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Die Farbe von Glas

Rau, düster und bitterkalt

Island 1686: Die junge Rósa leidet unter so bitterer Armut, dass sie befürchtet, den Winter nicht zu überleben. In ihrer Verzweiflung nimmt sie den Antrag des reichen Händlers Jón an, der eine Frau für Haus und Hof sucht. Rósa folgt ihm in sein Dorf und trifft bei den Einwohnern auf eine Mauer aus Argwohn und Ablehnung. Düstere Legenden ranken sich um Jón. Man erzählt sich, er habe seine erste Frau Anna umgebracht. Jón schweigt dazu unerbittlich. Einziger Trost für Rósa ist eine kleine Glasfigur, die er ihr zur Hochzeit schenkte. Trotz aller Widrigkeiten erscheint sie unzerbrechlich, während das Böse um Rósa herum immer greifbarer wird.

Als das Dorf eines Nachts von Schnee und Eis bedeckt wird, rückt die Bedrohung näher, und diesmal steht Rósa im Auge des Sturms.

»Ein fantastisches Debüt voller Atmosphäre.« - The Times


  • Erscheinungstag: 14.10.2019
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959678414
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für meine beiden Söhne Arthur und Rupert.
Ich liebe euch mehr als Bücher.

Jafnan er hálfsögð saga ef einn segir.

Man kennt doch nur die halbe Wahrheit,
solange nur ein Mann gehört worden ist.

Isländisches Sprichwort aus der
Saga von Grettir dem Starken

PROLOG

Stykkishólmur, Island, November 1686

Am Tag des Bebens, als sich die Erde aufbäumt, taucht aus den Tiefen des eisverkrusteten Meeres ein Körper auf, knochenweiß, mit Fingern, die winken, als lebten sie.

Den Männern und Frauen von Stykkishólmur rieselt der Torf vom Dach ihrer Häuser auf die Köpfe, als sie fluchend ins Kalte taumeln. Dann erst bemerken sie den Arm, der sie vom gefrorenen Wasser her zu sich winkt, und alles erstarrt, Worte bleiben unvollendet in der eisigen Luft hängen, Münder offen stehen.

Die Männer fangen sich, strömen zum Ufer, klettern über die scharfkantigen Verwerfungen aus massivem Meerwasser, jeder Schritt mühselig. Er ist dabei, müht sich wie die anderen, presst die Hand gegen die pochende Wunde in seiner Seite. Jeder vibrierende Schritt seiner Fellstiefel auf dem harten Eis lässt ihn stoßartig ausatmen.

In seinem Rücken weiß er die Blicke jener, die auf Schnee und sicherem Grund zurückgeblieben sind. Er spürt, wie sie seine Schritte beobachten, wie sie hoffen, das Eis möge unter ihm bersten.

Er denkt daran, wie sie den bleischweren Körper hinausgetragen haben, in Tücher gewickelt und mit Steinen beschwert. Er erinnert sich, wie seine frische Wunde schmerzte, während sie sich durch den Schnee kämpften. Mit langen Stöcken hatten sie das Eis aufhacken müssen, um die Leiche versenken zu können. Das Meer hatte sie augenblicklich verschlungen – ein weißes Aufblitzen, und dann war da nur noch Schwärze gewesen. Doch das Wissen um die Leiche blieb, ähnlich der blutrünstigen Bilder am Ende der Sagas, jener alten hitzigen Geschichten, die jedem Kind von Geburt an mitgegeben werden und jedem Isländer einen Sinn für Gewalt vermitteln.

Sechs Tage sind vergangen, seit er an dem schwarzen Wassergrab ein Gebet gemurmelt hatte, bevor sie sich dann stapfend auf den Rückweg zum kleinen Gehöft gemacht hatten. Noch vor Monduntergang war das Loch von einer Eisschicht bedeckt gewesen, und als das bleiche Halblicht der Wintersonne den Himmel hell zu färben begann, war es unter frisch gefallenem Schnee nicht mehr zu sehen. Nur allzu oft hilft die Witterung, unsere Sünden zu verbergen.

Doch in Island ist die Erde nie ruhig. Die grollenden Erschütterungen, das umherwirbelnde Wasser mussten die Steine gelöst haben, sodass die Leiche aufsteigen und die Risse im Eis durchbrechen konnte. Und da ist sie jetzt. Und winkt.

Er rutscht aus, geht schwer zu Boden und ächzt, als ihm der Aufprall auf dem Eis durch die Seite fährt. Aber er muss weiter. Er rappelt sich auf, stöhnend vor Schmerzen. Das Eis knackt unter seinen Stiefeln. Darunter leckt das schwarze Wasser an der Oberfläche, hartnäckig, hungrig. Er schiebt sich vorsichtig vorwärts.

Langsam. Immer schön langsam.

Ein weiteres Beben erfasst die Erde – es ist nicht stärker als die Bewegung eines Hundes, der sich das Wasser aus dem Fell schüttelt, aber es zwingt ihn in die Knie. Die Welt besteht nur noch aus knirschenden, wogenden Eisschichten. Er liegt mit dem Gesicht zu Boden, keuchend, und wartet auf das Knacken, das wie splitternder Knochen widerhallt. Es wäre das letzte Geräusch, das er hört, ehe das Meer ihn verschlingt.

Das Eis beruhigt sich. Die Welt hört auf zu beben. Stille breitet sich aus.

Er richtet sich auf, und die beiden Männer neben ihm tun es ihm gleich.

Sie wechseln Blicke, ziehen die Augenbrauen hoch, und er nickt. Das Eis ächzt. Darunter rinnt die dunkle Strömung wie ein Geheimnis.

»Beeilt euch«, ruft jemand vom Ufer. »Beim nächsten Beben reißt es euch hinab!«

Er seufzt und fährt sich mit der Hand durchs Haar.

»Wir sollten die Sache abbrechen«, sagt einer der beiden Männer – hochgewachsen und mit so dunklen Augen, als sei er aus demselben Vulkangestein geschaffen wie das Land selbst.

Der dritte Mann – hellhäutig und rothaarig, ein Kelte – nickt. »Und bis zum Frühling warten. Dann haben wir mehr Licht. Und kein Eis mehr.«

Doch er kratzt sich am Bart, schüttelt dann den Kopf. »Wir müssen sie da jetzt rausholen … Ich muss sie da jetzt rausholen.«

Das Gesicht des hochgewachsenen Mannes verdunkelt sich, seine Augen funkeln fast schwarz, doch er schweigt.

»Kehrt um«, sagt er daraufhin zu den beiden. »Riskiert nicht euer Leben.«

Jetzt schütteln sie die Köpfe.

»Wir bleiben«, sagt der größere von ihnen.

Die Menge am Ufer behält sie weiter im Blick. Zehn Menschen sind es, aber ihre Erregung und ihr Getuschel lassen ihre Anzahl größer wirken. Sie drängen sich murmelnd in Grüppchen zusammen, die Münder hinter vorgehaltenen Fäustlingen versteckt. Ihre Worte hängen wie düstere Lärmwolken über ihnen – giftige Dämpfe, die sie umgeben wie Miasma.

Die Männer haben den Rand des Eises erreicht. Wieder knackt es unter ihren Stiefeln. Er hebt die Hand. Sie halten an.

Er legt sich auf den Bauch und schiebt sich vor. Weniger als eine Handbreit unter ihm liegt die unersättliche See. Vor ihm schaukelt die weiß umhüllte Figur im Wasser, die steif gefrorenen Finger winken ihn einladend näher.

Das Eis knirscht mit den Zähnen.

Er holt mit der Sense aus, und Triumph erfüllt ihn, als sie sich im Stoff verhakt. Er zieht, die Leiche treibt näher heran, die bleiche Hand wedelt vor seinem Gesicht. Er zuckt zurück. Da reißt das Material, die Sense kommt frei. Die Leiche entfernt sich sanft schaukelnd.

»Lass gut sein«, knurrt der Dunkelhaarige.

Er streckt wieder seinen Arm mit der Sense in Richtung des leblosen Körpers aus. Seine kalten Muskeln kreischen empört, sein Arm zittert vor Anstrengung. Kraftvoll lässt er die Sense auf die Gestalt niedersausen, und die Metallspitze fährt durch den Stoff. Er zuckt innerlich zusammen, als wäre das kalte Metall in sein eigenes Fleisch gefahren, dann schließt er die Augen, atmet tief durch und hackt noch mal nach. Die Sense gräbt sich tiefer ins Fleisch.

Die beiden anderen Männer halten ihn fest, während er die Gestalt aus dem Wasser zu zerren beginnt. Langsam taucht ein dunkler Körper auf und landet schließlich neben ihm auf dem Eis.

»Es tut mir leid«, keucht er mit rauer Stimme.

Sie tragen das schwere Bündel über das vereiste Meer zurück zum Ufer.

Er vermeidet es, nach unten zu blicken, hinunter zur toten Hand, die über Eis und Schnee schleift wie die Finger eines Kindes, das Schnee greift und zum Ball formt, wurfbereit. Der Rauch von den Feuerstellen der nahegelegenen kleinen Gehöfte malt schwarze Runen in den Himmel – dunkle gekritzelte Muster, die hinter den hellen aufgeregten Atemwolken der Dorfbewohner aufsteigen.

Als sich die Männer dem Ufer nähern, branden die Menschen vor, gierig wie Aasgeier, die um das Privileg des ersten Bissens von diesem unerwarteten Festmahl kämpfen.

TEIL EINS

Ausgiebig geprüft soll werden jeder Mann.

Isländisches Sprichwort aus der
Saga von Grettir dem Starken

RÓSA

Skálholt, August 1686

Rósa sitzt im Baðstofa der kleinen Kate, die seit Neuestem ihr und ihrer Mamma gehört. Ein scharfer Windzug dringt durch die Ritzen zwischen der Hauswand aus Torfsoden und dem winzigen Fenster aus heller Schafshaut – von Wolle freigeschabt und so lange gedehnt, bis sie dünner und durchscheinender ist als das teure, aus Dänemark importierte Papier.

