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Die Guten

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Nach dem Ende ihrer Ehe fühlt Helen sich einsam, selbst zu ihrem kleinen Sohn findet sie keinen Zugang mehr. Dann lernt sie Ava und Swift Havilland kennen. Das charismatische Paar heißt Helen mit offenen Armen in ihrer Welt willkommen - einer Welt von interessanten Menschen, ausgelassenen Partys und Wohlstand. Immer stärker gerät die junge Frau in den Bann ihrer neuen Freunde. Bis sie feststellen muss, dass diese Freundschaft an Bedingungen geknüpft ist. Und dass sie dadurch im Begriff ist, zu verlieren, was sie am meisten liebt.

"Genauso wie Helen von den Havillands in den Bann gezogen wird, wird auch der Leser von dieser völlig betörenden, unbedingt lesenswerten Geschichte eingesogen." Booklist


  • Erscheinungstag: 10.10.2016
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959676052
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Es war Ende November, und seit einer Woche regnete es ununterbrochen. Bevor die Schule wieder angefangen hatte, war ich mit meinem Sohn aus dem alten Apartment gezogen, doch ich hatte unsere letzten Habseligkeiten noch nicht aus dem Lagerraum geholt, den ich gemietet hatte. Da nur noch zwei Tage bis zum Monatsende blieben, beschloss ich, nicht länger auf trockenes Wetter zu warten. Es gab Schlimmeres als ein paar nasse Kartons. Das wusste ich aus eigener Erfahrung.

Ich war froh, dass ich diese Stadt endlich hinter mir gelassen hatte. Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich bei dem Rechtsanwalt, der mich vor mehr als zwölf Jahren in meinem Sorgerechtsstreit vor Gericht vertreten hatte, die letzten Raten abgezahlt. Oliver und ich wohnten jetzt näher an meiner neuen Arbeitsstelle in Oakland in einer größeren Wohnung – in der mein Sohn endlich ein bisschen Platz für sich und ich dazu noch ein kleines Arbeitszimmer zur Verfügung hatte. Nach einer langen harten Zeit sah die Zukunft vielversprechend aus.

Da das Geld wie immer knapp war und Ollie das Wochenende bei seinem Vater verbrachte, kümmerte ich mich allein darum, die letzte Fuhre mit Dingen, die wir nicht mehr benötigten, zu Goodwill zu bringen. So gut wie alles war pitschnass, genauso wie ich. Ich stand an einer Kreuzung und wartete, bis ich fahren konnte. Ich wollte in diesem Moment nur noch raus aus dieser Stadt. Danach, das wusste ich, würde ich nie wieder zurückkehren.

Fast zehn Jahre war ich Ava Havilland nicht mehr begegnet. Und an diesem Tag dann sah ich sie.

Es gibt ein Phänomen, das ich schon von früher kannte: Dass der Blick in einer Umgebung, in der es so viel scheinbar Unbedeutendes zu sehen gibt, von einer kleinen Sache angezogen wird, die unter all diesen tausend Dingen sonderbar wirkt. So als würde sie geradezu nach einem rufen. Zwischen allem anderen, das das Auge erfasst und das Hirn als unwichtig erkennt, richtet sich der Blick plötzlich auf diese eine Sache, die nicht so recht ins Bild passen will oder vielleicht eine Bedrohung darstellt. Oder sie erinnert einen einfach nur an eine andere Zeit und einen anderen Ort. Und man starrt wie gebannt darauf.

Es ist das, was man nicht erwartet hat. Dieses eine Objekt in der Umgebung, das hervorsticht. Das jemand anders vielleicht gar nicht wahrnehmen würde.

Ich erinnere mich an einen Tag, als ich mit Ollie bei einem Baseballspiel war – einer dieser unzähligen Versuche, innerhalb der engen Grenzen meiner seltenen Sechs-Stunden-Besuche eine normale, glückliche Zeit mit ihm zu verbringen. Ein paar Sitzreihen höher am anderen Ende des Baseballplatzes – unter Tausenden anderer Fans – hatte ich einen Mann entdeckt, den ich von meinen Dienstagstreffen der Anonymen Alkoholiker kannte. Er hatte ein Bier in der Hand und lachte auf eine Art, die mir zeigte, dass es nicht sein erstes war. Ein Gefühl von Traurigkeit – oder mehr noch Entsetzen – hatte mich überfallen, denn erst eine Woche zuvor hatten wir gefeiert, dass er seit drei Jahren trocken war. Und wenn er so scheitern konnte, was war dann mit mir?

Damals hatte ich den Blick abgewandt. Mich stattdessen zu meinem Sohn umgedreht und eine Bemerkung über den Pitcher gemacht – die Art von Kommentar, die jemand, der mehr vom Spiel versteht, in so einem Moment seinem Sohn gegenüber machen würde. In einem Moment, in dem eine Mutter das Erlebnis eines Baseballspiels mit ihrem Sohn teilen und dabei alles andere vergessen will. Eine Mutter, deren Kind nie gesehen hat, wie sie Weinflaschen unter den Cornflakespackungen ganz unten im Mülleimer versteckt oder wie sie in Handschellen auf den Rücksitz eines Streifenwagens verfrachtet wird. Eine Mutter, die ihr Kind jeden Abend sieht, nicht nur für sechs Stunden an zwei Samstagen im Monat. Jahrelang hatte ich mir nichts mehr gewünscht, als eine solche Mutter zu sein.

Das war lange her. Damals hatte ich die Havillands noch nicht einmal gekannt. Ich hatte auch Elliot noch nicht getroffen (der später alles gegeben hätte, um meinen Sohn und mich zu einem Baseballspiel einzuladen und ein Teil unserer kleinen problembelasteten Familie zu werden). Viele Dinge waren in jenen Tagen noch nicht passiert.

Hier saß ich nun am Steuer meines alten Honda Civic und wartete an einer Kreuzung in einem heruntergekommenen Viertel von San Mateo, wo die Flugzeuge nach dem Start oder vor der Landung auf dem nahen Flughafen so tief flogen, dass es sich manchmal anfühlte, als würden sie einem das Fahrzeugdach abrasieren.

Ein schwarzer Wagen fuhr an mir vorbei. Kein Polizeiauto, obwohl es wie ein Dienstwagen aussah, keine Limousine. Doch es war nicht der Fahrer, der meinen Blick auf sich zog, sondern die Person auf dem Rücksitz. Sie sah aus dem Fenster in den Regen, und für einen kurzen Moment trafen sich unsere Blicke.

In den wenigen Sekunden, bis der schwarze Wagen von der Kreuzung verschwunden war, erkannte ich sie. Im ersten Moment wollte ich ihr – einem Instinkt folgend, der sich noch nicht auf die neue Situation eingestellt hatte – zur Begrüßung etwas zurufen wie einer lange vermissten Freundin. Für eine Sekunde überkam mich eine Welle spontaner ungetrübter Freude. Es war Ava.

Dann erinnerte ich mich wieder. Wir waren keine Freundinnen mehr. Auch nach so langer Zeit fühlte es sich immer noch merkwürdig an, sie zu sehen und nicht nach ihr zu rufen. Nicht einmal die Hand zur Begrüßung zu heben.

Ich ließ sie vorbeifahren. Zeigte keine Gefühlsregung. Sollte sie mich erkannt haben (und etwas an ihrem Blick, als sie die wenigen Sekunden aus dem Fenster zu mir herüberstarrte, sagte mir, dass dies der Fall war, schließlich hatte sie mich direkt angesehen), so ließ sie sich das ebenso wenig anmerken wie ich.

Sie hatte sich sehr verändert, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten. Nicht nur, weil sie älter geworden war. (Ich schätzte, dass Ava jetzt zweiundsechzig sein musste, sie hatte bald Geburtstag.) Ava war immer sehr schlank gewesen, aber das Gesicht, das ich jetzt durchs Fenster gesehen hatte, war nur noch Haut und Knochen. Sie ähnelte einer Toten, die sie nur noch nicht begraben hatten. Oder einem Geist – und in vieler Hinsicht war sie das für mich inzwischen.

Früher, als wir täglich miteinander gesprochen hatten – mehr als einmal am Tag in der Regel –, hatte Ava immer tausend Dinge zu berichten gehabt. Doch ich hatte auch ihre Bereitschaft geliebt, mir zuzuhören. Ihr starkes Interesse an dem, was ich zu erzählen hatte.

Immer hatte sie gerade irgendein Projekt in Arbeit, und jedes davon war aufregend. Eine Aura von Entschlossenheit und Zuversicht umgab sie, wie ich es bei keiner anderen Person kannte. Wenn Ava einen Raum betrat, war klar, dass etwas passieren würde. Etwas Wundervolles.

Die Person, die ich an diesem Tag auf dem Rücksitz des offiziell wirkenden schwarzen Wagens erblickte, sah wie jemand aus, der nichts Gutes mehr zu erwarten hatte, dessen Leben vorbei war. Nur ihr Körper funktionierte noch weiter.

