unter ihm hervor und wollte irgendwie aufstehen und wegrennen.

Ein Geräusch zerriss die Luft, für das sie keinen Namen hatte.

Callies Rücken brannte wie Feuer, es war, als würde man ihr die Haut abziehen. Er peitschte sie mit dem Telefonkabel. Blut schlug Blasen, brannte wie Säure und lief ihr über den Rücken. Sie hob die Hand und sah, wie die Haut am Arm aufriss, als sich die Telefonschnur um ihr Handgelenk wickelte.

Instinktiv zog sie den Arm zurück, und die Schnur entglitt ihm. Sie sah die Überraschung in seinem Gesicht, rappelte sich hastig auf und stützte sich mit dem Rücken an der Wand ab. Sie schlug und trat nach ihm, schwang das Kabel und schrie: »Zum Teufel mit dir, du Arschloch! Ich bring dich um, verdammt noch mal!«

Ihre Stimme dröhnte durch die Küche.

Und plötzlich stand alles still.

Callie war es irgendwann gelungen, auf die Beine zu springen. Sie hatte die Hand über den Kopf gehoben und wartete auf eine Gelegenheit, mit der Schnur zuzuschlagen. Sie standen sich in Spuckweite gegenüber, und keiner der beiden wich zurück.

Buddy kicherte verblüfft und nicht ohne Anerkennung. »Verdammt noch mal, Kleine!«

Sie hatte ihm eine offene Wunde an der Wange zugefügt. Er wischte das Blut ab, steckte die Finger in den Mund und gab ein lautes Sauggeräusch von sich.

Callies Magen zog sich zusammen.

Sie wusste, der Geschmack von Gewalt brachte seine dunkelste Seite zum Vorschein.

»Na los, Tiger.« Er hob die Fäuste wie ein Boxer, der zur K.-o.-Runde bereit ist. »Greif mich noch mal an.«

»Buddy, bitte.« Callie ermahnte sich, kampfbereit zu bleiben und sich nach Kräften zu wehren, denn er war nur deshalb ruhiger geworden, weil er es genießen wollte, sie zu töten. »Es muss nicht so ausgehen.«

»Zuckerpüppchen, es war immer klar, dass es so ausgeht.«

Sie ließ diese Erkenntnis auf sich wirken. Callie wusste, dass er recht hatte. Sie war ja so dumm gewesen. »Ich werde nichts sagen. Ich verspreche es.«

»Es ist zu weit fortgeschritten, Püppchen. Ich denke, das weißt du auch.« Er hielt die Fäuste noch immer locker vor sein Gesicht und winkte sie heran. »Komm schon, Kleine. Geh nicht kampflos unter.«

Er war beinahe einen halben Meter größer als sie und bedeutend schwerer. Die Wucht eines kompletten zweiten Menschen steckte in seiner massigen Gestalt.

Ihn kratzen? Beißen? An den Haaren reißen? Mit seinem Blut im Mund sterben?

»Was wirst du jetzt tun, Kleine?« Er hielt die Fäuste weiter erhoben. »Ich gebe dir hier eine Chance. Greifst du mich an, oder gibst du auf?«

Der Flur?

Sie durfte nicht riskieren, ihn zu Trevor zu führen.

Die Vordertür?

Zu weit weg.

Die Küchentür?

Callie konnte den Türgriff aus dem Augenwinkel leuchten sehen.

Unversperrt.

Sie ging den Ablauf durch – sich zur Seite drehen, linker Fuß, rechter Fuß, den Griff packen, sich durch die Tür winden, durch den Carport rennen, auf die Straße hinaus und die ganze Zeit aus Leibeskräften schreien.

Wem wollte sie etwas vormachen?

Sie brauchte nichts weiter zu tun, als sich zur Seite zu drehen, und Buddy würde über sie herfallen. Er war nicht schnell, aber das musste er auch nicht sein. Ein langer Schritt und seine Hand wäre wieder an ihrem Hals.

Callie starrte ihn hasserfüllt an.

Er zuckte mit den Achseln, denn es spielte keine Rolle.

»Warum hast du es getan?«, fragte sie. »Warum hast du ihnen unsere privaten Sachen gezeigt?«

»Wegen Geld.« Er klang enttäuscht, weil sie so dumm war. »Warum zum Teufel sonst?«

Callie durfte gar nicht daran denken, dass all diese Männer zugesehen hatten, wie sie Dinge mit einem Mann machte, die sie gar nicht machen wollte, nur weil er ihr versprochen hatte, er würde sie immer beschützen.

Buddy boxte einen trägen rechten Haken in die Luft, dann einen Aufwärtshaken in Zeitlupe. »Komm schon, Rocky. Zeig mir, was du draufhast.«

Ihr Blick hüpfte wie ein Pingpongball durch die Küche.

Kühlschrank. Ofen. Küchenschränke. Schubladen. Kochplatte. NyQuil. Trockengestell.

Buddy grinste höhnisch. »Willst du mir eine Bratpfanne über den Schädel hauen, Daffy Duck?«

Wie eine abgefeuerte Pistolenkugel schoss Callie genau auf ihn zu. Buddys Hände waren auf Höhe seines Gesichts. Sie rannte tief geduckt, sodass sie bereits außer Reichweite war, als er die Fäuste senkte.

Sie krachte gegen die Spüle.

Fischte das Messer aus dem Trockengestell.

Wirbelte herum und hieb mit der Klinge vor sich in die Luft.

Buddy grinste. Linda hatte das Steakmesser mit einem in Taiwan hergestellten sechsteiligen Set im Supermarkt gekauft. Gesprungener Holzgriff. Eine gezackte Klinge, die so schmal war, dass es sie in alle möglichen Richtungen verbogen hatte. Callie hatte Trevors Hotdog damit in Stücke geschnitten, weil er sonst immer versuchte, sich das ganze Ding in den Mund zu schieben, und sich unweigerlich verschluckte.

Callie bemerkte, dass sie ein wenig Ketchup übersehen hatte.

Ein schmaler roter Streifen entlang der gezackten Schneide.

»Oh.« Buddy klang überrascht. »O Gott.«

Sie blickten beide gleichzeitig nach unten.

Das Messer hatte sein Hosenbein aufgeschlitzt. Linker Oberschenkel, einige Zentimeter unterhalb der Leiste.

Sie sah, wie sich der Khakistoff schnell dunkelrot färbte.

Callie hatte seit ihrem fünften Lebensjahr bei Wettkämpfen geturnt. Sie wusste aus erster Hand, auf welche Arten man sich verletzen konnte. Eine ungeschickte Drehung und eine Sehne im Rücken konnte reißen. Ein schlampiger Abgang und die Bänder im Knie waren im Eimer. Ein Metallstück – selbst ein minderwertiges Stück Blech –, das quer in die Innenseite des Oberschenkels schnitt, konnte die Vene öffnen, die Hauptschlagader, die den unteren Teil des Körpers mit Blut versorgt.

»Cal…« Buddy presste die Hand auf sein Bein. Blut quoll zwischen den Fingern hervor. »Hol ein … Mein Gott, Callie! Hol ein Handtuch oder …«

Langsam fiel er, die breiten Schultern stießen gegen die Hängeschränke, sein Kopf prallte an den Rand der Arbeitsfläche. Der Raum bebte von seinem Gewicht, als er zu Boden ging.

»Cal?« Buddy schluckte schwer. Sein Gesicht war schweißnass. »Callie?«

Ihr Körper stand noch immer unter Spannung, noch immer hielt sie das Messer in der Hand. Sie fühlte sich eingehüllt in eine kalte Dunkelheit, so als wäre sie in ihren eigenen Schatten getreten.

»Callie, Baby, du musst …« Seine Lippen hatten alle Farbe verloren. Er klapperte jetzt mit den Zähnen, als würde ihre Kälte auch in ihn eindringen. »Ruf einen … Rettungswagen, B-Baby. Ruf einen …«

Callie wandte langsam den Kopf. Sie sah zum Telefon an der Wand. Der Hörer hing nicht in der Gabel. Mehrfarbige Drahtenden ragten hervor, wo Buddy die Spiralschnur herausgerissen hatte. Sie fand das andere Ende, folgte ihm wie einer Fährte und machte den Hörer unter dem Küchentisch ausfindig.

»Callie, lass das … lass das dort, Süße. Du musst …«

Sie ging auf die Knie, langte unter den Tisch, hob den Hörer auf und hielt ihn an ihr Ohr. Sie hatte immer noch das Messer in der Hand. Warum hielt sie das Messer in der Hand?

»Das da ist k-kaputt«, sagte Buddy. »Geh ins Schlafzimmer, Baby. Ruf einen … Rettungswagen.«

Sie drückte das Plastik an ihr Ohr. Aus der Erinnerung beschwor sie ein Phantomgeräusch herauf, den schrillen Sirenenton, den ein Telefon machte, wenn man den Hörer zu lange nicht aufgelegt hatte.

Wah-wah-wah-wah-wah …

»Im Schlafzimmer, Baby. G-geh ins …«

Wah-wah-wah-wah-wah …

»Callie!«

Das wäre zu hören, wenn sie den Telefonhörer im Schlafzimmer abnahm: ein unbarmherziges Schrillen und dann die darübergelegte mechanische Stimme der Telefonzentrale.