Rósa erschaudert, als der Wind an ihrem Kleid zupft. Dennoch rückt sie näher ans Fenster, um möglichst viel vom schwindenden Licht zu erhaschen, und zieht sich ihr Tuch fester um die Schultern.

Sie taucht den Federkiel in das kostbare Tintenfass und schreibt.

Mein lieber Jón Eiríksson,

ich schreibe Dir heute, lieber Gemahl, um Dich um Gnade und Verständnis anzuflehen. Dein Gehilfe Pétur kam heute zu uns und überbrachte Deine freundliche Gabe dreier Wollkleider und bat mich, Dir nach Stykkishólmur nachzureisen. Ich will mich nach Kräften bemühen, Dir in unserem noch jungen Bund eine pflichtgetreue Gemahlin zu sein, doch ich fürchte, ich kann mich nicht zu Dir gesellen …

Rósa hält inne, beißt sich auf die Lippen und zieht das Schultertuch noch enger um sich. Sie streicht das Wort kann aus und ersetzt es durch werde. Ihre Hand zittert, und sie drückt so heftig auf, dass die Feder entzwei-birst und Tinte über das ganze Blatt spritzt.

Ihre Augen brennen. Sie stöhnt auf, zerknüllt das Stück Papier und schleudert es zu Boden.

»Heb das auf, Mädel«, keucht ihre Mutter vom Bett gegenüber. »Oder glaubst du, wir sind reicher als Niord und können gutes Papier und Tinte verschwenden?« Ihre letzten Worte gehen in rasselndem Husten unter.

»Tut mir leid, Mamma.« Rósa zwingt sich zu lächeln, hebt das Papier auf und streicht es über dem Knie glatt. »Ich kann nicht denken …« Sie spürt, wie ihre Lippen zu zittern beginnen, und gräbt sich die Fingernägel in die Handfläche.

Ihre Mutter lächelt. »Du bist nervös, das ist normal. Dein Mann wird das wissen, ganz gleich, was du schreibst. Ich weiß noch, als ich deinen Vater heiratete …«

Rósa nickt stumm und blinzelt, sie hat plötzlich einen Kloß im Hals.

Sigridúrs Lächeln verblasst. Sie klopft neben sich aufs Bett. »Du scheinst nicht du selbst zu sein. Setz dich. So. Und jetzt erzähl: Was betrübt dich?«

Rósa öffnet den Mund, um zu antworten, doch sie findet keine Worte für die erdrückende Panik, die sie beim Gedanken verspürt, ihr Dorf verlassen zu müssen, um mit diesem Fremden zusammenzuleben, den sie nun »Gemahl« nennen soll. Wenn sie an ihn denkt, ist es nicht sein Gesicht, das vor ihrem inneren Auge auftaucht, sondern es sind seine Hände, stark und sonnengegerbt. Sie stellt sich vor, wie sie die Ruder durchziehen oder einem Huhn den Hals umdrehen.

Unvermittelt packt Sigridúr Rósas Hand. »Hör auf!« Einen Augenblick glaubt Rósa, ihre Gedanken wären offen auf ihrem Gesicht zu lesen gewesen. Dann gleitet ihr Blick hinab zu ihren Händen, und sie bemerkt, dass sie ohne nachzudenken den Vegvísir, den Wikingerkompass, auf ihre Hand gezeichnet hat.

»Keine Runen!«, zischt Sigridúr.

Rósa nickt und ballt ihre Hände zu Fäusten. »Ich weiß.«

»Wissen reicht nicht. Du musst auch danach handeln. Dein Ehemann ist anders als dein Pabbi. Er wird nicht die Augen verschließen und so tun, als könnte er nicht sehen, was sich unter seiner Nase abspielt. Vor ihm musst du ausschließlich Bibelverse und Kirchenlieder zitieren. Keine Runen. Keine Sagas. Hast du verstanden?«

»Ich bin kein Dummkopf, Mamma«, flüstert Rósa.

Sigridúrs Gesichtsausdruck entspannt sich, sie streicht Rósa über die Wange.

»Sorg dich nicht. Und wenn seine Gebete überhandnehmen, dann wartest du einfach, bis er schläft, ehe du ihm eins mit seiner Bibel überziehst, ihn nach draußen in den Schnee schaffst und aussperrst.«

Rósa muss unwillkürlich lächeln.

Sigridúr lacht schnaubend auf und fügt hinzu: »Als nettes Festmahl fürs Huldufólk

Rósa verdreht die Augen. »Mamma, bitte. Du hast doch selbst gesagt: nicht mal im Scherz.«

»Beruhige dich«, meint Sigridúr. »Hier ist niemand, der uns belauschen kann.« Sie verstummt, ihre Augen blitzen auf. »Außerdem frisst das Huldufólk sowieso viel lieber Kinder …«

»Mamma!«

Sigridúr hebt abwehrend die Hände. »Lass mich lachen, solange ich noch kann, Liebes. Diese Ehe.« Ihr Mund verzieht sich. »Und mit einem Mann, der so weit entfernt lebt.«

Wieder spürt Rósa Panik in sich aufwallen und unterdrückt sie. »Denk dran, Mamma: Neue Torfsoden auf dem Dach, ein großer Ofen. Torf zum Heizen, das viel besser ist als Mist. Und Jón wird für dich Holz aus Kopenhagen einhandeln, sowie die Schiffe eingelaufen sind. Stell dir nur mal vor, Mamma: Holz an den Wänden. Pelze statt Hausgesponnenes. Du wirst den ganzen Winter über nicht frieren müssen. Und ehe du dich’s versiehst, bist du wieder gesund.«

»Das Disputieren hat dir dein Pabbi ganz gut beigebracht, so viel steht fest. Und dann wirst du die Frau eines gewöhnlichen Fischers. Ein Jammer …«

»Er ist viel mehr als nur Fischer …«

»Natürlich, der Titel des Bonði hat schon etwas Besonderes. Ich weiß, dass auf seinem Acker Gerste wächst und dass er regen Handel mit den Dänen treibt. Ich habe seine Rede gehört, genau wie du. Ein hübsches Bild, das er da gezeichnet hat. Aber die Leute sagen …«

»Das sind Gerüchte, Mamma, und auf so etwas hören wir nicht.«

»Es heißt, Jóns erste Frau …«

»Alles nur dumme Märchen.« Rósas Stimme klingt scharf, selbst in ihren eigenen Ohren. Doch sie lenkt sie vom Kribbeln in ihren Händen und Füßen ab, das sich jedes Mal einstellt, wenn sie sich vorstellt, mit diesem Mann allein zu sein. Vor drei Nächten hat sie geträumt, dass ihr Ehemann auf ihr lag, wobei sein Kopf und seine Schultern die eines Eisbären waren. Er beugte sich vor, um sie zu küssen, riss dann jedoch sein Maul weit auf und brüllte. Von seinem stinkenden Fleischatem musste sie so heftig würgen, dass sie davon aufwachte. Rósa fürchtet, dass der Traum ein schlechtes Omen ist, und sie hat schon mehrfach zur Feder gegriffen, um Jón zu schreiben und den Zeitpunkt ihres Aufbruchs nach Stykkishólmur hinauszuzögern. Doch wenn sie dann den pfeifenden Atem ihrer Mutter hört, weiß sie, dass ihre Entscheidung richtig ist. Obwohl sie manchmal, wenn sie die Augen schließt, das Gesicht eines anderen Mannes sieht, ein Gesicht, das ihr fast vertrauter ist als ihr eigenes. Eine Hand, die sich ihr entgegenstreckt und ihr das Haar aus der Stirn streicht. Sie schiebt den Gedanken beiseite und sagt: »Ich will nicht über Jóns erste Frau sprechen. Das ist nichts als neidischer Tratsch, der mir Angst machen soll. Das hast du selbst gesagt.«

Sigridúr runzelt die Stirn, nickt dann langsam und senkt den Blick auf ihre Hände, die kaltblau gezeichnet sind. »Wie dem auch sei. Stykkishólmur liegt vier anstrengende Tagesritte entfernt. Und das Land ist tückisch und grausam, besonders nach dem letzten Winter … Es heißt, im Meer treiben Eisschollen, die seit zwölf Monaten nicht geschmolzen sind. Und überhaupt, warum will er ausgerechnet dich?«

»Welch hohe Meinung du doch von mir hast, Mamma. Du musst dich mit deinen Komplimenten wirklich zurückhalten, sonst steigen sie mir noch zu Kopfe.«

»Ach, du!« Sigridúr lächelt. »Meiner guten Meinung kannst du immer gewiss sein. Dennoch … Warum nimmt er sich kein Mädchen aus seinem eigenen Dorf?«

Diese Frage hat Rósa auch schon umgetrieben, doch jetzt beugt sie sich vor, ergreift die kalten Hände ihrer Mutter und meint nur: »Ich bin eben unwiderstehlich.«

Sigridúr lächelt traurig. »Dein Pabbi wüsste, was zu tun ist.«

»Ich vermisse ihn auch.« Rósa umarmt ihre Mutter. Einen Augenblick schließt sie die Augen und atmet den Geruch nach Wolle und Schweiß ein, der sie an ihre Kindheit erinnert.

Rósas Vater Magnús, Bischof von Skálholt, war vor knapp zwei Monaten gestorben. Angefangen hatte es mit Bauchschmerzen, doch innerhalb eines Monats war sein Bauch angeschwollen, als erwarte er ein Kind.

Im Dorf hatte man natürlich sogleich getuschelt, das sei das Werk einer verärgerten Hexe, die sich womöglich dafür räche, dass er das Schreiben von Runen und das Aufsagen von Beschwörungsformeln streng untersagt hatte, wo doch frühere Pfarrer und selbst die katholischen Bischöfe offen sowohl aus den Sagas als auch aus der Bibel vorgelesen hatten. Magnús war den Gerüchten mit Verachtung begegnet. Er hatte von der Kanzel gegen sie gewettert und gedroht, die Klatschmäuler aus der Kirche zu verbannen. Das hatte das Zischen der Gerüchte erstickt, nicht jedoch die Krankheit geheilt. Noch vor der Sonnenwende starb er und hinterließ seiner Frau und Tochter kaum etwas an Geld und Gut. Magnús hatte sein großzügiges Gehöft mit den Glasfenstern und holzgetäfelten Wänden verkauft und das Geld in die Instandhaltung der Kirche gesteckt. Er hatte beschlossen, in einem kleinen torfgedeckten Haus zu wohnen wie der Rest seiner Gemeinde.

