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Die Legende der vier Königreiche - Besiegelt

hier erhältlich:

Lera soll fallen! Immer grausamer verfolgt Olivia ihr Ziel, die Truppen von Ruina zum Triumph zu führen. Doch ihre Schwester Emelina steht auf der Seite ihres geliebten Cas, des Königs von Lera. Und nicht nur sie weigert sich, Olivia blind auf dem blutigen Pfad der Vergeltung zu folgen. Auch das Volk ist gespalten, und eine kleine Gruppe Abtrünniger schließt sich Emelina an. Bald stehen sich die beiden Schwestern in feindlichen Lagern gegenüber - in einem Kampf, den nur eine gewinnen kann und der das Schicksal der vier Königreiche besiegeln wird …

»Die perfekte Mischung aus Fantasy, Abenteuer und Liebesgeschichte. Ich habe es in einem Rutsch verschlungen.«
SPIEGEL-Bestsellerautorin Amie Kaufman über »Die Legende der vier Königreiche - Ungekrönt«

»Die Legende der vier Königreiche - Ungekrönt ist so atemberaubend voller Action, Romantik und unerwarteter Wendungen, dass ich bis zur letzten Seite gefesselt war!«
SPIEGEL-Bestsellerautorin Kiera Cass

»Die Legende der vier Königreiche-Reihe bleibt einem im Gedächtnis; sie ist so spannend und gefühlvoll.«
VOYA


  • Erscheinungstag: 01.03.2019
  • Aus der Serie: Ruined Die Legende Der Vier Königreiche
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 352
  • Altersempfehlung: 12
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959678124

Leseprobe

1. KAPITEL

Emelina Flores, niemandes Heldin.

Alles war voller Qualm, in der Ferne hörte sie ein Lachen, irrsinnig und beglückt. Em wusste, dass es von Olivia kam, ihrer Schwester. Sie brauchte sich nicht umzudrehen, um sich zu vergewissern.

Die Flammen züngelten an den weißen Säulen der Gouverneursresidenz. Es war ein großes zweistöckiges Gebäude, das erste, was Besucher sahen, wenn sie sich Westhaven näherten. Es gab keinen Grund, es zu zerstören.

Außer, dass es Olivia Spaß machte.

Em warf nun doch einen Blick über ihre Schulter. Ein paar Meter hinter ihr stand Olivia; ihr fröhliches Gesicht strahlte im Schein des Feuers, ihr dunkles Haar wehte im Wind. Neben ihr grinste Jacobo, stolz auf den Brand, den er erzeugt hatte. Er könnte seine Ruined-Fähigkeiten auch nutzen, um es regnen zu lassen und das Feuer zu löschen, aber so lief es nicht.

Hinter Em drängten sich außerdem rund hundert Ruined, die einzigen, die es auf der gesamten Welt noch gab. Vor wenigen Wochen erst, in Ruina, waren sie mehr gewesen, und Em hatte fest daran geglaubt, dass sie nach der Rückkehr in ihre Heimat wieder friedlich leben könnten. Aber Olivia würde niemals Frieden finden.

Aren hielt sich dicht neben Em, beide wahrten Abstand zum Feuer. Plötzlich stieß er sie sanft mit dem Ellenbogen an und deutete mit dem Kopf nach vorn. Sie folgte seinem Blick.

Westhavens Bewohner flohen. Manche mit Taschen und Pferden, doch die meisten rannten einfach davon, ohne jegliches Hab und Gut. Hunderte strömten durch die Straßen, alle Richtung Osten. Dort lagen die königliche Stadt und das Schloss. Im Osten war Cas – König Casimir.

Es war nicht das erste Mal, dass Em und Olivia eine Stadt eingenommen und deren Bewohner vertrieben hatten, aber es war die erste Stadt in Lera.