Ihr Haar war offensichtlich grau geworden, auch wenn es größtenteils von einer merkwürdigen roten Kappe verdeckt wurde, einer Kopfbedeckung, die die Ava, die ich gekannt hatte, niemals getragen hätte. Diese Art Mützen gab es auf Handarbeitsmärkten für Senioren zu kaufen, von alten Damen aus Polyestergarn gestrickt, weil es billiger war als Wolle. „Polyester“, hatte Ava mal zu mir gesagt. „Hörst du nicht schon allein beim Klang des Wortes, dass dieses Zeug nichts taugt?“

Aber es war auf jeden Fall Ava. Niemand sonst sah so aus wie sie. Nur dass diese Ava nicht mehr am Steuer eines silberfarbenen Mercedes Sprinter Vans saß. Diese Ava residierte nicht mehr in dem riesigen Haus an der Folger Lane mit dem exotischen Rosengarten, gepflegt von einem angestellten Gärtner, und dem Swimmingpool mit dem schwarzen Boden. Es gab keine guatemaltekische Haushälterin mehr, die ihre Kleidung aus der Reinigung holte und dafür sorgte, dass in ihrem ausladenden Kleiderschrank alles sorgfältig nach Farben sortiert war, zusammen mit den schönen Schuhen in den Originalkartons und den Tüchern und dem Schmuck, den Swift für sie ausgesucht hatte, in den mit Samt beschlagenen Kästchen. Die Frau auf dem Rücksitz des schwarzen Wagens verschenkte keine Kaschmirschals oder Socken mehr an die Glücklichen, die sie zu ihrem Freundeskreis zählte, oder verteilte Shepherd’s Pie an Vietnamveteranen und Knochen an streunende Hunde. Es war eigentlich unmöglich, sich Ava ohne ihre Hunde vorzustellen, aber hier war sie.

Das Unfassbarste von allem aber war: Hier war Ava ohne Swift.

Es hatte Zeiten gegeben, in denen für mich kein Tag verging, ohne ihre Stimme zu hören. Fast alles, was ich tat, war direkt von dem beeinflusst, was Ava mir erzählte oder nicht einmal aussprechen musste, denn ich wusste bereits vorher, was Ava dachte. Und was es auch war, ich glaubte dasselbe. Dann kam die lange dunkle Zeit, nachdem Ava mich aus ihrer Welt verbannt hatte, in der das schmerzhafte Bewusstsein dieses Verrats mein Leben bestimmte – noch quälender war nur der Verlust des Sorgerechts für meinen Sohn gewesen. Nachdem ich Avas Freundschaft verloren hatte, war es mir schwergefallen, mich darauf zu besinnen, wer ich ohne sie sein konnte. Sosehr mich ihre Gegenwart auch beeinflusst hatte, ihre Abwesenheit prägte mich noch viel stärker.

Als ich sie hinter dem Fenster des vorbeifahrenden Wagens entdeckte, war ich überrascht, festzustellen, dass ich schon so lange nicht mehr an sie gedacht hatte. Und als ich sie nun sah, verspürte ich einen kurzen Stich von Bedauern. Nicht dass ich mir die alten Zeiten in der Folger Lane zurückwünschte. Jetzt wünschte ich nur, ich hätte niemals einen Fuß in dieses Haus gesetzt.

2. KAPITEL

Das Haus. Ich werde damit beginnen. Inzwischen wohnt jemand anders in der Villa der Havillands. Sie haben die behindertengerechte Rampe abbauen lassen und Avas Kamelien heruntergeschnitten, um einen größeren Parkplatz zu schaffen. Auf dem parkt nun ein silberfarbener Hybrid-SUV, aus dem ich kürzlich zwei blonde Kinder habe steigen sehen, zusammen mit einer Frau, die ihre Nanny zu sein schien. Auch wenn mich in den seltenen Momenten, in denen ich an diesem Haus vorbeikomme, große Traurigkeit überfällt, ist diese immer verbunden mit dem anderen Gefühl, das ich jedes Mal hatte, wenn ich diese Auffahrt hochfuhr – der Überzeugung, nach langer Zeit an einem Ort angekommen zu sein, an dem ich mich zu Hause fühlte. Dort konnte ich endlich wieder atmen, und die Luft, die ich atmete, war schwer von Jasmin.

Ich habe in diesem Gebäude nicht gewohnt. Aber mein Herz war dort zu Hause. Es wirkt paradox, das nach allem, was vorgefallen ist, zu sagen, aber ich habe mich bei den Havillands geborgen gefühlt. Zweifellos ist es ein Teil meiner Geschichte und der Grund, warum dieser Ort so große Bedeutung für mich hatte, dass ich in den achtunddreißig Jahren vor meinem ersten Besuch in der Folger Lane so etwas nur selten, wenn überhaupt jemals gefühlt hatte.

Damals, als Ava und Swift noch in dem Haus lebten und mit ihrem Mercedes vor der Einfahrt hielten, sprangen die Hunde immer zuerst aus dem Auto – drei Hunde unbestimmter Rasse. („Es sind Hunde von der Straße“, hatte sie jedem erklärt, der es noch nicht wusste.) Das Fahrzeug war mit einem elektrischen Speziallift ausgestattet, der sie in ihrem hochmodernen Rollstuhl aus der Fahrerkabine transportierte. Unzählige Male hielt ich vor dem Haus, und da war Ava, die in ihrem Rollstuhl auf mich zugefahren kam, mit weit ausgestrecktem Arm – der, mit dem sie nicht den Stuhl steuerte –, um mich zu begrüßen.

„Ich habe ein Paar wundervolle Stulpen für dich“, sagte sie dann. Oder es war vielleicht eine Tasse, ein schönes ledergebundenes Tagebuch oder Honig von Bienen, die sich ihren Nektar nur von Lavendelfeldern holten. Sie hatte immer ein kleines Geschenk für mich: einen Pullover in einer Farbe, die ich sonst nie trug, bei der ich aber plötzlich feststellte, dass sie meinem Teint wundervoll schmeichelte, ein Buch, von dem sie glaubte, es würde mir gefallen, oder eine Vase mit einem Sträußchen Gartenwicken. Ich bemerkte nicht einmal, dass die Sohlen meiner Sneakers heruntergelaufen waren, doch Ava sah es, und da sie meine Schuhgröße und meine Lieblingsmarke kannte (oder eine noch bessere), brachte sie mir ein Paar neue mit. Wer sonst würde einer Freundin ein Paar Schuhe kaufen? Und dazu noch gestreifte Socken. Sie wusste, ich würde sie mögen, und sie irrte sich nicht.

Sammy und Lillian (die beiden kleineren Hunde) leckten mir dann meine Knöchel, und Rocco (der etwas schwierige Charakter, der sich meist zurückhielt, es sei denn, er beschloss zuzubeißen) rannte im Kreis wie immer, wenn er aufgeregt war, was er ständig war, und wedelte wie verrückt mit dem Schwanz. Ava nahm mich bei der Hand, wenn sie einen Arm frei hatte, und wir eilten gemeinsam ins Haus, wo sie laut nach Swift rief: „Sieh doch nur, wen ich hier habe!“ Obwohl er das natürlich schon wusste.

Wann immer ich in die Folger Lane kam, servierte Ava mir etwas zu essen, und ich verschlang genussvoll alles, was sie mir vorsetzte. Irgendwann im Laufe der Jahre hatte ich, ohne es auch nur zu merken, den Appetit auf gutes Essen verloren. Genau wie den Appetit aufs Leben. Die Havillands gaben ihn mir zurück. Ich spürte es jedes Mal, wenn ich den leicht geschwungenen Pfad zu ihrer offenen Tür heraufkam und von einer Fülle wunderbarer Düfte empfangen wurde. Suppe auf dem Herd. Gebratenes Huhn im Ofen. Eine Schale mit schwimmenden Gardenien in jedem Zimmer. Und von draußen strömte der Geruch von Swifts kubanischer Zigarre herein.

Dann wurde gelacht. Swifts lautes herzhaftes Lachen, das fast klang wie der Balzruf eines Aras im Dschungel. „Ich schätze mal, es ist Helen“, rief er dann.

Einfach nur zu hören, dass ein Mann wie Swift meinen Namen aussprach, gab mir das Gefühl, wichtig zu sein. Womöglich zum ersten Mal in meinem Leben.

3. KAPITEL

Swift ging nicht mehr ins Büro. Das tat er schon seit Jahren nicht mehr. Er hatte eine Reihe von Start-up-Unternehmen im Silicon Valley aufgezogen – zuletzt eines, das für wohlhabende Geschäftsreisende kurzfristig Platzreservierungen für Nobelrestaurants organisierte. Sie hatten ihm so viel Geld eingebracht, dass er aufgehört hatte zu arbeiten. Als ich sie kennenlernte, gründeten Ava und er gerade ein gemeinnütziges Unternehmen namens BARK, das ausgesetzten Hunden ein neues Heim vermittelte und die Sterilisation der Tiere finanzierte. Zurzeit führte er die Geschäfte der Stiftung von ihrem Poolhaus aus. Er telefonierte viel, stand ständig an seinem Stehpult und sprach mit seiner lauten Stimme mit potenziellen BARK-Spendern. Aber immer wenn Ava nach Hause kam, ließ er alles stehen und liegen, um zu ihr ins Haus zu stürzen.

