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Die Fremde im Spiegel

Als Buch hier erhältlich:

Mit ihrem aufwühlenden Tagebuch wurde Samar Yazbek zur Chronistin der syrischen Revolution. Jetzt erzählt sie aus dem Innern der syrischen Gesellschaft – von Hanan, die ihren Ehemann im Bett mit ihrer jungen Dienerin Alia erwischt. Für ihn empfindet Hanan zwar nur Abscheu, mit Alia aber verbindet sie eine Liebesgeschichte; voller Wut und Eifersucht jagt sie sie aus dem Haus. Aufgewühlt starrt sie ihr durchs Fenster hinterher und wird sich dabei ihres Lebens bewusst. Parallel dazu wird Alias Herkunft erzählt, die Geschichte eines Mädchens, das von früh auf gelernt hat zu kämpfen. Samar Yazbeks Roman basiert auf einem realen Skandal und handelt von Gewalt, Abhängigkeit und Herrschaft, wie sie das Leben vieler Frauen im modernen Syrien bestimmen.
  • Erscheinungstag: 25.08.2014
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312006328

Leseprobe

Es ist der schräge Lichtstrahl.

Die Tür ist nur angelehnt. Doch wäre da nicht dieses Licht, das durch den Spalt schräg in den Korridor fällt, würde Hanan al-Hâschimi, als sie barfuß durch den Flur zum Spiegel läuft, das leise Flüstern wohl gar nicht bemerken.

Wie von der Tarantel gestochen ist sie aus dem Bett gesprungen, aus einem Albtraum hochgeschreckt, in dem sie sich in eine Frau mit fünf Armen und drei Brüsten verwandelt hatte.

Sie murmelt immer noch wirres Zeug. Fährt sich mit den Händen über den Körper, über den weinroten Spitzenstoff, der an ihrer Brust klebt. Sucht nach Auswüchsen und neuen Armen. Sie kann nicht glauben, dass sich ihr Körper noch in seinem normalen Zustand befindet, und deshalb ist sie die Stufen der Holztreppe hinuntergeeilt, zu dem länglichen Spiegel, den sie aus der alten Wohnung im Damaszener Muhadschirîn-Viertel mitgenommen hat. Sie weiß, dass der Spiegel sie nicht betrügen wird, er wird ihr bestätigen, dass sich keine schrecklichen dürren Arme wie Schlangen um ihren Körper winden.

Aber da ist dieser Lichtstrahl!

Der schräg den Korridor durchschneidende Lichtstrahl holt sie aus ihrem Albtraum heraus und macht ihr bewusst, dass sie barfuß ist. Hanan horcht auf das Flüstern, das aus dem Zimmer ihres Mannes dringt.

Sie bleibt wie erstarrt stehen. Sie schaut nicht nach, was in dem Zimmer vor sich geht, das sie seit Jahren nicht betreten hat. Sie kann sich gar nicht mehr an diesen Raum erinnern, denn sie hat nie auch nur die geringste Neugier verspürt, den Ort zu erkunden, an dem ihr Mann schläft. Sie wartet nur noch auf seinen Tod.

Hanan knipst das Licht an und nähert sich dem großen Spiegel. Halb nackt steht sie davor, nur mit einem kurzen Spitzenkleid angetan, und schaut sich an. Doch da ist dieser Gedanke, diese plötzliche Neugier, zu erfahren, was ihr Mann treibt. Was ist nur mit ihr los?

Sie betrachtet ihr Gesicht, ihre glänzenden Augen. Sie streicht über ihre Oberschenkel, muss lächeln, freut sich an sich selbst. Für einige Augenblicke vergisst sie, welche Laute da aus dem Zimmer gekommen sind. Versunken mustert sie ihren Körper im Spiegel. Sie hebt ihr kurzes Nachthemd, dreht sich, mustert so neugierig ihre Pobacken, als würde sie den Körper einer anderen Frau betrachten. Sie fährt mit den Fingern über die Oberfläche des Spiegels, führt dann die Hand zum Gesicht und streicht sich über die Wangen. Ihre Haut fühlt sich so zart an, so glatt wie die polierte Spiegelfläche. Sie lacht auf und legt sich wie eine brave Schülerin die Hand auf den Mund.