Wieder schaute Em zu Olivia hin. Ihre Schwester sah die fliehenden Menschen ebenfalls, machte jedoch keine Anstalten, sie aufzuhalten. Dann richtete sie ihren Blick auf Em, schien zu fragen: »Bist du jetzt zufrieden?«

Em nickte. Sie war schon immer eine gute Lügnerin gewesen.

»In dem Haus sind Menschen«, bemerkte Aren und zeigte auf ein Fenster, gegen das eine Frau von innen ihr Gesicht drückte, den Mund zu einem Schrei verzogen, den Em nicht hören konnte. Die Distanz war zu groß.

»Olivia hat die Türen versperrt.« Und Em war niemandes Heldin.

Es war ihre Idee gewesen, in Westhaven einzufallen. Die Stadt war weit genug entfernt vom Schloss, sodass Cas in Sicherheit war, aber nicht so weit, dass Em ihn nicht erreichen könnte, sollte es nötig sein. Als sie seinerzeit den Plan schmiedete, Prinzessin Marys Identität zu stehlen und Cas zu heiraten, hatte sie Lera gründlich studiert, daher kannte sie alle Städte in der näheren Umgebung des Schlosses gut. Von Westhaven brauchte man zu Fuß nur einen Tag bis zur königlichen Stadt.

»Komm«, sagte Olivia zu Jacobo. »Schauen wir mal, ob die restlichen Häuser jetzt leer sind.« Sie marschierte an Em und Aren vorbei.

»Keine weiteren Brände«, ermahnte Em sie ruhig.

Olivia hielt inne und schaute sich nach ihr um. »Wie bitte?«

»Keine weiteren Brände. Wir brauchen Schlafplätze.«

»Ganz wie du meinst, Schwester.«

Jacobo drehte sich um, sodass er rückwärts weiterlief, und grinste noch einmal das Feuer an. »Das hier lösche ich demnächst, bevor es sich ausbreitet. Aber wir wollen nichts übereilen.«

Wenn er die Flammen jetzt ersticken würde, könnten die Menschen im Haus vielleicht überleben. Er starrte Em an, als ob er sie dazu herausfordern wollte, etwas in der Art anzumerken.

»Gut«, antwortete Em nur.

Er wandte sich wieder um und schritt zusammen mit Olivia die Schotterstraße entlang, die ins Stadtinnere führte. Vor ihnen leuchteten die Fenster der Häuser in der dunklen Nacht, die flüchtenden Einwohner hatten Kerzen und Lampen brennend zurückgelassen.

Die restlichen Ruined stapften Olivia und Jacobo langsam hinterher. Mariana biss sich auf die Unterlippe, während sie an Em vorbeilief, hoffte offensichtlich auf einen Plan und Anweisungen von ihr. Bis vor Kurzem hatte sie Em noch für komplett unfähig gehalten, nicht nur für eine Unbegabte. Mittlerweile allerdings schaute sie immer wieder ratsuchend zu ihr hin.

Doch Em konnte ihr nichts bieten.

Ein Schrei drang aus dem Haus. Die Frau war nicht mehr zu sehen, vielleicht hatte sie begriffen, dass Olivia alle größeren Fenster blockiert hatte, indem sie die Griffe mit einem Stock fixierte. Em hoffte, dass die Frau sich gerade nur einen Stuhl oder Ähnliches holte, um zu versuchen, die Scheibe damit zu zertrümmern.

»Em«, begann Aren leise.

»Geh mit den anderen«, erwiderte sie und machte einen Schritt auf das Haus zu.

»Brauchst du Hilfe?«, fragte er.

»Nein.« Sie würde Aren niemals um Hilfe bitten, wenn es um Feuer ging. Sie beide waren damals in den Flammen gefangen gewesen, als die Burg von Ruina abbrannte – ihr Zuhause –, aber nur Aren hatte Narben davongetragen, sie zogen sich auf seiner dunklen Haut von der Hüfte bis hoch zu seinem Hals. Die Narben, die der Brand in Olso bei ihr hinterlassen hatte, waren längst nicht so schlimm. Sie bedeckten nur ihren linken Arm und einen Teil ihrer Schulter.

