×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Die Kathedrale des Himmels«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Die Kathedrale des Himmels« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Die Kathedrale des Himmels

Barcelona im 9. Jahrhundert: Die Stadt ist zerrissen. Ein skrupelloser Adel kämpft mit den Sarazenen um die Vorherrschaft in der Region. Der junge Bischof Frodoi wird in die entlegene Bastion an der äußersten Grenze des Frankenreiches geschickt. Er soll die ausgezehrte Stadt befrieden und als Sinnbild der Erneuerung eine Kathedrale bauen. In der entvölkerten Mark stößt er auf mächtige Gegner. Doch unerwartet findet er in der schönen und geheimnisvollen Adeligen Goda eine Verbündete. Gemeinsam kämpfen sie gegen alle Widerstände und prägen das Schicksal der Stadt für immer.

»Eine prächtige Rekonstruktion einer Epoche, die von blutigen Kämpfen um die Macht gezeichnet war.« Ildefonso Falcones

»Nicht nur für Barcelona-Fans ist Juan Francisco Ferrándiz‘ Historienroman das beste Sofakuschelepos des Herbstes.« petra


  • Erscheinungstag: 16.09.2019
  • Seitenanzahl: 700
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959678858
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für meinen Sohn Marc,
Bewohner von tausend Welten.
Wir trinken gemeinsam aus
derselben Quelle der Inspiration –
möge sie niemals versiegen.
Danke für die Heldentaten und Abenteuer, die du immer
vorschlägst.

Es gibt bestimmte Epochen in der Geschichte, an die man aufgrund der mangelnden Quellenlage nur herangehen kann, indem man von vornherein akzeptiert, dass man sich auf unsicherem Boden bewegt, und sich darüber im Klaren ist, dass man womöglich einem Irrtum unterliegt. Wenn wir durch ein Wunder tausend Jahre in der Zeit zurückgehen könnten, um die Menschen und Ereignisse, von denen wir sprechen, mit eigenen Augen zu sehen, hätten die Realität und die Imagination, die wir geschaffen haben, womöglich wenig gemeinsam, und wir würden die größten Überraschungen erleben.

Ramon d’Abadal, Els primers comtes catalans

(Die ersten Grafen Kataloniens)

Prolog

Kloster Santa Afra, nördlich von Girona

Es stürmte in jener Nacht, in der die beiden Kinder das bescheidene Kloster erreichten. Schutz suchend kauerten sie sich auf dem Friedhof hinter einen Grabstein. Ganz in der Nähe heulten die Wölfe, die ihnen gefolgt waren.

In der steinernen Kapelle beteten fünf Mönche gerade die Komplet, als sie das Heulen vernahmen. Abt Adaldus fuhr mit den Gesängen fort, um die Dämonen der Nacht zu bannen, doch Bruder Rainart, der vor vielen Jahren erblindet war, erhob sich und verkündete, dass die verlorenen Seelen, die in der Gegend ihr Unwesen trieben, nicht in dieser Weise klagten.

Ängstlich gingen sie mit Fackeln nach draußen und schauten sich rings um die Kapelle um. Die Wölfe schnüffelten zwischen den Gräbern, der größte von ihnen riss drohend sein Maul auf. Die Mönche schwenkten die Fackeln, um sie zu verscheuchen, da entdeckten sie die Kinder hinter dem Grabstein. Der Junge mochte etwa sieben Jahre alt sein, das Mädchen nicht viel älter als drei. Ihre Gesichtszüge ähnelten einander, und ihr verfilztes Haar war vom gleichen schmutzigen Blond. Der Junge hatte schützend den Arm um die Kleine gelegt, die verängstigt wirkte. Sie richtete ihre tiefblauen Augen in die Dunkelheit, dorthin, wo die Wölfe verschwunden waren. Als sie die Männer sah, wimmerte sie leise, weinte aber nicht, was die Mönche ein wenig befremdete.

»Seid ihr verletzt?«, fragte der Abt besorgt.

Das Kleid des Mädchens war zerrissen, es sah aus, als hätten die Tiere es von hinten angefallen, doch die beiden schüttelten den Kopf. Die Mönche holten Decken, um sie darin einzuhüllen. Der Junge umklammerte einen Bogen aus Eibenholz, den er wohl kaum hätte spannen können. Die Geschwister waren entkräftet, ausgehungert und durchnässt, ihre Füße nach einem langen Marsch zerschunden – doch ihre zerschlissenen Gewänder bestanden aus feinstem Leinen. Ihre leeren Blicke zeugten von einer tragischen Geschichte; einer von vielen in diesem düsteren Landstrich.

»Sie scheinen von weit her zu kommen. Sie sind fast erfroren und sehr schwach!«

»Sie werden überleben«, sagte der alte Bruder Rainart, während er ihnen über die Köpfe streichelte. »Aus irgendeinem Grund hat Gott sie beschützt und hierhergeführt. Wer seid ihr?«

Die Kinder schwiegen. Erst nachdem die Mönche ihnen trockene Kleidung gegeben und zugesehen hatten, wie sie mehrere dicke Kanten Brot und ein paar Stücke alten Käse verschlangen, erhielten sie eine Antwort. Es grenzte an ein Wunder, dass die beiden es nach mehrtägiger Wanderung aus dem Herzen der Grafschaft Barcelona hierher geschafft hatten. Die kleine Gemeinschaft der Benediktinermönche nannte sie von nun an »Die Kinder der Erde«, um zu verbergen, dass es sich um Isembard und Rotel handelte, die Kinder Isembards von Tenes, des letzten Ritters der Mark. Er war während des blutigen Aufstands Wilhelms von Septimanien verschollen, nachdem dieser sich im Süden des Reichs erhoben und die Grafschaft Barcelona besetzt hatte, nicht ohne zuvor den rechtmäßigen Grafen zu ermorden.

Die Mönche wechselten düstere Blicke, während Isembard mit stockender Stimme ihre Geschichte erzählte und die schlimmsten Gerüchte bestätigte. Das Geschlecht der Tenes, einst in den Adelsstand erhoben, um die Spanische Mark an der südlichen Grenze des Fränkischen Reichs gegen die Sarazenen zu verteidigen, war untergegangen und zu einer dunklen Legende geworden. Von der Burg auf einem Felsen unweit des Flusses Tenes waren nur stumme Ruinen geblieben. Für lange Zeit würde es kein Mensch wagen, dort den Boden zu bestellen oder auch nur eine alte Eiche zu fällen. Der Ort war verflucht.

Die Kinder berichteten auch von entsetzlichen Kreaturen in den Wäldern und grausamen Verbrechen in den entvölkerten Landstrichen. Bruder Rainart wirkte verzagt. Die Finsternis breitete sich in der verwüsteten Spanischen Mark aus – und niemand war da, um ihr Einhalt zu gebieten.

Das Jahr 861

In der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts wurde das Fränkische Reich unter den Enkeln Karls des Großen und deren Söhnen aufgeteilt. Nachdem die Land- und Staatsreformen des alten Kaisers gescheitert waren, zerfiel der Traum von einem mächtigen Großreich in Bruderzwist, Machthunger und Elend. Der Adel häufte im Gegenzug für seine Gefolgschaft und militärische Unterstützung Ländereien an, während zahlreiche Gefahren die Außengrenzen des untergehenden Reiches bedrohten: Das Ostfränkische Reich wurde von slawischen Horden bedrängt, Italien von den Sarazenen, und das westliche Frankenreich von den Normannen und dem Emirat von Córdoba.

Diese Bedrohungen betrafen vor allem die Grenzmarken, die von Grafen regiert wurden, die der König ernannte, um das Gebiet zu befrieden. Südlich der Pyrenäen, in jener Region, die zu Zeiten der Westgoten den Namen Gothien oder Septimanien trug, verteidigten die Grafschaften Barcelona, Osona, Girona, Ampurias, Cerdaña, Urgell, Pallars und Ribagorza die Grenze des Frankenreiches zum Emirat von Córdoba. Weder Karl dem Großen noch seinen Nachfolgern war es gelungen, in den neuen Gebieten im Süden zwischen den Flüssen Llobregat, Cardener und Segre eine stabile Herrschaft zu errichten. An der äußersten Grenze der Spanischen Mark, zwischen den dunklen Schatten der Trostlosigkeit und dem strahlend blauen Mittelmeer, leistete Barcelona als letzte Bastion des Reiches verzweifelten Widerstand.

Seit der Rückeroberung der Stadt im Jahr 801 vom Emirat von Córdoba hatte Barcelona mehr als sieben zerstörerische Angriffe durch die Sarazenen erlitten, die über den Llobregat einfielen, um Dörfer, Klöster und Felder in den Grafschaften Barcelona und Osona zu verwüsten. Die trutzige römische Stadtmauer des antiken Barcino wurde zum Schutz der knapp 1500 Einwohner verstärkt, doch die ständigen Belagerungen hatten zur Folge, dass ein Großteil der westgotischen Bebauung innerhalb der Stadtmauern Nutzgärten und Feldern weichen musste, da eine Bestellung des Landes außerhalb der Mauern kaum möglich war.

Den Herrschenden war bewusst, dass es eine große Gefahr für das Reich darstellte, die Spanische Mark ihrem Schicksal zu überlassen, doch die Zwistigkeiten zwischen den Nachkommen Karls des Großen führten dazu, dass sich der dunkle Schleier des Vergessens über die entlegene Grenzregion senkte. Entsetzliche Geschichten waren von dort zu hören, welche die Bewohner des Reiches erschütterten. Barcelona und die Spanische Mark waren ein furchtbarer Ort.

Im Juni des Jahres 860 trafen sich die drei Karolingerherrscher – Nachfahren Karls des Großen –, um sich über die Machtbereiche des Fränkischen Reichs zu einigen und Konflikte beizulegen. Im Frieden von Koblenz kamen sie überein, dass Karl der Kahle, der Sohn Ludwigs des Frommen und seiner zweiten Frau Judith, das westliche Frankenreich behielt, Ludwig der Deutsche, der Sohn Ludwigs des Frommen und seiner ersten Frau Irmingard, die Gebiete östlich des Rheins. Lothar II. behielt das Gebiet Lotharingien, einen breiten Landstreifen, der von der Nordsee bis zu den Alpen reichte. Sein Bruder Ludwig II., der nicht anwesend war, durfte weiterhin über Italien herrschen und den Kaisertitel tragen.

Doch im Jahr 861 geriet das Machtgefüge erneut ins Wanken, als Lothar II. seine Frau Theutberga verstieß, die aus der mächtigen Familie der Bosoniden stammte und eine Vertraute Karls des Kahlen war. Der fränkische Adel war empört. Wieder kam es zum Konflikt zwischen den Karolingern; Truppen wurden bewegt, Vieh wurde konfisziert, die Felder lagen brach.

Nachdem der fränkische Graf Humfried von Gothien, Herr über Barcelona, Girona, Ampurias und Rosellón, im Jahr 857 einen Waffenstillstand mit dem Wali von Saragossa geschlossen hatte und sich daranmachte, die Küste gegen die Normannen zu verteidigen, erlebten Barcelona und die Spanische Mark eine kurze Zeit des Friedens. Doch als Humfried im Konflikt um Theutberga König Karl dem Kahlen zu Hilfe kam, nutzten die Sarazenen das Machtvakuum, und Barcelona erlebte 861 einen erneuten Überfall, bei dem Felder und Vorstädte verwüstet wurden. Nur die Stadtmauer verhinderte das Schlimmste.

Derart bedrängt und von ihrem Grafen im Stich gelassen, die Felder verwüstet, der Handel am Boden, baten der Vizegraf und die Adligen von Barcelona den König, wenigstens einen Bischof zu ernennen, der den vakanten Bischofssitz übernahm.

Die Aufgabe des Bischofs war es, seine Diözese zu verwalten und ein Gegengewicht zur gräflichen Macht herzustellen. Er erhielt einen Teil der Abgaben und besaß ein eigenes Siegel. Er war die letzte Hoffnung für Barcelona, bevor das Machtvakuum und die prekäre wirtschaftliche Situation zur vollständigen Aufgabe der Stadt führten, wie es zuvor bereits in Egara, Ausa und der nahen Stadt Ampurias geschehen war, der ein Normannenangriff den Todesstoß versetzt hatte.

1

Reims, im Herbst

Frodoi, ein junger Geistlicher aus der Adelsfamilie Rairan in Reims, war mit seinen fünfundzwanzig Lebensjahren davon überzeugt, dass sein bisheriges Leben erst ein Vorgeschmack dessen gewesen war, was noch kommen sollte. Mit einem Kribbeln im Bauch sah er zu der bronzebeschlagenen Tür des Bischofssaals. Seit Monaten hoffte er auf eine Audienz bei Erzbischof Hinkmar, dem mächtigsten Kirchenmann des Frankenreichs und Ratgeber König Karls des Kahlen. Frodoi kannte den Erzbischof aus seiner Zeit an der Kathedralschule und konnte es kaum erwarten zu erfahren, welche hohe Ehre die Kirche für ihn bereithielt.

Die Familie Rairan war in den vergangenen Jahrzehnten im Dienst der Krone aufgestiegen. Frodois Vater fiel während des Aufstands Pippins in der Schlacht, und sein älterer Bruder kämpfte auf Seiten des Königs in Aquitanien gegen die Normannen. Außerdem hatten die Rairans den Abteien Nôtre Dame in Compiègne und Chelles Land übereignet, um das Wohlwollen des Bischofs zu gewinnen. Nach zwei Jahren Priestertum sah der junge Mann einer glanzvollen Karriere in der kirchlichen Kurie entgegen. Er stellte sich ein Bistum in der Nähe von Reims vor, mit Privilegien und Pfründen, abhängigen Bauern, die seine Ländereien bestellten, und Pfarrsprengeln, die ihm großen Gewinn einbrächten. Vielleicht konnte er sogar eine Kathedrale erbauen wie Hinkmar selbst, der seit zwanzig Jahren die Kathedrale von Reims erweitern ließ.

Die Türen des Saals öffneten sich, und Frodoi bezähmte seine Nervosität. Er bewunderte die drei Joche des Tonnengewölbes, das von schlanken, reich verzierten Marmorsäulen getragen wurde. Die schmalen Fenster ließen nur wenig Licht herein, in dem ein feiner Vorhang aus Staub schwebte. Kanoniker und Bischöfe wohnten der Audienz von den Rängen aus bei; ganz vorne im Saal saß auf einem silbernen, mit Edelsteinintarsien geschmückten Thron der mächtige Erzbischof von Reims mit seiner golddurchwirkten Mitra und dem Bischofsstab.

Andächtig küsste Frodoi den Ring des Prälaten. Die königliche Erscheinung des über fünfzigjährigen Hinkmar war beeindruckend. Der junge Priester hob den Blick zu dem gekreuzigten Christus, der über dem Raum schwebte. Er trug eine goldene Krone und blickte mit ausdruckslosem Gesicht geradeaus, als wäre ihm die Gegenwart der Anwesenden lästig.

»Mein Sohn«, sagte Hinkmar, »glaubst du daran, dass unser Erlöser am Kreuz gelitten hat?«

Frodoi erschrak. Seine Leistungen in Arithmetik waren herausragend gewesen, und er mochte die Geschichte der großen römischen und griechischen Staatsmänner, theologische Fragen hingegen langweilten ihn. Wenn er nicht präzise antwortete, lief er Gefahr, eine Häresie zu begehen, deshalb war er vorsichtig.

»Die Menschen sind es, die leiden sollten, wenn sie auf ewiges Leben hoffen.«

»Und ein Diener des Herrn, so wie wir, sollte der leiden wie jeder andere?«

Frodoi hielt Hinkmars bohrendem Blick stand. In dem angespannten Schweigen war das eine oder andere Räuspern von den Rängen der Kleriker zu vernehmen. Irgendetwas lief hier schief.

»Die Kirche ist dazu berufen, das Reich Gottes zu errichten, ihre Botschaft zu verbreiten und das Heidentum zurückzudrängen, das noch immer in der Erde wurzelt.« Je länger er sprach, desto sicherer wurde er, doch die Anspannung blieb. »Ihre Hirten sollen die Vornehmen und Könige zu Treue und Gehorsam leiten. Wenn man dafür leiden muss, wird Gott es vergelten.«

»Du bist zielstrebig und ehrgeizig, Frodoi, das hast du bereits in der Kanonikerschule unter Beweis gestellt. Ich frage mich allerdings, ob diese Eigenschaften für einen Mann des Glaubens von Vorteil sind … Vielleicht hättest du Soldat werden sollen.«

»Ich habe den Ruf Gottes vernommen«, antwortete Frodoi. Ihm gefiel nicht, welche Richtung das Gespräch nahm. »Auch die Kirche braucht Stärke, um ihren Auftrag zu erfüllen.«

Hinkmar nickte zufrieden. Erleichtert wandte Frodoi sich um und warf den Bischöfen einen herausfordernden Blick zu. Er hatte die Befragung mit Bravour bestanden; vielleicht zog ihn der Erzbischof nun anderen Aspiranten vor.

»Du bist der Richtige«, schloss Hinkmar.

Frodoi neigte den Kopf, um zu hören, welche Ehre man ihm zuteilwerden ließ.

»Im Namen unseres Königs Karl und des Erzbischofs von Narbonne, Fredoldus, wirst du zum Bischof von Barcelona ernannt. Dort wirst du deine Diözese verwalten, den Bau der Kathedrale vollenden, mit dem Joan, einer deiner Vorgänger, begonnen hat, und die heilige Mission erfüllen, von der du mit solchem Eifer sprichst.«

Dem jungen Priester wurden die Knie weich. Die Stille im Saal machte deutlich, dass die Ernennung für keinen der anwesenden Kleriker überraschend kam. Er sah erneut zu ihnen herüber. Einige schienen applaudieren zu wollen. Noch wochenlang würden sie mit Schadenfreude an diesen Moment zurückdenken.