Ihr Körper hat sich also keineswegs verändert. Hanan schaltet das Licht wieder aus und erwartet, ihre Silhouette im Spiegel zu sehen. Doch in der plötzlichen Dunkelheit fällt ihr auf, dass der Lichtschein, der aus dem Zimmer ihres Mannes drang, erloschen ist. Die zuvor angelehnte Tür ist verschlossen.

Der einzige Gedanke, der Hanan in den Sinn kommt, ist, dass sich ein Einbrecher in die Villa geschlichen hat, und sie tastet erschrocken im Finstern nach der Wand. Fieberhaft überlegt sie, wie sie das nächste Telefon erreichen kann, denn ihr Mann schläft sicher so tief, dass er nichts gehört hat. Und falls er doch aufgewacht sein sollte, dann hätte er bei dem Geräusch von Schritten doch nicht die Lichter gelöscht?

Sie schmiegt sich an die Wand, wird ein Teil von ihr. Sie lässt sich in die Hocke gleiten, schlingt die Arme um den Körper und versucht so leise wie möglich zu atmen. Nachdem sie einige Minuten so verharrt ist, dringt erneut Licht aus dem Zimmer, und wieder ist ein Wispern zu hören.

Ein zartes Flüstern. Ein unterdrücktes Lachen und ein merkwürdiges Seufzen. Hanan erhebt sich, macht ein paar langsame Schritte, immer dem Geräusch nach. Knapp vor der Tür bleibt sie stehen, legt zitternd eine Hand an die Klinke. Dann reißt sie die Tür mit einem Ruck auf und sieht die ganze Szene vor sich. Das Zimmer ist zu einer schummrigen Bühne geworden, erleuchtet nur von einer kleinen Lampe. Hanan hat das Gefühl, an ihrem ganzen Körper würden sich die Poren verschließen, zu spitzen kleinen Pickeln werden.

Ihr Mann liegt nackt auf dem Bett, das Gesicht schmerzverzerrt. Nein, es ist nicht Schmerz. Es ist ein Gesichtsausdruck, den sie nicht an ihm kennt. Das ist nicht er, und doch ist es ihr Mann. Und da – wie ein dunkles Loch inmitten des Lichts – ist Alia.

Träumt sie doch noch? Nein, es ist wahr, was sie sieht. Das ist Alia. Alia, die sie besser kennt als sich selbst. Sie ist es!

Alia, die ihre Glieder lasziv um den Körper des Mannes geschlungen hat, fährt hoch, als sie ihre Dienstherrin erblickt. Sie sieht ihr direkt ins Gesicht, und das Weiß ihrer Augen leuchtet. Keine der beiden Frauen bringt ein Wort heraus. Der Mann, dessen Körper die ihren voneinander trennt, liegt regungslos da, in einer beschämenden Nacktheit, die Hanan fremd ist. Sie hat ihr Leben mit ihm verbracht, ohne seine kleinen Merkmale zu kennen, ohne ihn genau anzusehen. Und wenn sein schwerer Körper auf ihr lag, hat sie sein Gewicht nicht genossen, immer nur die Last gespürt. Aber jetzt ist er nackt! Und erschöpft. Starrt ins Leere und scheint sich gar nicht darum zu kümmern, was um ihn herum vorgeht. Die Hände über dem Bauch verschränkt, atmet er so tief ein, als sei er kurz davor, in ein tiefes Meer einzutauchen. Hanans Blick kehrt wieder zu Alia zurück, zu ihren Augen, zu ihren Gliedern, ihren Fingern. Sie glaubt die grünen Adern der Finger pulsieren zu sehen, als Alia das schlaffe Stück Fleisch langsam loslässt. Es sieht aus, als wolle Alia im nächsten Moment lossprinten: den Rücken gebeugt, hockt sie in Lauerhaltung auf dem Bett. Sie wagt nicht, sich aufzurichten, scheint den Atem anzuhalten, denn sie weiß, beim nächsten Atemzug kommt eine Katastrophe, und die Mauern werden über ihr einbrechen. Hanan spürt das rasende Pochen ihres eigenen Herzens und hält sich am Fußende des Bettes fest. Sie macht einen Schritt vorwärts, und in dem Augenblick, in dem sie die Hand in die Höhe hebt, gleitet Alia blitzschnell vom Bett hinunter und schleicht wie eine Schlange an ihren Füßen vorbei. Sie hastet davon, in Richtung ihres Zimmers.

Hanan betrachtet das abscheuliche Glied ihres Mannes, das wie ein Lumpen herabhängt. Sie schreit: «Alia!»