Em schaute sich noch einmal kurz nach Aren um, während sie weiter zum Haus lief. Er ignorierte ihre Anweisung und ging nicht zu den anderen Ruined. Stattdessen blieb er wie angewurzelt stehen und beobachtete sie. Vielleicht war er gespannt, ob sie diese Menschen tatsächlich retten würde.

Sie selbst war ebenfalls gespannt.

Vor einer Tür in der westlichen Wand des Hauses stand eine schwere Truhe. Em schob sie beiseite, zog den Ärmel ihrer Jacke über ihre Hand, wandte ihr Gesicht ab, fasste mit der geschützten Hand nach der Türklinke und riss die Tür auf. Schnell trat sie einen Schritt zurück, denn durch die Öffnung quoll jede Menge Rauch nach draußen.

»Hey«, sagte sie, kaum lauter als ein Flüstern. Dann räusperte sie sich, vergewisserte sich aber noch rasch mit einem Blick über ihre Schulter, dass nur Aren in der Nähe war. »Hey! Ist da jemand?«, rief sie wieder, diesmal lauter.

Inmitten des Qualms tauchte eine Person auf, eine Frau, die sich einen weißen Stofffetzen auf den Mund drückte. Sie rannte hustend aus dem Haus, dicht gefolgt von einem kleinen Kind, das sich ebenfalls einen Lumpen vor den Mund hielt.

Die Frau stieß gegen Em und brach hysterisch weinend zusammen. Em stolperte nach hinten, die Frau schien sich an irgendwas festhalten zu wollen, doch da war nichts, also fiel sie auf die Knie. Noch in der Bewegung drehte sie sich um und packte ihren Sohn, dem Tränen über die Wangen liefen.

»Geht es dir gut?«, schrie sie ihn beinahe an. Er hustete und nickte, woraufhin die Frau ihn an ihre Brust drückte und sich wieder zu Em drehte. »Danke. Vielen … vielen … Dank.« Ihr fiel es schwer zu reden, sie schluchzte immer noch.

Em strich mit dem Daumen über den Anhänger ihrer Kette, der Kette ihrer Schwester, ließ ihre Hand aber schnell wieder fallen, als ihr einfiel, wie wenig Olivia gutheißen würde, was Em hier tat.

Hastig begann sie, auf die Frau einzureden. »Ihr müsst verschwinden. Sofort.«

Die Frau stand zitternd auf und nahm ihren Sohn auf den Arm. Ihre Wangen waren verschmiert vom Ruß, sie blinzelte Em aus blutunterlaufenen Augen an. Offensichtlich versuchte sie herauszufinden, wer ihre Retterin war.

»Emelina Flores«, kam Em ihrer Frage zuvor.

Die Frau holte Luft. Ganz Lera wusste, wer Em war. Das Mädchen, das Vallos’ Prinzessin ermordet und deren Identität gestohlen hatte, um den Prinzen zu heiraten. Das Mädchen, das sich mit den Königreich Olso verbündet hatte, um einen Angriff auf die königliche Stadt zu organisieren und in Lera einzufallen.

»Ihr seid zusammen mit König Casimir gekommen, um die königliche Stadt zurückzuerobern«, sagte die Frau.

Em riss die Augen auf. Stimmt, das hatte sie getan, aber erst vor zwei Tagen. Es hatte sich offenbar schnell herumgesprochen.

»Geh zur königlichen Stadt«, forderte sie die Frau auf. »Bitte um eine Audienz beim König. Die wirst du erhalten, wenn du den Leuten sagst, dass du Neuigkeiten von mir hast.«

Die Frau nickte und wischte sich ein paar Tränen aus dem Gesicht. Sie richtete sich auf und straffte die Schultern, als wäre sie froh darüber, eine Aufgabe zu haben.