Wenn Sie einen Anruf machen wollen …

»Callie, Baby, ich hätte dir nichts getan. Ich würde dir niemals weh…tun …«

Legen Sie bitte auf und versuchen Sie es noch einmal.

»Baby, bitte, ich brauche …«

Wenn das ein Notruf ist …

»Ich brauche deine Hilfe, Baby. B-bitte geh nach hinten und …«

Legen Sie auf und wählen Sie die 911.

»Callie?«

Sie ließ das Messer zu Boden fallen und hockte sich auf die Fersen. Ihr Knie pochte nicht. Ihr Rücken tat nicht weh. Die Haut an ihrem Hals schmerzte nicht von seinem Würgegriff. Kein Stechen in der Rippengegend von seinen Tritten.

Wenn Sie einen Anruf machen wollen …

»Du verdammtes Miststück«, keuchte Buddy. »Du verdammtes herzloses Miststück.«

Legen Sie bitte auf und versuchen Sie es noch einmal.

FRÜHJAHR 2021
SONNTAG

1

Leigh Collier biss sich auf die Unterlippe, als eine Siebtklässlerin »Ya Got Trouble« für ein hingerissenes Publikum schmetterte. Eine Schar Prä-Teenies hüpfte über die Bühne, auf der Professor Hill die Stadtbewohner vor Kerlen von außerhalb warnte, die ihre Söhne zu Pferdewetten verführten.

Es geht nicht einfach um ein erbauliches Trabrennen, nein! Sondern um ein Rennen, bei dem sie ihr ganzes Geld auf ein Pferd setzen!

Sie bezweifelte, dass eine Generation, die mit internetfähigen Smartphones, Mörderhornissen, katastrophalen sozialen Unruhen, Corona und erzwungenem Homeschooling durch einen Haufen depressiver Gewohnheitstrinker aufgewachsen war, tatsächlich die Gefahr verstand, die von Spielhöllen ausging, aber eins musste Leigh dem Leiter der Theatergruppe lassen: Er hatte eine geschlechtsneutrale Produktion von Music Man hinbekommen, eines der am wenigsten anstößigen und langweiligsten Musicals, das je von einer Mittelschule inszeniert wurde.

Leighs Tochter war gerade sechzehn geworden. Sie hatte gedacht, die Zeiten, in denen sie zuschauen musste, wie Nasenbohrer, Muttersöhnchen und Rampensäue in Gesang ausbrachen, wären glücklicherweise vorbei, aber dann hatte Maddy ein Interesse daran entwickelt, Choreografie zu unterrichten, und so saßen sie hier in diesem Höllenloch aus altbackenen Reimen und Gesangsnummern fest.

Sie hielt nach Walter Ausschau. Er saß zwei Reihen weiter, näher am Gang. Sein Kopf war seltsam geneigt, sodass er irgendwie zur Bühne blickte, gleichzeitig aber auch auf den leeren Sitz vor ihm. Leigh musste nicht sehen, was er in den Händen hielt, um zu wissen, dass er Fantasy-Football auf seinem Handy spielte.

Sie holte ihr eigenes Smartphone aus der Tasche und schrieb: Maddy wird dir Fragen über die Aufführung stellen.

Walter hielt den Kopf weiter gesenkt, aber sie sah an den Auslassungszeichen, dass er antwortete. Ich kann zwei Dinge gleichzeitig tun.

Leigh tippte: Wenn das stimmte, wären wir noch zusammen.

Er drehte sich zu ihr um. Die Fältchen in seinen Augenwinkeln verrieten ihr, dass er unter der Mund-Nasen-Maske grinste.

Leigh spürte, wie ihr Herz ungewollt einen Hüpfer machte. Ihre Ehe war zu Ende gegangen, als Maddy zwölf gewesen war, aber während des Lockdowns im Vorjahr hatten sie schließlich alle in Walters Haus gewohnt, und dann war Leigh in seinem Bett gelandet, und ihr war klar geworden, warum es nicht funktioniert hatte mit ihnen beiden: Walter war ein fantastischer Vater, aber Leigh hatte endlich akzeptiert, dass sie die schreckliche Sorte Frau war, die es bei einem guten Mann einfach nicht aushielt.

Auf der Bühne hatten sie die Kulisse gewechselt. Ein Scheinwerfer schwenkte auf einen holländischen Austauschschüler, der die Rolle des Marian Paroo spielte. Er erzählte seiner Mutter gerade, dass ihm ein Mann mit einem Koffer nach Hause gefolgt sei – ein Szenario, das heutzutage mit dem Einsatz eines Sonderkommandos enden würde.

Leigh ließ den Blick über das Publikum schweifen. Es war der Abschlussabend nach fünf aufeinanderfolgenden Sonntagsvorstellungen. Nur so konnte gewährleistet werden, dass alle Eltern ihre Kinder zu sehen bekamen, ob sie es wollten oder nicht. Der Zuschauerraum war nur zu einem Viertel gefüllt, mit Klebeband gesperrte leere Sitze sorgten für Abstand. Masken waren vorgeschrieben. Handdesinfektionsmittel floss wie Bowle auf einem Schulball. Niemand wünschte sich eine weitere Nacht der Nasenabstriche.

Walter hatte seinen Fantasy-Football. Leigh hatte ihren Fantasieclub zur Bekämpfung der Apokalypse. Sie gab sich selbst zehn Kandidaten, um ihr Team aufzufüllen. Natürlich war Janey Pringle ihre erste Wahl. Die Frau hatte so viel Toilettenpapier, feuchte Tücher und Desinfektionsspray auf dem Schwarzmarkt verhökert, dass sie ihrem Sohn ein brandneues MacBook-Pro kaufen konnte. Gilian Nolan verstand sich auf Zeitpläne. Lisa Regan war beängstigend viel in der Natur unterwegs, deshalb verfügte sie über Fähigkeiten wie zum Beispiel Feuermachen. Denene Millner hatte einem Pitbull mit der Faust ins Gesicht geschlagen, als der über ihr Kind hergefallen war. Ronnie Copeland hatte immer Tampons in der Handtasche. Ginger Vishnoo hatte den Physiklehrer zum Weinen gebracht. Tommi Adams würde jedem, der bei drei nicht auf dem Baum war, einen blasen.

Leighs Blick wanderte nach rechts und machte die breiten, muskulösen Schultern von Darryl Washington ausfindig. Er hatte seinen Job aufgegeben, um sich um die Kinder zu kümmern, während seine Frau einer hochbezahlten Arbeit in einem Unternehmen nachging. Was reizend war, aber Leigh hatte nicht vor, die Apokalypse zu überleben, nur um eine fleischigere Version von Walter zu vögeln.

Die Männer waren das Problem bei diesem Spiel. Du konntest einen, vielleicht zwei Kerle in deinem Team haben, aber bei drei oder mehr würden vermutlich alle Frauen an Betten gekettet in einem unterirdischen Bunker enden.

Das Saallicht ging an. Die blau-goldenen Vorhänge schlossen sich mit einem Rauschen. Leigh wusste nicht, ob sie weggedöst oder in eine Art Trance gefallen war, aber sie war außerordentlich froh über die Pause.

Zunächst stand niemand auf. Die Leute rutschten nervös auf ihren Plätzen hin und her und waren unschlüssig, ob sie zur Toilette gehen sollten oder nicht. Es war nicht wie in den alten Zeiten, als alle förmlich die Türen gesprengt hatten, weil sie es nicht erwarten konnten, in der Eingangshalle miteinander zu quatschen, Cupcakes zu essen und Bowle aus winzigen Pappbechern zu trinken. Ein Schild am Eingang hatte sie angewiesen, eine der bereitliegenden Plastiktüten mitzunehmen, bevor sie den Zuschauerraum betraten. Diese enthielten jeweils ein Programmheft, eine kleine Flasche Wasser, eine Zellstoffmaske und einen Zettel, der einen ermahnte, sich die Hände zu waschen und die Richtlinien des Hygienekonzepts zu befolgen. Die abtrünnigen – oder wie die Schule sie nannte: nicht kooperationsbereiten – Eltern erhielten ein Zoom-Passwort, sodass sie die Vorstellung in der maskenlosen Behaglichkeit ihres eigenen Wohnzimmers am Bildschirm verfolgen konnten.

Leigh holte ihr Handy hervor und schickte rasch eine Nachricht an Maddy: Die Tänze waren toll! So süß, diese kleine Bibliothekarin. Ich bin so stolz auf dich!

Maddy antwortete umgehend: Mom ich arbeite

Keine Interpunktion. Keine Emojis oder Sticker. Ohne die sozialen Medien hätte Leigh keine Ahnung, dass ihre Tochter noch in der Lage war, zu lächeln.

So fühlten sich tausend Messerstiche an.

Sie hielt wieder nach Walter Ausschau. Sein Sitz war leer. Sie entdeckte ihn nahe der Ausgangstür, wo er mit einem anderen breitschultrigen Vater redete. Der Mann wandte Leigh den Rücken zu, aber sie sah an der Art, wie Walter mit den Armen fuchtelte, dass sie über Football sprachen.