„Ich sage dir, warum Swift so gut mit den Tieren auskommt“, sagte Ava ganz am Anfang. „Weil er selbst eins ist. Dieser Mann lebt nur für Sex. Das ist eine Tatsache. Er kann die Hände nicht von mir lassen.“ Ihre Stimme klang bei dieser Bemerkung eher belustigt als genervt. Oft sprach Ava über Swift, als wäre ihr Mann wie eine Fliege, die auf ihr gelandet war, die sie aber problemlos wegschnipsen könnte. Trotzdem zweifelte ich nie daran, dass sie ihn anbetete.

Auch wenn Ava das Zentrum seines Universums darstellte, hatte Swift noch zahlreiche andere Leidenschaften: sein 1949er Vincent-Black-Lightning-Motorrad (das er nach langer Suche gekauft hatte, weil er den Song von Richard Thompson liebte und unbedingt selbst so ein Ding besitzen musste), die Schule für Straßenkinder in Nicaragua, die er unterstützte, seinen Qigong-Kurs, seine Fechtstunden, seine Studien chinesischer Heilmethoden und afrikanisches Trommeln. Dazu fand sich tagtäglich eine endlose Reihe von jungen Reiki-Praktikerinnen, Energetikerinnen und Yogalehrerinnen für Einzelsitzungen im Haus ein. Ava schien solche Übungen vielleicht nötiger zu haben, aber wann immer jemand – in der Regel eine Frau und meistens sehr hübsch – mit einer Matte oder einem Massagetisch oder irgendeinem anderen undefinierbaren Gerät an der Tür erschien, dann stellte sich heraus, dass sie für eine Stunde mit Swift verabredet war.

Das Haus an der Folger Lane war der Ort, an dem alles stattfand. Swift und Ava hatten ein Ferienhaus am Lake Tahoe, zu dem sie ab und zu fuhren. Doch abgesehen von Swifts gelegentlichen Trips für die Stiftung, reisten sie ansonsten nicht. Sie mochten es nicht, länger voneinander getrennt zu sein, sagte Swift. Oder von den Hunden, fügte Ava hinzu.

Es gab einen geliebten Sohn, Cooper – Swifts, nicht Avas –, aber der studierte jetzt an der Ostküste, und wenn er nach Hause fuhr, dann wohnte er gewöhnlich bei seiner Mutter. Doch jeder, der das Haus an der Folger Lane besuchte, sah anhand der Fotos an den Wänden von Swifts Bibliothek (Cooper beim Heliskiing mit seinen Verbindungsbrüdern in British Columbia, beim Reiten am Strand von Hawaii mit seiner Freundin Virginia oder mit seinem Vater bei einem 49er-Spiel, wo er einen riesigen Bierkrug hebt), dass Swift seinen Sohn anbetete.

Ihre Kinder seien die Hunde, sagte Ava mir. Und vielleicht, dachte ich, war sie zu den Menschen und Hunden, die sie liebte, so außerordentlich großzügig, weil sie keine Kinder hatte. Es war nicht zu übersehen, dass die Hunde bei ihr an erster Stelle standen, doch sie hatte die verblüffende Fähigkeit, auch zu erkennen, wann ein Mensch Hilfe brauchte.

Nicht nur ich, obwohl ich eine besondere Stellung bei Ava einnahm, sondern auch Fremde. Es konnte passieren, dass ich mit ihr unterwegs war, wir irgendwo in einem kleinen Restaurant zu Mittag aßen (sie zahlte natürlich) und sie auf dem Parkplatz einen Mann entdeckte, der die Müllcontainer durchforstete. Eine Minute später sprach sie mit der Kellnerin, gab ihr zwanzig Dollar und bat sie, dem Mann einen Hamburger mit Pommes und ein Malzbier mit Vanilleeis zu bringen. Wenn ein Obdachloser mit einem Schild an der Straße stand und einen Hund dabeihatte, hielt Ava jedes Mal an, um ihm eine Handvoll Biohundekuchen zu geben, die sie in einem großen Kübel im Kofferraum ihres Wagens aufbewahrte.

Sie freundete sich mit einem Mann namens Bud an, der in dem Blumenladen arbeitete, in dem wir Rosen und Gardenien kauften – massenweise –, die sie gern in einer Schale neben ihrem Bett stehen hatte. Als wir Bud eine ganze Weile nicht sahen und sie erfuhr, dass er Krebs hatte, besuchte sie ihn noch am selben Tag im Krankenhaus und brachte ihm Bücher und Blumen und einen iPod, auf den sie die Soundtracks von Guys and Dolls und Oklahama geladen hatte, weil sie wusste, wie sehr er Musicals liebte.

Sie ging nicht nur an diesem einen Tag zu Bud ins Krankenhaus. Ava blieb dran. Ich hatte immer behauptet, Ava sei die treueste Freundin, die man nur haben konnte. Wenn Ava eine Person zu ihrem Projekt machte, dann war das eine Lebensaufgabe.

„Du wirst mich nie wieder loswerden“, sagte sie einmal zu mir. Als wenn ich das jemals gewollt hätte.

4. KAPITEL

Ich lernte die Havillands an Thanksgiving auf einer Vernissage in San Francisco kennen. Es war eine Ausstellung von Gemälden psychisch kranker Künstler. Um mir etwas Geld dazuzuverdienen, arbeitete ich abends für eine Catering-Firma. Vor zwei Monaten war ich achtunddreißig geworden, und ich war seit fünf Jahren geschieden. Wenn mich an diesem Abend jemand gebeten hätte, etwas Gutes über mein Leben zu sagen, dann hätte ich alle Mühe gehabt, darauf zu antworten.

Diese Vernissage war eine ziemlich merkwürdige Veranstaltung. Mit der Ausstellung sollte Geld für eine Stiftung für psychische Gesundheit gesammelt werden. Bei der Mehrzahl der Besucher an diesem Abend handelte es sich um die psychisch kranken Künstlerinnen und Künstler und deren Familien, die ebenfalls ein bisschen verwirrt wirkten. Da waren ein Mann in einem orangefarbenen Overall, der seinen Blick nicht vom Boden heben konnte, und eine sehr kleine Frau mit Rattenschwänzen und einer Unmenge von Plastikclips im Pony, die ständig mit sich selbst redete und zwischendurch Pfiffe von sich gab. Es war nicht überraschend, dass Ava und Swift aus dieser Schar hervorstachen. Obwohl Ava und Swift in jeder Menschenmenge auffielen.

Ich wusste noch nicht, wie die beiden hießen, aber meine Freundin Alice, die an der Bar arbeitete, kannte sie. Swift bemerkte ich zuerst, nicht weil er auf herkömmliche Art gut aussah, nicht im Entferntesten. Einige hätten ihn vielleicht sogar als eher unansehnlichen Mann beschrieben, aber da war etwas Faszinierendes an ihm – etwas Wildes, Ungestümes. Er war nicht groß, wirkte aber durchtrainiert, und sein dunkelbraunes Haar stand auf verrückte Weise nach allen Seiten ab. Er hatte große Hände, einen dunklen Teint, und er trug Jeans – eine teure Marke, keine Gap oder Levi’s. Eine Hand hatte er auf Avas Nacken gelegt. Diese Art, sie zu berühren, wirkte intimer, als würde er ihre Brust streicheln.

Er hatte sich zu ihr hinübergebeugt, um ihr etwas ins Ohr zu sagen. Da sie saß, musste er sich weit hinunterlehnen, und dabei vergrub er das Gesicht in ihrem Haar und verweilte kurz so, als würde er ihren Duft einatmen. Auch wenn er allein da gewesen wäre, hätte ich sofort gewusst, dass er kein Mann war, der mich jemals beachtet oder überhaupt bemerkt hätte. Dann lachte er, und es war ein lautes Lachen. Er klang mehr wie eine Hyäne als wie ein Mensch. Man konnte ihn bis ans andere Ende des Raumes hören.

Den Rollstuhl hatte ich zuerst gar nicht bemerkt. Ich dachte, sie würde einfach nur sitzen, aber als sich die Menge teilte, sah ich ihre unbeweglichen Beine in der silberfarbenen Seidenhose und den teuren Schuhen, die wohl niemals den Boden berührten. Ich hätte sie nicht als im üblichen Sinne schön bezeichnet, aber sie hatte ein Gesicht, das auffiel: große Augen und einen großen Mund, und wenn sie redete, bewegte sie die Arme wie eine Tänzerin. Ihre Arme waren lang und schlank, mit fein definierten Muskelsträngen. Sie trug an beiden Händen übergroße Silberringe, und ein breites silbernes Armband lag wie eine Handschelle um ihr Gelenk. Man konnte sehen, dass sie ziemlich groß wäre, wenn sie hätte aufstehen können – wahrscheinlich größer als ihr Ehemann. Doch auch wenn man sie dort sitzen sah, wusste man sofort, dass es sich bei ihr um eine starke Frau handelte. Ihr Rollstuhl wirkte mehr wie ein Thron.

Obwohl ich an diesem Abend mit meinen Tabletts voller Häppchen sehr beschäftigt war, dachte ich kurz darüber nach, wie es wohl sein musste, diese vielen Menschen aus ihrer Perspektive zu sehen – das Gesicht ungefähr auf Brusthöhe der meisten Leute um sie herum. Falls sie das störte, so zeigte sie es nicht. Sie saß gerade in ihrem Rollstuhl, mit der Haltung einer Königin.