»Sag Cas – König Casimir –, dass wir hier sind.«

Die Frau nickte etwas enthusiastischer, als nötig wäre. »Ich erzähle ihm, dass Ihr mich gerettet habt.«

Darum hatte Em nicht gebeten, aber sie fühlte gleichzeitig Stolz und Scham, während sie sich vorstellte, wie die Frau Cas davon berichtete.

Du wirst die richtige Entscheidung treffen.

Vor nur einem Tag hatte er diese Worte noch zu ihr gesagt, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Er wirkte so überzeugt davon, dass sie sich für ihn entscheiden und nicht zulassen würde, dass ihre Schwester alles zerstörte. Sie wünschte nur, sie könnte ihm in die Augen schauen, sowie er erfuhr, dass er recht behalten hatte.

Wahrscheinlich würde er selbstgefällig reagieren, es würde ihn nicht überraschen.

»Berichte ihm, dass ich einen Weg finden werde, ihm eine Nachricht zukommen zu lassen, früher oder später«, fügte Em noch hinzu.

»Ich kann die Nachricht überbringen«, antwortete die Frau eifrig.

»Ich habe noch keinen Plan. Das sagst du ihm aber lieber nicht. Oder vielleicht doch. Keine Ahnung.«

Die Frau wirkte jetzt verunsichert, die Begeisterung wich aus ihrem Gesicht. Em kannte das Gefühl. Sie hatte Olivia angelogen und Aren und alle anderen, als sie behauptete, einen Plan zu haben. In Wirklichkeit wusste sie nicht, was sie als Nächstes tun sollte.

»Sag ihm einfach, dass er in Sicherheit ist. Aber ich brauche Zeit, um mir den nächsten Schritt zu überlegen.«

Die Frau wirkte wieder etwas beruhigter. »Mache ich.«

Em zeigte nach Osten. »Geh.«

Die Frau trat noch einen Schritt auf sie zu, legte ihre Hand an Ems Arm, wobei ihr erneut die Tränen in die Augen schossen. »Vielen Dank, ich werde allen davon erzählen, wie Ihr mich gerettet habt.«

Daraufhin drehte sie sich um und eilte mit ihrem Sohn davon. Em stieß ein erstauntes Lachen aus.

Emelina Flores, das Mädchen, das die Prinzessin ermordet und Lera zerstört hatte, das Mädchen, das an der Seite des Königs zurückgekehrt war, um Lera wiederaufzubauen.

Emelina Flores, die Heldin.

Niemand würde das glauben.

2. KAPITEL

»Die Ruined haben keine Hörner.« Cas versuchte, nicht allzu genervt zu klingen, aber es gelang ihm nicht ganz.

Der Mann ihm gegenüber warf ihm einen sehr misstrauischen Blick zu. »Ich habe Zeichnungen gesehen.«

»Der Künstler hat wohl seiner Kreativität freien Lauf gelassen.« Cas rutschte auf seinem Thron hin und her. Der Saal war voller Lera-Untertanen, die Schlange standen, um mit ihm zu sprechen. Meist war der Saal voller Tische, an denen gegessen wurde, oder Musiker spielten in einer Ecke auf, und es wurde getanzt. Aber heute hatte man alle Tische weggebracht, der Saal war leer, abgesehen von dem blauen Teppich, der mittig durch die Halle führte und zu Cas’ Füßen endete. Zu beiden Seiten des Königs standen Wachen, weitere mischten sich unter die Leute, durchsuchten deren Körbe nach Waffen.

Cas hatte darauf bestanden, dass sie sich ein paar Tage Zeit nahmen, um den Lera Gelegenheit zu geben, mit ihren Fragen über die Ruined direkt zu ihm zu kommen. Die Wachen gaben sich große Mühe, ihn während dieser Massenaudienz zu beschützen. Cas’ Meinung nach hielten sich entschieden zu viele Wachen im Raum auf, aber was wusste er schon? Erst vor Kurzem war er, bei unterschiedlichen Gelegenheiten, mit einem Messer attackiert, mit einem Pfeil angeschossen und vergiftet worden.