»Erzbischof … Die Spanische Mark?«, stammelte er.

Ein dunkler Schleier senkte sich auf seine Seele. Er wusste, dass Barcelona im äußersten Süden des Reiches vor sich hin kümmerte und in den letzten sechzig Jahren zahlreiche Angriffe hatte erdulden müssen. Er erinnerte sich besonders an einen, von dem ihm sein Vater erzählt hatte, der daran beteiligt gewesen war: Im Jahr 843 hatte der König den aufsässigen Grafen Bernhard von Septimanien abgesetzt, worauf dieser sich erhoben hatte und schließlich enthauptet worden war. In der Spanischen Mark hatte man die Ernennung des neuen Grafen sehr begrüßt, eines in der Mark geborenen Goten namens Sunifred, der das verwüstete Land wieder besiedeln wollte, um der Region neuen Wohlstand zu bringen. Doch Bernhards Sohn Wilhelm von Septimanien, der als Geisel am königlichen Hof aufgewachsen war, sann auf Rache. Er gab sich königstreu und erhielt zahlreiche Titel, doch im Jahr 848 überrannte er die Gebiete südlich der Pyrenäen, die einmal seinem Vater gehört hatten, und tötete Graf Sunifred und seine Getreuen. Wilhelm harrte zwei Jahre aus, in denen sein Zorn immer größer wurde, bis er schließlich im Jahr 850 gemeinsam mit einem Heerführer der Sarazenen ins Herz der Grafschaft Barcelona vordrang. Danach zog er brandschatzend durch die Mark, bis er durch Graf Aleran von Troyes in Barcelona festgesetzt und hingerichtet wurde.

Seither hatte es einige Herren in der Grafschaft Barcelona gegeben, doch die Lage war düster und trostlos geblieben. Die Stadt war weiterhin Bischofssitz und Münzstätte, besaß aber kaum vierhundert Haushalte. Niemand wollte dort leben, und der aktuelle Graf, Humfried von Gothien, weilte weit entfernt beim König und seinem umherwandernden Hof.

»Wenn du das Angebot annimmst, erhältst du die Bischofsweihe und wirst dich unverzüglich auf den Weg machen«, fuhr Hinkmar fort. »Du wirst die gleichen Privilegien erhalten wie deine Vorgänger: Pfründe, Ländereien und Leibeigene. Für die Fertigstellung der Kathedrale stehen dir ein Drittel der Einnahmen aus der Münzstätte sowie ein ebensolcher Anteil an den Steuern auf alle Waren zur Verfügung, die auf dem Land- oder Seeweg ankommen. Doch deine vorrangige Aufgabe wird es sein, die mozarabischen Riten aus der Liturgie zu entfernen und die römische Messe einzuführen. Dort und nicht anderswo im Land werden Diener wie du gebraucht.«

Frodoi fühlte sich wie ein zum Tode Verurteilter. Der König hatte vor, ihn in die gefährlichste und verlassenste Gegend seines Herrschaftsgebiets zu entsenden, um ein paar feindselige Schäflein zu hüten, die sich von der französischen Krone im Stich gelassen fühlten.

»Dieses Land ist verflucht«, entfuhr es ihm.

Angesichts der trotzigen Antwort wurde es totenstill im Saal. Hinkmar warf den übrigen Prälaten einen verächtlichen Blick zu.

»Keiner der hier Anwesenden hätte das Zeug dazu«, erklärte er. »Aber ich weiß, dass du es kannst. Gott hat es mir offenbart. Nimmst du den Auftrag an?«

Niemand aus seiner Familie hatte eine Verfehlung begangen, die eine solche Strafe gerechtfertigt hätte. Deshalb vermutete Frodoi, dass rivalisierende Adelsfamilien sich verschworen hatten, um seinen Aufstieg zu verhindern. Einige Prälaten grinsten; manche von ihnen waren ebenso jung wie er und herrschten bereits in ihren Bistümern wie wahre Könige. Das Ganze ist eine Falle, schloss er wütend. Ein Adliger seines Standes würde sich niemals dazu herablassen, eine Diözese in der finstersten Weltgegend zu übernehmen, aber jeder wusste, dass eine Weigerung seinem Aufstieg in der Kirche ein Ende setzen würde.

»Nun?«

Frodoi wollte schon ablehnen, doch dann erinnerte er sich daran, was er beim Eintreten gedacht hatte. Sein Leben lang fühlte er sich zu Großem berufen, und dieses Gefühl hatte ihn auch nach Hinkmars beleidigendem Angebot nicht verlassen. Nicht immer sind die Wege des Allmächtigen gerade, sagte er sich, und noch hielt Barcelona stand.

»Ich nehme den Auftrag an.«

Das überhebliche Lächeln verschwand von den Gesichtern der Anwesenden. Frodoi sah herausfordernd zum Chorgestühl hinüber; diese Männer würden ihn niemals einen Feigling nennen können.

»Wenn es der Wille des Königs und der Kirche ist, werde ich der neue Bischof von Barcelona.«

Hinkmar beugte sich vor. In seinen Augen lag Stolz, auch wenn der Erzbischof dies zu verbergen versuchte.

»Bist du sicher? Es ist ein Land der Märtyrer.«

Hinkmar bezog sich auf die lange Liste von Bischöfen und Äbten, die in Gothien auf grausamste Weise ermordet worden waren. Niemand wusste genau, was seinem Vorgänger Bischof Adolf widerfahren war, aber man munkelte von einem blutigen Ende. Frodoi jedoch dachte nur an die Verblüffung, die er verursacht hatte.

»Wann soll ich aufbrechen?«

»Nach deiner Weihe wirst du nach Narbonne reisen und dich der Autorität Erzbischof Fredoldus’ unterstellen. Danach brichst du zu deinem Bischofssitz auf. Die Herde ist seit Langem versprengt und braucht einen Hirten mit fester Hand. Uns ist zu Ohren gekommen, dass einige aufrührerische Geistliche, die den mozarabischen Riten anhängen, sich an unserem Besitz bereichern. Den sollst du zurückgewinnen.«

Frodoi bezweifelte, dass dies die schlimmsten Probleme waren, doch er sprach es nicht aus. Nach der Eitelkeit kam die Verunsicherung, aber Hinkmar war noch nicht fertig.

»Der junge Priester Jordi wird dich begleiten. Er ist in Barcelona geboren und wird dir im Umgang mit den schwierigen Goten eine Hilfe sein. Außerdem stelle ich dir meinen Beichtvater, den Benediktinermönch Servusdei, zur Seite. Er ist ein frommer und zudem weiser Mann, den du bereits von der Kanonikerschule kennst. Als Experte für Kirchenrecht wird er dich über die Lex und Consuetudines der Goten beraten. Servusdei wird dein wichtigster Ratgeber sein. Ich schätze ihn sehr und bedaure es aufrichtig, mich von ihm trennen zu müssen.«

Tatsächlich hatte Frodoi Unterricht bei Servusdei erhalten. Er erinnerte sich an ihn: ein hagerer Mann um die sechzig, der stets eine zerschlissene Kutte trug. Der gesamte Klerus hielt ihn für den besten Lehrer und Beichtvater.

»Ich danke Euch, mein Herr«, sagte Frodoi aufrichtig zum Erzbischof.

Ein Archidiakon flüsterte Hinkmar etwas ins Ohr, und dieser sah den jungen Geistlichen mitleidig an.

»Du sollst wissen, dass es kürzlich einen weiteren Sarazenenangriff auf Barcelona gab. Die Stadtmauer konnten sie nicht überwinden, aber sie haben die Vorstädte verwüstet. Viele Einwohner sind geflohen, die Bevölkerung ist dezimiert. In Abwesenheit von Graf Humfried wirst du gemeinsam mit dem derzeitigen Vizegraf Sunifred die höchste Autorität sein und dir den Respekt der Goten und Hispanier erwerben müssen.«

Frodoi nickte. Er haderte mit sich, weil er aus Hochmut auf das Angebot eingegangen war; womöglich war das der schlimmste Fehler seines Lebens. Er wollte den Saal so schnell wie möglich verlassen, bevor man seine Angst bemerkte. Doch auf dem Weg zur Tür kam ihm der Gedanke, dass es seine Position stärken würde, wenn noch andere mit ihm kämen. Deshalb wandte er sich mit einer Bitte an Hinkmar: »Erzbischof, ich bitte darum, dass der König mir gestatten möge, Siedler mitzunehmen und ihnen gegen Pacht Kirchenland anzubieten, wenn die fehlende Bevölkerung eines der Probleme ist. Es wäre gut, die Anzahl der romtreuen Christen zu erhöhen.«

»Wir werden darüber nachdenken«, antwortete der Kirchenmann.

Hinkmar war aus den Reihen des Adels stark unter Druck gesetzt worden, den jungen Priester zu vernichten, aber er hatte das Gefühl, dass Frodoi mit seinen Talenten Teil eines göttlichen Plans war, den er noch nicht verstand, und dass seine Reise zur Grenze nicht das Ende war. Das Rad der Geschichte drehte sich weiter, und aus diesem Gefühl heraus begann er erneut zu sprechen: »Gott will dich aus irgendeinem Grund dort unten sehen«, sagte er mit bebender Stimme. »Der Herr möge dich behüten und dir deinen Mut bewahren, denn du hast recht, Frodoi: Dieses Land ist verflucht.«

2

Bei Carcassonne

Elisia stand im Regen und strich sich das dunkle Haar aus der Stirn, den Blick auf das Grab ihres Großvaters gerichtet. Sie war siebzehn und blieb nun ohne jede Familie zurück.

Traurig sah sie zu, wie der Regen auf das Grab auf dem kleinen Friedhof neben der Kapelle Saint-Jacques fiel. Hinter ihr verließen die Trauergäste leise den Friedhof, damit sie ungestört von dem Verstorbenen Abschied nehmen konnte. Elisia bedauerte es, dass sie nicht schreiben konnte. Sie hätte gerne seinen Namen in den Grabstein gemeißelt: Lambert.

Im Hintergrund waren schemenhaft, da in grauen Nebel gehüllt, die Festung der Stadt und darunter die verwinkelte Vorstadt zu sehen, die sich bis zum Ufer der Aude zog. Zwischen diesen Fachwerkhäusern lag ihr Zuhause, Oterios Herberge, wo sie mit ihrem Großvater gewohnt und als Dienstmagd gearbeitet hatte, seit sie denken konnte. Mehr als einmal hatte Lambert ihr erzählt, dass sie die Tochter eines tapferen Soldaten sei, der unter dem Befehl des Grafen Berà II. in der Schlacht gefallen sei, und dem Mädchen lachend eine große Zukunft vorausgesagt. Doch als sie älter wurde, begriff Elisia, dass der Großvater sich diese Geschichte nur ausgedacht hatte, um eine Waise zu trösten, die schon als Sechsjährige in einer Schänke neben der Brücke arbeiten musste.

Ihre Eltern und Geschwister waren bei einem Brand in der Schänke ums Leben gekommen, als sie erst zwei Jahre alt gewesen war. Großvater und Enkelin teilten sich einen Verschlag mit dem übrigen Gesinde, und schon als kleines Mädchen half sie bei allen Arbeiten, die ihr Alter zuließ – vom Holzholen bis zum Ausbessern des Dachs und dem Bedienen bei Tisch. Sie schufteten ohne Unterlass, und für den alten Oterio, den Wirt, waren sie Teil der Familie. Es war ein hartes Leben, aber es fehlte ihnen an nichts.

Obwohl sie eine Unfreie war, war Elisia glücklich in ihrer kleinen Welt. Ihre Zuversicht bewahrte sie davor, über ihr Los zu jammern. Sie hatte Carcassonne noch nie verlassen, aber sie lauschte gebannt den Geschichten der Händler und Pilger, die in der Herberge abstiegen. Sie staunte über die Abenteuer und Fährnisse, die diese auf ihren Reisen erlebten, und malte sich aus, was sie in solchen Situationen tun würde.

In einer Schänke aufzuwachsen hatte ihren Charakter gestärkt. Als sie zu einem jungen Mädchen mit sanften Mandelaugen, die beim Lächeln funkelten, herangewachsen war, wusste sie sich geschickt den begehrlichen Händen der Gäste zu entziehen und Schmeicheleien mit Humor zu erwidern. Immer wenn sie vor den bemoosten Grabsteinen ihrer Familie in Saint-Jacques stand, dankte sie Gott, dass sie ihren Großvater und ein Dach über dem Kopf hatte. Das war viel mehr, als andere in den Vorstädten besaßen.

In diesem Jahr war der Herbst mit Macht hereingebrochen, und mit ihm kam das Unglück. Als der alte Lambert vor zwei Tagen die dunklen Wolken gesehen hatte, war er auf das Dach der Herberge geklettert, um das Stroh festzuzurren. Von den entsetzten Schreien der anderen aufgeschreckt, war Elisia aus der Küche herbeigerannt und hatte Lambert neben der zerbrochenen Leiter liegen sehen. Sie konnte ihn nur noch weinend in ihren Schoß betten, während sie den bitteren Schmerz des Verlusts spürte.

Mit Lambert hatte Oterio seinen liebsten Knecht verloren, und er richtete ihm ein Begräbnis aus, als wäre Lambert ein Verwandter gewesen.

Als sie nun am Grab ihres Großvaters stand, spürte Elisia, dass jemand nach ihrer Hand griff. Es war Gali. Traurig sah sie ihn an und ließ es zu, dass er ihre Hände wärmte. Der junge Mann mit dem munteren Blick und der flinken Zunge lebte seit fast zwölf Monaten in der Herberge. Er war der Enkel eines Freundes von Oterio, und der Wirt hatte ihn mit offenen Armen aufgenommen. Den ganzen Tag lungerte Gali im Schankraum herum, und mit seinem Grinsen und seinem frechen Mundwerk nahm er alle für sich ein. Auch die junge Dienstmagd erlag seinen Schmeicheleien. Lambert hatte es ganz und gar nicht gefallen, dass seine Enkelin von diesem Tunichtgut umgarnt wurde, der im Ruf stand, nichts anbrennen zu lassen, und das ließ er Elisia auch wissen, doch das Mädchen war fasziniert von Galis Wortgewandtheit.

Zwei Tage vor dem Unfall des alten Mannes hatte Gali die Dreistigkeit besessen, Elisia im Holzschuppen zu küssen, und sie hatte es geschehen lassen. Deshalb empfand sie seine Berührung jetzt, hier auf dem Friedhof im Regen, als tröstlich.

»Lambert hat dir versprochen, dass du nie allein sein wirst. Von nun an werde ich für dich sorgen.«

Elisia lächelte traurig. Galis Worte kamen immer im richtigen Moment. Sie ließ die Umarmung zu, obwohl sie unpassend war, denn sie zitterte vor Kälte.

»Lambert hat seine Versprechen gehalten.«

Elisia wusste, dass Galis Vergangenheit dunkel und von Unglück geprägt war, genau wie ihre eigene. Er war als Freier im Dorf Vernet in der Grafschaft Conflent aufgewachsen, wo sein Großvater Gombau, Oterios Freund, im Auftrag des Grafen die Weinberge verwaltete. Im Jahr 848 ließ der aufständische Wilhelm von Septimanien den Grafen Sunifred in Barcelona hinrichten und seine Vasallen verfolgen, darunter auch Gombau. Soldaten kamen nach Vernet, zerstörten Galis Zuhause und vergewaltigten und töteten seine Mutter und seine Schwestern. Dem Jungen gelang mit seinem Großvater die Flucht, und die beiden lebten jahrelang in Ampurias. Als Gombau starb, ging Gali nach Carcassonne und suchte Zuflucht bei Oterio.

Alle in der Herberge warnten Elisia vor Gali, doch sie gab nichts darauf. Gali war ein freier Mann, er hatte die Welt gesehen und zog sie dennoch den älteren Mädchen vor. Seine honigsüßen Worte gaben ihr das Gefühl, etwas Besonderes zu sein.

»Hast du über meinen Vorschlag nachgedacht?«, fragte Gali nun.

»Barcelona liegt in der Grenzmark.« Sie wusste genau, worum es ging, und es tat ihr weh, in diesem Moment darüber zu sprechen. »Es ist eine gefährliche Gegend.«

»Aber jetzt ist die Gelegenheit, von hier wegzukommen!« Er nahm ihr Gesicht in seine Hände, wie er es immer tat, wenn er ihre ganze Aufmerksamkeit wollte. »Sich dem Zug des neuen Bischofs von Barcelona anzuschließen ist die einzige Möglichkeit, in die Spanische Mark zu kommen. Er hat allen, die sich ihm anschließen, Land und den Schutz der Kirche versprochen.«

In der Schänke wurde über nichts anderes geredet. Der neue Bischof Frodoi war in Narbonne eingetroffen und würde in zwei Wochen mit allen, die seinen Versprechungen glaubten, nach Barcelona aufbrechen. Nicht alle waren von seinem riskanten Unterfangen angetan; außerdem wollten einige Bischöfe und rivalisierende Adelsfamilien verhindern, dass er erfolgreich war.

Elisia schwirrte der Kopf. Der Leichnam ihres Großvaters war kaum unter der Erde, und schon bedrängte Gali sie wieder. Gombau hatte angeblich vor seiner Flucht etwas in seinem Haus in Barcelona versteckt, und seit Wochen redete Gali nun auf sie ein, dass jetzt die Gelegenheit gekommen sei, es zu holen, und dass sie mitkommen solle.

»Barcelona ist ein gefährlicher Ort«, wiederholte Elisia düster. »Es heißt, die Stadt sei dem Untergang geweiht.«

»Ihre Mauern sind höher als die von Carcassonne!«, rief Gali begeistert, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass sie am Grab des alten Lambert standen.