Leighs Blick wanderte durch den Raum. Die meisten Eltern waren entweder zu jung und gesund, um in der Warteschlange für eine Impfung auf einen vorderen Platz zu springen, oder klug und reich genug, um zu wissen, dass sie wohl besser logen, wenn sie sich einen früheren Termin erkauft hatten. Sie standen in nicht zusammenpassenden Paaren herum und unterhielten sich murmelnd über die vorgeschriebene Distanz. Nachdem auf der letztjährigen »nichtkonfessionellen Feier, die zufällig um Weihnachten herum stattfand«, eine üble Schlägerei ausgebrochen war, sprach niemand mehr über Politik. Stattdessen fing Leigh weitere Gesprächsfetzen über Sport auf, die Gebäckverkäufe früherer Zeiten wurden betrauert, und es ging darum, wer in wessen Blase war, wessen Eltern Covidioten oder Maskenverweigerer waren und dass Männer, die ihre Maske unter der Nase trugen, dieselben Wichser waren, die sich aufführten, als wäre es eine Verletzung ihrer Menschenrechte, wenn sie ein Kondom benutzen sollten.

Sie wandte ihre Aufmerksamkeit dem geschlossenen Bühnenvorhang zu und lauschte angestrengt nach dem Scharren, Hämmern und hektischen Flüstern der Kinder beim Umbau der Kulisse. Leigh spürte wieder das vertraute Ziehen in der Herzgegend – nicht wegen Walter diesmal, sondern weil sie sich nach ihrer Tochter sehnte. Sie wollte nach Hause kommen und die Küche als riesigen Saustall vorfinden. Sie wollte beim Streit wegen Hausaufgaben und zu viel Zeit vor dem Bildschirm herumbrüllen. Nach einem Kleid in ihrem Schrank greifen, das sich allerdings jemand ausgeborgt hatte, oder nach einem Paar Schuhe suchen, das achtlos mit dem Fuß unters Bett befördert worden war. Sie wollte ihre sich windende, protestierende Tochter im Arm halten. Auf der Couch liegen und einen albernen Film zusammen anschauen. Maddy dabei ertappen, wie sie über etwas Witziges auf ihrem Handy lachte. Deren vernichtenden Blick aushalten, wenn sie fragte, was so komisch sei.

Aber in letzter Zeit taten sie nichts anderes als streiten, meist per WhatsApp am Morgen und um Punkt sechs jeden Abend am Telefon. Verfügte Leigh auch nur über ein Quäntchen Verstand, würde sie sich zurückhalten, aber Zurückhaltung fühlte sich an wie Loslassen. Sie hielt es einfach nicht aus, nicht zu wissen, ob Maddy einen festen Freund oder eine feste Freundin hatte, ob sie reihenweise gebrochene Herzen in ihrem Kielwasser zurückließ oder beschlossen hatte, der Liebe ganz abzuschwören, um sich der Kunst und der Achtsamkeit zu widmen. Leigh wusste nur eines mit Sicherheit: nämlich dass jede einzelne Scheußlichkeit, die sie ihrer eigenen Mutter an den Kopf geworfen oder angetan hatte, wie eine nicht enden wollende Flutwelle zu ihr zurückbrandete.

Nur dass Leighs Mutter es verdient hatte.

Sie rief sich in Erinnerung, dass die Distanz zwischen ihnen Maddys Sicherheit diente. Leigh blieb in der Eigentumswohnung im Zentrum, dem früheren Familienwohnsitz, und Maddy war zu Walter in die Vorstadt gezogen. Diese Entscheidung hatten sie gemeinsam getroffen.

Walter arbeitete als Rechtsberater bei der Gewerkschaft der Feuerwehrleute in Atlanta, und zu seinem Job gehörten Videokonferenzen und Telefonate, die er aus dem sicheren Homeoffice führte. Leigh war Strafverteidigerin. Einen Teil ihrer Arbeit erledigte sie online, aber sie hatte auch im Büro zu tun und traf dort Mandanten. Sie musste immer noch ins Gericht, bei der Auswahl von Geschworenen anwesend sein und Prozesse führen. Leigh hatte sich das Virus bereits während der ersten Welle im letzten Jahr eingefangen. Neun qualvolle Tage lang hatte sie sich gefühlt, als würde ihr ein Maultier gegen die Brust treten. Soweit man wusste, schien das Risiko für Kinder minimal zu sein – die Schule warb auf ihrer Website mit einer Infektionsrate von unter einem Prozent –, aber sie wollte um nichts in der Welt dafür verantwortlich sein, das Virus bei ihrer Tochter eingeschleppt zu haben.

»Leigh Collier, bist du das?«

Ruby Heyer zog ihre Maske rasch unter die Nase und riss sie dann sofort wieder hoch, als wäre es gefahrlos, wenn man es schnell machte.

»Hallo, Ruby.« Leigh war dankbar für die zwei Meter Abstand zwischen ihnen. Ruby war eine Mütter-Freundin, eine hilfreiche Gefährtin aus der Zeit, als ihre Kinder klein gewesen waren und man sich entweder zum Spielen verabredet oder am Kaffeetisch eine Kugel durch den Kopf gejagt hatte. »Wie geht es Keely?«

»Gut, aber ist lange her, was?« Rubys rot geränderte Brille schob sich auf ihren lächelnden Wangen nach oben. Sie war eine grauenhafte Pokerspielerin. »Witzig, zu sehen, dass Maddy nun hier auf die Schule geht. Sagtest du nicht, deine Tochter solle unbedingt eine öffentliche Schulbildung genießen?«

Leigh spürte, wie sich ihre leichte Verärgerung zu ausgewachsener Mordlust steigerte.

»Hallo, die Damen. Machen die Kids das nicht fantastisch?« Walter stand im Gang, die Hände in den Hosentaschen. »Schön, dich zu sehen, Ruby.«

Ruby bestieg ihren Besenstiel und machte sich zum Abflug bereit. »Es ist eine Freude wie immer, Walter

Leigh verstand sehr wohl, dass sie nicht Teil der Freude war, aber Walter warf ihr seinen Sei-nicht-zickig-Blick zu. Sie antwortete mit ihrem Leck-mich-am-Arsch-Blick.

Ihre gesamte Ehe in zwei Blicken.

»Ich bin froh, dass wir nie diesen Dreier mit ihr gemacht haben«, sagte Walter.

Leigh lachte. Wenn er doch nur jemals einen Dreier vorgeschlagen hätte. »Das hier wäre eine großartige Schule, wenn es ein Waisenhaus wäre.«

»Musst du unbedingt jeden Bären mit einem spitzen Stock reizen?«

Sie schüttelte den Kopf und sah zu der mit Blattgold verzierten Decke hoch, zu der professionellen Lautsprecheranlage und Beleuchtung. »Es sieht hier aus wie in einem Broadway-Theater.«

»Stimmt.«

»In Maddys alter Schule …«

»Gab es einen Pappkarton als Bühne, eine Maglite-Taschenlampe als Scheinwerfer und ein Mikrofon als Soundanlage, und Maddy hielt es für das Größte.«

Leigh fuhr mit der Hand über den blauen Samt auf der Sitzlehne vor ihr. Das Logo der Hollis Academy war mit Goldfaden aufgestickt, wahrscheinlich dank eines reichen Elternteils mit zu viel Geld und zu wenig Geschmack. Sowohl sie als auch Walter waren mit Herzblut Liberale und Verfechter öffentlicher Schulen gewesen, bis das Virus zugeschlagen hatte. Jetzt kratzten sie jeden Cent zusammen, um Maddy auf diese unerträglich hochnäsige Privatschule zu schicken, wo jedes zweite Auto ein BMW war und jedes zweite Kind ein geborener Schwanzlutscher.

Die Klassen waren kleiner. Die Schüler rotierten in Zehnerblöcken. Zusätzliches Personal desinfizierte die Unterrichtsräume. Medizinische Masken waren obligatorisch. Alle befolgten die Regeln. Es gab kaum Lockdowns in den Vorstädten. Die meisten Eltern genossen den Luxus, von zu Hause zu arbeiten.

»Sweetheart.« Walters geduldiger Ton war nervtötend. »Alle Eltern würden ihre Kinder hierherschicken, wenn sie es könnten.«

»Alle Eltern sollten es nicht müssen.«

Ihr Diensthandy summte in der Handtasche. Leigh zuckte zusammen. Vor einem Jahr noch war sie eine überarbeitete, unterbezahlte, selbstständige Strafverteidigerin gewesen, die Sexarbeiterinnen, Drogenabhängigen und kleinen Dieben geholfen hatte, sich im Justizsystem zurechtzufinden. Heute war sie ein Rädchen in einer gigantischen Unternehmensmaschinerie und vertrat Banker und Geschäftsinhaber, die die gleichen Straftaten begangen hatten wie ihre früheren Mandanten, aber das Geld hatten, um ungestraft davonzukommen.

»Sie können nicht erwarten, dass du am Sonntagabend arbeitest«, sagte Walter.