Nach nur zwei Stunden begann er, an der Sinnhaftigkeit seines Plans zu zweifeln. Die meisten Menschen in Lera hatten noch nie in ihrem Leben einen Ruined gesehen, und in den Gerüchten kamen sie nicht gerade gut weg. Ein Bündnis schien bestenfalls unrealistisch.

»Seid Ihr sicher?«, fragte der bezüglich der Hörner immer noch skeptische Mann. Er verzog grüblerisch sein faltiges Gesicht, als müsste er nun alles in seinem Leben noch mal überdenken. Oder er hielt Cas für verrückt. Letzteres war vermutlich wahrscheinlicher.

»Ja. Ich habe schon viele Ruined getroffen.«

Das musste dem Mann doch klar sein. Alle wussten, dass Cas Emelina Flores geheiratet hatte, dass Olivia seine Mutter ermordet hatte und dass er bei den Ruined in Vallos Zuflucht gefunden hatte, nachdem seine eigene Cousine versucht hatte, ihn zu vergiften. Doch der Mann schien immer noch nicht überzeugt.

»Danke für den Besuch«, antwortete Cas nur. Der Mann wollte noch etwas sagen, aber zwei Wachen gingen dazwischen und manövrierten ihn Richtung Tür. Die diensthabenden Wachen waren viel ernster und steifer als Galo, Cas’ bester Freund und gleichzeitig Anführer der königlichen Garde. Galo hatte allerdings um ein paar Tage Urlaub gebeten, um nach Norden zu reisen und seine Familie zu besuchen, und Cas hatte ihm das genehmigt.

»Brauchst du eine Pause?«, erkundigte sich Violet, die neben ihm stand, um die Leute zu begrüßen und sich als Gouverneurin der südlichen Provinz vorzustellen. Mit ihrem hübschen Gesicht und freundlichen Lächeln schaffte sie es, die Menschen sofort zu beruhigen.

»Nein, machen wir weiter. Ich will zumindest die Schlange hier im Raum abarbeiten.«

Sie bedeutete den Wachen, die nächste Frau nach vorn kommen zu lassen. Die Frau hielt den Kopf gesenkt, während sie auf Cas zuschritt, ihre Haare fielen ihr über die Schultern.

»Stimmt es, dass die Ruined einen mit nur einem Blick töten können?«, fragte sie, während sie zögerlich hochschaute.

»Das stimmt«, antwortete Cas. »Einige von ihnen können es, aber viel wichtiger ist doch, dass sie sich dafür entscheiden, es nicht zu tun, oder?«

So verging eine weitere Stunde, Menschen kamen mit ihren Fragen, und Cas gab sein Bestes, sie zu beantworten. Ein paar von ihnen waren geradezu streitlustig, wie eine andere Frau, die Cas anschrie, dass sein Vater, Großvater und Urgroßvater sich dafür schämen würden, wie ihr Nachkomme die Ruined in Schutz nahm. Darauf ging Cas nicht ein, der Tod seines Vaters war schließlich eine direkte Folge davon, wie der alte König mit den Ruined verfahren war.

Ansonsten versuchte er krampfhaft, nicht an seine toten Eltern zu denken. Seit er wieder im Schloss war, hatte er etwas Zeit gehabt, um sich von all dem, was hinter ihm lag, zu erholen und wirklich über all die Sachen nachzudenken, die geschehen waren. Hin und wieder wurde er von der Trauer überwältigt, dann wieder von Schuldgefühlen, weil er Menschen vermisste, die für so viel Tod verantwortlich waren. Da erschien es ihm besser, einfach gar nicht darüber nachzudenken.