»Es geht uns doch nicht schlecht hier, Gali. Glaubst du wirklich, dass es stimmt, was dein Großvater dir erzählt hat?«

»Ich bin sicher. Wenn es noch dort ist, wird sich unser Leben ändern!«

»Das ist es ja, was mir Angst macht. Außerdem bin ich Oterios Leibeigene.«

Gali strich ihr übers Haar und lächelte mit dieser Unbekümmertheit, die sie so verwirrte.

»Ich werde mit ihm reden. Wenn er dir gestattet, mit mir zu kommen, wärst du frei!«

Elisia seufzte. Heute war sie nicht in der Stimmung, sich mitreißen zu lassen.

»Angeblich ist dieser Frodoi ein ehrgeiziger Adliger, der sich Hoffnungen auf ein reiches Bistum gemacht hat und zur Strafe nach Barcelona geschickt wurde. Wenn er Siedler mitnimmt, dann nur, damit sie sein Land bestellen und Abgaben zahlen.«

»Natürlich wird er ehrgeizig sein! Aber das Entscheidende ist, dass wir in seinem Schutz reisen könnten. Vertrau mir, Elisia. Unsere Zukunft liegt in Barcelona.«

»Aber du bist noch nie dort gewesen! Du kommst aus Vernet«, warf Elisia ein und setzte hinzu: »Die Grenze macht mir Angst.«

Galis Gesicht verfinsterte sich. So viel Widerspruch war er nicht gewohnt, aber er riss sich zusammen.

»Wir könnten unsere eigene Herberge eröffnen. Wie fändest du das? Du wärst die Besitzerin, denn ich würde alles mit dir teilen. Deine Kinder würden als Freie aufwachsen, und es würde ihnen an nichts mangeln!«

Traurig strich Elisia über Lamberts Grabstein. Der besonnene alte Mann hatte nur das Beste für sie gewollt, und er hätte Galis Abenteuer niemals gutgeheißen. Jetzt war er nicht mehr da, und Gali ließ nicht locker. Es war ein schöner Traum, das musste sie zugeben. Aber Oterio würde sie niemals gehen lassen, weil er sie in der Herberge brauchte, und das beruhigte sie.

Elisia erinnerte sich, wie sie sich mit zwölf Jahren für die Arbeit ihres Großvaters zu interessieren begann, der in der Herberge für die Küche zuständig war. Vor den großen Feuern entdeckte sie mit ihm die Welt der Gewürze und das Geheimnis der Suppen und lernte, den richtigen Garpunkt eines Bratens am Geruch zu erkennen. Sie entwickelte ein besonderes Gespür fürs Kochen, und Oterio wusste das zu nutzen. Als Lamberts Gehilfin lernte sie, Fische zu räuchern, Fleisch zu pökeln und Würste zu machen. Schon bald konnte sie Kuchen und Nougat herstellen und kandierte Früchte, die sie in großen Töpfen aufbewahrten.

Die Gäste lobten Oterios Küche in den höchsten Tönen. Lambert und seine Enkelin warteten darauf, dass hin und wieder exotische Gewürze eintrafen, und lernten Gerichte zuzubereiten, die Gäste aus fernen Ländern ihnen beschrieben, damit diese sich wie zu Hause fühlten. Die Herberge lief so gut wie nie, und ihr Ruf verbreitete sich in der gesamten Grafschaft. Oterio behandelte sie wie ein Familienmitglied, und Elisia wusste, dass ihr niemals ein Bett zum Schlafen fehlen würde.

Ihr war zum Heulen zumute.

»Manchmal denke ich, dass du sowieso gehen wirst, Gali.« Sie lehnte ihren Kopf an seine Brust. »Ich bin eine Unfreie, mein Platz ist hier.« Sie zitterte. »Mir ist kalt. Lass uns zur Herberge zurückgehen.«

Als sie den morastigen Hügel hinuntergingen, lag ein dunkler Schleier über den Augen des Mädchens.

Drei Tage nach der Beerdigung des alten Lambert saßen Oterio und fünf andere Männer schweigend und mit ernsten Mienen im Keller einer Taverne. Dem Wirt kam es vor, als würde sich die Erde unter ihm auftun. Auf der anderen Seite des alten Fasses, an dem er gespielt und Wein gebechert hatte, sah er den Haufen Silbermünzen liegen, den er im Rausch des Glücksspiels verloren hatte. So desaströs war schon seit vielen Jahren kein Abend mehr gewesen. Am liebsten hätte Oterio die drei Würfel aus gelblichem Elfenbein, die ihm einen solchen Verlust eingebracht hatten, weit von sich geschleudert, so wütend war er.

Gali lächelte angesichts des kleinen Vermögens, das er in dieser Nacht gewonnen hatte. Oterio allerdings hätte sich am liebsten auf ihn gestürzt. Mit offenen Armen hatte er den Jungen damals aufgenommen, als dieser in der Herberge erschienen war und sich als Gombaus Enkel vorstellte. Gombau war sein bester Kamerad während der vier Feldzüge im Dienst des Grafen Oliba von Carcassonne gewesen, bis Gombau weitergezogen war, um Graf Sunifred zu dienen.

Oterio und Gali teilten ein heimliches Laster, das Glücksspiel. Beide trieben sich in den schäbigsten Kneipen von Carcassonne herum, waren aber bislang nie gegeneinander angetreten. Um Mitternacht hatte es mit einer Handvoll Münzen und einigen Pyrrhussiegen für Oterio begonnen; Gali hatte ihn angestachelt, immer weiterzuspielen. Es war ein Fehler gewesen, aber verblendet, wie er war, bemerkte Oterio die Absicht des Jungen nicht. Bald würde es Tag werden, und obwohl noch trunken vom Wein, begriff der Wirt, dass er mehr verloren hatte, als er besaß.

»Ich brauche das Geld für die Herberge, Gali«, sagte er und deutete auf die Münzen. »Aus Freundschaft zu deinem Großvater habe ich dir mein Haus geöffnet, und nun das …«

»So ist das Leben, Oterio«, erwiderte Gali unbarmherzig.

»Aber ich brauche es!«, stammelte der Wirt verzweifelt.

Gali grinste und schob die Münzen zu Oterio hinüber.

»Du weißt, was ich will … Ich habe mit dir darüber gesprochen.«

Der Wirt riss die Augen auf. Plötzlich war ihm alles klar. Deshalb waren sie heute Nacht hier! Er hatte nicht schlecht Lust, den Kerl windelweich zu prügeln.

»Du weißt, dass Elisia wie eine Tochter für mich ist und die Herberge ohne sie nicht mehr dieselbe wäre. Du hast dich da in etwas verrannt und wirst sie ins Unglück stürzen! Wenn Lambert noch lebte …«

»Lass den Alten in Frieden ruhen. Elisia ist jung und schön, sie hat es verdient, frei zu sein. Sie wird eine gute Ehefrau und Mutter abgeben.«

Oterio runzelte die Stirn. Seit seiner Ankunft hatte Gali seine Zeit in Kneipen mit Glücksspiel und Frauen verbracht. Der Wirt wusste, dass dieser Kerl Elisia nicht liebte, sondern lediglich ihre Qualitäten sah. Er wollte sie nur ausnutzen. Bei dieser Erkenntnis wurde ihm übel, aber er saß in der Klemme. Er musste das verlorene Geld zurückbekommen. Wäre Lambert noch unter ihnen, hätte Oterio es niemals gewagt, auf Galis Forderung einzugehen. Der Tod des Alten schien den Interessen des Jungen entgegenzukommen.

»Nach vier Generationen wirst du, Oterio, in der schmählichen Situation sein, die berühmte Herberge an der Aude aufgeben zu müssen«, sagte Gali kalt.

Es war ein Schlag in die Magengrube. Alle rutschten schweigend auf ihren Stühlen herum. Oterio sah die Silbermünzen auf dem Fass liegen. Am nächsten Tag würde er weder das Fleisch noch das Futter für die Tiere im Stall bezahlen können. Die Herberge wäre ruiniert, und die Zeugen, allesamt Zechkumpane von Gali, würden seinen Namen in Carcassonne schlechtmachen. Diese Demütigung konnte er nicht ertragen. Er saß wirklich in der Klemme.

»Sie darf es nie erfahren. Das ist alles, worum ich dich bitte«, sagte Oterio mit einem resignierten Seufzen.

»Ich mag fröhliche, unternehmungslustige Mädchen. Ich suche keine Dienstmagd. Sie wird aus freien Stücken mitkommen, sie wird nur das erfahren, was ich ihr sage, und das denken, was ich will. Ich möchte so schnell wie möglich nach Narbonne aufbrechen, um mich dem Zug des neuen Bischofs von Barcelona anzuschließen.« Er verzog das Gesicht zu einem spöttischen Grinsen. »Elisia wird mich als meine Frau begleiten, mit deinem Segen.«

»Also gut, Gali. Elisia gehört dir«, willigte der Wirt verzweifelt ein, die Hände zu Fäusten geballt. »Ich hoffe, du wirst in der Hölle schmoren, wenn du nicht gut auf sie achtgibst.«

Zwei Tage später betrachtete Elisia die leeren Tische, auf denen das fahle Licht eines weiteren bewölkten Morgens lag. Gleich würden die Gäste herunterkommen, in der Küche flackerte bereits das Feuer. Dieser Moment der Ruhe war die liebste Zeit ihres Großvaters gewesen. Alles erinnerte Elisia an ihn, und sie musste jedes Mal weinen, wenn Nachbarn oder Händler, die nach Carcassonne kamen, ihr Beileid aussprachen. Die Menschen schätzten sie, schließlich hatte sie ihnen mit ihrem Singen, Lachen und Tanzen jahrelang die angenehmsten Abende beschert.

Kurz darauf erschien Oterio, und die beiden setzten sich etwas abseits an einen Tisch. Am Vorabend hatte Gali um ihre Hand angehalten, und zu ihrem Erstaunen hatte der Wirt der Hochzeit zugestimmt. Der alte Lambert habe sechzig Jahre lang geschuftet, ohne sich einen einzigen Tag auszuruhen, sagte er, da habe seine einzige Enkelin die Freiheit und einen guten Ehemann verdient. Gali, der frisch gebadet war und eine neue Tunika aus gutem Tuch trug, schilderte ihr in glühenden Farben die Möglichkeiten, die sich ihr durch ein Leben an seiner Seite boten, und allmählich ließ sich Elisia von seiner Begeisterung anstecken. Die Schänke war ihre Welt, aber wie für jeden Leibeigenen war die Freiheit auch ihr sehnlichster Wunsch. Ohne ihren Großvater hielt sie nichts mehr hier, und bliebe sie, würde sie am Ende sowieso einen anderen Unfreien heiraten.

»Bist du sicher, dass du das wirklich willst, Elisia?«, fragte der Wirt nun rundheraus und sah sie traurig an. »Und damit meine ich nicht den Plan, nach Barcelona zu gehen.«

Elisia war überrascht. Am Abend zuvor, in Galis Gegenwart, schien Oterio doch einverstanden gewesen zu sein, aber nun bemerkte sie etwas in seinem Blick, das ihr nicht gefiel. Man hätte meinen können, dass er Angst um sie hatte.

»Ich werde ihn heiraten. Du hast deine Zustimmung gegeben.«

»Das ist keine Antwort auf meine Frage, Elisia. Deine Familie ist seit Generationen von meiner abhängig; selbst um ein altes Kleid zu kaufen, brauchtest du mein Einverständnis. Lambert hat mich nur um eines gebeten: dass ich dich zu nichts zwinge. Willst du Gali wirklich heiraten?«

»Er ist ein guter Mann«, antwortete sie nervös. »Das hast du gestern selbst gesagt.« Unsicher und ängstlich senkte sie den Blick. Gali hatte doch versprochen, für sie zu sorgen und ihr ein anständiges Leben zu bieten! »Ich werde euch vermissen, Oterio.«

Traurig ließ der Wirt den Kopf hängen. Wenn Elisia sich geweigert hätte, hätte er einen Weg gesucht, um seinen Fehler wiedergutzumachen, doch der willensstarke Gali hatte sie in seinen Bann gezogen.

»Du hast meinen Segen, Tochter«, sagte er kraftlos.

Elisia war ein schlankes Mädchen mit sanften Gesichtszügen und dunklem Haar, das sie normalerweise bedeckte, um es vor dem Küchenfett zu schützen. Doch was alle am meisten anzog, waren ihre großen, honigfarbenen Augen mit den langen Wimpern; sie strahlten eine Wärme aus, die jeden berührte. Außerdem war Elisia lebhaft und quirlig. Dutzende junger Männer aus Carcassonne in besserer Position als Gali würden sich darum reißen, ihr den Hof zu machen. Aber nun war es zu spät.

»Wir alle bedauern es sehr, dass du gehst. Und die Gäste werden ungehalten sein.«

»Adovira kennt die Rezepte und hat ein gutes Händchen.«

Der alte Mann strich ihr väterlich über die Wange. Aus dem kleinen Mädchen, das auf die Tische geklettert war, um für die Gäste zu singen, war eine Frau geworden, aber er vermisste in ihren Augen das helle Leuchten der Liebe. Gali hatte sie lediglich mit seinem Charme geblendet. Allerdings war bei den meisten Mädchen, die von ihren Vätern in eine Ehe versprochen wurden, keine Liebe im Spiel. Er, Oterio, war ihr Herr, und sie im heiratsfähigen Alter. So war nun mal der natürliche Lauf der Dinge. Außerdem war sie klug und selbstbewusst und konnte gut auf sich selbst achtgeben. Das alles dachte er und versuchte so, seine Schuldgefühle zu besänftigen. Aber er hatte sie verkauft, hatte sie ausgeliefert, um eine Schuld zu begleichen.

»Zuerst Lambert, jetzt du … Zu viele Verluste.« Seine Miene wurde bitter. »Ich werde alt.«

Elisia konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Sie hatte Angst. Sie wäre gerne nach der Hochzeit in Carcassonne geblieben, aber Gali hatte große Pläne im fernen Barcelona. Und sie klammerte sich an jede seiner Versprechungen.

»Danke, Oterio. Sobald ich kann, schicke ich dir Nachrichten durch einen Händler.«

»Wir werden dich alle vermissen, Elisia.«

»Und Gali?« Es tat ihr weh, dass er so argwöhnisch betrachtet wurde.

»Du bist ein kluges Mädchen. Du ähnelst deinem Großvater, also verlass dich auf deinen Verstand und habe ein wachsames Auge auf ihn«, riet ihr Oterio, wie es zuvor Lambert getan hatte. Er hoffte, dass er trotz des Kloßes im Hals weitersprechen konnte, und ergriff ihre Hände, die von Brandwunden und schlecht verheilten Narben gezeichnet waren. Hinter ihrem engelsgleichen Aussehen verbarg sich eine von harter Arbeit gestählte junge Frau. »Und wenn du beißen musst, beiß!«

Als die Stürme nachließen, gab Oterio Elisia die Freiheit, die Herberge in Begleitung des stolzen Gali zu verlassen. Sie heirateten an einem kalten Morgen in der kleinen Kapelle Saint-Jacques, bevor sie sich mit einigen vertrauenswürdigen Händlern auf den Weg nach Narbonne machten, wo Frodoi mit seinem Gefolge wartete. Auch Familien aus anderen Städten, die bei dem ungewissen Abenteuer wenig zu verlieren hatten, waren dem Aufruf gefolgt.

Die Ehe wurde von einem Priester geschlossen, der mehr Zeit in Oterios Taverne als in seiner Pfarrei verbrachte. Er weinte, als er Elisia in ihrem Kleid aus schwarzem Tuch und mit einem weißen Schleier von Oterios Ehefrau sah – sie ging weg, um nie mehr wiederzukommen. Der anschließende Abschied in der Herberge war bewegend. Die zwanzig Bediensteten überreichten ihnen Decken, Dörrfleisch und Weißbrot, Oterio und seine Familie schenkten ihnen eine Handvoll Silbermünzen und zwei dicke Umhänge gegen die Kälte auf der harten Reise. Der Herbst hatte gerade erst begonnen, doch der Winter war schon deutlich zu spüren.

Gali trug ein siegessicheres Lächeln zur Schau. Er hatte bekommen, was er wollte. Elisia schluckte die Tränen herunter, und alle umarmten sie innig. Ratschläge und Warnungen, um sie von der Reise ins finstere Barcelona abzubringen, waren ausgesprochen. Es blieb nur noch, Gott um seinen Schutz zu bitten.

Als der Morgennebel sich lichtete, schlossen sie sich den Karren der Händler an, die mühsam über die morastige Straße davonrumpelten. Elisia und Gali folgten ihnen zu Fuß. Alle, die sich vor der Tür der Herberge versammelt hatten, sahen dem jungen Mädchen, das schon bald mit zwei jungen Männern ins Gespräch kam, wehmütig hinterher.

»Ich habe die schlechteste Entscheidung meines Lebens getroffen«, murmelte Oterio düster. Adovira, die von nun an die Köchin war, wischte sich die Tränen weg und sagte: »Wohin sie auch geht, sie wird genauso geliebt werden wie hier.«

Der Zug überquerte die Holzbrücke über den Fluss Aude, die nach den Regenfällen gefährlich schwankte. Elisia winkte ihnen noch einmal zu.

Gogo, der Lamberts bester Freund in der Herberge gewesen war, trat zu Oterio. Auch ihn behandelte der Wirt nicht wie einen Leibeigenen, und so sprach der Mann offen aus, was er dachte: »Gali hatte das vor, seit er von dem Marsch des Bischofs von Barcelona erfuhr. Ich muss immer wieder daran denken, dass Lamberts Tod ihm sehr gelegen kam.«

Oterio hatte ohnehin schon große Schuldgefühle; er wollte sich nicht auch noch mit diesem Verdacht belasten.

»Zweifel in Elisia zu säen hätte sie nur noch mehr gequält. Sie hat schon genug geweint.«

»Sie hätte sich niemals von ihrem Großvater getrennt, nicht einmal wegen Gali.«

Oterio sah den alten Gogo an und erschauderte.