Leigh lachte nur über seine Naivität. Sie konkurrierte mit Dutzenden von Leuten in den Zwanzigern, die durch ihre Studiendarlehen so hoch verschuldet waren, dass sie im Büro schliefen. Sie wühlte in ihrer Handtasche und sagte: »Ich habe Liz gebeten, mich nur zu stören, wenn es um Leben und Tod geht.«

»Vielleicht hat irgendein reicher Typ seine Frau ermordet.«

Sie warf ihm ihren Leck-mich-am-Arsch-Blick zu, bevor sie ihr Smartphone entsperrte. »Octavia Bacca hat mir geschrieben.«

»Alles in Ordnung?«

»Ja, aber …« Seit Wochen schon hatte sie keinen Kontakt mit Octavia gehabt. Sie hatten vage ins Auge gefasst, sich zu einem Spaziergang im Botanischen Garten zu treffen, aber Leigh hatte nichts mehr gehört und daher angenommen, dass Octavia zu viel zu tun hatte.

Leigh las ihre eigene Nachricht, die sie Ende des letzten Monats geschickt hatte: Steht der Plan mit unserem Spaziergang noch?

Octavia hatte gerade eben zurückgeschrieben: So beschissen. Hass mich nicht.

Unter der Nachricht tauchte ein Link zu einem Zeitungsartikel auf. Das Foto zeigte einen adretten Kerl Anfang dreißig, der aussah wie alle adretten Kerle Anfang dreißig.

»Der Vergewaltigung Beschuldigter nimmt Recht auf schnelles Verfahren in Anspruch.«

»Aber?«, fragte Walter.

»Vermutlich steckt Octavia bis zum Hals in Arbeit mit diesem Fall.« Leigh scrollte durch den Artikel und fasste die Details zusammen: »Täter und Opfer kannten sich nicht, kein Date-Rape, was nicht der Normalfall ist. Die Vorwürfe gegen den Mandanten sind schwerwiegend. Er behauptet, er sei unschuldig – haha. Er verlangt ein Verfahren vor einer Jury.«

»Der Richter wird sich freuen.«

»Und die Jury erst.« Niemand wollte riskieren, sich mit dem Virus zu infizieren, nur um einen Vergewaltiger sagen zu hören, dass er es nicht gewesen sei. Und selbst im wahrscheinlichen Fall, dass er doch schuldig war, ließ sich eine Anklage wegen Vergewaltigung relativ einfach durch eine Absprache abwenden. Die meisten Staatsanwälte mochten sich nur recht ungern auf die Herausforderung einlassen, denn häufig waren Personen in die Fälle verwickelt, die einander kannten, und diese schon vor der Tat existierenden Beziehungen trübten die Frage des Einverständnisses noch weiter. Als Strafverteidigerin versuchte man, die Sache dann etwa auf Freiheitsberaubung oder einen anderen weniger schwerwiegenden Straftatbestand herunterzuhandeln, damit der Mandant nicht in der Sexualstraftäterdatei auftauchte und nicht ins Gefängnis wanderte, und dann ging man nach Hause und duschte so lange und so heiß, wie man es aushielt, um sich den üblen Geruch abzuwaschen.

»Ist er auf Kaution rausgekommen?«, fragte Walter.

»Corona-Regeln …« Angesichts der Pandemie widerstrebte es den Richtern, Angeklagte bis zum Verfahren festzusetzen. Stattdessen ordnete man elektronische Überwachung an und warnte sie vor einer Verletzung der Regeln. Gefängnisse waren noch schlimmer als Pflegeheime. Leigh wusste, wovon sie sprach. Ihre eigene Infektion hatte sie sich im City Detention Center von Atlanta eingefangen.

Walter fragte: »Die Staatsanwaltschaft hat keinen Deal angeboten?«

»Ich wäre schockiert, wenn sie es nicht getan hätte, aber das spielt keine Rolle, wenn der Mandant ihn nicht annimmt. Kein Wunder, dass Octavia offline war.« Sie blickte von ihrem Telefon auf. »Sag, glaubst du, ich könnte Maddy bestechen, dass wir ein wenig auf deiner Terrasse zusammensitzen, wenn es bis dahin nicht regnet?«

»Ich habe Regenschirme, Schätzchen, aber du weißt, dass sie zu einer Abschlussparty mit der Clique will.«

Leigh stiegen Tränen in die Augen. Sie hasste es, ihre Tochter nur aus der Ferne zu beobachten. Ein Jahr war vergangen, und sie stand noch immer mindestens einmal im Monat in Maddys leerem Zimmer und heulte. »War es für dich auch so schwer, als sie bei mir gewohnt hat?«

»Es ist sehr viel einfacher, eine Zwölfjährige zu bespaßen, als um die Aufmerksamkeit einer Sechzehnjährigen zu buhlen.« Um seine Augen bildeten sich wieder die kleinen Fältchen. »Sie liebt dich sehr, Sweetheart. Du bist die beste Mutter, die sie nur haben könnte.«

Die Tränen strömten jetzt. »Du bist ein guter Kerl, Walter.«

»Ein zu guter.«

Das war nicht scherzhaft gemeint.

Die Saallichter flackerten, die Pause war vorüber. Leigh war gerade im Begriff, sich zu setzen, als ihr Handy wieder summte. »Arbeit.«

»Du Glückspilz«, flüsterte Walter.

Sie schlich auf Zehenspitzen zum Ausgang. Einige Eltern funkelten sie über ihren Masken ärgerlich an. Ob es wegen der Störung von eben oder wegen Leighs Rolle bei der vorweihnachtlichen Prügelei im Vorjahr war, konnte sie nicht sagen. Sie ignorierte die Blicke und tat so, als müsste sie sich mit ihrem Handy beschäftigen. Als Anruferkennung leuchtete BRADLEY auf, was merkwürdig war, denn wenn ihre Assistentin anrief, las sie normalerweise BRADLEY, CANFIELD & MARKS.

Sie stand in dem lachhaft plüschigen Foyer und achtete nicht auf die vergoldeten Schädel, für die man wahrscheinlich ein echtes Grab geplündert hatte. Walter behauptete, sie habe einen Minderwertigkeitskomplex, was die demonstrative Zurschaustellung von Reichtum anging, aber Walter hatte auch nicht im ersten Jahr seines Jurastudiums in seinem Auto gelebt, weil er sich keine Miete für eine Studentenbude hatte leisten können.

Sie nahm den Anruf an. »Liz?«

»Nein, Ms. Collier. Hier ist Cole Bradley. Ich hoffe, ich störe Sie nicht.«

Leigh verschluckte sich fast. Zwischen Leigh Collier und dem Mann, der die Kanzlei gegründet hatte, lagen zwanzig Stockwerke und wahrscheinlich doppelt so viele Millionen Dollar. Sie hatte ihn nur einmal zu Gesicht bekommen. Leigh hatte vor den Aufzügen gewartet, als Cole Bradley mithilfe eines Schlüssels den privaten Lift gerufen hatte, der ihn direkt in die oberste Etage beförderte. Er sah wie eine höher gewachsene, schlankere Version von Anthony Hopkins aus, wenn Anthony Hopkins kurz nach seinem Jura-Abschluss an der University of Georgia die Dienste eines Schönheitschirurgen in Anspruch genommen hätte.

»Ms. Collier?«

»Ja … ich …« Sie versuchte, sich zu sammeln. »Es tut mir leid. Ich bin gerade bei der Schulaufführung meiner Tochter.«

Er hielt sich nicht mit Small Talk auf. »Es gibt da eine delikate Angelegenheit, um die Sie sich sofort kümmern müssen.«

Leigh blieb der Mund offen stehen. Sie gehörte nicht gerade zu den Leistungsträgern bei Bradley, Canfield & Marks. Sie tat gerade genug, um ein Dach über dem Kopf zu behalten und die Privatschule für ihre Tochter bezahlen zu können. Cole Bradley beschäftigte mindestens hundert Nachwuchsanwälte, die ihr ein Messer ins Herz gestoßen hätten, damit sie selbst diesen Anruf erhielten.

»Ms. Collier?«

»Entschuldigen Sie«, sagte Leigh. »Ich bin nur … Mr. Bradley, ich tue alles, was Sie wünschen, aber ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher, ob ich die Richtige für so etwas bin.«

»Offen gestanden, Ms. Collier, hatte ich bis heute Abend keine Ahnung, dass Sie überhaupt existieren, aber der Mandant hat ausdrücklich nach Ihnen verlangt. Er wartet jetzt in diesem Augenblick in meinem Büro.«

Jetzt war sie wirklich verwirrt. Leighs bekanntester Mandant war der Inhaber eines Großhandels für Heimtierbedarf gewesen, der beschuldigt wurde, in das Haus seiner Exfrau eingebrochen zu sein und in ihre Wäscheschublade uriniert zu haben. Eine von Atlantas alternativen Zeitungen hatte sich über den Fall lustig gemacht, aber sie bezweifelte, dass Cole Bradley die Atlanta INtown las.

»Sein Name ist Andrew Tenant«, sagte Bradley. »Ich nehme an, Sie haben von ihm gehört.«

»Ja, Sir.« Leigh kannte den Namen nur, weil sie ihn gerade in dem Artikel gelesen hatte, der an Octavia Baccas Nachricht angehängt war.

So beschissen. Hass mich nicht.

Octavia wohnte mit ihren betagten Eltern und einem Ehemann mit schwerem Asthma zusammen. Leigh konnte sich nur zwei Gründe vorstellen, warum ihre Freundin einen Fall abgeben würde. Entweder sie sprang wegen des Infektionsrisikos von einem Geschworenenprozess ab, oder ihr Mandant, der mutmaßliche Vergewaltiger, flößte ihr zu große Angst ein. Nicht dass Octavias Motive in diesem Moment eine Rolle gespielt hätten, denn Leigh hatte keine Wahl.