Ich schätzte, dass sie etwa fünfzehn Jahre älter war als ich, so Anfang fünfzig. Ihr Mann – obwohl er in guter Form zu sein schien, mit straffer Haut und vollem Haar – sah eher aus wie knapp sechzig, was sich später als richtig herausstellte. Ich erinnere mich an meinen Wunsch, gern so auszusehen wie diese Frau, wenn ich älter wäre, auch wenn mir klar war, dass dies nie passieren würde.

Tagsüber arbeitete ich als Porträtfotografin. Was eine wohlwollende Bezeichnung dafür war, dass ich stundenlang hinter der Kamera stand und versuchte, gelangweilt aussehenden Geschäftsleuten und widerspenstigen Kindern ein Lächeln zu entlocken. Die Tage waren lang und die Bezahlung gering. Daher meine gelegentlichen Catering-Auftritte. Trotzdem konnte ich Gesichter gut einschätzen, und ich wusste auch, was ich selbst zu bieten hatte. Keine großen Augen. Eine weder besonders große noch besonders kleine Nase, nicht sehr markant. Ich hatte immer ein normales Gewicht gehabt, aber keinen Körper, der Männer umwarf. Und auch wenn man sich alles Weitere besah – Hände, Füße, Haar –, gab es nichts an meiner Erscheinung, das im Gedächtnis blieb – weshalb sich wohl selbst Leute, die ich bereits mehrere Male getroffen hatte, oft nicht an mich erinnerten. Daher war es umso überraschender, dass Ava unter all den Personen, mit denen sie an diesem Abend in der Galerie hätte sprechen können, mich auswählte.

Ich ging gerade mit einem Tablett Frühlingsrollen und Thaihuhn-Spießchen herum, als sie von dem Gemälde, das sie eben noch studiert hatte, aufblickte.

„Wenn Sie eines dieser Bilder kaufen wollten“, sagte sie zu mir, „und wüssten, dass Sie es dann für den Rest Ihres Lebens jeden Tag ansehen würden, welches würden Sie auswählen?“

Ich stand dort mit dem Tablett in der Hand, während ein ausdruckslos blickender Mann (wahrscheinlich ein Autist) nach dem vierten oder fünften Hühnchenspieß griff, ihn in die Erdnusssoße tunkte, einen großen, gierigen Biss nahm und noch einmal tunkte. Manche Leute hätte das wohl abgestoßen, aber Ava gehörte nicht dazu. Sie tunkte ihre Frühlingsrolle direkt nach ihm in die Soße und steckte sich das ganze letzte Stück auf einmal in den Mund.

„Das ist schwer zu sagen.“ Ich blickte mich in der Galerie um. Da war ein Porträt von Lee Harvey Oswald, auf eine Holzplatte gemalt. Am unteren Bildrand stand eine lange Reihe von Wörtern, die ungefähr so viel Sinn ergaben wie eine mit dem Text aus einem alten Highschool-Chemiebuch durchsetzte Einkaufsliste. Dann stand dort eine Schweine-skulptur, in leuchtendem Pink glasiert, um die ein halbes Dutzend ebenfalls pinkfarbener kleinerer Keramikschweine gruppiert war, als würden sie gesäugt. Es gab eine Serie von Selbstporträts einer großen Frau mit knallig orangefarbenem Haar und Brille – etwas plump gemacht, aber die Persönlichkeit war so gut eingefangen, dass ich die Künstlerin beim Betreten der Galerie sofort erkannt hatte. Doch die Arbeit, die mir am besten gefiel, wie ich Ava sagte, war das Bild eines Jungen, der einen Karren zog, in dem ein Junge saß, der eine ähnliche, aber kleinere Karre mit einem Hund darin an einem Seil hielt.

„Sie haben ein gutes Auge“, sagte Ava. „Das werde ich kaufen.“

Ich blickte nach unten, war aber zu unsicher, um sie direkt anzusehen. Doch ich hatte sie gut genug beobachtet, um zu wissen, dass sie eine außergewöhnliche Frau war: mit diesem Schwanenhals, der glatten gebräunten Haut. In diesem Moment fühlte ich mich wie eine Schülerin, die von ihrer Lehrerin gelobt wurde. Eine Schülerin, die es nicht gewohnt war, gelobt zu werden.

„Aber natürlich bin ich voreingenommen“, fügte sie hinzu. „Ich bin eine Hundeliebhaberin.“ Sie streckte eine Hand aus. „Ich heiße Ava“, sagte sie und blickte mir so fest in die Augen, wie das nur wenige Menschen tun.

Ich sagte ihr meinen Namen, und obwohl ich es kaum noch irgendjemandem verriet, erklärte ich ihr, dass ich Fotografin wäre. Oder gewesen sei. Dass Porträts meine Spezialität seien. Was ich wirklich gern tue, so sagte ich ihr, sei, mit meinen Fotos Geschichten zu erzählen. Ich liebte es, Geschichten zu erzählen, Punkt.

„Als ich jung war, dachte ich, ich würde so jemand wie Imogen Cunningham werden“, sagte ich. „Aber das hier scheint eher meine Berufung zu sein.“ Ich lachte zynisch und deutete mit dem Kopf auf das leere Tablett in meiner Hand.

„Sie sollten diese negative Energie nicht so herauslassen“, sagte Ava. Ihr Tonfall war freundlich. Aber bestimmt. „Sie wissen doch nicht, was Sie in einem Jahr tun werden. Wie die Dinge sich ändern können.“

Ich wusste sehr gut, wie sich die Dinge ändern konnten. Nicht zum Guten in meinem Fall. Ich hatte mal in einem Haus gewohnt, zusammen mit einem Mann, den ich zu lieben glaubte und von dem ich dachte, dass er mich ebenfalls liebte. Und mit einem vierjährigen Jungen, für den meine tägliche Anwesenheit offensichtlich so unentbehrlich war, dass er mich einmal dazu überreden wollte, ihm zu versprechen, niemals zu sterben. („Nicht in der nächsten Zeit“, hatte ich ihm geantwortet. „Und wenn es dann so weit ist, wird es einen richtig tollen Menschen in deinem Leben geben, der dich genauso liebt wie ich, vielleicht auch Kinder. Und einen Hund.“ Das war etwas, das er sich immer gewünscht, das sein Vater, Dwight, ihm aber nie erlaubt hatte.)

Dwight ärgerte sich immer darüber, wenn Ollie in unserem Schlafzimmer auftauchte und sich zu uns ins Bett legen wollte, aber mich hat das nie gestört. Jetzt schlief ich allein und träumte von dem heißen Atem meines Sohnes an meinem Hals, von seiner kleinen verschwitzten Hand in meiner und von seinem Vater, der auf der anderen Seite murmelte: „Nun, ich nehme an, wir haben heute Abend keinen Sex, was?“

Dwight wurde schnell wütend, und über die Jahre unserer Beziehung wurde ich immer öfter zum Ziel seiner Wut. Aber es hatte auch Zeiten gegeben, in denen mein Mann mich, wenn er mich auf einer überfüllten Party oder bei einem Kindergartenfest unseres Sohnes in der Menge entdeckte, so angrinste wie Swift Havilland seine Frau an diesem Abend und sich dann durch die Menge kämpfte, den Arm auf meinen Rücken legte und mir ins Ohr flüsterte, es sei Zeit, nach Hause und ins Bett zu gehen.

Diese Zeiten waren vorbei. Niemand beachtete die Frau, die das Tablett in der Hand hielt. Zumindest hatte das lange niemand getan, bis Ava mich sah.

Jetzt studierte sie mein Gesicht so eindringlich, dass ich spürte, wie ich rot wurde. Ich wollte weggehen und mich um die anderen Gäste kümmern, aber es erschien mir nicht fair, eine Person im Rollstuhl mitten im Gespräch so zurückzulassen. Man kann sich schneller wegbewegen, als sie es kann.

„Was ist Ihr Lieblingsfoto von denen, die Sie gemacht haben?“, wollte sie wissen. Es müsse nicht unbedingt das Beste sein, aber das, welches ich am meisten liebte.

„Das ist die Serie, die ich von meinem schlafenden Sohn gemacht habe, als er drei war“, erwiderte ich. „Nachdem er eingeschlafen war, habe ich an seinem Bett gestanden und ihn fotografiert, jeden Abend, ein Jahr lang. Auf jedem Bild sieht er anders aus.“

„Und das tun Sie jetzt nicht mehr?“, fragte sie.

Normalerweise war ich nicht so – ich behielt meine Probleme immer für mich –, aber etwas an Ava, dieses Gefühl, dass sie es tatsächlich hören wollte und es sie interessierte, was ich zu sagen hatte, ließ mich merkwürdig reagieren.

Ich weinte nicht, aber ich muss wohl diesen Blick gehabt haben, als würde ich es jeden Moment tun.

„Wir leben nicht mehr zusammen“, sagte ich ihr und hielt mir die Hand vors Gesicht. „Ich kann jetzt nicht darüber sprechen.“

„Tut mir leid“, murmelte sie. „Und dann halte ich Sie auch noch von Ihrer Arbeit ab.“

Sie gab mir ein Zeichen, dass ich mich zu ihr hinunterbeugen sollte, bis unsere Gesichter sich auf einer Höhe befanden. Dann streckte sie den Arm aus und tupfte meine Augen mit einer Serviette trocken.