»Wir werden die Wahrheit nie erfahren, und sie hoffentlich auch nicht. Ich weiß, dass es ihr gut gehen wird, Gogo. Ich hoffe es, beim Andenken an Lambert! Elisia ist noch jung, aber sie weiß auf sich aufzupassen. Ich bete zu Gott, dass er sie beschütze.«

3

Die »Kinder der Erde« überlebten, was die Mönche – aufrechte, glaubensstarke Männer – als Zeichen der Vorsehung sahen. Niemand kam, um die Geschwister zu suchen, und die Familie der Tenes verschwand wie so viele andere in diesen unsteten Zeiten.

Es kam nicht selten vor, dass man verlassene, einsame Kinder fand. Von den fünf Ordensbrüdern waren drei bereits betagt, und sie benötigten starke Arme für die Arbeit in den Weinbergen. Also zogen sie die Kinder als Leibeigene im Dienst des Klosters auf. Sobald Rotel zur Frau wurde, würde man sie mit einem jungen Mann aus dem Dorf verheiraten, oder sie würde in ein Frauenkloster eintreten, falls sie den Ruf Gottes verspürte.

Die beiden Kinder waren so innig miteinander wie damals, als man sie auf dem Friedhof gefunden hatte, und während sie größer wurden und ihre Wohltäter irgendwann überragten, wuchsen sie den rauen Mönchen ans Herz. Beide hatten blondes Haar, aber das von Rotel leuchtete wie die Strahlen der Sonne. Beide hatten blaue Augen, aber die von Rotel waren heller und durchdringender. Sie sahen sich sehr ähnlich, doch sie waren grundverschieden. Der Junge, der ein wenig älter war als Rotel, erzählte nie, dass er sich verschwommen daran erinnerte, wie sein Vater eines Tages mit dem neugeborenen, in eine Decke gehüllten Kind in die Burg gekommen war und seine Mutter sich weinend in ihre Gemächer eingeschlossen hatte. Das Mädchen war ein uneheliches Kind Ritter Isembards von Tenes.

Isembard spielte mit Holzschwertern und übte sich in seiner freien Zeit im Bogenschießen, obwohl der einzige Gegner die Schläfrigkeit während der langen Andachten war, an denen sie teilnehmen mussten. Rotel war eine Einzelgängerin. Sie verschwand manchmal im Wald und kehrte erst bei Einbruch der Dunkelheit zurück, erzählte aber nie, wo sie gewesen war. Mit der Zeit hörten die Mönche auf, sie danach zu fragen. Sie erinnerten sich an ihren von den Wölfen zerkratzten Rücken, und der alte Bruder Rainart behauptete bis zu seinem Tod, dass sie der Natur mehr zugetan sei als den Menschen.

Dem Mädchen ging nie eine der Ziegen verloren, die es schon als kleines Kind hütete. Rotel hatte niemals Angst, und manchmal brachte sie ein Hasenjunges mit, das sie liebevoll aufzog. Ihr ungezähmter Geist wurde noch stärker, als sie mit dreizehn Jahren nach einem Schneesturm drei Tage verschollen war. Man fand sie unversehrt und guter Dinge in einer Höhle, gehüllt in einen Fellumhang, den die Mönche wiederzuerkennen glaubten. Sie wollten ihn verbrennen, aber das Mädchen überzeugte sie, es nicht zu tun. Sie erzählte nie, was passiert war, doch seit damals betrachtete sie die Landschaft mit einem Lächeln, als würde ihr die Natur Geheimnisse zuflüstern.

Irgendwann setzte Rotels Monatsblutung ein, doch mit der Zeit hatte sich der religiöse Eifer der Mönche gelegt, und sie vergaßen, dass sie eigentlich das Kloster verlassen sollte. Das nächste Dorf lag einen Tagesmarsch entfernt, und seine Bewohner kamen nur selten nach Santa Afra. Auch Pilger ließen sich nicht viele blicken. Allerdings errichteten die Mönche ihr eine Hütte aus Feldsteinen in den Weinbergen, denn Abt Adaldus wollte Gerede vermeiden. Die Mönchsgemeinschaft schätzte sie wie eine Tochter; außerdem arbeitete sie ohne Unterlass, und die Brüder waren nicht mehr in einem Alter, in dem man der Versuchung erlag. Aus dem schmächtigen Kind wurde ein junges Mädchen von betörender, abweisender Schönheit. Nur im Kloster war sie gelöst. Oft drangen ihr fröhliches Lachen und das der Mönche durch die Stille von Santa Afra, sehr zum Unmut von Abt Adaldus. Außerhalb des Klosters jedoch war Rotel verschlossen. Ganz anders als ihr Bruder, der stattliche Isembard, für den sämtliche Mädchen im Dorf schwärmten.

Die beiden jungen Leute standen in vollem Saft, doch die Gemeinschaft der Mönche alterte, und die harten Lebensbedingungen und die karge Ernährung zehrten an der Gesundheit der Männer. Deshalb kümmerten sich Isembard und Rotel um die Feldarbeit, hielten das kleine Kloster in Schuss und sorgten dafür, dass die Speisekammer gefüllt war.

Alles änderte sich, als im Sommer des Jahres 861 eine Krankheit unter den Bewohnern des Tales wütete und der Tod einige der Ordensleute zu sich rief. Nur Abt Adaldus und ein Bruder namens Remigius überlebten. Um zu verhindern, dass das Kloster verwaiste und das Land an den Grafen von Girona fiel, boten sie es einer anderen Mönchsgemeinschaft an.

Auch die sieben neuen Mönche, die sich in Santa Afra niederließen, gehörten dem Benediktinerorden an, doch sie lebten nach den strengen Regeln, die der Reformabt Benedikt von Aniane dem Orden während der Herrschaft Ludwigs des Frommen gegeben hatte. Bei ihrer Ankunft war ihnen Rotels Gegenwart sofort ein Dorn im Auge. Mit ihrer weiblichen Unreinheit beschmutzte sie diesen Ort des Gebets, und ihre unerreichbare Schönheit erschien ihnen gefährlich.

Sixtus, der strengste Anhänger des neuen Reformkurses, wurde zum Abt gewählt, und damit änderte sich alles. Rotel durfte das Kloster nur noch während der Messen betreten, aber sie musste sich verhüllen und ganz hinten sitzen. Es war ihr nicht gestattet, mit den Mönchen zu sprechen, und Sixtus entschied, dass sie nur noch so lange bleiben dürfe, bis sie ein Frauenkloster oder eine Familie im Dorf für sie gefunden hätten. Isembard versuchte erfolglos zu vermitteln; auch für ihn war Santa Afra kein Zuhause mehr.

In jenem Herbst 861 war Rotel fünfzehn und Isembard neunzehn Jahre alt. Es war der 19. Oktober, der Vorabend von St. Simon, und der neue Abt wollte die Vesper als feierliche Messe abhalten, ohne den Grund dafür zu erklären. Am späten Nachmittag läutete die kleine Glocke des Klosters, ihr Klang hallte von den Bergen zurück. Isembard richtete sich zwischen den Weinstöcken auf und streckte sich, die Hände in den Rücken gestützt. Er war dabei, die Reben zu beschneiden, und es war noch viel zu tun, aber sie durften die Messe nicht versäumen, sonst würde der Abt wieder ungehalten sein.

»Es ist Zeit, Rotel«, rief er.

Seine Schwester erschien am anderen Ende des Weinbergs.

»Ich sollte besser nicht hingehen«, sagte sie düster, als sie neben ihm stand.

»Dann geben sie uns zwei Tage nichts zu essen. So ist es jetzt.«

Neben den Dorfbewohnern würde auch ein Adliger an der Messe teilnehmen, der aus der Grafschaft Barcelona gekommen war, ein Franke namens Drogo von Borr. Bruder Remigius sprach mit Argwohn von ihm. Er war sehr mächtig in der Mark, wo er Ländereien und einige Burgen zwischen Barcelona und Urgell besaß, aber es kursierten beunruhigende Gerüchte über ihn, unter anderem, dass er sich einen Harem blutjunger Mädchen halte. Angeblich war er in die Grafschaft Girona gekommen, um den neuen Bischof von Barcelona zu erwarten, der auf dem Weg in seine Diözese war. Er wolle Graf von Barcelona werden, so hieß es, und sich bei ihm einschmeicheln. Alle wunderten sich, dass er an dem bescheidenen Kloster Santa Afra angehalten hatte.

Sixtus kümmerte das Geschwätz des einfachen Volkes und seiner Mitbrüder nicht. Er wollte das Kloster erweitern und war auf der Suche nach Gönnern. Als Drogo von Borr und seine Männer bei einem Jagdausflug in Santa Afra vorbeikamen, lud er sie ein, an der Messe teilzunehmen, ohne sich darüber zu wundern, dass sich die Jagdgesellschaft so weit von der Stadt Girona entfernt hatte. Dieser Mann war ein Geschenk des Himmels.

Rotel nahm das Kopftuch ab und schüttelte ihr blondes Haar, das ihr in sanften Wellen über den Rücken fiel. Isembard verstand ihre Ängste. Rotels strahlende Schönheit zog alle Blicke auf sich. Hier kannten sie nur die Mönche und die Dorfbewohner, doch an diesem Tag würde sie ein schlecht beleumundeter Adliger zu Gesicht bekommen, und das konnte alles ändern.

»Abt Sixtus braucht uns nicht, um Almosen zu erbetteln«, sagte sie.

»Wir verdienen hier unser Brot und tun, was man uns sagt. So ist es immer gewesen, Rotel.«

»Im Dorf erzählt man sich, ich sei ein Mönchsliebchen«, bemerkte sie traurig.

»Ja. Und, dass du Hexenaugen hättest«, scherzte er. »Gib nichts darauf. Wir setzen uns zu den Tagelöhnern und Hirten ganz hinten in der Kirche. Niemand wird uns beachten.«

Rotel wirkte nicht überzeugt, und Isembard umarmte sie fest. Er hatte sie immer beschützt und schwor sich, dass ihr niemals jemand wehtun würde, selbst wenn Drogos Männer eiserne Schwerter trugen.

»Geh schon vor, Bruder«, sagte Rotel. »Ich will noch mein Haar flechten.«

Während Isembard ein wenig beiseitetrat, den Blick auf die Weinstöcke gerichtet, die mit ihnen gewachsen waren, begann sie ihr Haar zu flechten, wie immer, wenn sie nervös war. Sie wollte nicht zum Kloster gehen und sich vom Abt wie ein Stück Vieh vorführen lassen – denn das war es, was er vorhatte, da war sie sich sicher. Im Dorf gab es einige Mädchen ihres Alters, die bereits von ihren Eltern verheiratet worden waren, und die Mönche konnten mit ihr genauso verfahren.

Sie lief zum Wald, zu der verborgenen Höhle. Nicht einmal Isembard wusste, dass sie dort die Dame, wie sie sie nannte, aufbewahrte, eine handtellergroße Terrakottafigur einer sitzenden Frau mit spitzer Haube und einem Kind in den Armen. Die Figur schien sehr alt zu sein. Rotel hatte sie in der Höhle gefunden, als sie vor einigen Jahren Zuflucht vor dem Schneesturm gesucht hatte. Sie hatte sie den Mönchen nie gezeigt. Vielleicht war es eine Darstellung der Jungfrau Maria – sie hatte auf einem Felsabsatz gestanden und war von verwelkten Blumen umgeben gewesen. Nun brachte Rotel ihr Blumen. Es gab ihr ein gutes Gefühl; dies war ihr geheimes Heiligtum. Sie strich sanft über das abgegriffene Gesicht der Dame, und eine Träne rollte ihr über die Wange. Irgendetwas würde geschehen, das spürte sie.

Als sie die Höhle verließ, hielt sie erschrocken inne. Im Wald war es ganz still. Auf dem Boden zischelte etwas, und eine Viper richtete sich vor ihren Füßen auf. Rotel war schon öfter einer Schlange begegnet und blieb ganz still stehen. Fast unmerklich bückte sie sich, ohne die Schlange aus den Augen zu lassen. Sie sah den Angriff voraus und packte das Tier im richtigen Moment am Kopf.

»Was machst du hier? Der Winter steht bevor. Du solltest dich verkriechen, genau wie ich.«

Sie warf die Viper ins Gebüsch und erstarrte. Ein paar Schritte entfernt stand reglos eine in Felle gehüllte Gestalt zwischen den Bäumen und beobachtete sie. Es war nicht das erste Mal in den vergangenen Wochen, dass Rotel sie sah. Es konnte der Geist eines Toten sein, wie die Mönche ihnen erzählt hatten, um sie zu erschrecken, als Isembard und sie noch klein waren, aber sie ahnte, dass es sich um etwas noch Gefährlicheres handelte. Einen Wimpernschlag später war die Gestalt verschwunden, und Rotel atmete erleichtert auf.

Schnell lief sie zum Kloster zurück, wo ihr Bruder schon auf sie wartete. Lieber ertrug sie die wollüstigen Blicke der Männer als den dunklen Wächter des Waldes.

Anders als Isembard vorausgesagt hatte, blieben die »Kinder der Erde« nicht unbemerkt. Rotel saß ganz hinten in der schmucklosen Kirche und machte gute Miene zum bösen Spiel, doch irgendwann reichte es ihr.

»Ich will hier weg.«

»Nein!«, flüsterte Isembard.

Sie gehörten dem Kloster. Der alte Adaldus und Bruder Remigius waren ihnen wohlgesinnt, aber Abt Sixtus würde es als Dreistigkeit empfinden, wenn er und seine Schwester die Kirche verließen.

Der kurze Wortwechsel blieb nicht unbemerkt von Sixtus, der ärgerlich im Gebet innehielt. Neben ihm stand Drogo von Borr. Der Adlige hatte zwar erklärt, dass er als junger Mann die Priesterweihe empfangen habe, aber er zelebrierte die Messe nicht mit. Mit seinen langen schwarzen Haaren, die ihm in das blasse, kantige Gesicht hingen, sah er aus wie ein Krieger. Er hatte die vierzig bereits überschritten und musterte die Anwesenden mit dunklen Raubtieraugen, die unaussprechliche Geheimnisse verbargen. Über dem Kettenhemd trug er einen Überwurf mit einem aufgestickten Drachen. Seine Streitaxt hatte er auf den Altar gelegt, eine Kühnheit, über die der Abt hinwegsah, um ihn nicht zu verärgern. Sein ganzes Auftreten bereitete den Anwesenden Unbehagen, und das schien ihm zu gefallen.

Als er Rotel entdeckte, grinste er und beugte sich zu einem seiner Männer, um ihm etwas zuzuraunen. Unfähig, das furchtbare Gefühl drohenden Unheils noch länger zu ertragen, stürzte das Mädchen aus der Kapelle.

Abt Sixtus fuhr mit der Messfeier fort und erhob den schlichten, messingbeschlagenen Holzbecher. Ein Kelch, der des Blutes Christi unwürdig war. Auf dem Konzil von Reims 813 war beschlossen worden, dass Messkelche aus Edelmetall sein sollten. Santa Afra war aber ein armes Kloster; es bestand aus einer Kapelle und einem kleinen Gebäude mit zwei Räumen, das die Mönche mit eigener Hände Arbeit auf einem Hügel errichtet hatten, den der Graf von Girona brach liegen ließ. Sie schlugen sich mehr schlecht als recht durch, ohne Pfründe oder Untertanen, die ihnen den Zehnten entrichteten. Doch das würde sich jetzt ändern, sagte sich der Abt, und zuallererst mussten ein kostbarer Kelch sowie weiterer Zierrat für die Kapelle beschafft werden. Er wollte Drogos Anwesenheit nutzen, um ihm etwas anzubieten, das ihm gefiel. Natürlich gegen eine entsprechende Leistung. Tatsächlich vermutete er, dass der Adlige aus genau diesem Grund gekommen war. Vielleicht hatte er bei seinem letzten Besuch Rotel in den Weinbergen gesehen.

Sixtus hatte es nie interessiert, woher die Geschwister kamen. Die Mönche waren vorsichtig gewesen und hatten ihm nur erzählt, dass die Kinder in einer stürmischen Nacht aufgetaucht seien und die Wölfe sie verschont hätten. Ohne Eltern oder Verwandte war das schöne Mädchen ein Geschenk Gottes für die Ordensbrüder. Es gehörte dem Kloster – wie die Weinberge und die Ziegen. Zuversichtlich fuhr der Abt mit der Messfeier fort.

Als die Messe zu Ende war, begrüßte Isembard einige Bekannte aus dem Dorf und machte sich dann auf die Suche nach seiner Schwester. Er ging zur nahen Quelle, wo sie gerne saß, wenn sie Kummer hatte, aber da war sie nicht. Als es dunkel wurde, begaben sich die Dorfbewohner gemeinsam auf den Heimweg. Auch Drogo brach mit seinen Soldaten nach Girona auf. Isembard atmete erleichtert durch. Da Rotel nicht mehr aufgetaucht war, ging er zu ihrer Hütte. Vielleicht fand er sie dort.

»Rotel?«

Er hörte einen erstickten Schrei und stürzte in die Hütte. Seine Schwester lag gefesselt und geknebelt auf dem Boden, aber bevor er reagieren konnte, versetzte ihm jemand aus dem Hinterhalt einen Schlag, und Dunkelheit umfing ihn.

»Isembard! Komm zu dir!«

Eine Stimme hämmerte in seinem Kopf. Als er die Augen öffnete, durchfuhr ihn ein unerträglicher Schmerz. Im Halbdunkel erkannte er den alten Adaldus.

»Sie haben sie mitgenommen!«, sagte der Mönch zutiefst betrübt.