»Ich bin in einer halben Stunde bei Ihnen«, sagte sie zu Bradley.

Die meisten Passagiere, die auf dem Flughafen von Atlanta landeten, hielten Buckhead für die Innenstadt, wenn sie aus dem Fenster schauten, aber die Ballung von Wolkenkratzern am oberen Ende der Peachtree Street war nicht für Kongressbesucher, Regierungsbehörden oder seriöse Finanzinstitutionen gebaut worden. Die Stockwerke beherbergten teure Prozessanwälte, Börsenhändler und private Vermögensverwalter, deren Klientel ringsum in einem der wohlhabendsten Postleitzahlenbezirke im Südosten wohnte.

Die Zentrale von Bradley, Canfield & Marks ragte über dem Geschäftsbezirk von Buckhead auf, ein Ungetüm mit Glasfront, das von einem Dach gekrönt wurde, das einer brechenden Welle glich. Leigh fand sich im Bauch des Untiers wieder und schleppte sich die Treppe von der Tiefgarage hinauf. Das Tor zum Besucherparkplatz war geschlossen gewesen, den ersten freien Stellplatz hatte sie drei Stockwerke unter der Erde gefunden. Das Betontreppenhaus wirkte wie der ideale Tatort für einen Mord, aber die Aufzüge waren abgesperrt, und sie hatte keinen Wachmann entdecken können. Sie lenkte sich ab, indem sie sich noch einmal durch den Kopf gehen ließ, was Octavia Bacca ihr während der Fahrt hierher am Telefon übermittelt hatte.

Oder was sie ihr nicht hatte sagen können.

Der Mandant Andrew Tenant hatte Octavia vor zwei Tagen gefeuert. Nein, er hatte ihr keine Erklärung dafür gegeben. Ja, Octavia hatte bis zu diesem Zeitpunkt den Eindruck gehabt, dass Andrew mit ihrer Beratung zufrieden gewesen war. Nein, sie konnte sich keinen Grund vorstellen, wieso Tenant die Anwältin wechseln wollte, aber vor zwei Stunden war Octavia angewiesen worden, alle Fallakten an Bradley, Canfield & Marks, zu Händen von Leigh Collier zu übergeben. Die Worte so beschissen waren als Entschuldigung gemeint, dass sie ihr acht Tage vor Verhandlungsbeginn einen Geschworenenprozess vor die Füße warf. Leigh hatte keine Ahnung, warum ein Mandant eine der besten Strafverteidigerinnen der Stadt abservierte, wenn sein Leben auf dem Spiel stand, aber sie musste davon ausgehen, dass der Mann ein Idiot war.

Das größere Rätsel war allerdings, woher Andrew Tenant überhaupt Leighs Namen kannte. Sie hatte Walter gefragt, der genauso ahnungslos war, und damit waren Leighs Möglichkeiten, Informationen aus ihrer Vergangenheit auszugraben, auch schon erschöpft, denn Walter war aktuell der einzige Mensch in ihrem Leben, der sie schon gekannt hatte, bevor sie ihren Jura-Abschluss gemacht hatte.

Leigh blieb am oberen Ende der Treppe stehen, der Schweiß lief ihr über den Rücken. Sie überprüfte rasch ihr Erscheinungsbild. Für den Theaterabend hatte sie sich nicht gerade in Schale geworfen. Das Haar trug sie in einem lockeren Knoten, dazu hatte sie eine alte Jeans und ein ausgewaschenes T-Shirt mit dem Aufdruck Aerosmith Bad Boys from Boston ausgewählt, und zwar nur, um sich von den Miststücken mit den Hermès-Handtaschen im Publikum zu distanzieren. Sie würde auf dem Weg nach oben rasch zu ihrem Büro flitzen müssen. Wie alle anderen Anwälte hatte sie dort immer ein gerichtstaugliches Outfit in Reserve. Ihr Schminktäschchen war in der Schreibtischschublade. Der Gedanke, dass sie sich an einem Sonntagabend, den sie eigentlich mit der Familie verbringen wollte, für einen mutmaßlichen Vergewaltiger zurechtmachen musste, steigerte ihre Gereiztheit beträchtlich. Sie hasste dieses Gebäude. Sie hasste diesen Job. Sie hasste ihr ganzes Leben.

Aber sie liebte ihre Tochter.

Leigh suchte in ihrer Handtasche nach einer Mund-Nasen-Maske. Walter nannte die Tasche ihren Futtersack, denn sie benutzte sie als Aktentasche und seit dem letzten Jahr zusätzlich als Minimarkt für Pandemiebedarf. Handdesinfektionsmittel. Clorox-Tücher. Masken. Nitrilhandschuhe für alle Fälle. Die Kanzlei testete alle Mitarbeiter zweimal die Woche, und Leigh hatte das Virus bereits gehabt, aber angesichts der kursierenden Mutationen konnte man nicht vorsichtig genug sein.

Sie sah auf die Uhr, als sie die Gummibänder der Maske über die Ohren legte. Ein paar Augenblicke für ihre Tochter mussten noch drin sein. Leigh hatte zwei verschiedene Handys und suchte jetzt nach ihrem privaten Telefon mit der auffälligen blau-goldenen Hülle der Hollis Academy. Das Hintergrundfoto zeigte Tim Tam, den Hund der Familie, denn der schokoladenbraune Labrador hatte Leigh in letzter Zeit sehr viel mehr Zuneigung entgegengebracht als ihre Tochter.

Leigh seufzte beim Blick auf den Schirm. Maddy hatte auf Leighs ausführliche Entschuldigung wegen ihres frühzeitigen Aufbruchs nicht geantwortet. Ein rascher Streifzug auf Instagram zeigte ihre Tochter beim Tanzen mit Freunden auf einer kleinen Party, die in Keely Heyers Keller stattzufinden schien. Tim Tam schlief auf einem Sitzsack in der Ecke. So viel zum Thema bedingungslose Hingabe.

Leighs Finger glitten über den Schirm und tippten eine weitere Nachricht an Maddy: Tut mir leid, dass ich gehen musste, Baby. Ich liebe dich so sehr.

Sie wartete idiotischerweise auf eine Antwort, ehe sie die Tür öffnete.

Die übertrieben klimatisierte Eingangshalle empfing sie mit kaltem Stahl und Marmor. Leigh nickte dem Wachmann Lorenzo in seinem Plexiglaskasten zu, der sich gerade über eine Tasse Suppe beugte, seine Schultern bis zu den Ohren hochgezogen, die Schale nah an seinem Mund.

»Ms. Collier.«

Leigh geriet innerlich in Panik, als sie Cole Bradley vor den Aufzügen stehen sah. Ihre Hand flog an den Hinterkopf, wo sich Haarsträhnen aus dem Dutt gelöst hatten und wirkten wie schlaffe Tentakel an einem geplätteten Oktopus. Das Bad-Boys-Logo auf ihrem schäbigen T-Shirt war eine Beleidigung für seinen maßgeschneiderten italienischen Anzug.

»Sie haben mich auf frischer Tat ertappt.« Er steckte ein Päckchen Zigaretten in seine Brusttasche. »Ich war zum Rauchen draußen.«

Leighs Augenbrauen hoben sich erstaunt. Das Gebäude gehörte Bradley praktisch. Niemand hätte ihn von irgendetwas abgehalten.

Er lächelte. Oder zumindest glaubte sie, dass er lächelte. Er war über achtzig, aber seine Haut war so straff, dass sich nur die Spitzen seiner Ohren bewegten.

Er sagte: »Angesichts des politischen Klimas ist es gut, wenn man zeigt, dass man sich an die Regeln hält.«

Die Glocke für den Privataufzug der Partner ertönte. Das zarte Klingeln wirkte, als würde man zum Nachmittagstee gerufen.

Bradley zog eine Maske aus seiner Brusttasche. Sie nahm an, auch das geschah um des guten Eindrucks willen. Wahrscheinlich hatte er schon aufgrund seines Alters zur erstpriorisierten Impfgruppe gehört. Andererseits war die Impfung kein Freifahrtschein, bevor nicht fast alle geimpft waren.

»Ms. Collier?« Bradley wartete an der offenen Aufzugtür.

Leigh zögerte, denn sie bezweifelte, dass Angestellte in der privaten Kabine erwünscht waren. »Ich wollte noch rasch in meinem Büro vorbeischauen, um etwas Professionelleres anzuziehen.«

»Nicht nötig. Die Umstände der späten Stunde sind bekannt.« Er bedeutete ihr, voranzugehen.

Sogar mit seiner Erlaubnis kam sich Leigh wie ein Eindringling vor, als sie den schicken Aufzug betrat. Sie drückte die Waden an die schmale rote Bank an der Rückwand. Sie hatte nur einmal einen kurzen Blick in den Privatlift geworfen, aber jetzt, aus der Nähe, erkannte sie, dass die schwarzen Wände mit Straußenleder verkleidet waren. Der Fußboden bestand aus einer großen schwarzen Marmorplatte. Die Decke und alle Stockwerksknöpfe waren rot und schwarz verziert – in den Farben der University of Georgia –, denn wenn man seinen Abschluss an der University of Georgia gemacht hatte, dann war so ziemlich das Größte, was einem im Leben widerfahren war, dass man seinen Abschluss an der University of Georgia gemacht hatte.