„So“, sagte sie zufrieden. „Wieder so schön wie vorher.“

Ich richtete mich wieder auf, erstaunt, dass diese wundervolle Frau mich als schön bezeichnet hatte.

Sie wollte mehr über meine Fotografie wissen. Ich hätte meine Kamera schon seit einem Jahr nicht mehr herausgeholt, erklärte ich ihr. Die Arbeit, die ich für meinen Job machte, zählte nicht.

Sie fragte, ob es zurzeit einen Mann in meinem Leben gebe, und als ich verneinte, meinte sie, das müssten wir ändern. Sie sagte „wir“, so als wären wir bereits ein Team aus zwei Spielerinnen. Ava und ich.

Das andere Thema – die Sache mit Ollie – war nichts, was ich vertiefen wollte.

„Ich will damit nicht sagen, dass mit einem Mann alle Probleme gelöst wären“, sagte sie. „Aber die Probleme erscheinen einem nicht so erdrückend, wenn man jede Nacht in den Armen eines Mannes liegt, der einen anbetet.“ So, wie sie das sagte, schien es klar, dass sie dies mit ihrem Mann erlebte.

„Und dann ist da der Sex“, fuhr sie fort. Etwas weiter entfernt konnte ich den Mann sehen, der Swift hieß, wie Alice mir erzählt hatte. Er war in eine Unterhaltung mit einer seltsamen Frau vertieft – zweifellos eine der Künstlerinnen –, die etwas um den Hals trug, das aussah wie ein Stück Alufolie. Sein Nicken ließ vermuten, dass er angestrengt versuchte zu verstehen, was sie ihm erzählte. In diesem Moment traf sein Blick Avas, und er grinste ihr zu. Perfekte weiße Zähne.

„Sie sollten niemals Ihre Ansprüche senken“, sagte Ava. „Warten Sie, bis der Richtige kommt. Wenn Sie nicht ganz verrückt nach ihm sind, vergessen Sie es lieber. Und wenn der Tag kommt, an dem es vorbei ist, dann gehen Sie. Vorausgesetzt, Sie können gehen“, sagte sie mit einem Auflachen, das keine Spur von Bitterkeit enthielt.

Sie schien zu denken, dass ich etwas Großartiges und Wunderbares verdiente. Eine großartige und wundervolle Karriere und einen großartigen und wundervollen Mann und Liebhaber. Ein wunderbares Leben. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie sie darauf kam.

„Sie müssen mich unbedingt bei mir zu Hause besuchen“, sagte sie. „Ich möchte alles über Sie erfahren.“

5. KAPITEL

Als ich am nächsten Tag zur Folger Lane fuhr – in Portola Valley, über den Highway nur zwei Ausfahrten von meinem kleinen Apartment in Redwood City entfernt –, dachte ich über Avas Bemerkung nach. Ich möchte alles über Sie erfahren. Ich war immer gut im Geschichtenerzählen gewesen, solange es nicht meine eigenen waren. Vor allem nicht die wahren Geschichten. Die hielt ich unter Verschluss. Und die Aussicht darauf, dass diese Frau, die so eine ungewöhnliche Einladung ausgesprochen hatte, alles herausfinden könnte, ließ bei mir Zweifel aufkommen, ob ich überhaupt dort erscheinen sollte. Als ich mit meinem Honda Civic in die Folger Lane einbog, dachte ich kurz daran, eine Kehrtwendung zu machen und das Ganze zu vergessen.

Ich hatte noch nie ein Haus wie das der Havillands betreten. Auch wenn es nicht so opulent war wie manche Villen, die in Magazinen abgebildet wurden, oder auch andere Häuser in der Gegend, in der Swift und Ava wohnten. Die Räume strahlten eine verspielte Lässigkeit aus – die weichen weißen Ledersofas mit den bestickten guatemaltekischen Kissen darauf, die Sammlung von italienischem Glas und die erotischen japanischen Radierungen, Vasen, die fast überquollen von Rosen und Pfingstrosen, der afrikanische Kopfschmuck an der Wand und der unpassend altmodische Kronleuchter, dessen Licht alles in Regenbogenfarben tauchte, die Schalen mit Steinen und Muscheln, eine Conga-Trommel, eine Sammlung von Miniaturrennwagen aus Metall, Spielwürfel. Überall Hundespielzeug. Und die Hunde selbst.

In diesem Haus gab es so viele Hinweise auf Leben – Leben und Wärme. Und alles schien direkt von Ava auszugehen, als wäre das Haus ein Körper und sie dessen Herz.

Auf einem Sideboard in der Eingangshalle stand das wundervollste Objekt von allen: zwei winzige aus Knochen geschnitzte Figuren, nicht größer als sechs Zentimeter, aber perfekt ausmodelliert. Der kunstvoll geschnitzte Untergrund stellte ein wunderschönes winziges Bett dar. Darin lagen ein Mann und eine Frau, nackt und ineinander verschlungen. Ich berührte die Figurine mit dem Zeigefinger und strich vorsichtig über die zarte Rundung des Frauenrückens. Ohne es zu bemerken, musste ich dabei einen langen Seufzer von mir gegeben haben. Ava bekam es natürlich mit. Ava bemerkte alles.

„Sie beweisen wieder einmal ein gutes Auge, Helen“, sagte sie. „Das ist eine chinesische Arbeit aus dem zwölften Jahrhundert. Im alten China wurden solche Figuren zur Hochzeit an königliche Familien verschenkt, als Glücksbringer.“

Lillian und Sammy saßen vor dem Rollstuhl zu ihren Füßen, während wir uns unterhielten. Lillian leckte Avas Knöchel. Sammy hatte ihr den Kopf auf den Schoß gelegt. Ava streichelte ihn. Sie hatte Estella, ihrer guatemaltekischen Haushälterin, aufgetragen, Rocco für eine halbe Stunde ins Auto zu sperren. „Er regt sich immer zu sehr auf“, erklärte Ava. Das sollte Roccos Pause sein.

„Ich nenne dieses Paar die freudigen Sünder, weil sie so glücklich miteinander aussehen“, sagte Ava. „Sie sollten diese Figurine also jedes Mal berühren, wenn Sie zu uns kommen.“ Jedes Mal. Das hieß, es würde weitere Besuche geben.

An diesem Tag servierte Estella das Mittagessen im Wintergarten („meine Helferin“, wie Ava sie nannte). Sie stellte ein Tablett mit Weichkäse, Feigen und warmem Baguette vor uns ab, gefolgt von Salat aus Birnen und Endivien und einer cremigen Suppe mit gerösteten roten Paprika.

„Ohne Estella könnte ich gar nicht leben“, sagte Ava, nachdem die Haushälterin sich wieder in die Küche zurückgezogen hatte. „Sie gehört zur Familie. Mi corazón.

Als sie dort mir gegenüber im Rollstuhl saß und auf den Garten blickte – im Hintergrund das Geräusch von Wasser, das über die Steine plätscherte, Vogelgesang, glückliche Hunde und von Weitem Swifts Stimme beim Telefonieren und immer wieder sein gelöstes Lachen –, fragte Ava mich nicht, warum ich, die ich mich als Fotografin bezeichnete, bei einer Vernissage Tabletts mit Frühlingsrollen herumreichte. Oder was mit diesem Sohn passiert war, den ich ein ganzes Jahr lang jeden Abend fotografiert hatte – und bei dessen Erwähnung mir am Abend zuvor noch die Tränen gekommen waren. Als sie mir ein Glas Chardonnay anbot und ich ihr sagte, dass ich keinen Alkohol trinke, sagte sie nichts dazu.

Ich hatte mich vor den Fragen gefürchtet, die Ava mir über mein Leben stellen könnte. Aber sie wollte nichts über meine Vergangenheit wissen. Ava fragte nach dem, was gerade jetzt passierte. Sie wollte wissen, wie wir aus mir eine glückliche, erfolgreiche Person machen könnten, die ich zurzeit offensichtlich nicht war. Da sie selbst mir so durchweg glücklich und erfolgreich erschien, beschloss ich an diesem Tag, ihren Anweisungen zu folgen. In allem.

„Wir müssen dafür sorgen, dass dein Leben schön wird“, erklärte sie, nachdem wir zum vertraulichen Du übergegangen waren. Als würde sie mir vorschlagen, eine neue Bluse zu kaufen oder ein interessantes Küchengerät von Williams-Sonoma.

Das war es, was mir an ihr gefiel: Ava schien sich mehr dafür zu interessieren, wer ich war, als woher ich kam und was mich hierhergebracht hatte. Und eigentlich traf das auch auf sie selbst zu. Irgendwann im Laufe unserer Freundschaft bekam ich mit, dass sie vor vielen Jahren in Ohio gelebt hatte. Doch in der ganzen Zeit, die wir miteinander verbrachten, hat sie ihre Eltern nie erwähnt. Wenn sie Brüder oder Schwestern hatte, waren diese nicht mehr von Bedeutung. Wenn ich nicht so sehr damit beschäftigt gewesen wäre, meine eigene Geschichte zu verbergen, hätte ich diesem Aspekt im Leben meiner neuen Freundin vielleicht mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Aber so wie die Dinge standen, gehörte das zu dem, was ich an Ava liebte – dass ich die alte Geschichte nicht erklären musste. Ich konnte eine neue erfinden.