»Rotel!« Panik machte sich in dem Jungen breit. »Was ist passiert?«

»Der Abt hat sie an Drogo verkauft.«

»Aber ich habe ihn mit seinen Männern davonreiten sehen!«

»Er wollte es nicht vor den Dorfbewohnern tun. Einer seiner Soldaten hat sie bei Einbruch der Dunkelheit verschleppt, und zwei von uns haben ihm dabei geholfen«, sagte Adaldus beschämt. »Gott möge uns vergeben.«

Immer noch benommen und zutiefst bestürzt, setzte sich Isembard auf – er hatte seine Schwester nicht schützen können.

»Bruder Adaldus, glaubt Ihr, Drogo ist ihretwegen gekommen? Noch nie zuvor hat uns ein Adliger besucht.«

»Möglich, dass er sie gesehen hat, als er vor einigen Wochen mit seinen Männern hier vorbeikam. Oder ein Dorfbewohner hat ihm von ihr erzählt. Es tut nichts zur Sache. Rotel ist sehr schön, aber sie ist auch etwas Besonderes. Niemand weiß das besser als du. Er könnte es aus einer Laune heraus getan haben, aber es könnte auch einen anderen Grund geben …«

»Ich muss sie finden«, sagte Isembard. Er hatte furchtbare Angst, aber er würde sie nicht im Stich lassen.

Adaldus überreichte ihm ein Messer und einen Beutel mit ein paar Silbermünzen – seine einzigen Waffen gegen das Schwert von Drogos Soldat. Seit er Tenes vor zwölf Jahren verlassen hatte, hatte er solche Waffen nicht mehr gesehen.

»Ihr habt Abt Sixtus bestohlen!«

»Sixtus hält sich für ein Werkzeug Gottes, aber das bin ich auch.« Adaldus umarmte Isembard. Er liebte diesen Jungen und dessen Schwester, als wären sie seine Kinder. »Ich war jahrelang Abt von Santa Afra, aber nun erkenne ich das Kloster nicht wieder. Wenn du sie retten kannst, kommt nicht zurück!«

»Was soll nur aus uns werden?«, sagte Isembard niedergeschlagen. Von Kindesbeinen an hatten sie Männern gedient, die sich dem Gebet widmeten. Warum nur strafte Gott sie jetzt so? Oder verfolgte er einen unergründlichen Plan mit ihnen?

Adaldus weinte. Er fühlte sich schuldig. Als Rotel mit dreizehn Jahren zum ersten Mal geblutet hatte, war er Abt gewesen. Warum hatte er sie damals nicht einem anständigen Bauernsohn zur Frau gegeben? Dann hätte das Mädchen zwar in Armut gelebt, doch nun war es den Launen eines verrufenen Adligen mit zweifelhaften Absichten ausgeliefert. Erneut schloss er Isembard in die Arme. Er kannte ihn gut; der Junge hatte einen edlen Geist, und in seinen Adern floss das Blut einer Legende, aber er war nur ein Leibeigener mit leeren Händen. Der Mönch wusste, dass er für Rotel sein Leben riskieren würde, und wollte ihm Mut zusprechen.

»Denk daran, du bist der Sohn Isembards von Tenes. Ich bedaure es, dass ich dir nicht mehr von deiner Familie erzählt habe, aber du wirst es selbst herausfinden. Jetzt musst du los.«

Die Erwähnung seiner Familie schmerzte Isembard sehr. Sein Vater hatte damals versprochen, ihm den Umgang mit dem Schwert beizubringen, und war dann nie zurückgekehrt, um sein Versprechen zu halten. Alles, was Isembard gelernt hatte, war Wein anzubauen und die Mauern des alten Klosters zu reparieren. Die alte Wunde in seinem Herzen riss erneut auf, und Hass und Enttäuschung quollen daraus hervor.

»Wo sind sie hin?«, fragte er Adaldus.

»Nimm den Weg nach Girona. Drogo will dort den neuen Bischof von Barcelona treffen. Der Kerl, der Rotel entführt hat, kann noch nicht weit sein. Wenn er noch nicht zu Drogo gestoßen ist, kannst du ihn vielleicht überwältigen. Aber sei vorsichtig.«

»Sagt Bruder Remigius Lebewohl von mir.«

»Er unterhält die anderen mit einer langweiligen Geschichte. Es ist besser, wenn sie dich nicht sehen.«

Isembard nahm den Umhang, den Adaldus ihm reichte, und verschwand wie ein Schatten auf dem schmalen Pfad. Sein Schädel brummte von dem Schlag. Ein paar Meilen weiter sah er zwei von Sixtus’ Mönchen auf dem Weg zurückkommen und versteckte sich hinter einer Eiche. Der prächtige, mit Perlen besetzte Goldkelch, den sie im Mondlicht bewunderten, war vermutlich der Preis für seine Schwester. Santa Afra besaß nicht die Mittel, um einen so kostbaren Gegenstand zu erwerben. Wütend hob er einen schweren Feldstein vom Boden auf, sah aber im letzten Moment davon ab, ihn zu werfen. In der Stille der Nacht wäre ein Kampf weithin zu hören gewesen und hätte Rotels Häscher gewarnt. Er musste ihn überraschen, wenn er eine Chance haben wollte.

Als die Mönche in der Dunkelheit verschwanden, setzte er seinen Weg fort, den Stein nahm er mit. Kurz darauf bemerkte er einen Reiter. An den Händen gefesselt war Rotel mit einem Seil an den Sattel des Pferdes gebunden und trottete mit gesenktem Kopf hinter dem Tier her.

Das Mädchen spürte, dass sein Bruder in der Nähe war. Es drehte sich um und gab ihm durch Blicke zu verstehen, dass er noch abwarten sollte, aber Isembard stieß einen Schrei aus und schleuderte den Stein gegen den Rundhelm des Mannes. Der Reiter krümmte sich vor Schmerz, und Isembard stürzte sich aus dem Lauf heraus auf ihn und rammte ihm das Messer ins Bein. Er hatte schreckliche Angst, aber es gelang ihm, den Strick durchzuschneiden und Rotels Hände zu befreien. Der Soldat, der sich von dem ersten Angriff erholt hatte, sprang vom Pferd und schlug ihn nieder. Isembard verlor das Messer, und ein Fußtritt in die Rippen raubte ihm den Atem.

»Habt Erbarmen mit meinem Bruder!«, flehte Rotel.

Drogos Mann trat erneut auf Isembard ein, der sich vor Schmerz am Boden wälzte.

»Du hast Mut, Junge«, grunzte der Soldat. Er kam auf ihn zugehumpelt und zog die Streitaxt aus dem Gürtel. »Aber deine Schwester darf nicht in diesem elenden Kloster versauern.«

Isembard kroch über den Boden und hob instinktiv den Arm, um sich zu schützen. Er hoffte, dass Rotel die Gelegenheit nutzte und in den Wald floh.

Plötzlich stieß der Mann ein entsetzliches Gurgeln aus, und die Axt entglitt seinen Händen. Erstaunt starrte er geradeaus, während das Blut in Strömen aus seiner durchtrennten Kehle schoss. Dann brach er zusammen – und Isembard sah Rotel hinter ihm stehen. Sie keuchte und hielt das Messer umklammert, das er zuvor verloren hatte. Als sie sich in die Arme fielen, bemerkte Isembard ein beunruhigendes Funkeln in ihren Augen. Dieses zarte fünfzehnjährige Mädchen hatte nicht gezögert, einem Mann hinterrücks die Kehle durchzuschneiden.

»Sie waren meinetwegen da!«, versuchte sie sich angesichts des erschütterten Gesichtsausdrucks ihres Bruders zu rechtfertigen. »Der Abt hat mich verkauft!«

In dem Moment, als der Soldat Rotel an der Quelle überwältigte, hatte sie eine ebenso heftige wie unbekannte Angst erfasst. Die Einsamkeit und die Gefahren der Wälder hatte sie nie als bedrohlich empfunden, doch an diesem Abend war sie ihrem furchtbarsten Schrecken begegnet: hilflos einem anderen ausgeliefert zu sein. Eine Panik, die sie instinktiv und tödlich handeln ließ. Sie betrachtete ihre blutbeschmierten Hände.

»Drogo hat dich mit einem Kelch bezahlt, Rotel.« Isembard hatte das Gefühl, dass ihm das Herz aus der Brust sprang. Ihm tat alles weh, aber sie waren beide unverletzt, und Rotel war frei. Eine Frage jedoch quälte ihn: »Haben sie dir etwas angetan?«

»Nein. Der Mann sollte mich nur zu Drogo bringen«, antwortete das Mädchen und versuchte zu lächeln, um Isembard zu beruhigen. »Er hat mir gesagt, es würde zur Burg Tenes gehen.«

»Zur Burg unseres Vaters?« Isembard verspürte einen schmerzlichen Stich. Nach so vielen Jahren kehrte in dieser unheilvollen Nacht die Vergangenheit zurück.

Rotel nickte. Allmählich wich die Angst von ihr, aber beide wussten nun, dass sich ihr Leben für immer verändert hatte.

»Die Burg ist Drogos Rückzugsort. Ich glaube, er weiß, wer wir sind.« Sie sah ihren Bruder mit ihren hellen, durchdringenden Augen an. »Was sollen wir jetzt tun?«

»Nach Santa Afra können wir nicht zurück. Und im Dorf würde man uns verraten.« Isembard kamen Adaldus’ Worte in den Sinn: »Denk daran, du bist der Sohn Isembards von Tenes.« Er durfte nicht länger wie ein Leibeigener denken, wenn sie überleben wollten. »Drogos Männer werden uns in der Umgebung des Klosters suchen, Rotel. In Girona leben viele Menschen, dort bleiben wir unbemerkt. Drogo wird nicht erwarten, dass wir dorthin gehen. Ich habe ein paar Silbermünzen. Wir könnten uns einer Händlerkarawane anschließen.«

Rotel schien nicht überzeugt. Sie hatten das Kloster noch nie verlassen, wussten nicht einmal, wie man mit Geld umging, und wie man mit Händlern verhandelte, schon gar nicht.

»Was soll nur aus uns werden?«

Isembard nahm sie in den Arm. Er empfand die gleiche Angst wie damals als Kind, als sie aus der Burg Tenes geflohen waren. Gott stellte sie erneut auf die Probe, und er wollte sich standhaft zeigen.

»Wir sind die Kinder der Erde und haben den Tod schon einmal besiegt. Ich werde dich beschützen, Rotel.«

Sie kannte ihren Bruder gut. Er war mutig, aber diese Situation überforderte ihn. Dennoch vertraute sie ihm – was blieb ihr auch anderes.

Die Geschwister versteckten die Leiche des Söldners unter trockenem Laub, jagten sein Pferd davon und brachen dann auf, ohne sich noch einmal umzusehen. Ihr Leben in Santa Afra war zu Ende. Schweigend gingen sie davon, nicht wissend, ob sie das Schlimmste bereits hinter sich hatten oder ob die dunkelsten Schatten noch vor ihnen lagen.

4

Girona

Die Stadt erwachte still unter einer dicken Nebelschicht, die vom Fluss Oñar über die mächtige Stadtmauer kroch. Die ersten Händler besetzten die besten Plätze auf dem Areal vor der Kirche. Ungeachtet der Anweisung, bis zum Ende der Messe zu warten, wollten sie die Gelegenheit nutzen, bevor der Zug des neuen Bischofs Frodoi nach Barcelona aufbrach. Einige priesen lautstark ihre Decken und Ausrüstungen an, während die Zimmerleute die Räder und Achsen der Wagen überprüften. Der Winter würde hart werden, der Regen hatte den Weg von Narbonne beschwerlich gemacht, und es wurde noch schlimmer. Streckenweise war die alte Römerstraße mit ihren unebenen Pflastersteinen befahrbar, doch auf den unbefestigten Abschnitten konnten die Räder zerbrechen, wenn sie im Morast versanken.

In der düsteren Kirche verschluckten Weihrauchschwaden das Licht der Kerzen; das Räucherwerk übertünchte den Gestank nach Schweiß und Schmutz, den die Reisenden ausdünsteten. Die Messe war zu Ende. Elias, der neue Bischof von Girona, unterhielt sich mit seinem Vikar und mehreren Domherren, alle im fortgeschrittenen Alter, während sie den jungen Frodoi betrachteten, der vor dem Kruzifix kniete und betete.

Nachdem Frodoi das Amt angenommen hatte, bezweifelten Kurie und Adel, dass er seine Residenz in Barcelona überhaupt erreichen würde. Viele freuten sich, als er in Reims aufbrach – ein Rivale weniger, den sie nur noch bei Konzilen zu Gesicht bekommen würden. Zunächst hatte ihn und seinen Begleiter Servusdei der Weg nach Narbonne geführt, wo er von Erzbischof Fredoldus die Bischofsweihe empfing, der sich fragte, ob Frodois Entschlossenheit auf purem Stolz beruhte. Hier stieß auch wie zugesagt Jordi zu ihnen, ein Priester aus Barcelona, der seine Heimat liebte und in dem jungen Bischof einen Gesandten des Herrn sah. Gemeinsam waren sie weiter nach Girona gereist.

Zur Überraschung des Hofes hatte König Karl seine Zustimmung gegeben, Siedler in die Spanische Mark mitzunehmen, um die brach liegenden Ländereien des Bistums zu bestellen. Nach den Angriffen im letzten Sommer wurde jede Hand gebraucht. Auch Graf Humfried von Barcelona, der sich am königlichen Hof aufhielt, gab seine Einwilligung, denn in seiner Abwesenheit war der Bischof gemeinsam mit dem Vizegrafen die oberste Autorität. Der Aufruf wurde durch Boten und Brieftauben in die Städte Gothiens getragen, von den Pyrenäen bis zum Rhonetal. Die bloße Erwähnung der Spanischen Mark rief Angst und Schrecken hervor, doch die Not war überall so groß, dass sich fast hundert Bauern und Handwerker nach Narbonne aufmachten, außerdem der eine oder andere abtrünnige Mönch und versehrte Soldaten. Manche waren dem Tod näher als dem Leben und besaßen nichts als die Lumpen am Leib; andere kamen mit Karren und sogar Sklaven. Sie alle suchten eine letzte Chance – und sei es im trostlosesten Winkel des christlichen Erdkreises. Frodoi befahl seinen Leuten, eine Liste zu machen und keine Fragen zu stellen. Auch für ihn begann ein neues Leben.

Als Bischof Elias zu dem jungen Frodoi trat, bemerkte er in dessen ebenmäßigem Gesicht eine Träne, die in dem dunklen Bart verschwand, der nach der Mode des französischen Hofes gestutzt war.

»Seit ich nach Gothien gekommen bin, höre ich nur, dass Barcelona dem Untergang geweiht sei«, flüsterte Frodoi mit brüchiger Stimme. »Ist das Gottes Wille?«

Elias hatte Mitleid mit ihm. Dem jungen Bischof stand eine schwere Aufgabe bevor.

»Ich denke, Gottes Wille ist, dass Ihr dies verhindert, aber es wird nicht einfach sein.«

Frodoi wandte sich wieder dem Kruzifix zu und setzte, immer noch kniend, sein Gebet fort. Kurz darauf erhob er sich. Der Moment des Zweifels war vorüber.

»Es gibt keinen Weg zurück. Gott möge uns beistehen.«

Die Kirchenglocken läuteten, und der Klerus trat auf den Vorplatz hinaus. Der Archidiakon setzte Frodoi die kostbare Mitra auf, und dieser nahm Elias’ Segen entgegen. Den Bischofsstab in der Hand, wandte er sich an die erwartungsvolle Menge.

»Ihr, die ihr mich auf dieser Reise begleitet, sollt wissen, dass Gott uns unsere Sünden vergibt!«, rief er. »Die Verfehlungen der Vergangenheit spielen keine Rolle mehr. Gott hat den Vormarsch der Ungläubigen aufgehalten, und unser verehrungswürdiger Kaiser Karl der Große hat mit der Spanischen Mark eine Grenze gezogen, die sie niemals überschreiten sollen. Heute fordert Gott uns auf, den Menschen, die dort leben, zur Seite zu stehen, um das verlassene Land zu bestellen, die verwüsteten Klöster wiederaufzubauen und neue Orte zu gründen. Es ist ein blutgetränktes Land, aber im Gebet hat Gott mir eine Vision geschenkt.«

Elias sah ihn verwundert an. Frodoi achtete nicht darauf, sondern breitete die Arme aus, als wollte er die ganze Menge umfassen.

»Ich sah Weinstöcke, die voller Trauben hingen, ich sah riesige Herden, goldene Weizenfelder, so weit das Auge reicht, und Tische, die sich unter Käse, Speck und Würsten bogen! Wir gehen nicht in den Tod. Uns erwartet ein Land, in dem Milch und Honig fließen!«

Alle auf dem Platz Versammelten brachen in Hochrufe und Jubel aus. Die Kinder aus Girona flehten ihre Eltern an, sich dem Zug anzuschließen. Jetzt betrachtete Elias Frodoi mit einem leisen Lächeln.

»Sie brauchen Glauben«, sagte der junge Bischof.

Fünf Soldaten in Kettenhemden und Lederwämsern traten ehrerbietig vor Frodoi, die Rundhelme unter dem Arm. Sie waren Mitglieder der Bischofsgarde von Barcelona und tags zuvor eingetroffen, um ihn zu seinem Ziel zu geleiten. Frodoi begrüßte ihren Hauptmann. Oriol war siebenundzwanzig Jahre alt und stand seit sechs Jahren im Dienste des Bistums. Begleitet wurde er von seinen besten Männern Duravit, Italo, Nicolás und Egil, erfahrene Krieger sie alle. Es waren weniger als erwartet, aber die Sarazenenangriffe des vergangenen Sommers hatten zu Verlusten geführt. Es hatte Tote gegeben und Verwundete, die sich noch von ihren Verletzungen erholten. Die fünf Soldaten hatten einen heiligen Eid geschworen, das Leben des Bischofs zu schützen. Als Frodoi in Oriols Augen sah, fühlte er sich gestärkt; vor ihnen lag die schlimmste Etappe der Reise.