Sie weiß selbst nicht, woher ihre Stimme kommt. Aus ihrer Kehle oder aus den spitzen Poren ihrer Haut … Oder aus den Brüsten und Armen, die ganz plötzlich im Zimmer umherfliegen?

Verrat, das ist das Einzige, was sie fühlt und denkt. Wie eine Irre rennt sie durch den Flur, klopft gegen die verschlossene Tür des Dienstmädchens. Immer wieder schreit sie ihren Namen. Dann, plötzlich, besinnt sie sich anders. Ihre Finger lassen von der Tür ab. Mit gemäßigter Stimme erteilt sie ihrem Dienstmädchen nur noch den knappen Befehl, das Haus zu verlassen, dann kehrt sie in ihr Zimmer zurück.

Hanan schließt die Tür hinter sich. Sie setzt sich, versucht ruhiger zu werden. Sie wird Alia für immer aus ihrem Leben verbannen, so als wäre sie niemals hier gewesen. Sie wird sie ausradieren wie ein mit weichem Bleistift niedergeschriebenes Wort. Vom Flur her sind Alias huschende Schritte zu hören. Wie eine Diebin macht sie sich aus dem Staub. Sie wird in die Gosse zurückkehren, aus der sie gekommen ist; in die schmutzige enge Gasse voller Schrotthaufen und plärrender Kinder, die mit verrotzten Nasen auf den Müllcontainern hocken und ihre dunklen nackten Beine hinunterhängen lassen wie Äste eines verbrannten Orangenbaums.

Als das Quietschen der Pforte ertönt, fühlt Hanan nur noch Erleichterung. Es ist, als wäre sie erst jetzt aus einem Albtraum erwacht. Stille herrscht. Plötzlich springt Hanan auf zum Fenster, zieht den Vorhang beiseite und späht hinaus. Alias huschende Silhouette ist zu erkennen, und Hanan wünscht sich, auch dieses Bild sei nur ein Traum, so wie auch der schräge Lichtstrahl ein Traum sein soll. Mit fahrigen Händen versucht sie das Fenster zu öffnen, dann hält sie wieder inne. Sie bringt es nicht über sich, Alias Namen zu rufen, sie zur Rückkehr aufzufordern.

In der blauen Dämmerung verfolgt sie Alias Schatten. Ihr Blick schweift in die Ferne, wo Schwärme von fremdartigen Vögeln ihre Kreise ziehen, als wollten sie das stolpernde junge Mädchen da unten verabschieden. Hanan schließt wieder die Vorhänge. Sie kriecht ins Bett und atmet den Geruch der Laken der letzten Nacht ein, den Duft von Zimt.

Der Lichtstrahl war es.

Er war es, der ihre zukünftigen Nächte in Finsternis versinken lassen wird. Denn sie hat vergessen, die Zimmertür ihrer Herrin zu schließen, als sie vom oberen Stockwerk nach unten zum Herrn schlich.

Als sie Hanan al-Hâschimi die Treppe herunterkommen hörte, war Alia zu Tode erschrocken. Sie wusste, ihre Herrin würde nun alles entdecken. Sie lauerte, wartete nur darauf, dass sich jeden Moment die Tür öffnete und ihre Gestalt darin erschien. Unwillkürlich begann sie vom Körper des Mannes herabzurutschen. Unfähig, ihre Finger zu öffnen, die sich um sein Glied krampften, sackte sie neben ihm in sich zusammen. Sie dachte darüber nach, aus dem Fenster zu springen oder sich unter dem Bett zu verkriechen, aber sie war zu keiner Regung fähig, so als befinde sie sich in einem Traum. Doch der schräge Lichtstrahl war Realität, und seinetwegen ist sie kurz darauf wie eine Schlange an den Füßen Hanan al-Hâschimis vorbeigekrochen.

Sie weiß selbst nicht, wie sie vom Bett des Herrn so schnell in ihr Zimmer gelangt ist. Wie benommen lag sie dort am Boden, stieß sich noch den Kopf und glaubte, in ein endlos tiefes Loch zu fallen. Das Geräusch der Schritte, die sich ihrem Zimmer näherten, brachte sie wieder zu sich, und als die Herrin gegen die abgeschlossene Tür zu donnern begann, begriff sie, dass das Spiel endgültig aus war. Hanan raste, sie schluchzte wie ein Kind. Sie schrie und beschimpfte Alia als hässliche picklige Drecksgöre.