Die Havillands sammelten alle möglichen Dinge. Kunst ganz offensichtlich. Sie besaßen einen Sam Francis und einen Diebenkorn, ein Pferd von Rothenberg und einen Eric Fischl (Namen, die mir nichts sagten, aber durch Ava lernte ich sie irgendwann kennen), ebenso eine Zeichnung von Matisse, die Swift ihr einmal zu ihrem Hochzeitstag geschenkt hatte, und drei erotische Radierungen, die Picasso innerhalb seiner letzten drei Lebensjahre angefertigt hatte. („Kannst du dir das vorstellen?“, fragte sie. „Der Mann war neunzig, als er das hier schuf. Swift meint, so will er mit neunzig sein. Ein geiler alter Bock.“)

Aber es war nicht nur hochpreisige Kunst, die bei den Havillands an den Wänden hing. Ava hatte eine Schwäche für die Werke von Außenseitern (für Außenseiterkunst wie für Außenseiter selbst), vor allem für Arbeiten von Menschen wie dem Mann vor dem Café und dem Obdachlosen mit Hunden – und von mir natürlich –, Menschen, die offensichtlich eine schwere Zeit durchgemacht hatten. An einem prominenten Platz, direkt unter dem Diebenkorn, hing ein Bild von einer autistischen Künstlerin aus der Galerie, in der wir uns kennengelernt hatten – ein Goldfischglas mit einer Frau darin, die herausstarrte.

Ava wollte mir eine Sammlung von Fotos zeigen, die sie kürzlich erworben hatten: eine Serie von Schwarz-Weiß-Porträts von Pariser Prostituierten aus den 1920er-Jahren. Etwas im Gesicht der einen Frau, so meinte Ava, würde sie an mich erinnern.

„Sie ist so schön“, sagte sie, während sie die Fotografie betrachtete. „Aber sie ist sich dessen nicht bewusst. Sie sitzt fest.“

Ich sah mir das Bild daraufhin etwas genauer an und versuchte, eine Ähnlichkeit mit mir zu entdecken.

„Manche Leute brauchen einfach einen starken Menschen in ihrem Leben, der sie ein bisschen ermutigt und ihnen eine Richtung vorgibt“, behauptete Ava. „Es ist einfach so schwer, alles allein zu schaffen.“

Ich musste das nicht kommentieren. Mein Gesichtsausdruck sagte wohl genug.

„Dafür bin ich da“, erklärte sie.

6. KAPITEL

Ava war achtunddreißig gewesen – genauso alt wie ich jetzt, das sei ein gutes Omen, sagte sie –, als sie Swift kennenlernte. Sie war nie verheiratet gewesen und war sich damals nicht sicher, ob sie es je sein würde.

„Ich saß nicht in diesem Ding hier.“ Sie klopfte auf die Armlehnen ihres Rollstuhls. „Einen Tag bevor wir uns kennenlernten habe ich am Marathon teilgenommen.“

Ich hätte sie fragen können, was passiert war, aber ich wusste, sie würde es mir erzählen, wenn sie so weit war.

„Ich hatte ein großartiges Leben“, sagte sie, „bin überall in der Welt herumgereist. Und ich hatte ein paar wunderbare Liebhaber. Doch als ich Swift begegnet bin, wusste ich, das war etwas ganz anderes. Da war so ein Kraftfeld, das ihn umgab. Das habe ich nicht erst gespürt, als er den Raum betrat. Bevor ich hörte, wie er die Auffahrt hochkam, wusste ich, dass er kommt.“

Er war vorher schon einmal verheiratet gewesen, mit der Mutter seines Sohnes. Kurz bevor Ava und er sich trafen, hatte er sich aus dieser unglückseligen Beziehung gelöst. „Wenn ich dir verraten würde, wie viel Geld sie bekommen hat“, sagte Ava, „du würdest es nicht glauben. Sagen wir einfach mal, das Haus allein war zwölf Millionen Dollar wert. Dazu kamen noch die Unterhaltszahlung und die Alimente für das Kind.“

Aber das Wichtigste war, er hatte seine Freiheit. Und sie beide hatten sich gefunden. Wie konnte man das mit Geld aufwiegen?

„Als wir uns zwei Wochen kannten, verkaufte Swift seine Firma und gab sein Büro in Redwood City auf“, erzählte sie mir. „Die nächsten sechs Monate kamen wir kaum aus dem Bett. Es war so intensiv, dass ich dachte, ich muss sterben.“

Ich versuchte mir das vorzustellen, für sechs Monate im Bett zu bleiben, oder auch nur für einen Tag. Was machte man die ganze Zeit? Was war mit Einkaufen, Wäsche waschen, Rechnungen bezahlen? Während ich darüber nachdachte, fühlte ich mich unbedarft und langweilig. Fade. Ich hatte mir immer eingeredet, Dwight zu lieben. Und wenn ich es zuließ, konnte ich mich an Zeiten erinnern, in denen für mich einzig und allein zählte, mit ihm zusammen zu sein. Doch die Frau, die ich in den Jahren danach geworden war, bezweifelte, dass sie jemals wieder Leidenschaft erleben würde. Und manchmal fragte ich mich, ob ich das je getan hatte.

„Kurz vor meinem vierzigsten Geburtstag musste unsere Liebe die erste harte Probe bestehen“, berichtete Ava weiter und goss sich das zweite Glas Sonoma Cutrer ein, während ich nach meinem Mineralwasser griff. „Die Kinderfrage.“

Sie dachte, sie wünsche sich ein Kind. Swift wusste, dass er keines wollte.

„Es ging nicht so sehr darum, dass er bereits einen Sohn hatte“, sagte Ava. „Er wollte mich einfach mit niemandem teilen.“ Er wollte nicht, dass etwas in das, was sie beide miteinander hatten, eindrang. Irgendetwas, das ihre Beziehung hätte stören können. „Und letztendlich wusste ich, er hatte recht.“

Dann passierte der Unfall. Ein Autounfall, wie ich annahm, obwohl ich mir nicht sicher war, woher ich das wusste. Ich hörte das Wort „Rückgratverletzung“ in einem Tonfall, der mir alles sagte, was ich wissen musste. Jede Hoffnung darauf, ihre Beine wieder bewegen zu können, schien sich damit für sie zerschlagen zu haben, genauso wie jeglicher Gedanke daran, ein Kind zu bekommen.

Das war lange her, wie sie sagte. Zwölf Jahre. Sie rückte den silbernen Armreif an ihrem schmalen, eleganten Handgelenk zurecht, als wolle sie signalisieren, dass dieses Thema für sie nun beendet war.

„Wir führen ein wundervolles Leben“, sagte sie. „Und nicht weil wir dieses Haus haben und das am Lake Tahoe oder das Boot oder was auch immer.“ Sie wedelte mit ihrem langen schlanken Arm in Richtung des Gartens, zum Gästehaus, zum Pool. „Nichts von all dem ist wirklich wichtig … Schon merkwürdig, wie es manchmal kommt“, sagte sie dann. „Ich hätte sonst nie erfahren, was zwei Menschen füreinander empfinden können. Eine solche Nähe.“

Ihre Aufmerksamkeit galt nun voll und ganz Swift – sie konzentrierte sich darauf, ihn zu lieben und von ihm geliebt zu werden. Und dann gab es noch die Hunde.

Ob es einen Hund in meinem Leben gab, wollte sie wissen. (Ava benutzte nie die Formulierung „einen Hund besitzen“. Die Beziehung zu einem Hund beruhe auf Gegenseitigkeit, nicht auf Besitzansprüchen. Die meisten Menschen würden – selbst mit einem Geliebten, den Eltern oder einem Kind – diese Art von bedingungsloser Akzeptanz und Hingabe nie erleben, die ein Hund dem Menschen in seinem Leben schenkte. Doch das, was sie mit Swift habe, komme dem schon nahe.)

Aber ein Problem gebe es, wenn man einen Hund liebte und ihm statt einem Kind sein Herz schenkte.

Hunde starben.

Schon diese Worte laut auszusprechen, schien Ava schwerzufallen.

Versprich mir, nicht zu sterben, hatte mein Sohn mich einmal angefleht. Nun, nein, das konnte ich nicht. Ich dachte mir zwar gern Geschichten aus, aber eine Lügnerin war ich nicht.

An diesem Tag draußen auf ihrer Terrasse, mit ihrem Rollstuhl so in der Sonne, wie sie es mochte, schien es Ava nicht zu stören, dass nur sie redete.

„Sieh dir zum Beispiel Sammy an“, sagte sie. Er sei elf Jahre alt, der älteste der drei Hunde. Bei der guten Versorgung durch Ava – und dem schönen Leben, das er habe, weil er so geliebt werde (ein Faktor, den man nie unterschätzen solle) – würde er noch viele Jahre leben. Ava zögerte einen Augenblick. Nun ja, einige jedenfalls.

Die meisten Menschen mussten nicht mit dem Wissen leben, dass ihre Kinder vor ihnen starben. Aber bei einem Hund … Sie konnte den Satz nicht beenden.

„Wir mussten uns damit natürlich in der Vergangenheit schon auseinandersetzen“, sagte sie. Dann führte sie mich ins Esszimmer, um mir ein Porträt von zwei Hunden zu zeigen, das Swift für sie hatte anfertigen lassen. Ein Boxer und ein Mischling, die Vorgänger der gegenwärtigen Gruppe. Das Gemälde hinter dem langen Walnussholztisch füllte fast eine ganze Wand des Raumes aus.