Die verspiegelten Türen schlossen sich. Bradleys Haltung war stocksteif. Seine Mund-Nasen-Maske war schwarz und mit schmaler roter Kordel eingefasst. Eine Anstecknadel an seinem Revers zeigte UGA, das Maskottchen der Georgia Bulldogs. Er berührte den Aufwärts-Knopf im Tastenfeld, der sie auf die Penthouse-Ebene beförderte.

Leigh blickte stur geradeaus, sie war immer noch unsicher, was die Etikette betraf. Im Aufzug für das Fußvolk hingen Schilder, die dazu ermahnten, Abstand zu halten und Unterhaltungen zu vermeiden. Hier gab es keine solchen Schilder, es gab nicht einmal einen Vermerk über die letzte technische Inspektion. Der Geruch von Bradleys Aftershave, vermischt mit Zigarettenrauch, kitzelte sie in der Nase. Leigh hasste Männer, die rauchten. Sie öffnete den Mund, um hinter ihrer Maske zu atmen.

Bradley räusperte sich. »Ich frage mich, Ms. Collier, wie viele Ihrer Mitschüler an der Lake Point High School wohl einen Abschluss cum laude an der Northwestern University gemacht haben.«

Er hatte seine Hausaufgaben erledigt, während sie die Schallmauer durchbrochen hatte, um so schnell wie möglich hierherzugelangen. Er wusste, sie war auf der üblen Seite der Stadt aufgewachsen – und schließlich an einer der renommiertesten Jura-Fakultäten gelandet.

Sie sagte: »Die University of Georgia hat mich auf die Warteliste gesetzt.«

Sie stellte sich vor, dass er eine Augenbraue hochgezogen hätte, wenn es das Botox zuließe. Cole Bradley war nicht daran gewöhnt, dass seine Untergebenen eine Persönlichkeit besaßen.

Er sagte: »Sie haben ein Praktikum bei einer gemeinnützigen Rechtshilfekanzlei in Cabrini Green in Chicago gemacht. Nach der Northwestern sind Sie nach Atlanta zurückgekehrt und haben sich der gemeinnützigen Legal Aid Society angeschlossen. Fünf Jahre später haben Sie Ihre eigene Kanzlei eröffnet und sich auf Strafverteidigung spezialisiert. Es lief recht gut, bis die Gerichtssäle wegen der Pandemie dichtmachten. Ende dieses Monats sind Sie genau ein Jahr bei Bradley, Canfield & Marks.«

Sie wartete auf eine Frage.

»Ihre Entscheidungen kommen mir ein wenig revoluzzerhaft vor.« Er hielt inne und gab ihr ausreichend Zeit, etwas einzuwerfen. »Ich nehme an, Sie genossen den Luxus eines Stipendiums, sodass Ihre Karriereoptionen nicht von finanziellen Zwängen beeinflusst wurden.«

Sie wartete weiter.

»Und doch sind Sie nun hier in meiner Kanzlei.« Eine weitere Pause. Eine weitere ignorierte Gelegenheit. »Wäre es unhöflich, anzumerken, dass Sie den vierzig näher sind als die meisten, die bei uns anfangen?«

Sie erwiderte seinen Blick. »Es wäre zutreffend.«

Er betrachtete sie unverhohlen. »Woher kennen Sie Andrew Tenant?«

»Ich kenne ihn nicht, und ich habe keine Ahnung, woher er mich kennt.«

Bradley holte tief Luft, ehe er sagte: »Andrew ist der Spross von Gregory Tenant, einem meiner allerersten Mandanten. Wir haben uns vor so langer Zeit kennengelernt, dass uns wahrscheinlich Jesus Christus persönlich miteinander bekannt gemacht hat. Er war ebenfalls auf der Warteliste der UGA

»Jesus oder Gregory?«

Seine Ohren zuckten leicht aufwärts, was sie als seine Art zu lächeln interpretierte.

»Die Tenant Automotive Group fing in den Siebzigern mit einer einzigen Ford-Vertretung an«, sagte Bradley. »Sie werden zu jung sein, um sich an die Werbespots zu erinnern, aber sie hatten einen sehr einprägsamen Jingle. Gregory Tenant senior war in derselben Studentenverbindung wie ich. Als er starb, erbte Greg junior das Geschäft und baute es zu einem Netz mit achtunddreißig Autohäusern im gesamten Südosten aus. Greg starb letztes Jahr an einer besonders aggressiven Form von Krebs. Seine Schwester übernahm das Tagesgeschäft. Andrew ist ihr Sohn.«

Leigh staunte immer noch darüber, dass jemand das Wort Spross benutzte.

Der Aufzug bimmelte, und die Tür ging auf. Sie hatten das oberste Stockwerk erreicht. Sie spürte kalte Luft, die gegen den Hitzeschirm draußen ankämpfte. Der Raum war so groß wie ein Flugzeughangar. Die Deckenbeleuchtung war ausgeschaltet, das einzige Licht kam von den Lampen auf den Schreibtischen aus Stahl und Glas, die vor geschlossenen Bürotüren Wache standen.

Bradley ging zur Mitte des Raums und blieb stehen. »Es raubt mir jedes Mal wieder den Atem.«

Leigh wusste, er meinte den Blick. Sie befanden sich in der Senke der riesigen Welle an der Spitze des Gebäudes. Massive Glasteile ragten wenigstens zwölf Meter hoch auf. Das Stockwerk war hoch genug über den Lichtern der Stadt, damit sie stecknadelgroße Sterne am Nachthimmel sahen. Tief unter ihnen malten die Autos, die auf der Peachtree Street fuhren, rote und weiße Spuren in Richtung des funkelnden Häusermeers der Innenstadt.

»Es sieht aus wie eine Schneekugel«, sagte sie.

Bradley wandte ihr das Gesicht zu. Er hatte die Maske abgenommen. »Wie ist Ihre Einstellung zu Vergewaltigung?«

»Bin definitiv dagegen.«

Sein Gesichtsausdruck verriet Leigh, dass sie genug Persönlichkeit an den Tag gelegt hatte.

»Ich habe im Lauf der Jahre Dutzende Fälle bearbeitet«, sagte sie. »Die Natur der Anklage ist irrelevant. Die Mehrheit meiner Mandanten ist faktisch schuldig. Die Staatsanwaltschaft muss diese Fakten jenseits eines vernünftigen Zweifels beweisen. Sie bezahlen mir einen Haufen Geld, um diesen Zweifel zu finden.«

Er hieß ihre Antwort mit einem Kopfnicken gut. »Am Donnerstag werden die Geschworenen ausgewählt, und der Prozess beginnt morgen in einer Woche. Kein Richter wird Ihnen aufgrund eines Wechsels des Rechtsbeistands Aufschub gewähren. Ich kann Ihnen zwei Vollzeitmitarbeiter anbieten. Wird der knappe Zeitrahmen ein Problem sein?«

»Er ist eine Herausforderung«, sagte Leigh. »Aber kein Problem.«

»Man hat Andrew eine reduzierte Anklage gegen ein Jahr Bewährung mit elektronischer Überwachung angeboten.«

Leigh zog ihre Maske vom Gesicht. »Kein Eintrag ins Sexualstraftäterregister?«

»Nein. Und die Anklage wird getilgt, wenn sich Andrew drei Jahre lang nichts zuschulden kommen lässt.«

Auch wenn sie schon lange im Geschäft war, staunte Leigh jedes Mal wieder, wie fantastisch es war, ein weißer, reicher Mann zu sein. »Das ist ein schnuckeliger Deal. Was verraten Sie mir nicht?«

Die Haut um Bradleys Wangen kräuselte sich, als er das Gesicht verzog. »Die vorherige Kanzlei hat einen Privatdetektiv ein paar Nachforschungen anstellen lassen. Offenbar könnte ein Schuldeingeständnis bei dieser bestimmten reduzierten Anklage zu weiteren Risiken führen.«

Davon hatte Octavia nichts gesagt. Vielleicht hatte man sie nicht auf den neuesten Stand gebracht, bevor sie gefeuert wurde, oder sie hatte gesehen, in welchen Scheißhaufen sie treten würde, und war froh gewesen, raus zu sein. Wenn der Privatdetektiv recht hatte, versuchte die Staatsanwaltschaft, Andrew Tenant zu einem Schuldeingeständnis in einem Vergewaltigungsfall zu verleiten, damit sie ein Muster beweisen konnte, das ihn mit anderen Übergriffen in Verbindung brachte.

»Wie viele Risiken?«, fragte Leigh.

»Zwei, vielleicht drei.«

Frauen, dachte sie. Zwei oder drei weitere Frauen, die vergewaltigt worden waren.