Nicht weit vom Bischof stand Drogo von Borr mit seinen Männern, Söldner, wie Oriol ihm erklärte. Frodoi hatte das Angebot des Adligen, ihm Geleit nach Barcelona zu geben, höflich abgelehnt und erklärt, dass er seine eigene Leibwache habe. Der junge Bischof ahnte, dass hier ein Versuch unternommen wurde, ihn zu manipulieren, um sich Vorteile zu verschaffen, und er wollte nicht schon mit Verpflichtungen und Bündniszwängen an seiner neuen Wirkungsstätte ankommen. Drogo tat, als würde er akzeptieren, aber sein gezwungenes Lächeln verriet die Kränkung.

Erneut läuteten die Glocken. Die Mitra und die Messgewänder wurden in einer Truhe verstaut, und Frodoi bestieg sein Pferd in einem schlichten schwarzen Gewand, den silbernen Krummstab in der Hand, und folgte in Begleitung seiner Leibgarde dem Kreuzträger, der den Zug anführte. Sie verließen Girona durch das Oñar-Tor, um auf der Via Augusta in Richtung Süden zu ziehen. Die Siedler schlossen sich dem Bischof an, während die Einwohner sie mit lautem Jubel verabschiedeten.

In der Menschenmenge, die sich vor der Kirche versammelt hatte, standen auch Isembard und Rotel. Unter ihren Umhängen verborgen, beobachteten sie den Aufbruch. Unter den vielen Fremden waren sie bislang unbemerkt geblieben, wie Isembard vorausgesagt hatte, doch nun verließen die Siedler die Stadt. Girona war für die Geschwister ein feindseliger Ort geworden. Den Händlern zufolge hatte Drogo von Borr Soldaten nach Santa Afra geschickt, um zwei Leibeigene zu fangen, die einen seiner Männer ermordet hatten.

Frodois Worte beeindruckten Isembard. Die Mönche in Santa Afra waren schweigsam und ernst gewesen. Noch nie hatte er jemanden mit einem solchen Charisma gesehen.

»Sie sind unsere Rettung, Rotel«, erklärte Isembard, der vor der Ansprache des Bischofs mit einigen Siedlern geredet hatte. »Sie brauchen fleißige Hände für die Feldarbeit, und sie sagen, dass der Mönch, bei dem man sich einschreiben muss, keine Fragen stellt.«

»Und Drogo?«, fragte Rotel argwöhnisch. Sie sahen den Adligen und seine Männer reglos vor dem Kirchenportal stehen. »Geht er nicht mit ihnen?«

»Ich habe gehört, dass der Bischof sein Geleit abgelehnt hat, weil er eine eigene Leibgarde besitzt.«

Rotel nickte, wirkte allerdings wenig überzeugt. Sie war lieber in der Einsamkeit, als sich so vielen Unbekannten anzuschließen, aber Drogo hatte einen kostbaren Kelch für sie bezahlt und würde weiter nach ihnen suchen.

Die Menge zerstreute sich, und sie blieben allein zurück. Sie erregten zu viel Aufmerksamkeit, also nahm Isembard Rotel bei der Hand, und sie mischten sich unter die Siedler, die sich am Stadttor drängten, um Girona zu verlassen.

»Keiner kommt hier durch, ohne sich auszuweisen!«, dröhnte die Torwache. »Es könnten sich zwei flüchtige Leibeigene unter den Siedlern befinden.«

Die Geschwister sahen sich erschrocken an. Drogo hatte seine Vorkehrungen getroffen. Unter dem Torbogen stand ein junger Priester mit einem Pergament und überprüfte die Reisenden. Die Torwache forderte jeden auf, die Kopfbedeckung abzunehmen.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Rotel, die von der Menge vorwärtsgeschoben wurde.

Sie versuchten umzukehren, doch die Menschenmasse drängte sie murrend weiter in Richtung Tor. Am Torbogen angekommen, sah ein Soldat sie gleichgültig an, ehe er Rotel befahl: »Du! Nimm die Kapuze ab.«

Das Mädchen sah seinen Bruder hilflos an. Sie konnte sich nicht weigern. Gerade als sie ihr blondes Haar freilegen wollte, fiel dem Mann, der hinter ihr stand, ein Krug zu Boden und zersprang in tausend Stücke.

»Du dummes Ding!«

Öl ergoss sich auf das Pflaster der Toreinfahrt. Der Besitzer des Krugs verfluchte die junge Frau, die ihn angerempelt hatte, während ihr Begleiter ihn zu beruhigen versuchte. Ein alter Mann rutschte auf dem Öl aus, und es brach ein Tumult los. Die junge Frau, die den Schaden verursacht hatte, gab Rotel verstohlen ein Zeichen, sich zu beeilen.

»Los!«, flüsterte Isembard und zog sie an der Hand hinter sich her.

Die Soldaten und der Mönch mit der Liste wurden von der Menge beiseitegedrängt, weil die Menschen versuchten, der Öllache auszuweichen, und die Geschwister gingen mit gesenkten Köpfen vorbei. Geduckt ließen sie das Chaos hinter sich, stets damit rechnend, dass man sie aufhielt. Erst als sie den Fluss erreichten, fielen sie einander erleichtert in die Arme.

»Das war knapp«, sagte eine muntere Stimme hinter ihnen.

Die beiden zuckten zusammen. Da stand die junge Frau von eben, das Kleid mit Öl befleckt, und lächelte sie an. Sie musste in Isembards Alter sein, ihr Haar war dunkel und ihre Augen funkelten. Neben ihr stand ein rotblonder Mann, ein paar Jahre älter als sie, und blickte sie missbilligend an. Isembard lächelte dankbar zurück, und ein bislang unbekanntes Gefühl durchströmte ihn, als er die schönen Gesichtszüge seiner Retterin unter der Kapuze betrachtete.

»Warum hast du das gemacht?«, fragte Rotel misstrauisch.

Elisia sah Isembard an und antwortete nicht gleich. Dieser Junge war der schönste Mann, den sie je gesehen hatte. Sie spürte ein unerwartetes Kribbeln im Bauch.

»Ich habe in einer Taverne gearbeitet und bin in meinem Leben vielen Menschen begegnet, die auf der Flucht waren, aber ich muss sagen, ihr seid die Ungeschicktesten. Ihr wart so verängstigt, dass man es nicht übersehen konnte. Ich heiße Elisia, und das ist mein Mann Gali. Wir kommen aus Carcassonne. Ich habe euch vorher noch nicht gesehen.«

Die Geschwister sahen sich schweigend an. Rotel schien die Flucht ergreifen zu wollen, aber Isembard reagierte schnell.

»Wir sind Hirten aus den Bergen. Wir kommen aus dem Norden der Grafschaft«, log er und sah Elisia an. Er war unsicher, denn er hatte noch nicht oft mit Frauen gesprochen. »Meine Schwester heißt Rotel. Ich bin Isembard. Wir waren in der Stadt, um unseren Käse zu verkaufen, und haben beschlossen, uns den Siedlern anzuschließen, die nach Barcelona ziehen.«

Elisia hatte das Gefühl, in den blauen Augen des jungen Mannes zu versinken. Die Scheu, mit der er sie ansah, rührte sie. Er war so anders als Gali. Seine blauen Augen strahlten, und seine feinen Gesichtszüge verwirrten sie. Sie wollte sich nichts anmerken lassen, weil doch ihr Mann neben ihr stand, und deutete auf den Bischof, der den Zug anführte.

»Es ist egal, woher ihr kommt oder was ihr getan habt. Bischof Frodoi sagt, dass wir alle eine Chance haben. Auch ihr, wenn ihr wollt.«

»Weshalb habt ihr euch ihm angeschlossen?«, wollte Rotel wissen. Sie hatte Elisias Unsicherheit Isembard gegenüber bemerkt und war verwirrt und verärgert.

»Habt ihr von den Köstlichkeiten gehört, die der Bischof beschrieb? Nun, ich werde sie zubereiten!«

Gali musterte die Geschwister. Sie hatten kein Gepäck dabei und trugen alte, abgerissene Kleider. Sie waren nichts. Unfreie vielleicht. Er sah sie herablassend an.

»Wir wollen eine Taverne eröffnen. Meine Frau ist die beste Köchin von ganz Gothien. Für andere wird es Arbeit auf den Feldern geben.« Er warf Rotel einen lasziven Blick zu, bevor er hinzufügte: »Und es müssen viele Kinder geboren werden, um die Mark zu bevölkern.«

Die Geschwister antworteten nicht, und Elisia ärgerte sich über Galis Überheblichkeit. In diesem Augenblick preschten zwei Reiter durch das Stadttor und begannen, die Siedler genau in Augenschein zu nehmen. Isembard und Rotel zogen die Kapuzen tief ins Gesicht.

»Sie suchen nach euch«, schloss Elisia ernst. »Deshalb wurden die Leute am Stadttor überprüft.«

Isembard sah sie an, und etwas in ihren honigfarbenen Augen bewegte ihn dazu, mit der Wahrheit herauszurücken.

»Meine Schwester wurde verkauft … Da sind wir geflohen«, erklärte er vertrauensselig.

Gali zog Elisia beiseite, um unter vier Augen mit ihr zu sprechen. Die Soldaten waren nicht mehr weit, und er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

»Wenn sie gesucht werden, springt vielleicht eine Belohnung für uns raus.«

»Sie ist noch so jung, Gali!«, rief Elisia entsetzt. »Ihr Bruder versucht sie zu beschützen, und sie kennen niemanden hier. Wir müssen ihnen helfen!«

»Sie sind Unfreie«, beharrte Gali. Elisia war nicht die unterwürfige, duldsame Ehefrau, die er sich erhofft hatte, und sein Unmut darüber wurde immer größer.

»Das war ich auch«, gab die junge Frau zurück.

»Aber jetzt bist du frei. Und du bist meine Frau!«, bemerkte er bissig. »Du hast mir zu gehorchen.«

Elisia erschrak über seine Reaktion, aber sie gab nicht nach.

»Und wenn zwei Unbekannte euch verraten hätten, als du mit deinem Großvater aus Vernet geflohen bist?«

Aufgebracht über die Bemerkung, ballte Gali die Fäuste. Aber es waren Leute in der Nähe, deshalb beherrschte er sich.

»Sie könnten uns Probleme machen.«

»Die haben wir schon.« Elisia strich über ihr ölgetränktes Kleid. »Wir haben ihnen geholfen, aus Girona herauszukommen.«

»Und wie willst du verhindern, dass man sie festnimmt?«, fragte Gali, als ihm klar wurde, dass sie die Wahrheit sagte.

»Wir lassen sie verschwinden«, antwortete sie mit einem verschmitzten Lächeln.

Die Händler in Oterios Schänke hatten manchmal von ihren Tricks erzählt, mit denen sie versuchten, Steuereintreibern und anderen Unannehmlichkeiten zu entgehen. Elisia hätte nie gedacht, dass sie einmal zu einer dieser Listen greifen würde. Sie gingen zu den Geschwistern zurück, und Gali musterte die beiden argwöhnisch. Seine junge Frau zeigte verdächtigen Eifer, den schönen Isembard zu retten.

»Vertraut mir und tut, was ich euch sage«, erklärte Elisia, während sie unauffällig zu den Soldaten herübersah, die immer näher kamen.

»Sie ist in einer Kaschemme zwischen fahrenden Händlern und Ganoven aufgewachsen«, bemerkte ihr Mann kühl.

Rotel runzelte die Stirn. Sie war misstrauisch, aber Isembard sah tief in Elisias Augen und legte den Arm um seine Schwester. Außerdem war es für eine Flucht ohnehin zu spät.

»Isembard«, sagte Elisia, »du gibst dich als Sklave meines Mannes aus. Rotel, wir tauschen die Umhänge, und dann kommst du mit mir.«

Die Geschwister nickten. Ihnen blieb keine andere Wahl.

Elisia und Rotel gesellten sich zu einer einfach aussehenden Familie, die einen zweirädrigen Karren zog. Darauf saß eine Frau, die ein kleines Kind stillte; daneben hockte ein weiteres Mädchen von etwa drei Jahren. Die Frau lächelte, als sie Elisia erkannte, und die beiden flüsterten miteinander. Die Mutter sah zu Rotel und dann zu den heranrückenden Soldaten. Schließlich nickte sie und hielt Rotel ihr Baby entgegen.

»Das ist Auria, sie ist erst wenige Monate alt«, erklärte Elisia. »Ihre Mutter heißt Leda. Es sind gute Menschen, und sie haben eingewilligt, dir zu helfen, Rotel. Du hast noch nie gestillt, nehme ich an?«

»Aber …«

»Los, mach schon!«

Weiter hinten feuerten die Reiter Gali an, der Isembard brutal vorwärtsstieß, als ob er wütend auf seinen Sklaven wäre. Er warf ihn in den Straßendreck, und die Soldaten ritten erheitert weiter. Elisia schüttelte Rotel eindringlich. Das Mädchen streifte einen Ärmel ab und legte nervös das Kind an die Brust.

»Mein Gott!«, stöhnte sie leise, als sie den Biss der zahnlosen Kiefer spürte.

»Du bist noch nie Mutter geworden, stimmt’s?«, flüsterte Leda. »Komm, setz dich neben mich …«

Die Soldaten waren jetzt bei ihnen und musterten das junge Mädchen.

»Na, kriegen wir auch was ab?«

Sie schütteten sich aus vor Lachen. Rotel presste die Lippen zusammen. Der Schmerz war unerträglich, aber sie hielt ihn aus. Die kleine Auria wurde unruhig, weil keine Milch kam, und würde gleich losbrüllen. Elisia, die ein paar Schritte entfernt stand, begann kräftig zu husten.

»Schau mal, der Umhang … Er stimmt mit der Beschreibung überein«, sagte einer der Reiter und riss Elisia die Kapuze herunter.

»Du bist vor zwei Tagen mit dem Bischof gekommen. Woher hast du den Umhang?«

»Mein Herr …« Elisia hustete erneut, bevor sie weitersprach. »Den hat mir ein blondes Mädchen gegeben. Sie war sehr jung und sehr hübsch. Was habe ich denn getan? Nehmt ihn, wenn Ihr wollt!«

Die beiden Soldaten sahen sich angewidert an, während Elisia in einem fort in ihre Richtung hustete.

»Wo ist sie hin?«

»Sie war auf der Flucht mit einem Jungen, der ihr sehr ähnlich sah. Zur Stadtmauer in Richtung Norden, glaube ich … Mehr weiß ich nicht.« Sie tat, als bekäme sie keine Luft. »Ich … Ich …«

»Geh weg, du widerliches Ding! Los, reiten wir weiter.«

Rotel atmete erleichtert auf und gab Auria ihrer Mutter zurück. Dann sah sie Elisia an.

»Und das alles lernt man in einer Schänke?«

»Nur an regnerischen Tagen. Wenn es Nacht wird, ist es noch besser!«

Leda begann zu lachen, und ihr Mann Joan stimmte ein. Er hatte sich die ganze Zeit wachsam im Hintergrund gehalten, um die Seinen zu schützen. Die beiden waren Mitte dreißig; ihre Haut war wettergegerbt, und sie hatten freundliche Augen. Sie waren stolz darauf, zwei Bewaffnete hinters Licht geführt zu haben. Nun stellten sie ihre Kinder vor: Sicfred, der Erstgeborene, war fast so alt wie Elisia; Emma war fünfzehn, wie Rotel, Galderic war acht, Ada, die neben ihrer Mutter auf dem Karren saß, drei. Und dann war da noch die kleine Auria.

Isembard und Rotel fanden, dass das junge Mädchen aus Carcassonne so ganz anders war als sie selbst. Sie war den Umgang mit Fremden gewöhnt, offen und ungezwungen und hatte sich mit vielen der Siedler angefreundet. Sie kannte sogar Frodoi und sein kleines Gefolge.

Als sie Girona hinter sich gelassen hatten, waren die Siedler noch voller Zuversicht gewesen, doch schon auf der Via Augusta machte sich Beklemmung breit. Sicfred und Emma stimmten ein Erntelied an, und andere fielen ein, um sich Mut zu machen.

Isembard ging zu einem etwas abseits gelegenen Bachlauf, um sich den Schlamm abzuwaschen. Er war wütend auf Gali. Es wäre nicht nötig gewesen, ihn derart zu demütigen; darüber hinaus hatte er ihn in größte Gefahr gebracht, indem er die Aufmerksamkeit auf ihn lenkte. Er ist nicht wie seine junge Frau mit den schönen Augen, dachte er, während er sich das Gesicht wusch.

»Das war knapp.«

Neben ihm stand Elisia, eine leichte Röte im Gesicht. Sie sah zur Böschung hinauf, als fürchtete sie, es könne jemand kommen.

»Ich wollte mich für meinen Mann entschuldigen«, sagte sie nervös. Sie wusste selbst nicht genau, was sie hier wollte. »Er hat es vielleicht ein bisschen übertrieben … Aber er ist ein guter Mensch.«

»Danke, dass du uns geholfen hast«, antwortete Isembard, seinen ganzen Mut zusammennehmend. »Du bist das erste Mädchen außer Rotel, das ich kennenlerne, und du hast mich heute zweimal gerettet.« Er zögerte. »Dank auch an deinen Mann.«

Elisia war gerührt und verwirrt zugleich. Dieser Junge weckte Gefühle in ihr, die sie für Gali nicht empfand. Isembards dankbarer Blick verursachte ihr Gänsehaut, und zum ersten Mal seit Lamberts Tod merkte sie, dass sie wieder auflebte. Sie wollte wissen, wer diese Geschwister waren, die so verloren wirkten.