Und dabei war noch kurz davor alles anders gewesen. Bevor Alia ihr Nachthemd angezogen hatte und vom Zimmer der Herrin in ihr eigenes zurückgekehrt war, wie Hanan al-Hâschimi es von ihr verlangt hatte, hatte sie in ihren Augen so viel Liebe und Erfüllung gesehen und darüber selbst einen Glücksschauer verspürt.

Wie konnte ihre Herrin sie jetzt als Drecksgöre bezeichnen? Wie konnten ihre schönen Augen auf einmal so viel Hass ausdrücken? Alia hat zitternd ihre Kleider zusammengesucht, während eine seltsame Kälte ihre Glieder hochstieg – eine eisige Kälte mitten im Sommer, wo einem die Schweißperlen doch sonst nur so über die Haut kullern. In ihrer Verstörung sind vor ihrem Auge Bilder aufgetaucht vom Kältetod mitten auf einer verlassenen Straße, auf einem schmutzigen Gehsteig, Geschichten, die sie gehört hat. Den Tag über hatte Alia immer die Nacht im Kopf, die Nacht, in der sie zu einer Königin wurde. Sie hat sich diese Nächte, die sie so liebte und herbeisehnte, bis in alle Einzelheiten vorgestellt. Die Nächte, in der die Herrin nach ihrer Rückkehr von einer ihrer abendlichen Partys nach ihr rief. Die Nächte ihrer geheimen, leidenschaftlichen Zusammenkünfte.

In der ersten Hälfte der Nacht hat Alia nach dem Zepter gegriffen, hat nach der unsichtbaren Krone ihrer Macht getastet, bevor sie in einen kurzen Schlummer fiel. Wenn sie aufwachte, döste sie noch ein Weilchen in ihrem Bett vor sich hin, immer bereit für den Ruf der Herrin.

In der zweiten Hälfte hat sie sich in das Zimmer ihres Herrn geschlichen. Sich nackt zu ihm gelegt und mit seinem schlaffen Fleisch gespielt, bevor sie ihn wieder verließ und auf ihr Zimmer zurückkehrte. Er beklagte sich nicht, wenn es ihr nicht gelang, seine Männlichkeit zu wecken, und ihr war es auch nicht wichtig, weil sie lieber in seinen Armen lag und seinem heißen Atem lauschte … Jedes Mal ist sie kurz vor Sonnenaufgang in ihr Zimmer zurückgekehrt. Sie hat ein Bad genommen und anschließend wie ein Stein geschlafen. Sie wusste, dass gleich der Tag anbrach, dass sie ihr Zaubergewand ablegen und wieder Befehle entgegennehmen würde.

Nie hätte sie gedacht, dass der Lichtschein, den sie aus Leichtsinn vergessen hatte, ihr Königreich in eine Ruine verwandeln würde. Es war nicht schwierig gewesen, den Thron zu erklimmen, nachdem sie einmal das Leben und die Liebe studiert hatte und wusste, wie sie im Bett herrschen konnte. Aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihre Herrin am Ende der Nacht im unteren Stockwerk vorbeikommen könnte, nachdem sie sie doch zuvor noch in tiefem Schlaf zurückgelassen hatte.

Im gleichen Moment, in dem sie ihrer Herrin in die Augen sah, stieg eine alte Angst in ihr auf; die Angst vor etwas Unbekanntem, deren Ursprung sie nicht identifizieren konnte, die sie aber nie ganz verloren hatte. Immer war die Angst wie ein trennender Schleier da gewesen, ein dünnes, fragiles Häutchen, das durch die Erfahrungen der letzten Jahre nicht widerstandsfähiger geworden war. Und obwohl viele Jahre sie von der Welt ihrer Kindheit trennten, war diese Angst nie ganz aus ihrer Miene verschwunden, waren die Verhärtungen in ihrem Gesicht nicht weicher geworden, jene Verhärtungen, die eine besondere Anziehungskraft auf Hanan al-Hâschimi ausübten. Sie waren auch schuld daran, dass die Muskeln ihres Gesichtes gelegentlich zu zucken begannen … Dann hob sich ihre rechte Wange, während die linke sich senkte, die Lippen entblößten kleine Zähne, die Zähne bissen auf die Lippen, und ihre Augenlider flatterten, wenn sie hartnäckig versuchte, die Tränen zurückzuhalten.