Reichtum nährt den Körper, nagt jedoch an der Seele. Es ist besser zu leben wie Jesus, bescheiden.

Als er noch lebte, waren die Dorfbewohner großzügig gewesen. Zusätzlich zu dem wöchentlichen Zehnt hatten sie ihnen so viel Bier und Lammfleisch gebracht, dass die Familie gut versorgt war und sogar der Eindruck von Wohlstand entstand. Doch nach dem Tod ihres Pabbis erkannte Rósa sehr bald, dass sie sich in einer verzweifelten Lage befanden.

Innerhalb kürzester Zeit entwickelte ihre Mamma einen Husten, der bei jedem Atemzug blubberte wie schwefelhaltiges Moorland. Fortan lag Rósa nachts im Baðstofa und lauschte der Flüssigkeit, die Sigridúrs Brust füllte. Sie erinnerte sich an die Säftelehre, in der ihr Pabbi sie unterwiesen hatte: Zu viel Wasser in der Lunge konnte dazu führen, dass ein Mensch in seinem eigenen Körper ertrank.

Rósa musste hilflos zusehen, wie ihre Mamma in sich zusammenfiel, wie sie pfeifend nach Atem rang, sich zusammenrollte wie eine alte Frau, grauhäutig und hohläugig. Rósas eigene Träume verflüchtigten sich, und ihr ganzes Sinnen und Trachten richtete sich von nun an nur auf eines: das Überleben ihrer Mutter zu sichern.

Einen Monat nach Magnús’ Tod, am ersten Sonntag im Juli, war Rósa zur Kirche gegangen, um dort Gott um Hilfe zu bitten. Sie und ihre Mutter hatten an diesem Morgen ihren letzten Skyr gegessen, und beide waren zu stolz, um zu betteln.

Auf dem Weg zur Kirche traf sie auf Margrét, die gerade mit einem Stock etwas in den Boden vor ihrer Kate zeichnete. Beim Klang von Rósas Schritten schaute Margrét ruckartig auf, um dann eilig die Linien auf dem Boden mit ihrem Schuh zu verwischen.

»Nur ’n Bibelspruch«, knurrte sie Rósa finster an, das Kinn kampflustig vorgereckt. Sie schob eine verirrte graue Haarsträhne zurück unter ihre fadenscheinige Haube.

»Welcher denn?« Rósa konnte sich die Frage nicht verkneifen. Es war allgemein bekannt, dass Margrét weder lesen noch schreiben konnte und Rósa um ihr Wissen beneidete. Margrét hatte mit Sicherheit Runen in den Boden gemalt.

»Die Zehn Gebote«, schoss Margrét zurück. »In Bildern. Und du brauchst gar nicht so zu grinsen, Fräulein. Ich habe deinen jungen Mann gesehen.«

»Meinen jungen Mann?« Rósa fühlte Hitze in ihren Wangen aufsteigen.

»Nun tu nicht so dumm. Er ist losgezogen, um Torf zu stechen. An einem Sonntag. Statt in die Kirche zu gehen. Páll muss noch lernen, sich zu benehmen, wenn er einen guten Ehemann abgeben soll.«

»Warum suchst du nicht erst mal das Mädchen, das er zu ehelichen gedenkt, und richtest ihr das persönlich aus? Vielleicht findest du sie, wenn du mal in die Kirche gehst, Margrét, statt hier vor deiner Kate deine Muster in den Boden zu malen.«

Rósa wartete Margréts Antwort nicht ab, sondern lief rasch weiter in Richtung Kirche. Als sie an den Feldern vorüberging, hielt sie Ausschau nach Páll, konnte ihn aber nirgends entdecken. Auch war er nicht unter den Dutzenden Gesichtern, die sich nach ihr umdrehten, als sie die Kirche betrat, und sich dann rasch wieder abwandten und zu tuscheln begannen.

Im Kirchenraum war es warm dank der vielen Dorfbewohner, die sich hier versammelt hatten, um den neu ernannten Bischof Olaf Gunnarsson willkommen zu heißen. Die Menschen rutschten unruhig auf den Bänken hin und her, während er sprach.

Plötzlich hörte Rósa ihren Namen. Er stellte sie als Tochter des ehrwürdigen Bischof Magnús vor und winkte sie hinauf zum hölzernen Altar, wo alle sie anstarren und zweifelsfrei feststellen konnten, wie dünn sie geworden war.

Sowie der neue Bischof es zuließ, schlüpfte sie zurück zu ihrer Bank und atmete erst wieder auf, als die Augen der hundert Dorfbewohner nicht länger auf sie gerichtet waren.

Doch als sie sich endlich imstande fühlte, den Blick zu heben, hatte sie noch immer das Gefühl, beobachtet zu werden. Ihr Blick glitt nach links, und da war er: ein Fremder im Dorf, in dem sie jeden mit Namen kannte.

Er war ein Hüne von einem Mann: Der Stoff seines Hemdes spannte über seinen muskulösen Armen. Seine Haut war dunkel, als verbrächte er viel Zeit im Freien. Sein dichter Bart verbarg so viel von seinem Mund, dass sein Gesichtsausdruck nicht zu deuten war.

Sie senkte den Blick. Als sie wieder aufschaute, starrte er sie immer noch an.

Nach dem Gottesdienst war der Fremde schnell verschwunden. Rósa musste nicht fragen, um zu erfahren, wer er war. Sein Name war in aller Munde: Jón Eiríksson, reicher Fischer, Landwirt und Händler aus Stykkishólmur. Ein Mann, der es aus eigener Kraft zu etwas gebracht hatte. Ein mächtiger Mann. Nach dem Tod des Goði der Gegend war er zum Bonði ernannt worden und hatte von seinem eigenen Hof aus in vielen rechtlichen und kirchlichen Fragen entscheiden müssen, da der kleinen Gemeinde eine Kirche und ein Gemeindeführer fehlten.

In der Kirche von Skálholt wurde munter getratscht: Er sei auf dem Weg nach Süden gewesen, um eine neue Kuh zu kaufen, und habe in Rósas Dorf Halt gemacht, hieß es.

Der weiße Bart des alten Snorri Skúmsson zitterte vor Aufregung. Er beugte sich dicht zu Rósa. Sie konnte die roten Äderchen sehen, die seine Nase wie ein Netz überzogen.

»Er behauptet, er sei hier, um Bischof Olaf willkommen zu heißen und ihm seine Ehrerbietung zu erweisen, aber er macht niemandem was vor.« Snorri kicherte. »Seine Frau ist gestorben, und jetzt ist er auf der Suche nach einer neuen. Die Leute reden von nichts anderem. Und wir haben alle gesehen, wie er dich angestarrt hat, Rósa … Und, na ja, da du jetzt nicht in der Kirche bleiben kannst, wo dein Pabbi verstorben ist … ist auch richtig so. Frauen, die lesen, wo gibt’s denn so was? Pah!«

Rósa wich ein Stück zurück. War schlechter Atem nicht ein Zeichen innerer Verwesung? Mit einem gezwungenen Lächeln erwiderte sie: »Deine Töchter sind aber doch viel älter als ich. Vielleicht solltest du die Chance für eine von ihnen nutzen.«

Snorri blieb der Mund offen stehen, und Rósa knickste artig und rannte dann rasch hinaus und den Hügel hinunter, ehe er sich zu einer Antwort durchringen konnte. Ihre Mamma wäre stolz auf sie gewesen. Ihr Pabbi weniger.

Wieder ließ sie den Blick über die Hügel und Felder schweifen, auf der Suche nach Pálls vertrauter Gestalt, aber sie konnte ihn nirgends entdecken. Die anderen Bewohner des Dorfes befanden sich bereits auf dem Rückweg zu ihren Gehöften. Einige riefen Rósas Namen, als sie vorbeieilte, und wandten sich dann flüsternd ihrem Nachbarn zu. Rósa biss die Zähne zusammen und zwang sich einen Gruß ab. Seit dem Tod ihres Pabbis begleiteten sie dieses ständige Geflüster und die Spekulationen. Manchmal hatte sie das Gefühl, sie stünde nackt und bibbernd in einem Sturm, während jeder im Dorf mit dem Finger auf sie zeigte.

Plötzlich stand Hedí Loftursdóttir neben ihr und drückte ihr einen Moosklumpen in die Hand. Ihr Gesicht war blass, und der Blick, mit dem sie sich aus hellen blauen Augen umschaute, wirkte gehetzt. »Für deine Mamma. Es wird ihrem Husten helfen.«

Rósa nickte und lächelte. Vielleicht hatten einige Menschen doch noch Mitgefühl mit ihr. Doch ehe sie Luft holen und Hedí danken konnte, hatte das Mädchen auf dem Absatz kehrtgemacht und war davongelaufen, mit gesenktem Kopf, als könnte Rósa sie mit einer furchtbaren Krankheit anstecken.

Sie seufzte. Der Himmel über ihr blickte auf sie herab wie weit aufgerissene, leuchtend blaue Augen. Wenn seine Farbe – meist gegen Mitternacht – endlich zerrann, rutschte die Sonne nur kurz unter den dunklen Horizontstrich, um schon im nächsten Augenblick wieder aufzutauchen und die Welt in milchiges Halblicht zu hüllen.

In der Ferne sah man wie einen umgedrehten Kreisel die Hekla liegen. Der Berg spuckte Rauch und Asche in den Himmel, manchmal auch schwarzes Gestein und Lava, unter denen Land und Menschen in einem Umkreis von vielen Meilen begraben wurden. Die Hekla war als Tor zur Hölle bekannt. Ganz Island fürchtete sie. Viele wären lieber gestorben, als in Sichtweite des Berges zu wohnen. Rósa dagegen konnte sich nicht vorstellen, jemals woanders zu leben.