»Ich glaube, das wäre eine Geschichte wert.« Sie lächelte. »Aber ich muss jetzt gehen. Ihr solltet euch so schnell wie möglich bei den Leuten des Bischofs melden.«

Isembard nickte. Er hätte gern noch länger mit Elisia geredet, doch sie kletterte bereits die Böschung zum Weg hinauf. Er folgte wenig später und gesellte sich zu Rotel und den Kindern von Joan und Leda. Es war nicht gut, wenn sie sich abseits hielten, und auch wenn sie einer ungewissen Zukunft entgegengingen, entfernten sie sich mit jedem Schritt in Richtung Barcelona weiter von Drogo.

Am Abend wurden Isembard und Rotel bei Servusdei und Jordi vorstellig, die ihre Namen und ihren Herkunftsort notierten. Der alte Mönch bemerkte die Unsicherheit in ihren Gesichtern.

»Ihr könnt für eine der Familien arbeiten. Die alten Geheimnisse sind nicht länger von Bedeutung. Betet nur, dass sie nicht eines Tages auf euch zurückfallen.«

An diesem Abend lud Joans Familie auf Elisias Vorschlag hin die Geschwister ein, sich zu ihnen ans Feuer zu setzen, denn sie hatten nichts zu essen dabei. Nach einem kargen Mahl aus Dörrspeck und Brot erzählten Isembard und Rotel, dass sie als Leibeigene in einem kleinen Kloster aufgewachsen und von dort geflohen seien, als der Abt Rotel an den Adligen Drogo von Borr verkauft hatte. Den toten Soldaten erwähnten sie nicht. Abgesehen von Gali, der gleichgültig tat, lauschten die Übrigen, in ihre eigenen Dramen versunken. Das war die düstere Realität in dem verfluchten Land, das sie betraten.

5

Via Augusta, auf dem Weg nach Barcelona

Nur wenige wagten sich auf die Straßen der Spanischen Mark: Boten, Grafen oder Bischöfe mit ihrem Geleit und der eine oder andere Händler mit Eskorte. Ganze Dörfer waren verwaist, und zwischen den Städten reiste man auf den Resten der alten Römerstraßen. Die Abgeschiedenheit und die ständigen Sarazeneneinfälle schufen finstere Legenden von verschollenen Reisenden, von Banden, die wie wilde Tiere hausten, und noch schlimmeren Gefahren. Je näher Frodois Geleitzug Barcelona kam, desto düsterer wurde die Stimmung. Viele Abschnitte der alten Römerstraße waren überwuchert oder hatten tiefe Schlaglöcher, weil die Pflastersteine herausgerissen worden waren, um sie für andere Bauten zu verwenden. Die Karren blieben im Schlamm stecken und mussten Umwege nehmen. Einige waren gar nicht mehr zu verwenden, doch der Zug hielt nicht an, denn in dieser Einöde fühlten sie sich angreifbar.

Sie kamen an niedergebrannten Dörfern und Klöstern vorbei, zerstört durch Überfälle oder noch schlimmere Bedrohungen, über die niemand zu reden wagte. Die fröhlichen Lieder wichen dem monotonen Singsang der Gebete. Auf einem Hügel sahen sie einen der Steintische, die in vorbiblischer Zeit von Riesen erbaut worden waren: zwei gewaltige Findlinge, die eine flache Steinplatte trugen. Darunter befanden sich Früchte und Reste von Blut – Zeugnisse der alten Kulte, die noch nicht verschwunden waren. Frodoi ließ die Opfergaben mit Weihwasser besprengen und verbrennen, wagte es aber nicht, die Stätte zerstören zu lassen. Im Grunde fürchtete auch er, uralte Mächte zu entfesseln, die an entlegenen Orten wie diesem überdauert hatten. Er gab Anweisung, dass von nun an Sicfred, der älteste Sohn von Joan und Leda, dem Zug mit dem Kreuz vorangehen sollte.

Am dritten Tag geschah etwas. Als die Nacht hereinbrach und Frodois Eskorte vorausritt, um einen Lagerplatz zu suchen, erschien plötzlich ein Mann auf einer Anhöhe. Er trug einen dicken Überwurf aus Fellen und beobachtete schweigend den Zug, auf einen knotigen Stock gestützt. Sie riefen ihn an, doch sein Gesicht blieb unter der Kapuze im Dunkeln. Dann kehrte die Gestalt um und verschwand. Rotel war beunruhigt; es war dieselbe Gestalt, die sie in den Wäldern beim Kloster gesehen hatte, aber das behielt sie für sich. Auch der Bischof erwähnte den Zwischenfall nicht, als er im Lager eine kurze Andacht hielt. Die stumme Gegenwart des Unbekannten erfüllte jedoch alle mit abergläubischer Angst, und am nächsten Tag kehrte eine der reicheren Familien, die Eigentum und Sklaven besaßen, nach Girona um.

Von nun an fühlten sie sich beobachtet. Die Landschaft mit ihren ausgedehnten Steineichenwäldern blieb unverändert, und doch schlug die Stimmung um. Es gab Streit, die Kleinsten weinten viel, und Frodois Ansprachen weckten nicht mehr die gleiche Zuversicht wie vorher.

Der vierte Tag war unfreundlich und regnerisch. Die Siedler errichteten ihr Nachtlager neben einigen Felshöhlen am Straßenrand. Bevor es dunkel wurde, beobachtete Isembard, wie Elisia allein in einem nahen Wäldchen verschwand. Am Abend machte sie sich oft auf die Suche nach Pilzen, Beeren und Früchten, um die Mahlzeiten zu bereichern, die sie mit Joans Familie teilten. Am Waldrand bemerkte sie seine Blicke, lächelte und verschwand dann zwischen den Bäumen.

Isembard schaute sich um. Rotel unterhielt sich mit Emma. Obwohl sie so lange in der Einsamkeit des Klosters gelebt hatte, hatte sie schnell Freundschaft mit dem gleichaltrigen Mädchen geschlossen, und die beiden marschierten meistens gemeinsam. Gali saß mit anderen Männern in einer der Höhlen; sie teilten einen Schlauch Wein und würfelten. Elisias Mann achtete sehr darauf, mit welchen Siedlern er Umgang pflegte; seit dem ersten Tag hatte er kein Wort mehr an ihn gerichtet. Elisia begleitete er nie, obwohl er wusste, dass es für seine Frau gefährlich war, in einen unbekannten Wald zu gehen.

Nach ihrer Begegnung am Bach hatte Isembard immer wieder die Nähe des Mädchens aus Carcassonne gesucht. Er beobachtete sie, wenn sie mit anderen Siedlern plauderte und lachte. Elisia ertappte ihn stets und lächelte ihm zu, doch auch Gali war das Interesse nicht entgangen, das sie füreinander hegten, und er rief sie jedes Mal unter irgendeinem Vorwand zu sich.

Im Bewusstsein, dass es nicht richtig war, folgte Isembard ihr heimlich und entdeckte sie auf einer kleinen Lichtung. Sie weinte. Ihr Großvater war vor Kurzem gestorben, das hatte er erfahren, aber während des täglichen Marsches gab sie sich stets gut gelaunt. Tief betroffen verließ er seine Deckung und ging zu ihr.

Elisia erschrak, als sie Schritte hörte, doch als sie ihn erkannte, lächelte sie traurig.

»Ich weiß nicht, was ich hier soll, Isembard«, sagte sie, als müsste sie ihr Herz erleichtern. »Ich habe mein bisheriges Leben hinter mir gelassen und frage mich, ob das richtig war.«

»Du hast Gali«, warf er ein.

Elisia nickte bekümmert. Sie wollte nicht über ihren Mann sprechen. Er war nicht mehr so nett zu ihr wie in der Herberge und brachte sie nicht mehr mit Komplimenten zum Erröten. Stattdessen erinnerte er sie ständig daran, dass sie ihm die Freiheit zu verdanken hatte. Er forderte sein Essen und nahm sie jede Nacht ungelenk in Besitz, doch die übrige Zeit zog er die Gesellschaft seiner Kumpane und deren sauren Wein vor. Sie hoffte darauf, dass sich in Barcelona alles änderte; sie würden eine Taverne eröffnen und Kinder bekommen.

»Warum bist du hergekommen, Isembard?«, fragte sie verlegen.

»Es ist gefährlich im Wald.« Er kam sich lächerlich vor. Das Lager war ganz in der Nähe.

Elisia bemerkte seine Verunsicherung und wischte sich die Tränen ab. Sie wollte nicht, dass er ging.

»Du könntest mir beim Beerensammeln helfen«, schlug sie vor.

Isembard willigte ein. Er war nervös. Noch nie war er mit einem Mädchen allein gewesen, von Rotel einmal abgesehen. Elisia erzählte ihm voller Sehnsucht von Carcassonne, und ins Gespräch vertieft gingen sie immer weiter in den Wald hinein. Allmählich wurde es dunkel. Er hörte ihr hingerissen zu, während er ihre sanften Gesichtszüge und ihre zurückhaltende Schönheit bewunderte, die im Gegensatz zu ihren von jahrelanger Arbeit schrundigen Händen stand. Die Vertrautheit dieses Moments verwirrte ihn.

Elisia erkannte deutlich, was mit Isembard los war, und errötete. Er war ganz anders als Gali und die lärmenden Männer, die in Oterios Herberge verkehrt hatten. Er sprach wenig und bedachte seine Antworten genau. Außerdem schien er nicht sehr viel Erfahrung im Umgang mit Frauen zu haben, aber er war der schönste Mann, den sie je gesehen hatte. Seine Gesichtszüge waren zart wie die seiner Schwester, aber unter der zerschlissenen Tunika, die er trug, ließ sich ein sehniger, von der harten Arbeit gestählter Körper erahnen. Er gefiel ihr. Mit Gali hatte sie die körperliche Liebe kennengelernt. Er nahm sie keuchend, ohne mit ihr zu reden oder ihr besondere Zärtlichkeit zu schenken. Sie fragte sich, ob es mit jedem Mann so war.

Als es heftig zu regnen begann, liefen sie lachend zu einem schmalen Felsspalt, den sie hinter einer Steineiche entdeckten. Er war so eng, dass sich ihre Körper berührten. Elisia nahm das Kopftuch ab, um es auszuwringen. Sie schüttelte ihre dunkle Mähne und war sich dabei der Blicke des jungen Mannes bewusst. Ihr Verhalten war eine Beleidigung für ihren Ehemann, aber sie rückte nicht von Isembard ab. Die Anziehung war stärker, und sie begriff, dass zwischen ihnen gerade etwas Tiefes, Inniges entstand.

Das verbotene Verlangen erwachte auch in Isembard, der tief den Duft von Elisias feuchtem Haar einsog. Ihren Körper so nah an seinem zu spüren, erregte ihn und brachte die langen Predigten der Mönche von Santa Afra über Wollust und Ehebruch zum Verstummen. Isembard hob eine Hand und strich ihr sanft übers Gesicht. Elisia schloss die Augen und vergaß zum ersten Mal Carcassonne.

»Ich gehöre meinem Mann«, flüsterte sie behutsam, unfähig, die Grenze zu überschreiten.

Isembard traute sich nicht, weiterzugehen, und Elisia schwankte zwischen Schuldgefühlen und Verlangen. Als sie Stimmen im Wald hörten, rückten sie erschrocken voneinander ab. Sie sahen das Licht einer Fackel zwischen den Bäumen und dann Rotels schlanke Gestalt, die mit Leichtigkeit ihren Spuren folgte. Sie war in Begleitung von Joan und dessen ältestem Sohn Sicfred.

Elisia, der das Herz immer noch bis zum Hals schlug, lächelte verlegen und bedeckte ihr Haar, während sie erleichtert feststellte, dass Gali nicht bei ihnen war.

»Ich war eine Leibeigene wie du, Isembard. Gali hat mir die Freiheit geschenkt.« Zwischen ihnen war etwas entstanden, beide spürten es, aber nur Elisia hatte den Mut, es ohne Umschweife auszusprechen. »Schon der Gedanke ist Sünde, Isembard.«

In einem verzweifelten Impuls, vielleicht aus Enttäuschung, küsste der junge Mann sie. Es war ein ungeschickter Kuss, aber Elisia schloss hingebungsvoll die Augen. Ihre Herzen schlugen schneller, als sie sich voneinander lösten.

»Meine Schwester und ich wurden nicht als Unfreie geboren«, gestand er aufgewühlt.

»Ich wusste, dass ihr eine gute Geschichte bereithaltet«, sagte das Mädchen, um dem Augenblick die Spannung zu nehmen.

Die Wahrheit war alles, was Isembard Elisia zu bieten hatte. Bevor sie zu den anderen gingen, die nach ihnen suchten, erzählte er ihr vom Geschlecht der Tenes und von den zwei Kindern, die auf ihrer Flucht eine Legende und das dunkle Land zurückgelassen hatten, dem sie sich nun näherten.

Am Ende des fünften Tages verkündete Hauptmann Oriol, dass es nur noch wenige Meilen bis Barcelona seien. Der Bischof ließ das Lager aufschlagen und schickte den Hauptmann mit einem seiner Männer in die Stadt voraus, damit sie für den folgenden Morgen seine Ankunft ankündigten und einen feierlichen Empfang vorbereiteten. Als Stellvertreter des Königs würde ihn Vizegraf Sunifred mit den Würdenträgern, dem Klerus und der ganzen Bevölkerung willkommen heißen. Er hoffte darauf, dass sich ihm ein Wald aus Olivenzweigen entgegenstreckte und sämtliche Glocken der Stadt läuteten.

»Diese Gegend gefällt mir nicht«, flüsterte Rotel, während sie sich umsah. »Wir werden beobachtet.«

Jordi, der junge Priester, der ganz in der Nähe stand, deutete auf die bewaldeten Berge im Osten.

»Das ist die Sierra de la Marina. Dahinter liegt das Meer. In den alten Zeiten war sie ein heiliger Ort; auf den Gipfeln findet man Steintische und Ruinen. Die Menschen aus der Stadt bringen dort immer noch Opfergaben dar und feiern in gewissen Nächten des Jahres heidnische Rituale.«

Frodoi, der neben ihm stand, runzelte die Stirn.

»Überall dort, wo ein alter Tempel steht, werden wir eine Kapelle errichten, und die Steine dieser Tische werden als Türstürze dienen!«

Die Umstehenden nickten, wenn auch nicht sehr überzeugt. Die Via Augusta verlief durch dichten Wald. Der kalte Abendwind rauschte unheimlich in den Bäumen. Es war ein schwer greifbares Gefühl, das Rotel erschaudern ließ. Isembard legte den Arm um sie.

»In diesem Wald ist etwas, Bruder«, sagte das Mädchen unruhig.

Nachdem sie das Lager aufgeschlagen hatten, wurden die Feuer entzündet. Um eines davon saßen Isembard und seine Schwester mit Elisia, Gali und Ledas Familie. Ihr Mann Joan wollte den neuen Freunden in dieser letzten Nacht unterwegs ihre Geschichte erzählen: »Wir waren Leibeigene des Grundherrn Sicarius von Elne in der Grafschaft Razès im Frankenreich. Meine Familie lebte seit drei Generationen in dem Dorf zu Füßen der Burg, die von Leda sogar noch länger. Ich war Schmied, wie mein Vater und mein Großvater; ich fertigte Werkzeuge und Waffen für den Herrn. Es ging uns gut. Wir haben nie erfahren, was die Ursache für den Zwist zwischen den Adelsfamilien war, aber in der Nacht vor der Weinlese kamen Reiter und brannten die Häuser und Weinberge nieder. Viele von uns fanden den Tod.« Er sah seine Frau bekümmert an. »Den Frauen wurde Gewalt angetan. Als die Überlebenden zur Burg kamen, fanden sie Sicarius, seine Vasallen und seine gesamte Familie ermordet vor. Die Angreifer vergifteten die Brunnen mit verdorbenem Fleisch und verschwanden im Morgengrauen. In einer einzigen Nacht wurde das Dorf vom Erdboden getilgt.«

So war das Leben in diesen finsteren Zeiten. Überall erzählte man sich solche Geschichten. Nach langem Schweigen fuhr Leda unter Tränen fort: »Niemand kam uns zu Hilfe, und es erschien auch kein anderer Adliger, um das Land für sich in Anspruch zu nehmen.« Sie sah ihren Mann an. »So sind die Mächtigen. Sie geben ihren Schwertern Namen und ihnen Blut zu trinken. Wir haben unseren Sohn Joan begraben und diesen toten Ort verlassen. Wir waren dazu verdammt, Hungers zu sterben oder uns als Sklaven zu verdingen, doch vorher sind wir Bischof Frodoi – Gott schütze ihn! – und seinem Geleitzug begegnet.«

Rotel und Isembard blickten sich an. Joan und Leda hatten ihnen aus Girona herausgeholfen, um sich an diesen bewaffneten Männern zu rächen, die so viel Verderben anrichteten.

»Wer etwas zu verlieren hat, würde sich niemals entscheiden, in die Grenzmark zu gehen«, sagte Joan nachdenklich.

Elisia schaute ängstlich zu Gali. Sie bereute ihren Entschluss. Die Tatsache, dass sie tagelang niemandem begegnet waren, und die Ruinen erzählten von ähnlichen Dramen. Immer wieder fanden sie menschliche Gebeine am Wegesrand, die niemand bestattet hatte.

»Es wird gut für uns ausgehen, Elisia«, raunte er ihr selbstsicher zu. »Wir sind viel besser dran als die anderen hier.«

»Dein Wort in Gottes Ohr. Aber du musstest selbst vor vielen Jahren von hier fliehen.«

Gali starrte ins Feuer. Niemand achtete auf sie, deshalb sprach er leise weiter.

»Meine Familie wurde für ihre Treue zum Grafen bestraft. Wir dienen dem, der uns bezahlt. Vergiss das nicht. Das gilt für alle hier.«

Elisia winkte ab. Seine Worte klangen herablassend, aber sie fühlte sich wohl unter den Siedlern und war nicht bereit, sie im Stich zu lassen. In den letzten Tagen hatte sie kaum mit ihrem Mann gesprochen. Er verbrachte immer mehr Zeit mit seinen Kumpanen und deren Wein und hatte bereits den Großteil von Oterios Münzen ausgegeben. Das machte ihr Angst.