In dem kurzen Augenblick, in dem sie auf ihr Zimmer floh – er kam ihr vor wie hundert Jahre –, mit erloschenem Blick und splitterfasernackt, hatte sie das Gefühl, in einen Abgrund zu stürzen. Sie schloss die Tür hinter sich ab, warf sich auf den Fliesenboden und brach in Tränen aus, die erst versiegten, als sie Hanans Stimme hörte, die ihr befahl zu verschwinden.

Kurz hat sie sich vorgestellt, sie könnte, wenn sie ihr Zimmer verlassen und sich in die Arme ihrer Herrin werfen würde, den Zauber wieder heraufbeschwören und Hanans Herz erweichen. Es war noch immer Nacht, noch zog der Morgen nicht herauf, und noch war sie die einzige Königin. Und wenn der Tag anbrechen und sie wieder zum Dienstmädchen würde, wäre alles anders. Es war ihr Vertrauen in den Zauber der Nacht, der sie das glauben ließ. Aber dann hatte sie wieder den Blick der Herrin vor Augen und verwarf den Gedanken. Also hat sie ganz leise den Koffer in die Hand genommen und ist aus der Villa geschlichen, ohne sich umzudrehen. Sie hat nicht zurückgeblickt und nicht bemerkt, das Hanan al-Hâschimi am Fenster stand.

Der Lichtstrahl hat Hanan den Weg in den Abgrund gewiesen. Mit Augen wie dunkle Höhlen steht sie hinter dem Vorhang und sieht Alia nach. Sie umklammert die eigenen Schultern so fest, dass es knackt. Dann kriecht sie zurück ins Bett und redet sich ein, dass alles besser wird, dass es ihr nach dem Aufwachen bessergehen wird.

Der Lichtstrahl ist es auch, der sich jetzt in einen Albtraum verwandelt. In eine Feuerpeitsche, mit der sie geschlagen wird, bis ihr Fleisch in Fetzen hängt und die Knochen hervortreten. In einen Feuerschweif, der durch die leicht geöffnete Tür dringt und in Alias Kopf endet, Alia, die zwischen den Beinen ihres Mannes ein weiches Stück Fleisch in der Hand hält. Das Stück Fleisch schwillt an und verwandelt sich in eine Schlange. Alia besteigt die Schlange, der Schlange wachsen zwei Flügel, sie schwebt in die Höhe, zieht Kreise und peitscht Hanan die Flügel ins Gesicht.

Hanan erwacht aus ihrem Albtraum. Wieder springt sie wie von der Tarantel gestochen aus dem Bett, späht durch den Vorhangspalt: Vielleicht war auch das davor ein Albtraum? Alles einfach nur schreckliche Träume!

Hanan murmelt vor sich hin, gestikuliert in der Luft, vertreibt Geister. Sie hat das Gefühl, tausend Jahre geschlafen zu haben, dabei weiß sie genau, dass sie nicht länger als eine Stunde eingenickt ist. Sie rennt zu dem kleinen Spiegel an der Wand ihres Schlafzimmers:

«Ich werde nicht in Panik verfallen. Meine verdammten Glieder werden verschwinden, sie werden gleich aufhören weiterzuwachsen. Ich muss mich nur zusammenreißen … Nicht wahr, du olles Weib?», schreit sie und schlägt gegen das Spiegelglas.

«Wo warst du bisher? Ich bin der Spiegel, und wer von uns beiden weiß mehr über sich als die andere? Ab jetzt ist die Zeit zum Reden vorbei.»

«Ich weiß, dass ich phantasiere. Alles, was passiert, ist ein Traum. Nein, kein Traum! Es ist nur mein Unterbewusstes, das sich mir vorübergehend offenbart», sagt Hanan zu sich selbst und blickt herausfordernd in den Spiegel. Sie stellt sich auf die Bettkante und starrt auf die glatte Oberfläche, als suche sie in einer weit entfernten Gegend nach jemandem, dessen Gesichtszüge ihr fremd sind:

«Ich hab sie nicht hinausgeworfen. Ich kann sie gar nicht hinausgeworfen haben. Sie schläft immer noch in ihrem Zimmer, wartet auf den Morgen, um ihre Arbeit aufzunehmen.»

Sie schlägt gegen den Spiegel. Blickt sich ins Gesicht und schüttelt heftig den Kopf:

«Ich habe mein Zimmer gar nicht verlassen. Die Bilder in meinem Kopf, die entstammen nur meinem maroden Hirn.»

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