Es hätte bedeutet, ihre Mamma zu verlassen. Und Páll.

Rósa ballte die Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder. Dabei wurde das Moos in ihrer Hand gepresst und sie roch den Duft des schwarzen aschigen Versprechens, das die Berge jeden Tag aufs Neue abgaben: Wir werden immer da sein.

Seltsam beruhigend, diese unnachgiebige Beständigkeit. Wie weggeblasen waren Rósas Gedanken an Geister und Dämonen. Wie weggeblasen die Gedanken an Abschied.

Zwei Tage nach dem Gottesdienst klopfte es an der Tür. Rósa wusste sofort, wer es war. Die Leute aus Skálholt klopften nicht an.

Ihrer Mutter gegenüber hatte sie kein Wort über ihren Kirchbesuch oder den breitschultrigen Fremden verloren. Als das Klopfen nun ertönte, erstarrte Rósa.

Sigridúr rollte sich auf die Seite und hustete, blickte dann grimmig in Richtung Tür, als sei das Holz schuld daran, dass sie geweckt worden war.

»Herrgott noch mal«, murmelte sie. »Öffne die Tür, Rósa, sei so gut.«

Rósa tat so, als wäre sie ins Stricken vertieft. Wieder klopfte es. Rósa reagierte nicht, und ihre Mutter wies erneut hustend auf die Tür und funkelte sie böse an.

Rósa seufzte, legte ihre Handarbeit zur Seite und öffnete die Tür. In der plötzlichen Helligkeit des Tages konnte sie nur die Umrisse einer großen bärtigen Gestalt erkennen.

»Komdu sæl og blessuð.« Jóns Stimme war tief.

Sie schirmte ihre Augen mit der Hand gegen das Licht ab. »Komdu sæl og blessaður.«

Von ihrem Bett aus zischte Sigridúr: »Wenn’s ein Händler ist, mach die Tür zu. Wir haben beide Kühe verkauft und auch sämtliche Schafe, die wir entbehren konnten. Ich habe nichts mehr, was ich loswerden möchte.«

»Mamma! Es ist Besuch«, erwiderte Rósa leise. »Ein Mann.« Dann wandte sie sich an die massige Gestalt auf der Schwelle und lächelte. »Ich bitte um Verzeihung. Mamma ist Fremden gegenüber vorsichtig, seit Pabbi von uns gegangen ist. Aber Sie müssen Jón Eiríksson sein, nicht wahr? Der Bonði von Stykkishólmur.«

Er neigte den Kopf etwas unbeholfen, was Rósa als eine Art Verbeugung interpretierte. »In der Tat. Darf ich eintreten?« Das Aufblitzen der weißen Zähne in seinem schwarzen Bart verlieh seinem Gesicht etwas Freundliches.

Sie erwiderte sein Lächeln mit hämmerndem Herzen.

Sigridúr schürzte die Lippen und richtete sich mühsam in eine sitzende Position auf. »Sie müssen allerdings so mit uns vorliebnehmen, wie Sie uns vorfinden. Mein Mann ist vor ein paar Monaten verstorben und …«

»Mein Beileid.«

Sigridúr nickte knapp. »Es heißt, dass Ihre Frau ebenfalls gestorben ist.«

Er seufzte. »Zwei Monate ist es her.«

»Ich habe gehört, dass Sie sie mitten in der Nacht beerdigt haben, um gleich am nächsten Tag wieder fischen zu gehen. Als bereite Ihnen ihr Tod nicht mehr Kummer als der eines Hundes.«

Rósa holte scharf Luft. »Mamma!«

»Ist doch wahr! Schau dir doch nur mal sein Gesicht an.«

Jón faltete die Hände wie im Gebet. »Ich habe sie alleine beerdigt, das stimmt. Ich habe nicht …« Er seufzte und kratzte sich am Bart. Sein Gesicht war wettergegerbt, sein Mund umrahmt von tiefen Falten. In seinen Augen herrschte Dunkelheit, sie wirkten so abweisend wie eine verriegelte Tür.

Er fuhr fort: »Meiner Frau ging es plötzlich sehr schlecht. Es war … beunruhigend. Sie kam aus der Nähe von Thingvellir und hatte nur wenige Freunde in unserem Dorf.«

Rósa hob abwehrend die Hand. »Ich bitte um Verzeihung. Mamma trauert noch und … Der Tod meines Pabbis hat uns sehr getroffen, wir fühlen den Verlust jeden Tag. Wir leiden noch sehr darunter.«

Sie deutete auf das durchhängende Torfdach und die zersplitterten Holzbalken, für deren Reparatur importiertes Holz nötig wäre. Er war zu höflich, um diese Zeichen ihres Elends direkt anzustarren, aber er nickte mitfühlend.

»Dennoch sollten Sie sich nicht erklären müssen«, fuhr Rósa fort. »Denn alle haben gesündigt und erlangen nicht die Herrlichkeit Gottes.«

»Gewiss.« Seine Miene hellte sich auf, und seine Stimme klang warm.

Von Sigridúr kam ein verächtliches Schnauben. Zu Magnús’ Lebzeiten hatte sie sich aus Rücksicht auf seine Stellung zurückgehalten, doch seit seinem Tod machte sie sich wenig aus der Meinung anderer.

Jón schien jedoch nicht beleidigt zu sein. Er holte tief Luft und atmete dann hörbar aus. »Wie jeder Mann habe ich Feinde, die gerne Gerüchte streuen. Aber glauben Sie mir: Ich trauere um meine Frau. Es tat mir in der Seele weh, ihr nicht helfen zu können.«

Selbst Sigridúr war höflich genug, sich eine Erwiderung auf diese Äußerung zu verkneifen.

Er wandte sich an Rósa. »Es heißt, Bischof Magnús sei ein rechtschaffener Mann gewesen. Ein guter Mann mit einer guten Familie.«

Sigridúrs Blick wurde wieder finster. »Nun, das sehen Sie ja.«

Das Schweigen zwischen ihnen wog schwer.

Sigridúr ließ Jón nicht aus den Augen. »Rósa«, blaffte sie. »Hol Essen und Trinken für unseren Gast.«

Rósa verschwand hinter dem Vorhang aus Kuhfell, der den Schlafraum vom Küchenraum trennte. Hören konnte sie die beiden anderen dort nach wie vor gut. Das Schrille in der Stimme ihrer Mutter ließ sie zusammenzucken.

»Sie wären gut beraten, Margrét aufzusuchen. Sie hat sowohl Schafe als auch Töchter. Ich bin mir sicher, sie wäre nur zu gerne bereit, beides gegen ein paar Ellen Hausgesponnenes oder ihr Gewicht in getrocknetem Fisch einzutauschen.«

Rósa häufte etwas Skyr auf einen Teller, goss zwei Becher dunkles Bier ein und eilte zurück ins Baðstofa.

Sigridúrs Lippen waren geschürzt. »Ich fühle mich erschöpft.« Sie zeigte auf die Tür. »Ich danke Ihnen, dass Sie uns aufgesucht haben. Gott sei mit Ihnen.«

Jón verneigte sich. »Und mit Ihnen. Verzeihen Sie die Störung.« Er wandte sich zum Gehen.

Rósa funkelte Sigridúr böse an. »Wollen Sie nicht noch bleiben? Wir haben Skyr und Bier …«

»Danke, nein. Gott sei mit Ihnen.« Er duckte sich durch die niedrige Türöffnung hindurch und war fort.

Sowie er außer Hörweite war, ging Rósa auf Sigridúr los. »Was in drei Teufels Namen hat dich geritten, dass du so unhöflich warst?«

»Du bist keine Kuh, auf die er einfach nur bieten muss«, sagte Sigridúr, die Augen zu Schlitzen verengt. »Du magst die Ohren verschließen, wenn die anderen reden, Rósa, aber eine Frau, die lange leben will, muss Weisheit walten lassen. Es heißt, er habe einem Händler, der ihn betrogen hatte, die Hand abgehackt. Und dass er einen Mann aus seinem Dorf wegen Hexerei hat verbrennen lassen. Und seine Frau …«

»Seine Frau ist am Fieber gestorben, Mamma. Der Rest ist Gewäsch.«

»Nur ein kleines Kind kann so blind sein, das Dunkle in diesem Mann nicht zu sehen.« Sigridúr sank hustend zurück in ihr Kissen. »Es ist ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Und kaum ist seine Frau tot, macht er sich schon auf die Jagd nach einer neuen.«

Rósa hatte bereits die gleichen Gedanken in ihrem Geist bewegt, aber jetzt kniete sie sich nieder und nahm die Hände ihrer Mutter in die ihren. »Er wäre eine gute Partie.«

»Unsinn. Dein Verstand würde dahinwelken. Denk nur an dein Schreiben … Außerdem«, Sigridúr grinste, »bist du viel zu willensstark, um eine gute Ehefrau zu sein.«

»Ich würde versuchen, willfährig zu sein. Und nur weil ich verheiratet bin, heißt das doch nicht, dass ich nicht weiter lesen und schreiben kann.« Rósas Stimme brach, als sie an die Pergamentfragmente dachte, die sie unter ihrer Matratze versteckt hielt und auf die sie Ideen für eine neue Saga gekritzelt hatte. Sie sollte der Laxdæla-Saga ähneln, aber von einer Heldin handeln, die nicht aus Liebe tötet und stirbt. Welcher Ehemann würde ihr das gelegentliche Schreiben verwehren wollen? Selbst Magnús, der alles verachtet hatte, was mit den alten Bräuchen zusammenhing, hatte über die Vorstellung gespottet, das Schreiben von Geschichten oder Gedichten könne etwas mit Hexerei zu tun haben. Da er keinen Sohn bekommen hatte, war er außerdem entschlossen gewesen, seiner Tochter das Lesen und Schreiben beizubringen, trotz der misstrauischen Blicke und des Getuschels der anderen Dorfbewohner, wenn sie Rósa mit Pergament und Federkiel in ihre Arbeit vertieft herumsitzen sahen.