»Keine DNA bei den möglichen Fällen«, sagte Bradley. »Meines Wissens gibt es Indizienbeweise, aber nichts Unüberwindbares.«

»Alibi?«

»Seine Verlobte, aber …« Bradley tat es mit einem Schulterzucken ab, genau wie es die Geschworenen tun würden. »Fällt Ihnen etwas dazu ein?«

Leigh fielen zwei Dinge ein. Entweder Tenant war ein Serienvergewaltiger, oder der Staatsanwalt versuchte, ihn dazu zu bringen, dass er sich dieses Etikett anklebte, indem er sich selbst belastete. Leigh hatte diese Art Trickserei seitens der Strafverfolger erlebt, als sie noch allein gearbeitet hatte, aber Andrew Tenant war kein Aushilfskellner, der sich gegen Strafminderung schuldig bekannte, weil er kein Geld hatte, sich dagegen zu wehren.

Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass Bradley noch etwas anderes zurückhielt. Sie wählte ihre Worte sorgfältig. »Andrew ist der Spross einer wohlhabenden Familie. Der Staatsanwalt weiß, dass man nur auf den König schießt, wenn man sicher ist, ihn zu treffen.«

Bradley antwortete nicht, aber seine Haltung wurde wachsamer. Leigh ging Walters Frage von vorhin durch den Kopf. Hatte sie den falschen Bären mit dem falschen Stock gereizt? Cole Bradley hatte sie nach ihrer Einstellung zu Vergewaltigungsfällen gefragt – er hatte sie nicht nach ihrer Einstellung zu unschuldigen Mandanten gefragt. Wie er selbst zugab, kannte er die Familie Tenant, seit er in kurzen Hosen herumgelaufen war. Andrew Tenant mochte vielleicht sogar sein Patenkind sein.

Bradley wollte sie an seinen Gedanken eindeutig nicht teilhaben lassen. Er streckte den Arm aus und deutete zur letzten Tür auf der rechten Seite. »Andrew befindet sich mit seiner Mutter sowie seiner Verlobten in meinem Besprechungszimmer.«

Leigh zog ihre Maske nach oben, als sie an ihrem Boss vorbeiging. Sie stimmte sich neu ein, sie war nicht mehr Walters Exfrau und Maddys Mutter und nicht das tapfere Mädchen, das in einem Privatlift mit einem menschlichen Skelett gescherzt hatte. Andrew Tenant hatte speziell nach Leigh verlangt, wahrscheinlich weil sie immer noch von ihrem Ruf aus der Zeit vor Bradley, Canfield & Marks profitierte. Als diese Person musste Leigh sich jetzt präsentieren, sonst würde sie nicht nur den Mandanten verlieren, sondern vielleicht auch ihren Job.

Bradley streckte den Arm aus, um vor ihr die Tür zu öffnen.

Die Besprechungszimmer in den unteren Stockwerken waren kleiner als die Toilette eines Holiday Inn-Hotels und funktionierten nach dem Prinzip »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst«. Leigh hatte eine etwas größere Version davon erwartet, aber Cole Bradleys privater Tagungsraum glich eher einer Suite im Waldorf, inklusive Kamin und voll ausgestatteter Bar. Auf einem Podest stand eine schwere Glasvase mit Blumen. Fotos verschiedener UGA-Bulldoggen aus mehreren Jahrgängen säumten die Rückwand. Ein Gemälde von Vince Dooley hing über dem Kamin. Auf der schwarzen Marmoranrichte lagen Stapel von Schreibblöcken und ein Sortiment von Stiften. Trophäen von diversen juristischen Auszeichnungen stritten sich mit Reihen von Wasserflaschen um den besten Platz. Der Konferenztisch, fast vier Meter lang und zwei Meter breit, war aus Redwood-Holz. Die Stühle waren mit schwarzem Leder bezogen.

Drei Personen saßen am anderen Ende des Tischs, sie trugen alle keine Maske, daher erkannte sie sofort Andrew Tenant von seinem Foto in dem Zeitungartikel – allerdings sah er in natura noch besser aus. Die Frau, die sich zu seiner Rechten an ihn klammerte, war Ende zwanzig, trug einen tätowierten Arm und einen Leck-mich-am-Arsch-Gesichtsausdruck zur Schau – der Traum einer jeden Mutter für ihren Sohn.

Besagte Mutter saß steif auf ihrem Stuhl, die Arme vor der Brust verschränkt. Ihr kurzes blondes Haar war mit weißen Strähnchen durchsetzt, ein schmales Goldkettchen lag um ihren gebräunten Hals. Sie trug ein blassgelbes, edel-schlichtes Shirt, dessen hochgestellter Kragen den Eindruck vermittelte, als wäre sie soeben vom Golfplatz gekommen, um am Pool eine Bloody Mary zu schlürfen.

In anderen Worten: Es war die Sorte Frau, die Leigh aus den zahllosen Wiederholungen von Gossip Girl kannte, die sie sich mit ihrer Tochter früher stundenlang im Fernsehen angesehen hatte.

»Tut mir leid, dass wir Sie warten ließen.« Bradley bewegte einen dicken Stapel Akten auf die andere Seite des Tischs, um anzuzeigen, wo Leigh sitzen sollte. »Das ist Sidney Winslow, Andrews Verlobte.«

»Sid«, korrigierte das Mädchen.

Leigh hatte gewusst, dass sie Sid, Punkie oder Katniss genannt werden wollte, sobald sie die zahlreichen Piercings, die klumpige Mascara und den tintenschwarzen Fransenhaarschnitt gesehen hatte.

Dennoch war sie freundlich zur besseren Hälfte ihres Mandanten. »Es tut mir leid, dass wir uns unter diesen Umständen kennenlernen.«

»Diese ganze Tortur ist ein einziger Albtraum.« Sidneys Stimme war wie erwartet heiser. Sie strich ihr Haar zurück und ließ dunkelblauen Nagellack und ein Lederarmband aufblitzen, das mit spitzen Metallnieten besetzt war. »Sie hätten Andy im Gefängnis fast umgebracht, und er war nur zwei Nächte da drin. Er ist total unschuldig. Natürlich. Niemand ist mehr sicher. Irgendein verrücktes Miststück zeigt einfach mit dem Finger auf dich und …«

»Sidney, lass die Frau sich erst einmal sortieren.« Die strikt beherrschte Wut im Tonfall der Mutter erinnerte Leigh an ihre eigene Stimme, wenn sie Maddy in Anwesenheit anderer Leute zurechtwies. »Bitte lassen Sie sich Zeit, Leigh.«

Leigh erwiderte das Lächeln der Frau kurz, ehe sie ihr Pokergesicht aufsetzte.

»Ich brauche nur einen Moment.« Sie öffnete die Akte und hoffte, irgendein Detail würde ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfen und ihr verraten, wer zum Teufel diese Leute waren. Das oberste Blatt zeigte das Aufnahmeformular von Andrew Tenants Verhaftung. Dreiunddreißig Jahre alt. Autohändler. Teure Adresse. Beschuldigt der Entführung und sexuellen Nötigung am 13. März 2020, als gerade die erste Welle der Pandemie eingesetzt hatte.

Leigh las keine Einzelheiten, denn es ließ sich nur schwer verhindern, dass einem etwas bekannt vorkam. Sie musste zuerst Andrews Version der Ereignisse hören. Mit Sicherheit wusste sie nur eins: dass Andrew Trevor Tenant sich eine schlechte Zeit ausgesucht hatte, um seinen Gerichtstermin zu verlangen. Wegen des Virus wurden angehende Geschworene über fünfundsechzig im Allgemeinen freigestellt. Und nur Personen, die jünger als fünfundsechzig waren, würden es für möglich halten, dass dieser adrette, nett aussehende junge Mann ein Serienvergewaltiger sein könnte.

Sie blickte von der Akte auf. Sie war sich unschlüssig, wie sie weitermachen sollte. Mutter und Sohn glaubten ganz eindeutig, dass Leigh sie kannte. Doch Leigh kannte sie eindeutig nicht. Wenn Andrew Tenant sie als Anwältin haben wollte, wäre es geradezu die Definition davon, wider Treu und Glauben zu handeln, wenn sie ihm bei ihrer ersten Begegnung ins Gesicht log.

Sie holte tief Luft und bereitete sich darauf vor, die Sache klarzustellen, doch da wurde sie von Bradley unterbrochen.

»Sagen Sie, Linda, woher kennen Sie Ms. Collier gleich wieder?«

Linda.

Etwas an dem Namen der Frau kitzelte Leighs Gedächtnis. Sie griff sich unwillkürlich an den Kopf, als könnte sie es herausholen. Aber es war nicht die Mutter, die ihre Erinnerung auslöste. Leighs Blick sprang von der älteren Frau zu ihrem Sohn.

Andrew Tenant lächelte sie an. Er zog dabei den linken Mundwinkel hoch. »Lange her, nicht wahr?«

»Jahrzehnte«, sagte Linda zu Bradley. »Andrew kennt die Mädchen besser als ich. Ich habe damals noch als Krankenschwester gearbeitet. Nachtschichten. Leigh und ihre Schwester waren die einzigen Babysitterinnen, denen ich vertraute.«

Leighs Magen verwandelte sich in eine geballte Faust, die sich langsam zu ihrer Kehle hocharbeitete.

»Wie geht’s Callie?«, fragte Andrew. »Was treibt sie so?«

Callie.