Glücklicherweise waren die meisten Lera so freundlich, ihn nicht auf seine verstorbenen Eltern anzusprechen. Nur wenige befürworteten seinen Umgang mit den Ruined, aber zumindest einige wirkten interessiert, was Cas Hoffnung gab. So schnell würden aus den Lera und den Ruined zwar keine besten Freunde werden, aber vielleicht würden sie es irgendwann im selben Zimmer aushalten, ohne sich gegenseitig umzubringen.

»Eine ist noch übrig«, erklärte Violet, als Cas sich endlich vom Thron erhob. »Doch ich glaube, mit ihr solltest du in etwas ruhigerer Umgebung sprechen.«

Eine Wache führte sie aus dem großen Saal, der im ersten Obergeschoss lag, das vom Einfall der Olso verschont geblieben war. Im Erdgeschoss waren die Wände schwarz vom Ruß und einige Zimmer komplett zerstört, aber das Obergeschoss war immer noch hell und offen, die Wände rot, grün, blau und lila – man sah immer eine neue Farbe, sobald man um eine Ecke bog.

Cas’ Arbeitszimmer befand sich ebenfalls im ersten Obergeschoss, eigentlich war es schon das seines Vaters gewesen, bisher aber eher selten genutzt worden. Der verstorbene König hielt seine Treffen lieber in der privaten Bibliothek ab, wo gemütlichere Sessel standen und von wo man auf das Meer schauen konnte. Aber Cas gefiel das kleine Arbeitszimmer, das so versteckt in einer westlichen Ecke des Schlosses lag.

Vor der Tür wartete eine junge Frau zusammen mit vier Wachen. Ihre Kleidung war dunkel und schmutzig, voller Ruß, aber ihr Gesicht war sauber, als hätte sie es lange geschrubbt. Neben ihr stand ein kleiner Junge.

»Eure Majestät.« Sie verbeugte sich leicht. »Danke, dass Ihr zugestimmt habt, mich anzuhören.«

»Natürlich. Bitte, komm rein.« Cas öffnete die Tür zum Raum und trat ein, die anderen folgten ihm. Links neben der Tür stand ein großer, massiver Holztisch. Die Wand dahinter war von hohen Bücherregalen verdeckt. Direkt gegenüber gab es ein breites Fenster, durch das man den Platz vor dem westlichen Eingang zum Schloss überblicken konnte. Davor standen noch vier Stühle und ein kleiner runder Tisch. Wie immer standen eine Karaffe mit Wasser und eine Teekanne bereit, zusammen mit etwas Brot und süßem Gebäck. Mehrmals täglich wurde alles aufgefüllt, auch wenn Cas noch nie mitbekommen hatte, wie ein Bediensteter das erledigte.

Er bedeutete der Frau und dem Jungen, dass sie sich hinsetzen sollten. Der kleine Junge eilte zum Tisch und schaute mit großen Augen auf das Essen.

»Greif ruhig zu«, sagte Cas, und die Frau nickte dem Jungen bekräftigend zu. Seine Augen fingen an zu leuchten, er nahm sich eine Tarte und ließ sich damit auf einen der Stühle fallen.

Die Frau hielt Cas währenddessen eine kleine Blechbüchse hin. »Das ist ein Käsebrötchen, ich weiß, dass Ihr die mögt.«

»Danke.« Cas lächelte, obwohl er wusste, dass er das Geschenk wegschmeißen musste. Er durfte nichts essen, was nicht unter strikter Beobachtung einer Wache zubereitet wurde oder was er selbst gekocht hatte, womit er beim Küchenpersonal jedoch stets für Gelächter sorgte.

Eine Wache nahm Cas die Büchse ab. Drei Männer waren ihnen ins Arbeitszimmer gefolgt, eine hatte direkt hinter Cas Stellung bezogen.

»Was kann ich für dich tun?«, wollte Cas von der Frau wissen.

»Ich habe eine Nachricht von Emelina Flores.«

Cas riss überrascht die Augen auf. »Violet«, sagte er leise.