Sigridúr strich Rósa übers Haar. »Möge Gott dir deine Unschuld erhalten, mein Kind. Rósa, ein Mann wie Jón würde deine Füße ins Feuer halten, wenn du auch nur ein einziges Wort schreibst. Davon abgesehen bliebe dir, wenn du dich um ein Gehöft zu kümmern hättest, neben der Arbeit nur noch Zeit fürs Essen und Schlafen. Außerdem bekäme ich dich nie zu Gesicht. Nein. Es steht außer Frage. Du bleibst hier.«

»Jón ist wohlhabend …«

»Das war Odd aus der Badmanna-Saga ebenfalls«, knurrte Sigridúr. »Sein Unglück hat es trotzdem nicht abgewendet.«

So hatte Sigridúr dafür gesorgt, dass sich Rósa den Gedanken aus dem Kopf schlug. Jón war zu alt, zu andersartig, sein Heim zu weit entfernt. Außerdem schien der Mann seine Frauen wie Hemden zu verschleißen.

Doch der Spätsommer brachte frühen Schnee, der Kälte über das Dorf hauchte. Die Abende verbrachten sie nun eng ums Feuer sitzend. Sie verbrannten kostbare Talgkerzen für ein wenig zusätzliche Wärme und versuchten, ihre Kleidung, die schon mehr aus Flicken denn aus Stoff bestand, instand zu halten. Hunger machte sich in ihren Mägen breit und fraß sich in ihre Eingeweide. Ihnen stand ein weiterer harter Winter bevor.

Als sich Sigridúrs Husten verschlimmerte und jeder ihrer Atemzüge so klang, als habe sich ein Feuchtgebiet in ihren Lungen ausgebreitet, begannen Rósas Albträume. Sie träumte, ihre Mutter wäre in der Nacht zu Tode gekommen: erstickt, verhungert, erfroren. Vielleicht waren diese Träume schlechte Omen.

Daraufhin suchte sich Rósa einen großen flachen Stein, nahm einen Stock vom Feuer und malte mit der verkohlten Seite das schützende Vegvísir-Symbol darauf, ehe sie ihn unter die Strohmatratze ihrer Mamma legte. Die Rune wirkte eigentlich nur, wenn sie mit Blut auf die Stirn gezeichnet wurde, doch da sich Rósa des Geflüsters im Dorf nur zu bewusst war, versteckte sie den Stein und hoffte, die Rune würde auch in Kohle gemalt ein Schutznetz um Sigridúr weben.

Im Grunde wusste Rósa jedoch, dass die wahre Lösung anders aussah: Nur gehaltvolles Essen und ausreichend Wärme würden ihre Mutter schnell wiederherstellen. Und es lag in ihrer Macht, ihr beides zu beschaffen.

Doch jedes Mal, wenn Rósa an Jóns Gesicht dachte, erschauderte sie.

Letztlich war es Pálls Vater Bjartur, der eine Entscheidung herbeizwang.

Páll war seit jeher Rósas engster Gefährte. Sein Pabbi war Mammas Cousin. Zu ihren frühesten Erinnerungen gehörten das Balgen mit Páll im hohen Gras, die gemeinsamen Schneeballschlachten. Als sie älter waren, hatten sie im Sommer oft bäuchlings am Hang gelegen, Seite an Seite. Sein Blick, seine Gedanken, sein ureigener Duft waren ihr so vertraut wie ihre eigene Haut.

Als sie sechzehn Sommer zählte, begann Rósa, Páll öfter zu treffen. Sie verließ morgens früh ihr Zuhause und kehrte erst spät zurück. Mit Páll wanderte sie dann häufig auf die andere Seite der Hügelkette, fort von den forschenden Blicken des Dorfes.

Magnús hatte zuletzt immer schärfere Einwände dagegen erhoben, dass Rósa so viel Zeit mit Páll verbrachte. »Es gehört sich nicht«, hatte er geknurrt. »Ihr seid keine Kinder mehr.«

»Du siehst Unheil, wo keines ist«, hatte Rósa entgegnet, als Magnús keine Ruhe gab.

»Und du verdirbst dir die Aussicht auf eine gute Partie«, explodierte Magnús. »Du dummes Kind! Du weißt doch, wie die Leute reden …«

»Lass sie doch reden! Nur ein Schwachkopf könnte in meiner Freundschaft zu Páll Unheil erkennen. Nur ein giftspritzender Schwachkopf!« Rósa spuckte das letzte Wort förmlich aus, und Magnús zuckte zurück, wandte sich um und marschierte zur Tür. Dort hielt er noch einmal inne, den Rücken ihr zugekehrt, und sagte mit ruhiger, leiser Stimme: »Die meisten Väter hätten ihre Töchter bereits für weitaus weniger gezüchtigt. Bedenke das, wenn du mich das nächste Mal einen Schwachkopf nennst.«

Rósa hatte den restlichen Abend abwechselnd geschluchzt und getobt, und nichts, was Sigridúr sagte, konnte sie beruhigen.

Am nächsten Morgen erwachte sie früh und schlich sich aus dem Haus, um Páll wie üblich aufzusuchen. Trotz ihrer Entrüstung über Magnús hörte sie sich plötzlich zu Páll sagen: »Wir können uns in den nächsten Monaten nicht mehr so häufig sehen.«

»Ach ja?«

»Mein Pabbi sagt …« Sie zupfte einen Grashalm ab. »Er sagt, ich soll mehr Zeit allein verbringen.«

»Um was zu tun?« Páll verschmierte Tinte auf dem Pergament und fluchte leise. Rósa stupste ihn mit dem Zeh an.

»Er meint …« Rósa vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. »Er sagt, ich muss mich auf meine Vermählung vorbereiten.«

»Vermählung? Mit wem?« Páll richtete sich auf und schaute sie mit einem fragenden Lächeln an, als hätte sie eine Art Witz gemacht. »Der alte Snorri Skúmsson ist schließlich viel zu begehrt, als dass du bei ihm Chancen hättest.«

Rósa lachte, aber ihr Lachen verwandelte sich in einen Schluchzer.

Pálls Lächeln verblasste. »Ich soll also weniger Zeit mit dir verbringen, weil du heiraten sollst?«

Rósa nickte. »Jemanden aus … Ich weiß nicht woher. Pabbi spricht von … Er meint, ich müsse eine gute Partie machen. Jemand … Mächtigen.«

Páll blinzelte, und Rósas Mund war plötzlich wie ausgedorrt.

Schließlich meinte Páll: »Nun, bestimmt wird es dir wie Guðrún aus der Laxdæla-Saga ergehen. Die Männer werden sich gegenseitig umbringen, um deine Liebe zu erringen.« Dann spritzte er ihr mit dem Federkiel etwas Tinte ins Gesicht.

Rósa lächelte, wischte sich die Tinte ab und schmierte sie ihm mit dem Finger über die Wange. »Das ist Tintenverschwendung, du Taugenichts, du!«

Er grinste. »Es ist keine Verschwendung, wenn es dich zum Lachen bringt.«

Damit ließen sie das Thema Ehe gut sein, und nach einer Weile schlief sie ein, den Arm über ihr Gesicht gelegt. Ein Kitzeln auf ihrem Bauch weckte sie. Sie streckte die Hand aus, um das, was sie da so störte, fortzuwischen, und entdeckte, dass ihr Bauch entblößt war. Ihr Kleid war ihr im Schlaf hochgerutscht, und ihre Haut war dort, wo Páll auf ihr geschrieben hatte, mit Buchstaben bedeckt.

Sie setzte sich auf. »Was machst du da?«, erboste sie sich. »Wie soll ich das denn wieder abbekommen?«

»Ich … ich weiß nicht.« Páll war rot angelaufen und konnte ihr nicht in die Augen schauen. »Dein Kleid ist verrutscht und ich … ich dachte, es würde dich zum Lachen bringen, und dann habe ich … du bist einfach … und ich konnte nicht …« Er wandte sich ab.

Sie lehnte sich lächelnd zu ihm. »Dummkopf, du. Jetzt geh und tauch dein Hemd in den Bach, damit ich mir damit die Tinte abwischen kann. Das hast du dann davon, dass du mich als dein Schreibpapier benutzt: ein kaltes, nasses Hemd.«

Sie hatte ein Lachen als Antwort erwartet, doch er stand auf, ohne sie noch einmal anzusehen, und kehrte wenig später zurück, sein Hemd durchnässt.

Sie kniff die Augen zusammen und schaute zu ihm auf. »Ja, und jetzt? Ich werde dir das Hemd wohl kaum vom Rücken reißen!«

Er schluckte. Dann hob er langsam die Arme und zog sich das Hemd über den Kopf.

Sie starrte ihn an. Als sie seinen Körper zuletzt gesehen hatte – beim Schwimmen während des letzten Sommers –, waren sie sich an Armen, Bauch und Brust sehr ähnlich gewesen: Sein Körper war der glatte, ebene Körper eines Kindes gewesen. Seitdem hatte seine Brust an Umfang gewonnen und durch seine Arbeit, das Ausgraben und Wuchten von Torfsoden, waren überall harte Muskelpakete unter seiner Haut entstanden.

Als Páll ihr das nasse Hemd hinhielt, merkte Rosá, dass sie unfähig war, sich zu rühren.

»Hier«, brachte Páll heiser hervor.

Rósa schüttelte den Kopf, um zum Ausdruck zu bringen, dass er das Hemd wieder anziehen solle. Aber er musste sie missverstanden haben, denn er schloss die Augen und holte tief Luft, dann kniete er sich neben sie und begann, mit dem feuchten Hemd über ihre Haut zu wischen.

Die Kälte ließ Rósa zusammenzucken und nach Luft japsen.

»Tue ich dir weh?«, murmelte Páll. »Soll ich aufhören?« Er schaute sie einen Augenblick lang unverwandt an. Seine blauen Augen waren unergründlich und abgrundtief, sein Gesicht ernst.

Sie schüttelte den Kopf. Dann lehnte sie sich zurück und schloss die Augen.