»Leigh?« Andrews Ton ließ erkennen, dass sie sich nicht normal benahm. »Wo steckt Ihre Schwester dieser Tage?«

»Sie …« Leigh war der kalte Schweiß ausgebrochen. Ihre Hände zitterten. Sie klammerte sie unter dem Tisch zusammen. »Sie lebt auf einer Farm in Iowa. Mit ihren Kindern. Ihr Mann ist ein Kuhbau… ein Milchbauer.«

»Kann ich mir gut vorstellen«, sagte Andrew. »Callie liebte Tiere. Sie hat mein Interesse für Aquarien geweckt.«

Diesen letzten Satz hatte er an Sidney gerichtet und erzählte anschließend von seinem ersten Meerwasserbecken.

»Ah, stimmt«, sagte Sidney. »Sie war die Cheerleaderin, oder?«

Leigh konnte nur so tun, als würde sie zuhören, und die Zähne zusammenbeißen, damit sie nicht zu schreien anfing. Das konnte nicht stimmen. Nichts von alldem stimmte.

Sie schaute auf die Beschriftung der Akte.

Tenant, Andrew Trevor.

Die geballte Faust wanderte immer weiter ihre Kehle hinauf, all die grauenhaften Einzelheiten, die sie in den letzten dreiundzwanzig Jahren unterdrückt hatte, drohten sie zu ersticken.

Callies schockierender Anruf. Leighs hektische Fahrt zu ihr. Die grausige Szenerie in der Küche. Der vertraute Geruch des klammen Hauses, Zigarren, Scotch – und Blut, so viel Blut.

Leigh musste es einfach wissen. Sie musste es laut ausgesprochen hören. Es war ihre Teenagerstimme, die jetzt aus ihrem Mund kam, als sie fragte: »Trevor?«

Die Art, wie Trevors linker Mundwinkel sich nach oben verzog, war so beängstigend vertraut, dass es ihr kalt über den Rücken lief. Sie war seine Babysitterin gewesen, und als sie alt genug gewesen war, sich eine richtige Arbeit zu suchen, hatte sie den Job an ihre kleine Schwester weitergegeben.

»Ich nenne mich jetzt Andrew«, sagte er. »Tenant ist Moms Mädchenname. Nach dem, was mit Dad passiert ist, fanden wir es beide besser, alles zu ändern.«

Nach dem, was mit Dad passiert ist.

Buddy Waleski war verschwunden. Er hatte Frau und Sohn sitzen gelassen. Kein Brief. Keine Entschuldigungen. So hatten es Leigh und Callie aussehen lassen. So hatten sie es der Polizei erzählt. Buddy hatte viele schlimme Dinge getan. Er hatte bei vielen üblen Leuten Schulden. Es ergab durchaus einen Sinn. Es hatte die ganze Zeit einen Sinn ergeben.

Andrew schien sich an ihrer dämmernden Erkenntnis zu weiden. Sein Lächeln wurde weicher, weniger schief.

»Es ist lange her, Harleigh«, sagte er.

Harleigh.

Nur ein Mensch in ihrem Leben nannte sie noch bei diesem Namen.

Andrew sagte: »Ich dachte schon, Sie hätten mich vergessen.«

Leigh schüttelte den Kopf. Sie würde ihn nie vergessen. Trevor Waleski war ein süßes Kind gewesen. Ein wenig unbeholfen. Sehr anhänglich. Als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er mit Medikamenten betäubt gewesen. Sie hatte mit angeschaut, wie ihre Schwester ihn sanft auf die Stirn küsste.

Dann waren sie beide in die Küche zurückgegangen, um den Mord an seinem Vater zu Ende zu bringen.

MONTAG

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Leigh parkte ihren Audi A4 vor den Büros von Reginald Paltz & Partner, der Privatdetektei, die sich um Andrew Tenants Fall kümmerte. Der zweistöckige Bau war als Bürogebäude errichtet worden, aber man hatte ihm die Fassade eines Einfamilienhauses im Kolonialstil verpasst. Es hatte diese Zu-neu/Zu-alt-Anmutung, die typisch war für die Achtzigerjahre. Goldene Armaturen. Kunststofffenster. Dünne Ziegelverkleidung. Eine bröckelnde Betontreppe führte zu einer gläsernen Doppeltür. An der Gewölbedecke im Foyer hing ein goldener Kronleuchter schief über einer Wendeltreppe.

Die Außentemperatur stieg bereits an, es war zu erwarten, dass sie bis zum Nachmittag über zwanzig Grad erreichte. Leigh ließ den Motor laufen, damit die Klimaanlage arbeitete. Sie war zwanzig Minuten früher gekommen, um sich ungestört in ihrem Wagen zu sammeln. Was sie zu einer guten Studentin und dann zu einer guten Anwältin gemacht hatte, war die Tatsache, dass sie immer jeden Blödsinn ausblenden und sich wie ein Laserstrahl auf das fokussieren konnte, was unmittelbar anstand. Man wirkte nicht daran mit, einen einhundertzwanzig Kilo schweren Mann in Stücke zu hacken, und schloss die Schule trotzdem als Jahrgangsbeste ab, wenn man nicht gelernt hatte, klare Linien zu ziehen.

Jetzt im Moment musste sie ihren Fokus nicht auf Andrew Tenant, sondern auf Andrew Tenants Fall richten. Leigh war eine sehr teure Anwältin. Andrews Prozess sollte in einer Woche beginnen. Ihr Boss hatte für morgen Abend eine umfassende Strategiesitzung anberaumt. Sie hatte es mit einem Mandanten zu tun, der sich schwerwiegenden Vorwürfen ausgesetzt sah, und mit einem Staatsanwalt, der mehr als die üblichen Spielchen spielte. Leighs Aufgabe bestand darin, so viele Löcher in den Fall zu bohren, dass mindestens ein Geschworener einen Bus durchfahren konnte.

Sie seufzte tief, um zusammen mit dem Atem auch ihre Angst ausströmen zu lassen und einen klaren Kopf zu bekommen. Dann nahm sie Andrews Akte vom Beifahrersitz, blätterte sie durch und fand den Abschnitt mit der Zusammenfassung.

Tammy Karlsen. Comma Chameleon. Fingerabdrücke. Überwachungskameras.

Leigh las die ganze Zusammenfassung, ohne etwas zu verstehen. Die einzelnen Worte ergaben zwar Sinn, aber sie in einen zusammenhängenden Satz zu bringen war unmöglich. Sie versuchte, zum Anfang zurückzugehen. Die Zeilen des Textes begannen zu rotieren, bis ihr Magen ebenfalls rotierte und sie die Akte schließen musste. Ihre Hand ging zum Türgriff, aber sie zog nicht daran. Sie atmete mit offenem Mund. Dann noch einmal. Und noch einmal, bis sie die Magensäure geschluckt hatte, die ihre Kehle hinaufdrängte.

Ihre Tochter war der einzige Mensch, der es je fertiggebracht hatte, ihre absolute Konzentrationsfähigkeit zu stören. Wenn Maddy krank war, aufgebracht oder wütend, ging es Leigh so lange schlecht, bis alles wieder in Ordnung war. Dieses Unbehagen war jedoch nichts im Vergleich zu dem, was sie soeben empfand. Auf sämtliche Nervenenden in ihrem Körper schien Buddy Waleskis Geist mit rasselnden Ketten einzuprügeln.

Sie warf die Akte auf den Sitz. Schloss die Augen. Legte den Kopf zurück. Ihr Magen wollte sich einfach nicht beruhigen. Sie war den größten Teil der Nacht kurz davor gewesen, sich zu übergeben. Sie hatte nicht schlafen können, hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, zu Bett zu gehen. Sie hatte stundenlang im Dunkeln auf der Couch gesessen und überlegt, wie sie es umgehen konnte, Andrew anwaltschaftlich zu vertreten.

Trevor.

In der Nacht, in der Buddy gestorben war, hatte das NyQuil Trevor wirksam in Tiefschlaf versetzt. Aber sie hatten sich vergewissern müssen. Leigh hatte seinen Namen einige Male mit zunehmender Lautstärke gerufen. Callie hatte an seinem Ohr mit den Fingern geschnippt, dann vor seinem Gesicht in die Hände geklatscht. Sie hatte ihn sogar ein wenig geschüttelt und ihn dann wie ein Nudelholz auf einem Stück Teig hin und her gerollt.

Die Polizei hatte Buddys Leiche nie gefunden. Als seine Corvette schließlich in einem noch beschisseneren Teil der Stadt entdeckt wurde, war der Wagen bereits ausgeschlachtet gewesen. Buddy hatte kein Büro, daher gab es auch keinen Schriftverkehr. Den in der Bar versteckten digitalen Camcorder hatten die Mädchen mit einem Hammer zertrümmert und die Teile quer über die Stadt verteilt. Sie hatten nach weiteren Minikassetten gesucht, aber keine gefunden. Sie hatten nach eindeutigen Fotos gesucht, aber ebenfalls keine gefunden. Sie hatten die Couch auf den Kopf gestellt und sämtliche Matratzen umgedreht, hatten in Schubladen und Schränken gewühlt, die Gitter von Lüftungsschächten abgeschraubt und Taschen, Bücherregale sowie Buddys Corvette durchsucht. Dann hatten sie sorgfältig sauber gemacht und alles wieder an seinen Platz geräumt, bevor Linda nach Hause gekommen war.

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