»Ich habe nie gesagt, dass es einfach wird«, bemerkte eine sonore Stimme hinter ihnen.

Sie erhoben sich respektvoll, aber Bischof Frodoi winkte ab und setzte sich auf einen flachen Stein am Feuer. In den vergangenen Tagen hatte er sich sehr nahbar gegeben. Er wusste nicht, wie der Empfang in der Stadt ausfallen würde, und war auf treue Gefolgsleute angewiesen.

»Selbst der König fragt sich, warum ich das Bischofsamt in Barcelona angenommen habe, doch nur ihr werdet die Antwort erfahren.« Trotz seiner Jugend war er eine beeindruckende Persönlichkeit. Seine Gesten und die Art, wie er seinen Blick über die Anwesenden schweifen ließ, gaben ihnen das Gefühl, wichtig zu sein. »Ich weiß nicht, ob es eine Stadt im weiten Erdenrund gibt, die in den vergangenen sechzig Jahren mehr Angriffe und Belagerungen erdulden musste und die doch immer noch steht. Ich will wissen, warum! Das ist das Geheimnis, das mich dazu bewegte, das Amt anzunehmen. Warum diese Stadt dem Untergang trotzt, und ob Gott einen Plan für diesen verfluchten Ort hat!« Er breitete die Arme aus. »Ich werde Teil dieses Plans sein, und ich zähle auf euch!«

Nach einem langen Schweigen sah er zu Rotel. Ihre hellblauen Augen hatten etwas, das ihn beunruhigte. Die Geheimnisse dieses Mädchens unterschieden sich von denen der anderen Siedler.

»Ich weiß, dass es unter euch Menschen gibt, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind, die auf der Flucht oder vielleicht nicht aus freien Stücken hier sind. Dennoch hoffe ich, dass ihr von nun an meine Familie seid. Wir werden in einem Land mit eigenen Sitten und Gesetzen leben. In Barcelona betet man sogar in einem anderen Ritus zu Gott als im restlichen Reich. Einige Dinge werden sich ändern, andere werden uns verändern. Wir müssen darauf vorbereitet sein und Geduld haben, damit dieses Land auch unsere Heimat wird.«

Das darauf folgende Schweigen wurde jäh durchbrochen, als Joans älteste Tochter Emma auf einmal aufsprang und ängstlich fragte: »Wo ist Ada?«

»Da drüben!«, sagte Gali und deutete zum Wald.

Das kleine Mädchen hatte den Moment der Unaufmerksamkeit genutzt und tapste nun zwischen den Bäumen umher. Im Wald herrschte tiefste Finsternis. Rotel grub ihre Fingernägel in den Arm ihres Bruders.

»Ada, komm zurück!«, schrie sie entsetzt und übertönte sogar deren Mutter. »Komm da raus!«

Die Kleine hob die Hand und winkte. Plötzlich schrie sie auf und verschwand. Irgendetwas zog sie in den dunklen Wald. Ihre entsetzten Schreie wurden immer leiser.

»Mein Gott!«

Sie rannten hinter dem Mädchen her, und Chaos brach aus. Der Wald war erfüllt von Schreckensrufen und unheimlichem Heulen. Schatten tauchten zwischen den Bäumen auf, aber es waren nicht die von Menschen. Isembard erstarrte. Eine furchtbare Kindheitserinnerung kehrte zurück. Die Dämonen, die damals die Burg von Tenes überfallen hatten, waren zurückgekehrt, um sie in die Hölle zu verschleppen. Der Feuerschein fiel auf ein entsetzliches Gerippe aus rostigen Nägeln, das eine riesige Axt schwang. Eine weitere Gestalt mit einem Wolfskopf und weit aufgerissenem Maul erschien. Die Menschen zerstreuten sich voller Panik im Wald, und eine blutige Jagd begann. Isembard und Rotel sahen, wie eine der Kreaturen ihre Pranken in den aufgeschlitzten Leib einer Frau schlug, die noch einmal nach Luft schnappte, bevor sie ihr Leben aushauchte.

Dann entdeckte die Bestie sie und kam heulend auf sie zugestürmt. Isembard reagierte instinktiv und schleuderte dem Angreifer einen Stein ins Gesicht, als dieser mit einer gewaltigen Keule nach Rotel ausholte. Die Waffe streifte den Kopf des Mädchens, das mit blutüberströmtem Gesicht davontaumelte. Aber der Angreifer brach zusammen und verlor seinen Helm – und Isembard konnte sein Gesicht sehen. Es war ein bärtiger Mann mit schmutzverkrusteter, schartiger Haut.

»Es ist ein Mensch«, stammelte der junge Mann ungläubig.

»Ja, aber auf sein tierisches Wesen reduziert.« Frodoi stand neben ihm und betrachtete das Wesen entsetzt. »Gott weiß, welche furchtbaren Dinge er erleiden musste, um so zu werden. Los, wir müssen uns in Sicherheit bringen!«

»Und meine Schwester? Ich kann sie nirgends sehen.«

Das Lager war ein einziges Durcheinander von flüchtenden Siedlern.

»Such sie, Isembard. Gott stehe dir bei«, murmelte der Bischof. Der Angriff ist im Augenblick größter Verletzlichkeit erfolgt, nachdem Hauptmann Oriol nach Barcelona aufgebrochen ist, dachte Frodoi verzweifelt. »Er stehe uns allen bei …«

Gali und Elisia hatten Zuflucht unter den Wurzeln einer umgestürzten Eiche gefunden und kauerten mit angehaltenem Atem in ihrem Versteck. Einer der Angreifer hielt inne und schnüffelte wie ein Tier. Sein Gesicht war hinter einer dämonischen, rot bemalten Holzmaske verborgen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er schließlich weiterging.

»Wer sind sie?«, wimmerte Elisia. »Wenn wir lebend hier rauskommen, kehren wir nach Carcassonne zurück!«

Gali hielt ihr den Mund zu, aber es war zu spät. Der Maskierte kehrte zurück und schleifte Elisia durch das Laub davon. Das Mädchen kreischte vor Angst und sah flehend zu Gali, der aber blieb tatenlos sitzen. In dem Moment, als die Bestie einen riesigen Hammer hob, sprang sie plötzlich jemand von hinten an und rammte ihr ein Messer in den Hals. Das Monster brach im Todeskampf zusammen – und da sahen sie Rotel, das Kleid voller Schlamm, das Gesicht blutverschmiert, am Kopf eine klaffende Wunde. Sie wollte etwas sagen, doch dann brach sie bewusstlos zusammen.

Von der Römerstraße her erklang ein Horn. Wie auf Kommando ließen die Angreifer von der Jagd ab und verschwanden im Wald. Mehrere Gruppen von Männern mit Kettenhemden, hölzernen Rundschilden und Ledergamaschen im fränkischen Stil setzten ihnen nach.

»Keine Angst, ihr steht unter dem Schutz Drogo von Borrs!«, riefen sie den Siedlern zu, die verängstigt umherrannten.

Elisia versuchte weinend, Rotel wiederzubeleben. Immer noch verängstigt, kam Gali dazu.

»Gott sei Dank geht es dir gut«, flüsterte er, um seine feige Reaktion zu überspielen.

»Was geht hier vor? Wir sind in der Hölle gelandet, Gali!«

Nicht weit entfernt rief Leda nach ihren Kindern. Elisia atmete tief durch, um ihre Panik zu bezähmen.

»Bleib du bei ihr, Gali! Ich muss ihnen helfen.«

Ohne auf den Protest ihres Mannes zu achten, lief Elisia zu Leda, aber im Grunde suchte sie nach Isembard. Als sie über einen aufgeschlitzten Leichnam stolperte, fürchtete sie, auch ihn so vorzufinden.

Gali wollte nicht länger schutzlos der Gefahr ausgesetzt sein und beschloss, das Mädchen zurückzulassen, als er plötzlich von fünf Soldaten mit Fackeln umringt wurde. Einer von ihnen trug ein schmutziges Wams mit einem aufgestickten goldenen Drachen. Gali erkannte Drogo von Borr wieder, den Adligen, der in Girona auf den Bischof gewartet hatte.

»Mein Herr, ich verdanke Euch mein Leben«, sagte er in dem unterwürfigen Ton, der dem Adel so gut gefiel. »Was hat uns da angegriffen?«

»Hier nennt man sie ‚die Horden‘, weil sie in Gruppen unterwegs sind. Normalerweise kommen sie der Stadt nicht so nahe.« Er sah Gali verächtlich an. »Vielleicht haben sie eure Weiber gerochen.« Er betrachtete die Leiche des Mannes mit der roten Maske und bemerkte den Schnitt in der Kehle. »Wer hat ihn getötet? Du?«

Gali wollte nicken, aber Drogo lächelte grimmig und stieß ihn unsanft beiseite.

»Du siehst nicht aus, als brächtest du das fertig.« Sein Blick fiel auf Rotel, die bewusstlos auf der Erde lag, und er grinste verschlagen. »War sie es?«

Gali sah eine Gelegenheit gekommen, sich gut mit dem Adligen zu stellen. Es war sehr unklug von den Geschwistern gewesen, ihre Geschichte preiszugeben.

»Ich glaube, dieses Mädchen gehört Euch, edler Drogo. Sie heißt Rotel und hat sich dem Zug in Girona angeschlossen. Sie steht unter dem Schutz des Bischofs wie wir alle, aber ich werde nichts sagen, wenn Ihr sie mitnehmt. Gegen eine kleine Belohnung …«

Bevor er den Satz beenden konnte, spürte er eine Klinge an seinem Hals.

»Und ihr Bruder? Ist er auch hier? Er hat einen meiner Männer getötet!«

»Er wird auf der Suche nach ihr sein, mein Herr!«, winselte Gali verängstigt.

Drogo bemerkte seinen feigen Blick. Dieser Kerl würde alles tun, um sein Leben zu retten.

»Wie heißt du?«

»Gali, aus Carcassonne«, keuchte er voller Angst.

»Hör gut zu, Gali …« Er presste ihm die Schwertspitze gegen das Augenlid. »Ich werde sie mitnehmen, und du wirst den Mund halten. Zur Belohnung darfst du dein Augenlicht behalten. Ich habe viele Vertraute in Barcelona. Wenn du einen Fehler machst, ziehe ich dir bei lebendigem Leibe die Haut ab.«

»Ich werde alles tun, was Ihr von mir verlangt!«, beteuerte Gali, starr vor Angst.

Schweigend gingen sie zu den Siedlern, die sich um das Zelt des Bischofs drängten. Eines Tages würde man den Kindern Legenden über die Dämonen erzählen, die aus dem Wald gekommen waren, aber sie würden den Schrecken dieser Nacht niemals vergessen können.

6

Die Sonne stand über dem Horizont, als Frodoi das abgegriffene lateinische Messbuch zuschlug. Er fühlte sich schwach und erschöpft – es war die längste Nacht seines Lebens gewesen.

Als er die Siedler segnete, sah er die Angst in ihren Gesichtern. Sie waren immer noch im Wald, denn mehrere Familien suchten noch nach ihren Vermissten. Die kleine Ada war nicht die Einzige gewesen, die bei dem Angriff verschwunden war. Zwölf zerstückelte Leichen hatten sie entdeckt, und mehrere junge Frauen und zwei Mädchen waren nicht wiederaufgetaucht. Frodoi wollte sie nicht in ungeweihter Erde begraben, aber er wollte auch nicht mit einem Leichenzug in Barcelona einziehen. Sie würden die Toten mit Steinen bedecken, beschloss er, und sie in einigen Tagen holen.

Der Bischof sah zu Drogo hinüber. Dessen Erscheinen im rechten Moment machte ihn misstrauisch. Der Adlige stand inmitten eines Dutzends Soldaten, trotz seines herrschaftlichen Aussehens war sein Blick beunruhigend kalt. Er trug einen eisernen Reif auf seinem schwarzen Haar und einen gestickten Drachen auf dem Wams, denn er brüstete sich, eines dieser Wesen in einer Höhle im Montseny-Gebirge besiegt zu haben. Keiner hätte es gewagt, das anzuzweifeln; schließlich wusste man nicht genau, welche Geschöpfe in dem geheimnisvollen Gebirge hausten.

Nun hatte Drogo den neuen Bischof gerettet, und alle hatten es gesehen. Aber Frodoi war besorgt. Vielleicht wusste Jordi mehr über diesen Mann. Er beschloss, unter vier Augen mit dem jungen Priester und Servusdei zu sprechen.

»Ihr solltet ihm nicht trauen, Herr«, sagt Jordi düster.

»Diesen Ratschlag hast du mir bereits in Girona gegeben, aber jetzt will ich mehr wissen«, flüsterte Frodoi. In Girona hatte er Drogo beleidigt, und nun verfluchte er sich für seine Dummheit.

»Er behauptet, der rechtmäßige Erbe Rorgonis von Borrs aus Cerdaña zu sein, der ein Gefolgsmann Bernhards von Septimanien war, aber jeder in Barcelona weiß, dass er ein Bastard ist, der als Kind von Rorgonis ins Kloster gesteckt wurde. Angeblich waren die Mönche sein Benehmen irgendwann so leid, dass sie ihn in Aachen als Sklaven auf eine Galeere verkauften.« Jordi senkte die Stimme. »Man erzählt sich, dass das Schiff vor der afrikanischen Küste unterging und man ihn für tot hielt, doch Jahre später kehrte er zurück … Und er war nicht allein. Es heißt, er sei in Begleitung eines kohlschwarzen Dämons gewesen.«

»Geschwätz«, bemerkte Servusdei abfällig.

Aber Frodoi war überrascht. Afrika war Terra incognita. Niemand wusste, welche finsteren Geheimnisse sich jenseits des glühenden Wüstensandes verbargen.

»Mag sein, Pater«, fuhr Jordi fort. »Jedenfalls tauchte er auf der Burg der Borrs auf. Sein Vater war inzwischen gestorben, und seine Halbbrüder gaben ihm Waffen und ein Pferd, um ihn loszuwerden. Er schloss sich dem Heer Wilhelms von Septimanien an, als dieser nach Barcelona zog, um Rache für seinen Vater Bernhard zu nehmen. Angeblich flüsterte er Wilhelms schwacher Seele dunkle Gedanken ein, bis diese kohlrabenschwarz geworden war. Bekanntlich endete die Sache in einem Blutbad.«

»Wurde er nicht mit Wilhelm und den übrigen aufständischen Adligen gefangen genommen?«

»Als der Abtrünnige im Jahr 850 vor den Toren Barcelonas hingerichtet wurde, hatte sich Drogo bereits mit einer Gruppe von Söldnern und altgedienten Soldaten davongemacht und verschanzte sich in Osona. Dort plünderte er Dörfer und auch Niederlassungen der Sarazenen, was zu schweren Spannungen im Gebiet von Saragossa und Lleida führte. Möglicherweise ist seine Unbesonnenheit die Ursache für den Angriff auf Barcelona im vergangenen Sommer gewesen.

Die Grafen Humfried von Gothien und Salomon von Urgell haben ihn nicht unter Kontrolle, und viele glauben, dass ihm nicht nur seine Söldner dienen, sondern auch diese schrecklichen Horden, von denen wir angegriffen wurden. Die Menschen sind sehr abergläubisch, Bischof. Es heißt, Drogo sei in Afrika vom christlichen Glauben abgefallen.«

»Du glaubst, er hat uns diese Wilden auf den Hals gehetzt und ist dann erschienen, um uns zu retten?«

»In Girona wollte er sich bei Euch einschmeicheln, doch Ihr habt ihn zurückgewiesen. Ohne Hauptmann Oriol waren wir in einer misslichen Lage, völlig schutzlos, und Drogos Eintreffen war eine Vorsehung des Himmels. Also ja, Herr Bischof, es wäre möglich.«

»Und jetzt stehe ich in seiner Schuld«, stellte Frodoi missmutig fest. »Was will er? Pfründe? Privilegien?«

»Er hat bereits Burgen und Dörfer unter seiner Kontrolle. Er sucht Euren Einfluss, um Zugang zum Adel zu erhalten, den man ihm seiner unehelichen Herkunft wegen verwehrt.« Da Frodoi die Wahrheit hören wollte, teilte Jordi ihm die Befürchtung eines Großteils der Barcelonesen und des Klerus mit: »Er will der Graf dieses Landes werden.«

»Jordi könnte recht haben«, murmelte Servusdei, nachdem er aufmerksam zugehört hatte. »Dieser Vorfall sollte uns zu denken geben. Ihr solltet Euch auf niemandes Seite stellen und nichts unternehmen, bis Ihr die Gegebenheiten in der Grafschaft besser kennt.«

»Ihr solltet außerdem wissen, dass der gotische Adel Drogo wegen seines Verhaltens den Zutritt zur Stadt verwehrt«, setzte Jordi hinzu. »Wenn Ihr mit ihm dort erscheint, werden sie Euch ihre Ablehnung spüren lassen.«

»Ich bin Franke«, erklärte Frodoi, der sich in einem Dilemma befand. »Mit ihm wäre ich in einer stärkeren Position, um meine Interessen durchzusetzen.«

»Das ist nicht der richtige Weg, junger Herr Bischof«, entgegnete der alte Servusdei, während er sich über den langen grauen Bart strich. Er sah in Frodoi immer noch den Kathedralschüler aus Reims, der den Festen und den Mädchen mehr zugetan war als dem Studium.

Schließlich ging Frodoi zu Drogo. Mit seinem blassen, halb hinter seinem langen Haar verborgenen Gesicht wirkte er verschlagen.

»Wer waren diese Menschen, die uns angegriffen haben? Ihr spracht von Horden.«

Autor