Er wusch sie sorgfältig, entfernte einen Buchstaben nach dem anderen und hinterließ mit dem Tuch eine eisige Spur auf ihrer Haut. Nach einer schieren Ewigkeit – die Sonne hatte ihren Zenit bereits überschritten und Rósa zu zittern begonnen – hielt Páll inne.

»Das war’s«, flüsterte er. Und dann, noch ehe sie reagieren konnte, lehnte er sich vor und drückte seine Lippen auf die Haut über ihrem Bauchnabel. Ein einzelner Moment der Hitze. Rósa schrak hoch und schnappte nach Luft.

Páll fuhr zurück, als hätte sie ihn geschlagen. »Es tut mir leid, ich hätte nicht …«

»Nein, ich wollte nicht …«

»Es tut mir leid, Rósa. Bitte verzeih mir.«

Und noch ehe sie die richtigen Worte finden konnte, um ihm zu versichern, dass es nichts zu verzeihen gab, dass sie noch einmal von ihm geküsst werden wollte, war Páll aufgesprungen und vor ihr zurückgewichen, als könnte er sich an ihr verbrennen.

Den restlichen Sommer hatte er sie wie eine Fremde behandelt. Er schaute sie kaum an, wenn sich ihre Wege kreuzten, und wenn sie ihn ansprach, knurrte er nur eine knappe Erwiderung. Als Sigridúr ihre Tochter fragte, was denn vorgefallen sei, wusste Rósa nichts zu antworten. Sie wusste einzig, dass sie bis zu jenem Tag bei Pálls Anblick dasselbe empfunden hatte wie beim Blick auf die geliebten und vertrauten Berge ihrer Heimat. Nun jedoch erschien ihr sein Antlitz wie der offene Rachen der Hekla: Wenn sie ihn ansah, brannte ihr gesamter Körper.

Auch Magnús bemerkte die Entfremdung zwischen Páll und Rósa. Er lächelte und tätschelte Rósas Kopf, als wäre sie ein Kind. »Braves Mädchen. Das hatte nie eine Zukunft.« Als Rósa daraufhin eine Augenbraue hochzog, fuhr Magnús fort: »Es wäre unangebracht. Die Tochter eines Bischofs mit dem Sohn eines Kleinbauern?« Er lachte. »Ich habe Besseres mit dir vor. Du wirst gut zu irgendeinem angesehenen Bonði passen, irgendwo. Vielleicht in Hólar, im Norden. Oder gar in Kopenhagen.«

»Ich will hierbleiben.« Die Worte waren Rósas Mund entwichen, noch ehe sie den Gedanken im Kopf zu Ende geformt hatte. »Bei dir. Ich will dir in der Kirche helfen. Hier, in Skálholt.«

Magnús lachte wieder, aber als Rósa hartnäckig bei ihrem Wunsch blieb, willigte er schließlich ein: Sie musste nicht heiraten und durfte in Skálholt bleiben.

Nach Magnús’ Tod war Páll öfter zu ihrem Gehöft gekommen und hatte ihnen schüchtern Streifen getrockneten Hammelfleisches und Säcke mit Dung zum Heizen überreicht. Mit der Zeit begann er auch wieder, Rósa zuzulächeln und sie zu necken. Langsam schien sich ihre Freundschaft erneut der Beziehung anzunähern, die sie einst über so viele Jahre hinweg gewesen war. Und irgendwann konnte Rósa Páll endlich wieder ohne Furcht in die Augen schauen.

Einmal brachte er ihnen einen großen Torfblock, den er von einem Händler erstanden haben musste, wenn Rósa auch schleierhaft war, wie er das bewerkstelligt hatte.

Als sie ihn fragte, grinste er. »Das willst du gar nicht wissen, glaub mir!«

»Du hast ihn gestohlen? Dann bring ihn sofort wieder zurück.« Heftig schob sie den Torfblock von sich und zu ihm hin, doch er hielt ihre Handgelenke leicht mit einer Hand fest, lachte und schüttelte den Kopf. »Deine Mamma braucht ihn.«

Sie gab ihre Abwehr auf und ließ ihn weiter ihre Handgelenke halten. »Ich heize nicht mit gestohlenem Torf.«

»Dann tut es deine Mamma. Außerdem habe ich ihn nicht gestohlen.« Er drückte ihre Hände und lächelte. »Ein gieriges Schlitzohr wollte zehn Brotlaibe. Ich habe ihm das Brot gegeben, und er war glücklich, in Torf zahlen zu können.«

»Aber …« Sie bemühte sich, das Prickeln auszublenden, das sie bei der Berührung seiner Haut durchfuhr. »Wo um alles in der Welt hattest du das Mehl für zehn Laib Brot her?«

Páll lachte glucksend. »Ich war großzügig: Die Kruste des Brotes wird seinen eigenen Magen füllen, während das Innere aller Laibe mit genügend gutem Heu vollgepackt ist, um auch seine Pferde ausreichend zu versorgen.«

»Páll!« Sie lachte. Der Händler hatte es mit Sicherheit verdient, und der Torf würde helfen, die Luft im Haus zu trocknen und damit den Husten ihrer Mutter zu lindern.

Immer wieder tauchte Páll mit Lebensmitteln und Heizmaterial auf. Allmählich wuchs in Rósa die Hoffnung, sie könnte hier in Skálholt eine Zukunft mit ihm haben. Vielleicht würde es ihr gemeinsam mit Páll gelingen, ihre Mamma den Winter hindurch am Leben zu halten, bis die Wärme des Frühlings ihr Heilung bringen könnte.

Nachts, wenn die Dunkelheit sie umgab, lag Rósa auf ihrem Bett und erinnerte sich an das Gefühl von Pálls Lippen auf ihrer Haut, an seinen Körper nahe dem ihren. An seine Hitze.

Doch als sie dann eines Tages an den Hängen nach Trunkelbeeren suchte, hörte Rósa das schmatzende Geräusch von Schritten auf nassem Untergrund hinter sich.

Ohne sich umzuwenden, meinte Rósa: »Es gibt kaum welche, Páll. Und du solltest zurück zu deinem Pabbi gehen und ihm helfen. Er wird dir zürnen, wenn du deine Arbeit vernachlässigst.«

»Oh ja, das werde ich in der Tat. Tatsächlich tue ich das schon seit Wochen, aber mein Sohn beachtet mich nicht.«

Rósa fuhr erschrocken herum. »Bjartur! Gottes Segen.« Sie neigte den Kopf zum Gruß und hoffte, er würde seines Weges gehen, doch er blieb mit vor der Brust verschränkten Armen stehen und starrte sie an.

»Wer so starrt, läuft Gefahr, dass seine Augen festfrieren«, sagte Rósa schließlich.

Bjarturs Miene verfinsterte sich. »Hüte deine freche Zunge, Rósa. Und halte dich von meinem Jungen fern.«

»Dir auch einen wunderschönen Tag, Bjartur. Möge das gute Wetter sich halten.«

Sein Mund verzog sich verächtlich. »Immer auf dem hohen Ross. Du bist Gift für Páll …«

»Ich werde ihm erzählen …«

»Du wirst ihm erzählen, dass er sich von dir fernhalten soll.«

»Er ist ein Mann und folgt seinem eigenen Urteil.«

»Ah, und da irrst du dich. Er folgt dir. Und du wirst ihm gefälligst sagen, dass er sich von dir fernhalten soll.«

»Du hast mir keine Vorschriften zu machen …«

»Das habe ich, und das werde ich. Du bist widerspenstig und selbstsüchtig, und dir ist zu lange dein eigener Kopf gewährt worden. Muss ich erst im Dorf herumerzählen, dass etwas dran ist an den Gerüchten, du hättest meinen Sohn verhext? Soll ich die Leute ermuntern, euer Gehöft nach Runen und anderen Schriftzeichen abzusuchen?«

Rósa zwang sich, Bjarturs boshaften Blick zu erwidern. »Das würdest du nicht …« Aber ihre Stimme bebte.

Bjartur tat einen Schritt auf sie zu. Wenngleich ihre Knie zitterten, wich Rósa nicht von der Stelle.

»Hast du dir Páll in den letzten Monaten eigentlich mal angeschaut?«, knurrte er. »Richtig angeschaut?«

Rósa blinzelte. »Du versuchst gerade …«

»Der Junge ist vollkommen am Ende. Dürr wie eine Bohnenstange.«

»Ich …« Rósa senkte den Blick. »Das war mir nicht bewusst.«

»Nein«, höhnte Bjartur. »Du bist ja auch viel zu sehr mit dir selbst beschäftigt, um zu bemerken, dass mein Sohn hungert, um dir zu essen zu geben.«

»Ich … ich werde ihm sagen, er soll essen und ruhen.«

»Sag ihm, er soll sich fernhalten. Du bist Gift für ihn.«

Rósa betete, Bjartur möge bald weiterziehen, aber stattdessen verengte er die Augen und trat noch dichter an sie heran. Er roch nach bitterem Torf und saurem Schweiß.

»Der Bonði von Stykkishólmur sucht eine Frau. Geh und mach ihm schöne Augen.«

Rósa blieb der Mund offen stehen.

Bjartur hob die Handflächen gen Himmel. »Ein wohlhabender Mann. Er wird deine Familie mit dem nötigen Kleingeld und Essen versorgen …«

Rósa ignorierte das Zittern ihrer Beine und richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. »Ich bin keine Närrin, Onkel. Dein Eigeninteresse …«

»Du könntest uns allen eine Menge Leid ersparen, Rósa. Der Winter wird hart werden und viele Menschen das Leben kosten.« Er zog die Nase hoch und spuckte den Rotzklumpen auf den Boden. »Denk darüber nach.«

Er wandte sich um und trottete schwerfällig den Hügel hinab. In seinen gebeugten Schultern und dem schmerzhaften Hinken sah Rósa Pálls Zukunft. Wenn er überhaupt so lange lebte.

Jón blieb beinahe drei Wochen, trieb Handel in der Gegend und sah sich um. Er beobachtete alles. Trotz kalter Nächte schlug er die dargebotene Gastfreundschaft verschiedener Dorfbewohner aus – in der Regel jener mit Töchtern im heiratsfähigen Alter –, die ihm ein Dach über dem Kopf anboten, und richtete sich stattdessen am Hang ein kleines Lager her.