„Alice und Atticus“, sagte sie. „Zwei der besten Hunde überhaupt.“

Ich stand da, betrachtete das Gemälde und nickte.

„Komm bald wieder vorbei, ja?“, sagte sie zu mir. „Ich möchte gern einige deiner Fotos sehen. Und vielleicht kannst du ein paar Porträtaufnahmen der Hunde machen. Du könntest mit Swift und mir zu Abend essen.“

Ihr Interesse an meinen Fotos gefiel mir. Aber noch glücklicher machte es mich, einfach zu wissen, dass Ava mich wiedersehen wollte. Die Frage, warum eine so außerordentliche Frau wie Ava meine Freundin sein wollte, verdrängte ich. Sie sagte, da sei etwas, das sie in mir sehe – etwas, das sie auch im Gesicht dieser Pariser Prostituierten gesehen habe, wie sie mir erklärte. Vielleicht war es einfach die Tatsache, dass ich gerettet werden musste und Ava die Angewohnheit hatte, sich um die zu kümmern, die vom Weg abgekommen waren.

7. KAPITEL

Als ich klein war und die anderen Kinder mich fragten, wo mein Vater sei, dachte ich mir immer Geschichten aus. Er sei ein Spion, behauptete ich. Der Präsident habe ihn mit einem Auftrag nach Südamerika geschickt. Dann gehörte er zu einem kleinen Team von Wissenschaftlern, die ausgewählt worden waren, die kommenden fünf Jahre in einem klimatisierten Labor in der Wüste zu verbringen und Experimente zum Wohl der Menschheit durchzuführen.

Ein anderes Mal – anderes Jahr, andere Schule – sagte ich, mein Vater sei tragischerweise ertrunken, während er amerikanische Kriegsgefangene befreite, die nach dem Vietnamkrieg auf einer Insel im Pazifik gestrandet waren. Er habe sie auf ein Floß gebracht und sie mit dem Seil zwischen den Zähnen durch das von Haien bevölkerte Meer vor Borneo gezogen.

Später auf dem College war ich einfach eine Waise, die nach einem Flugzeugabsturz, den ich als Einzige überlebt hatte, ohne Familie zurückgeblieben war.

Der Grund, warum ich mir Geschichten über meine Familie ausdachte, war einfach. Selbst wenn sie voller Unglück waren, waren die von mir erdachten Geschichten besser – größer, interessanter, voller tiefer und starker Gefühle, eindrucksvoller Hingabe und heroischer Aufopferung, eine aufregende Zukunft versprechend – als die tatsächlichen Umstände meiner Herkunft. Mir gefielen Katastrophen und Zerstörung besser als die Wahrheit. Die war das Fadeste und Traurigste überhaupt: die einfache Tatsache, dass weder meine Mutter noch mein Vater das geringste Interesse an mir zeigten. Von früh auf war klar, dass meine Existenz ihre Pläne durchkreuzt hatte. Wenn sie denn welche gehabt hatten.

Gus und Kay (meine Mutter wollte, dass ich sie mit ihren Vornamen ansprach) waren jung, als sie sich kennenlernten – siebzehn – und ließen sich scheiden, als Kay einundzwanzig wurde und ich drei Jahre alt war. An diese Zeit habe ich kaum Erinnerungen, abgesehen von einem vagen Bild eines Wohnwagens, in dem sich den ganzen Tag lang ein Ventilator drehte, ohne wirklich Abkühlung zu bringen. Oder wie Kay mich im Kindergarten ablieferte, wo ich immer so lange blieb, dass die Leiterin der Stätte, in einem Abstellraum einen Karton mit Wechselkleidung für mich aufbewahrte. (In späteren Jahren trug ich immer eine Zahnbürste mit mir herum in der Hoffnung, eine Schulfreundin würde mich über Nacht zu sich einladen. Alles war besser als unsere Wohnung.)

Ich erinnere mich an eine große Menge Wurstbrote und Müsliriegel. An einen Radiosender namens Top 40, der Hits aus den Siebzigern spielte, und den ständig laufenden Fernseher. An alte Lotteriescheine auf dem Küchentresen, die nie die richtigen Zahlen abbildeten. An den Geruch von Marihuana und verschüttetem Wein. An Stapel von Bibliotheksbüchern unter meiner Bettdecke – das, was mich rettete.

Ich kannte Gus so wenig, dass ich ihn bei einer Gegenüberstellung auf dem Polizeirevier, wo er einige Male in seinem Leben gelandet war, zwischen den anderen nicht erkannt hätte. Als ich jung war, hatte er uns ein einziges Mal besucht – ich war dreizehn und er war gerade auf Bewährung aus der Haft entlassen worden (wegen irgendwas mit Scheckbetrug). Zwölf Jahre später rief er mich plötzlich an und meinte, er würde mich gern kennenlernen. Das hatte ich ihm tatsächlich geglaubt. Als er drei Tage später dann nicht wie verabredet auftauchte, war ich verzweifelt. Ich machte mir noch einige Male Hoffnungen und ließ mich erneut enttäuschen, bis mir klar wurde, dass er niemals vorbeikommen würde. (Andere Männer schon. Sie kamen, um Kay zu treffen, nicht mich. Und sie alle waren dann kurze Zeit später wieder verschwunden.)

Wenn ich in meiner Jugend eines ganz genau wusste, dann, dass ich nicht so werden wollte wie die beiden Personen, die meine Geburt zu verantworten hatten. Ich wollte aufs College gehen. Ich wollte einen guten Job haben und etwas machen, das ich gern tat. Doch mehr als alles andere wollte ich in einem richtigen Haus wohnen, mit einer richtigen Familie. Für mein eigenes Kind – und ich wusste, ich würde irgendwann eines bekommen – würde ich eine andere Mutter sein als die, die mich aufzog. Darauf würde ich achten.

Sobald ich alt genug war, Fahrrad zu fahren, radelte ich in die Bibliothek. Dort gab es diese Nischen, wo man mit Kopfhörern Filme ansehen konnte. Wenn ich gerade nicht las, tat ich das. Als wir dann einen eigenen Videorekorder hatten, lieh ich mir Videos aus der Bibliothek. Während Kay irgendwo draußen war, um zu trinken oder einen Mann zu treffen – was oft passierte –, sah ich mir diese Filme immer wieder an. Zuerst in unserem Wohnwagen, später dann, als wir aufgestiegen waren, in unserer Mietwohnung in der Nähe des Highways in San Leandro. Im Nachhinein war es offensichtlich, dass ich Filme so liebte, weil es mich tröstete, in eine andere Welt einzutauchen, die so weit wie möglich entfernt war von allem, was ich kannte. An einem Tag war ich Candice Bergen, an einem anderen Cher. Besonders liebte ich Geschichten von einsamen Mädchen vom Typ Mauerblümchen, die irgendwann von einem wundervollen, freundlichen, gut aussehenden Mann (natürlich reich) entdeckt wurden, der sie aus ihrer trostlosen Existenz herausholte. Manchmal – wenn ich bis spät in die Nacht alte Filme gesehen hatte – war ich Shirley MacLaine oder Audrey Hepburn. Nie ich selbst.

Nachdem ich Sabrina gesehen hatte, begann ich zu erzählen, Audrey Hepburn sei meine Großmutter. Ich bezweifle, dass die Kinder in der Schule überhaupt wussten, wer sie war, aber deren Mütter kannten sie. Der Mutter einer Mitschülerin, die ehrenamtlich bei uns aushalf, erzählte ich, ich würde die Sommerferien bei Audrey in ihrem Haus in der Schweiz verbringen und hätte sie als Kind auf einem ihrer UNICEF-Trips nach Afrika begleitet. (Ein Trick, den ich beim Lügen sehr früh gelernt hatte: Die Geschichten sollten mit so vielen Details wie möglich angereichert werden, die für die Zuhörer glaubhaft klangen. Die Leute wussten vielleicht nicht, ob Audrey Hepburn eine Enkelin hatte, aber ihnen war bekannt, dass sie sich für UNICEF engagierte, also war die Wahrheit nicht ganz so weit von meiner Erzählung entfernt.)

Da ich so viel Zeit mit meiner erfundenen Großmutter Audrey verbrachte, war es nicht überraschend, dass ich mit einem leichten Akzent sprach, der irgendwie an ihren im Film Sabrina erinnerte (halb Französisch, halb Britisch), und nur Ballerinas trug. Einmal begegnete ich einer Mitschülerin und ihrer Mutter im Schwimmbad. (Ich sinnierte gerade darüber, wie es wäre, eine Mutter zu haben, die mich zum Schwimmen begleitete, meinen Rücken mit Sonnencreme einrieb und Snacks für mich kaufte.) Sie wunderte sich, dass ich nicht in der Schweiz war. „Ich fliege nächste Woche“, sagte ich ihr. Dann ließ ich mich nicht mehr im Schwimmbad blicken.