Rósa musste dort täglich vorbei, um Wasser vom Fluss zu holen. Anders als die anderen Mädchen lächelte sie ihn nicht an und winkte ihm auch nicht kichernd zu, sondern lief mit gesenktem Kopf an ihm vorüber. Seine Blicke hinterließen ein Kribbeln auf ihrer Haut.

Ihre Gedanken kreisten um Bjarturs mahnende Worte. Vielleicht hatte er recht. Vielleicht wäre eine Ehe mit diesem reichen Mann besser für alle. Aber nein! Warum sollte sie einen Fremden heiraten? Warum sollte sie alles zurücklassen?

Und dann kam die Nacht, in der Sigridúr so heftig hustete, dass ihr Taschentuch rote Flecken aufwies. Da wusste Rósa, dass die Entscheidung für sie gefällt worden war.

Am nächsten Morgen, als sie Jón über die Felder zur Kirche gehen sah, holte sie tief Luft, rief ihm einen Gruß zu und beschleunigte ihre Schritte, um ihn einzuholen.

Jón blieb stehen und wandte sich ihr zu. »Uns steht ein weiterer harter Winter bevor.«

Sie nickte und starrte zu Boden. Beim Anblick seiner kalten blauen Augen zog sich ihr Innerstes zusammen. Es war nicht direkt Angst, aber doch ein Gefühl, das sie unruhig von einem auf den anderen Fuß tänzeln ließ.

»Dein Pabbi muss dir fehlen. Er war ein guter Mann.«

»Danke. Das war er. Kannten Sie ihn?«

»Ich habe ihn einmal beim Althing getroffen. Seine Predigt und sein Einsatz für seine Leute waren bemerkenswert. Einige Bischöfe sind gierig. Aber dein Pabbi war bescheiden.«

Sie nickte.

»Und er wäre stolz auf seine Tochter gewesen, denke ich.«

Sie zwang sich zu schweigen. Frauen hatten still und fügsam zu sein.

Er lächelte und schaute sie aus zusammengekniffenen Augen an. »Du bist das Sinnbild der Bescheidenheit, Rósa Magnúsdottir.«

Sein Blick war wie eine Berührung. Unwillkürlich sah sie auf seine Hände herab. Seine Venen waren dick wie Taue, seine Finger kräftig. Ihre eigenen Hände zitterten. Sie krallte sie fest in die Wolle ihres Rocks.

»Bist du gerne fügsam?«, fragte Jón mit seiner brummenden Stimme.

Sie wägte ihre Worte sorgfältig ab. »Stolz ist eine Sünde. Gott sagt, du sollst nicht hochmütig sein.«

Er trat näher an sie heran. »Du bist eine bemerkenswerte Frau.« Sein Körper verströmte Hitze, und Rósa wand sich unter seinem Blick, zwang sich jedoch, zu lächeln und ihn anzuschauen.

Während sie zusammen weitergingen, beschrieb er ihr die Schönheit von Stykkishólmur. Fast meinte sie, das Salz auf der Zunge zu schmecken, die Papageitaucher zu hören. Sie erging sich in bewundernden Bemerkungen. Mamma hatte ihr erklärt, Männer bräuchten Bewunderung.

Seine Haltung entspannte sich. Er lächelte, als er seinen Wohlstand beschrieb: die Laken aus Leinen, den Überfluss an Brot und Fleisch, die großzügigen Torffeuer, die Küche und Baðstofa den ganzen Tag warm hielten.

»Ich habe dort alle Annehmlichkeiten, die man sich nur wünschen könnte«, sagte Jón. »Es ist ein gutes Leben … nur … etwas einsam. In der Bibel heißt es, Frauen seien für Männer geschaffen: Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch.« Seine Augen waren dunkelgrau und undurchdringlich. Er streckte die Hand aus und berührte ihre Wange, ließ sie dann auf ihre Schulter sinken. Seine Hand fühlte sich heiß und schwer an.

Rósa nickte, ihr Brustkorb schien wie von einem eisernen Ring umklammert.

Jón nahm ihre Hand zwischen die seinen. Ihre Finger verschwanden. Er schaute auf ihr Handgelenk hinunter. »Welch zarte Knochen. Wie die eines Vögelchens.« Er fächerte ihre Finger auf und verschränkte sie mit den seinen. »Ich würde für dich sorgen, Rósa. Verstehst du?«

Sie nickte, die Augen aufgerissen.

»Ich würde deiner Familie Lebensmittel nach Skálholt schicken.« Er drückte ihre Finger. Sie sog scharf Luft ein. »Sag Ja zu mir«, flüsterte er.

Rósa seufzte und schloss die Augen. Die Dunkelheit in ihr öffnete ihr Maul weit, doch sie ignorierte es und verzog ihr Gesicht zu einem Lächeln.

Sigridúr war außer sich. Natürlich. »Dein Pabbi hat deinen Verstand geschult, dir das Lesen beigebracht. Und das willst du nun einem Leben voll Plackerei opfern? Feuer schüren und Wäsche schlagen, bis dein Körper zusammenbricht? Such dir einen Pfarrer, wenn du schon heiraten musst.«

Rósa biss die Zähne zusammen. »Es ist das Beste für uns. Du wirst mit Fleisch versorgt und …«

Sigridúr rang keuchend nach Luft. »Während du meilenweit von mir entfernt lebst, fast am anderen Ende des Landes. Und der Mann hat etwas Kaltes an sich …«

»Schscht, Mamma. Er ist … ein guter Mann.« Je öfter Rósa es sagte, desto mehr glaubte sie daran.

»Heirate jemand Junges. Aus Skálholt.«

Unwillkürlich musste Rósa an Pálls Lächeln denken, an seinen Kuss, der ihren gesamten Körper hatte in Flammen aufgehen lassen. Plötzlich erinnerte sie sich daran, wie er zwölf gewesen war und sie gejagt hatte. Sie war gestolpert, und er war lachend zu Boden gegangen. Als sie sich ihm zuwandte, schien ihr Lachen aus seinem Brustkorb zu kommen, sein Lachen aus ihrem Mund. Die Erinnerung durchzuckte sie, verschlug ihr für einen Augenblick den Atem.

Doch ist ein Stein erst einmal vom Strom erfasst, bleibt ihm nichts anderes übrig, als weiterzurollen.

Als sie Jón das nächste Mal sah, senkte Rósa den Blick und lächelte fromm. Sie unterhielten sich über biblische Texte, und als er vom Schweigegebot für Frauen in der Kirche sprach, nickte Rósa. Sie überhäufte ihn mit Lob.

Sie saßen beieinander am Fluss, als er ihr seine Hand in den Nacken legte. Rósa meinte, er müsse das Hämmern ihres Herzens spüren, denn ihr gesamter Körper bebte davon. Beim Aufstehen suchte sie ihr Spiegelbild im Wasser, aber neben seiner hünenhaften Kraftgestalt wirkte sie kaum wie ein Schatten und so blass wie ein Geist: Als die Wasseroberfläche ins Schwingen geriet, war sie so plötzlich verschwunden, als wäre sie einfach verschluckt worden.

Es dauerte noch eine ganze Woche, die bestimmt war von stummen Dolchblicken, knurrenden Mägen und einem Feuer, das nachts immer ausging, weil es an Torf mangelte, bis Sigridúr endlich und widerwillig nachgab und einer Ehe zwischen Rósa und Jón zustimmte. Als sie ihren Segen gab, brannten Rósas Augen, und sie spürte, wie ihr die Knie zitterten.

Jón suchte Sigridúr auf, um sich zu bedanken und zu erklären, dass er nach der Hochzeit gen Westen reisen würde, nach Stykkishólmur. Im September gebe es reichlich Heringe, das Heu müsse geerntet werden, und er sei als Bonði verantwortlich für seine Leute, habe die Lebensmittel auszuteilen und ihnen mit Rat zur Seite zu stehen.

»Verzeih mir, Rósa. Meine Arbeit und meine Leute haben Anspruch auf mich.« Seine Lippen waren nur ein dünner Strich, und er drückte Rósas Finger in seiner Hand.

Sie schluckte. »Selbstverständlich. Du bist ein wichtiger Mann.«

Jóns Gesicht entspannte sich. »Ich werde meinen Gehilfen schicken, damit er dich nach Hause geleitet. Du wirst während der Reise in seiner Obhut sein.« Er strich ihr über die Handfläche.

Sie musste sich zusammennehmen, um nicht zurückzuzucken. So sah nun ihre Zukunft aus: Dieser Schrank von einem Mann mit dem strengen Gesicht und den Händen eines Würgers. Sie nickte, unfähig auch nur etwas Luft an dem Wackerstein in ihrer Brust vorbeizupressen.

Rósa traf Páll bei der Arbeit an. Er befand sich auf einem Dach und wechselte Torfsoden aus. Sie versuchte, ihn mit dem Blick einer Fremden zu betrachten, und sah, dass er zwar dünn war und müde wirkte, doch sein Kreuz breiter geworden war und an seinen Armen feste Muskeln hervortraten.

Rósa schloss die Augen und atmete langsam aus.

Páll wandte sich um, als sie seinen Namen rief, kam jedoch nicht vom Dach heruntergeklettert.

»Ich höre, du willst heiraten.« Sein Gesicht war hart, die Stimme ausdruckslos. »Ich wünsche dir alles Gute.«

Ihr Herz sank. »Ich wollte dir sagen …«

»Es geht mich nichts an, wen du ehelichst.«

Er drehte ihr den Rücken zu und hieb wütend auf einen Torfkubus ein, um ihn in die richtige Form zu bekommen. Sonnenstrahlen tanzten über sein Haar und ließen dessen rötlichen Schimmer erstrahlen. Als er die ersten Barthaare bekommen hatte, hatte sie an den rötlichen Stoppeln gezupft und ihn ihren Kelten genannt. Er hatte gelacht, sein Atem warm an ihrer Hand.

»Magst du nicht herunterkommen?«

»Ich muss das Dach reparieren.«

»Ich … lass mich erklären …«

»Da gibt es nichts zu erklären.« Seine Stimme klang plötzlich belegt. »Es ist doch so, dass …« Er biss die Zähne zusammen, und für einen furchtbaren Augenblick zitterte seine Stimme. Dann räusperte er sich und sagte unwirsch: »Ich dachte, du wolltest dein Leben in den Dienst der Kirche stellen. Hier im Ort.«

»Ich …« Sie seufzte. »Es tut mir leid, ich …«

»Lass das.« Als sich ihre Blicke trafen, hatten seine Augen das Blau eines eisigen Gletschers angenommen.

Nach langem Schweigen wandte sie sich ab und ging davon.

Hinter sich hörte sie, wie Páll vor Anstrengung keuchte, als er die schweren Torfsoden an die entsprechende Stelle wuchtete.

Die Hochzeit fand am ersten Tag des Septembers statt, im gelblichen Licht des frühen Abends. Die dunkle Kirche war bis auf den letzten Platz besetzt, fast ganz Skálholt war gekommen, um den Hals zu recken und zu tuscheln.

Rósa duckte sich unter den harten Blicken und geflüsterten Worten der Menschen. Ihre Hände gruben sich tief in den Stoff ihres neuen weißen Leinenkleides, das mit roten Seidenfäden durchzogen war. Dort, wo das Sonnenlicht auf die Seide traf, schien Rósas Körper von Flammen umzüngelt zu werden. In die rechte Tasche des Kleides hatte Rósas Mutter ein hölzernes Kreuz gesteckt, das Magnús gehört hatte. In der linken befand sich ein Stein, den sie Rósa an diesem Morgen in die Hand gedrückt hatte.

Angesichts des Symbols auf dem Stein hatte Rósa die Stirn gerunzelt. »Ginfaxi?«

»Verleiht Mut im Kampf«, hatte Sigridúr grinsend erwidert. »Und lässt dich beim Ringen siegen.«

Jetzt, unter den Blicken der Dorfbewohner, umklammerte Rósa das Kreuz wie auch den Stein so fest, dass ihre Hände schmerzten. Das Blut rauschte ihr in den Ohren, und dennoch vernahm sie einzelne Fetzen des Dorftratsches. Das Wort Hexerei wehte zu ihr herüber, und sie verkniff sich ein Augenrollen. Zwar griffen die Dörfler immer noch selbst gerne auf die alten Runen zurück, doch der Neid ließ sie in Rósas und Sigridúrs Fall scheele Vermutungen äußern. Auch über Jón wurde getuschelt. Sie hörte erste Frau, gefolgt von missbilligendem Zungenschnalzen und unterdrücktem Gelächter.

Schweiß rann ihr die Wirbelsäule hinab.

Falls Jón etwas von dem Tratsch mitbekam, ließ er es sich nicht anmerken. Er stand neben seinem Gehilfen Pétur, den Rósa an diesem Tag zum ersten Mal zu Gesicht bekam.

Pétur war schmaler und dunkler als Jón, seine Haut erinnerte Rósa an das braune Wildleder des leeren Münzbeutels ihres Vaters, seine Körperhaltung erweckte bei ihr den Eindruck sprungbereiter Stille und ließ sie an die Abbildungen von Wölfen denken, die sie in Büchern über die Länder im Osten gesehen hatte. Er hatte braune Augen, die jedoch im Licht der wenigen Sonnenstrahlen, die durch die winzigen aus Dänemark importierten Glasfenster der Kirche fielen, fast bernsteinfarben leuchteten. Als sein glimmender Blick auf ihr zu ruhen kam, verschlug es Rósa fast den Atem. Dann hoben sich seine Mundwinkel, und sein ganzes Gesicht wurde weicher.

Sigridúr stupste ihre Tochter an. »Es heißt, er gehöre dem Huldufólk an.«

»Und es heißt auch, dass eine Frau, die schreiben kann, eine Hexe ist«, gab Rósa leise zurück.

»Er ist als Kind in den Hügeln gefunden worden. Als sei er der Erde entwachsen. So sieht er auch aus, mit diesem dunklen Haar und diesen Augen …«

Rósa riskierte ein kleines Lächeln. »Jemand vom Huldufólk hätte sich schon längst mit den Kindern aus dem Staub gemacht.«

Aber es stimmte: Péturs Haut war dunkler und seine Gesichtszüge waren härter als die jedes anderen Isländers, den Rósa jemals gesehen hatte. Er sah aus, als wäre er aus dem Vulkangestein der Insel geschaffen.

Sigridúrs Atem ging pfeifend. »Huldufólk hin oder her, ein hübscher Bursche ist er ja. Das wär doch mal ein Mann zum Heiraten.«

»Du bist nicht mehr im heiratsfähigen Alter, Mamma.«

Sigridúr gluckste.

Rósa hielt den Blick auf Jóns Gesicht gerichtet. Er lächelte sie an, und seine schieferfarbenen Augen hellten sich zu einem Himmelsgrau auf. Sie spürte, wie sich der eiserne Ring lockerte, der ihren Brustkorb umklammert hielt.

Beim Betreten der Kirche hatte Rósa Ausschau nach Pálls rötlich blondem Schopf gehalten. Sie hatte sich sogar die Vorstellung erlaubt, er würde sie angrinsen. Aber selbst wenn er es nicht täte, wenn er sie finster anfunkeln würde, könnte ihr allein sein Anblick Kraft verleihen. Als sie nun begriff, dass er nicht gekommen war, traf sie die Erkenntnis wie ein Hieb. Sie hatte ihn verloren. Unwiderruflich und endgültig verloren. Sie presste ihre Hände gegen ihren Magen und zwang sich, gegen den Schmerz anzuatmen.

Dann richtete sie sich auf, nahm die Schultern zurück und setzte ein starres Lächeln auf. Um ihren Hals lag ein Lederbändchen, an dem eine winzige Glasfigur baumelte, die Jón ihr an diesem Morgen als Hochzeitsgeschenk gegeben hatte. Sie war kalt wie Eis und hatte die vollendete Form einer Frau: mit winzigen Händen, gefaltet in Selbstbetrachtung, und keusch gesenktem Blick. Rósa hatte große Augen gemacht, als Jón ihr den Anhänger überreicht hatte. Glas war kostbar, eine Rarität, und Rósa hatte noch nie etwas besessen, das nur dazu da war, hübsch auszusehen.

»Ich habe es von einem dänischen Händler erhalten«, sagte er. »Bestechend schön. Zart. Bescheiden.« Er berührte ihre Wange. Seine Hand brannte auf ihrer Haut. »Da musste ich an dich denken.«

Eine Frau aus Glas, in absoluter Reglosigkeit: vollkommen und zugleich leicht zu zerbrechen.

Rósa presste ihre Hand so fest um die Figur zusammen, dass sie zu schmerzen begann. Erst später bemerkte sie, dass das Glas einen violetten Abdruck in ihrer Handfläche hinterlassen hatte.

Die Stimme des Bischofs verlor sich im dunklen muffigen Inneren der Kirche, in der die Luft durch die Wärme zu vieler Menschenkörper schwer und abgestanden war.

Nach dem Segensspruch starrte Jón sie an und streckte den Arm aus, als wollte er ihr abermals über die Wange streicheln, ließ die Hand dann jedoch sinken.

Langsam atmete sie aus und merkte erst jetzt, dass sie den Atem angehalten hatte.

Noch am selben Nachmittag machte sich Jón auf den Weg zurück nach Stykkishólmur. Es gab keinen Hochzeitsschmaus, keine Nacht in Rósas Bett. Sie war dankbar, dass sie so nicht das Schnarchen ihrer Mutter im Bett gegenüber ertragen musste, wenn sie zum ersten Mal das Bett mit ihrem Gemahl teilte.

Pétur sollte drei Wochen später wiederkommen und sie in ihr neues Leben geleiten.

Skálholt, September 1686

Es ist spät, aber immer noch hell. Der Morgen ihrer Abreise steht bevor. Sie und Pétur werden in Richtung Nordwesten aufbrechen, und Rósa wird eine andere werden. Unwillkürlich muss sie an die Saga von Erik dem Roten denken, in der Gudrid in ein fremdes Land zieht und während der Reise entdeckt, dass ihre gesamte Gefolgschaft von Krankheit geplagt und ihre Reise vom Tod begleitet wird. Gudrid sucht daraufhin eine Seherin auf und stimmt in deren rituellen Schutzgesang ein.

Rósa, die im Vorratsraum steht und ihren Reisesack packt, murmelt die Worte der Saga vor sich hin, als könnte sie damit einen Schutzmantel um sich weben.

»Sonne wusste nicht,

welch Tempel sie besaß,

Mond wusste nicht,

welch Macht er besaß,

Sterne wussten nicht,

welch Orte sie besaßen.«

Ihre Hände zittern trotzdem; die Laken, die sie ungeschickt hervorholt, fallen ihr zu Boden.

Sigridúr hat zu viel Brennevín getrunken und schnarcht leise in ihrem Bett, als Rósa ins Baðstofa zurückkehrt. Pétur steht am Feuer und wärmt sich die Hände. Er richtet seine außergewöhnlichen Augen auf sie, dunkle Bronze in der sich herabsenkenden Dämmerung. Zunächst glaubt sie, er starre sie finster an, doch dann bemerkt sie, dass er die gläserne Frauenfigur fixiert, die an einem Lederbändchen um ihren Hals baumelt. Ob er die unnützen Kosten missbilligt? Rósa schiebt den Anhänger rasch unter den Stoff ihres Kleides.

Er hebt die Augenbrauen und wendet sich dann wieder dem Feuer zu. »Hast du schon mal das Meer gesehen?«, fragt er.

»Noch nie. Meinst du, ich werde daran Gefallen finden?«

Sein Lächeln wirkt spöttisch, als fände er irgendetwas an ihr belustigend. »Manche mögen es, andere nicht. Aber ich glaube kaum, dass Jón dich aufgrund deiner Fähigkeiten am Ruder auserwählt hat.«

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