Jahre später, als ich auf dem College war (ich hatte ein volles Stipendium bekommen) und man in den Nachrichten von Audrey Hepburns Krebstod erfuhr, schickte mir diese Mutter einen Brief, um ihr Beileid auszudrücken. Ich schrieb ihr zurück, um ihr zu danken, und berichtete, dass meine Großmutter mir eine Perlenkette hinterlassen hätte, die ihr einer ihrer vielen Verehrer geschenkt habe: Gregory Peck. Ich würde diese Kette für immer wie einen Schatz aufbewahren, schrieb ich.

Es wäre schwieriger gewesen, die Illusion aufrechtzuerhalten, dass meine Geschichten der Wahrheit entsprachen, wenn ich gute Freundinnen gehabt hätte. Aber die hatte ich nicht – und das lag vielleicht auch daran, dass ich meine Geheimnisse unbedingt bewahren wollte. Die Kommilitonen waren zwar nett, aber ich schloss keine engeren Freundschaften – wie hätte das auch funktionieren sollen? Ich arbeitete sehr hart, um meine guten Zensuren zu halten und mein Stipendium nicht zu verlieren. Ich hatte Kunst als Hauptfach gewählt mit dem Schwerpunkt Fotografie, schrieb mich aber in einem Workshop für Drehbuchschreiben ein. Mein ganzes Leben lang hatte ich mir Geschichten ausgedacht, also war das nur logisch.

Der Workshop wurde von einem Autor und Regisseur geleitet, der einen einzigen Film gedreht hatte, in den Siebzigern, und jetzt Drehbuchseminare in Konferenzzentren von Hotels gab. Nach dem Seminar lud er mich zu einem Kaffee ein – beeindruckt von meiner Kenntnis der Filmgeschichte, wie er sagte. Aus dem Kaffee wurde ein Dinner, dem eine lange Fahrt ans Meer folgte. Im Auto erzählte er mir, er habe genug von den Filmstudios und davon, wie sie dort seine Arbeit missachteten, von all den oberflächlichen Leuten, mit denen ein Künstler sich abgeben müsse, wenn er seinen Film realisieren wollte. Sein letztes Projekt sei Mist gewesen, sagte er. Seine Ehe sei Mist. Hollywood sei Mist. Er finde es so erfrischend, eine junge Frau wie mich kennenzulernen, die noch immer die Leidenschaft besaß, die er einst für Filme gehabt hatte.

Jake begann mich aus Los Angeles anzurufen und schrieb mir Briefe. Ich dachte nie darüber nach, ob ich diesen Mann überhaupt mochte. Ich war einfach nur erstaunt, dass er so an mir interessiert war. Erstaunt und geschmeichelt natürlich. Eines Tages sagte er: „Komm zu mir nach Palm Springs.“ Und als er mir ein Flugticket schickte, tat ich das. Es war mir nicht in den Sinn gekommen, dass ich meine eigenen Entscheidungen im Leben treffen könnte. Ich wartete ab, was die Menschen um mich herum wollten, und wenn jemand einen Vorschlag machte, folgte ich ihm.

Er sagte, er würde seine Frau verlassen. Hätte sie bereits verlassen. Meinte, wir könnten zusammen Filme drehen, er würde mein Mentor sein. Versprach, nach Norden zu meinem Campus zu kommen, um mich abzuholen. Er könnte einen Gepäckträger auf sein Autodach montieren – so könnte ich all meine Habseligkeiten mitnehmen, ich hatte ja so wenig. Er wäre am nächsten Morgen da. „Ich bin jetzt deine Familie“, sagte er. „Die einzige Familie, die du brauchst.“

Eine Woche später hatte ich mein Stipendium aufgegeben und war aus meinem Studentenzimmer ausgezogen, um mit ihm zusammenzuleben. Sechs Monate darauf war Jake wieder zu seiner Frau zurückgekehrt. Das College hatte sich für mich erledigt. Da ich selbst jemand war, der ständig Geschichten erfand, hätte man meinen können, ich würde es bemerken, wenn jemand anders das Gleiche tat. Aber ich hatte diesem Mann voll und ganz vertraut. Und nachdem er mich verlassen hatte, befand ich mich eine Weile in einer Art Schockzustand und war davon überzeugt, die Liebe dieses brillanten Mannes nicht verdient zu haben. Alle Schuld und alles Versagen sah ich bei mir.

Während ich mit Jake zusammen war, hatte er mir eine Nikon-Kamera gekauft und mir ein bisschen was über Licht, Brennweiten, Objektive und Bildkomposition beigebracht. Um Geld zu verdienen, fotografierte ich nun Camping-Ausrüstungen für einen Outdoor-Katalog. Es war eine öde Arbeit, aber nur vorübergehend, und die Hauptsache war, dass ich niemals mehr mit Kay zusammenwohnen müsste.

Ohne Geld, ohne Ausbildung und mit keinerlei Kontakten außer zu diesem Mann, der meine Telefonanrufe nicht mehr beantwortete, erschien es mir aussichtslos, einen Job in der Filmbranche zu finden. Sobald ich genug Geld zusammengespart hatte, kaufte ich mir ein paar gute Objektive und brachte mir bei, sie einzusetzen. Ich nahm mir vor, meine Geschichten nun innerhalb eines Bilderrahmens zu erzählen. Es stellte sich heraus, dass ich Talent dafür besaß, und ich bekam Aufträge. Es waren keine großartigen Jobs, aber ich konnte meine Kamera benutzen und verdiente genug Geld, um die Miete für mein eigenes kleines Apartment zu zahlen.

In jenen Tagen lief ich oft stundenlang ziellos durch die Straßen und schoss Fotos. Auf einem meiner Ausflüge begegnete ich Dwight. Er arbeitete als Hypothekenmakler in einem Büro neben einem Matratzengeschäft in einer Einkaufspassage am Highway. Ich hielt dort mit dem Auto, weil eine junge Frau vor dem Laden meine Aufmerksamkeit erregt hatte. Sie war eine von den Personen, denen Firmen mickrige Löhne zahlten, damit sie sich in lächerliche Kostüme zwängten und mit einem Schild vor dem Laden herumtänzelten, um Käufer anzulocken.

Etwas an diesem tanzenden Matratzenmädchen hatte mich berührt, erinnerte mich an mich selbst. (Das könnte ich sein, dachte ich. So tief könnte ich sinken.) Sie versuchte, die Aufmerksamkeit der Kunden zu erregen, aber ohne Erfolg. Ich stieg aus und holte meine Kamera heraus.

Während ich dabei war, kam Dwight auf dem Fußweg auf mich zu. „Gute Kamera“, sagte er.

Das war nicht unbedingt die originellste Art, jemanden anzusprechen, aber er sah gut aus und hatte diese lässige kumpelhafte Art, die in seinem Job sehr nützlich war. Später bemerkte ich die Kehrseite seiner Leutseligkeit: Er war zu jedem nett, zumindest so lange, bis die Person außer Hörweite war. Da er dafür bezahlt wurde, sich mit Leuten anzufreunden und Zahlen so zu verdrehen, dass sie positiv erschienen, hatte er sich eine Art zu reden angewöhnt, bei der ich mich später fragte, ob überhaupt irgendetwas davon echt war. Er hörte sich an wie ein Radiomoderator. Immer freundlich, immer gut gelaunt. Zumindest an der Oberfläche. Was darunter lag, konnte man nur ahnen. Doch irgendwann lernte ich es kennen, und es war nichts Gutes.

Als Dwight mich das erste Mal zum Dinner einlud, erzählte er mir von seiner Familie in Sacramento – es gab vier weitere McCabe-Geschwister, und alle standen sich nahe. Seine Eltern waren nicht nur noch miteinander verheiratet, sondern liebten sich tatsächlich. Wann immer die Familie zusammenkam – und das passierte sehr oft –, spielten sie Scharade oder Touch-Football, und unterm Weihnachtsbaum wurde gewichtelt. Die Eltern lebten noch in dem Haus, in dem Dwight aufgewachsen war. An der Küchentür befanden sich noch die Bleistiftmarkierungen, die das Wachstum der Kinder dokumentierten. Das war mein Traum vom Familienleben.

„Ich habe meiner Mutter alles von dir erzählt“, sagte Dwight ein paar Tage später, als er mich anrief, um sich wieder mit mir zu verabreden. „Wie schwer du es als Kind damals hattest, ohne deinen Vater und mit einer Mutter, die auch oft nicht da war. Ich musste ihr versprechen, dich am Sonntag zum Familiendinner mitzubringen.“

Seine Eltern würden mich lieben, meinte er. Was für eine großartige Geschichtenerzählerin ich sei. Wie lustig ich sei. Und außerdem so hübsch. Niemand hatte das jemals zu mir gesagt.

An diesem Wochenende in Sacramento war ich so glücklich, dass ich kaum essen konnte – aber ich erinnere mich, mehr getrunken zu haben als sonst, nur um mich zu beruhigen. Dwights Mutter hatte einen Braten serviert, der mit Ananasscheiben garniert war. Ich hatte es nicht über mich gebracht, ihr zu sagen, dass ich Vegetarierin bin. An diesem Abend beschloss ich, es von nun an nicht mehr zu sein.

„Kochen Sie gern?“, wollte seine Mutter wissen. Von da an war die Antwort darauf Ja.

Am Wochenende darauf nahm Dwight mich zu ihrer Hütte in den Bergen mit. Er machte ein Feuer und grillte Forelle. Und in dieser Nacht stand außer Frage, dass wir das Bett miteinander teilten.

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