»Wartet bitte draußen«, befahl Violet den Wachen.

»Eure Majestät …«, begann der zu dicht stehende Wachsoldat.

»Ich rufe euch, wenn ich euch brauche«, fiel Cas ihm entschieden ins Wort. Der Mann wollte offensichtlich widersprechen, stapfte dann jedoch zügig aus dem Raum, zusammen mit seinen beiden Freunden. Violet schaute Cas fragend an, aber er bedeutete ihr zu bleiben. Sie schloss die Tür und kam zu ihnen herüber.

Cas wandte sich nun wieder der Frau zu. »Wo hast du Emelina Flores getroffen?«

»Westhaven. Ich bin – war – ein Dienstmädchen im Haus des Gouverneurs. Die Ruined sind in die Stadt eingefallen.«

Davon wusste Cas bereits, er hatte ein paar Soldaten befohlen, die Ruined zu verfolgen, und erst gestern einen Bericht über ihren Aufenthaltsort erhalten.

»Emelina hat gesagt, dass Ihr in Sicherheit seid, doch sie braucht noch etwas Zeit, um sich den nächsten Schritt zu überlegen. Sie wird Euch aber wieder eine Botschaft zukommen lassen.«

Ein Lächeln huschte über Cas’ Gesicht. Obwohl er schon damit gerechnet hatte, war es dennoch schön, es noch mal von jemand anderem zu hören.

»Sie hat mich gerettet«, fuhr die Frau fort und zeigte auch auf ihren Sohn. »Uns beide. Die Ruined haben das Haus in Brand gesetzt und uns eingesperrt, aber sie hat uns befreit.«

»Das überrascht mich nicht«, erwiderte Cas. »Sie ist anders, als die meisten behaupten.«

Die Frau nickte überschwänglich. »Ja, ist sie. Das habe ich den Leuten auch schon erzählt.«

»Gut, mach ruhig weiter damit.« Er hielt einen Moment inne, ließ einen Fingerknöchel knacken. »Wie … wie geht es ihr? Sah sie gesund aus?«

»Sie schien wohlauf zu sein. Größer, als ich erwartet hatte.«

Leise lachte er. »Ja.«

»Ich glaube, die anderen Ruined wissen nicht, dass sie mich gerettet hat. Sie hat gewartet, bis sie fort waren.«

Cas nickte. Auf keinen Fall hatte Olivia eine Ahnung, dass Em diese Frau befreit hatte. Wahrscheinlich war es Olivia gewesen, die das Haus in Brand gesteckt hatte. »Hast du einen Platz zum Schlafen?«

Die Frau schüttelte den Kopf, Sorge trat in ihr Gesicht, als ihr Blick instinktiv zu dem kleinen Jungen wanderte, der glücklich sein Törtchen aß.

»Wir haben Unterkünfte vorbereitet.« Cas wandte sich zu Violet. »Lässt du sie bitte in die Küche bringen, damit sie etwas zu essen bekommen, und dann zu den Unterkünften?«

»Selbstverständlich, Eure Majestät«, stimmte Violet zu.

»Danke für die Nachricht«, sagte Cas noch zu der Frau. Violet öffnete schon die Tür und gab die Anweisungen an die Wachen weiter.

Die Frau verbeugte sich noch mal vor Cas, bevor sie verschwand. Der Junge lief ihr hinterher, starrte Cas dabei fasziniert an, sein Mund mit Kirschfüllung aus dem Gebäck verschmiert.

Violet schloss die Tür wieder. Cas ging zum Schreibtisch und ließ sich in seinen Stuhl fallen. »Wie lange bis zur nächsten Besprechung? Und worum geht es da überhaupt? Haben sie schon Kandidaten für den Posten meines Sekretärs? Ich sollte das alles nicht im Kopf behalten müssen.«

Violet folgte ihm zum Tisch und setzte sich auf einen der Stühle ihm gegenüber. Sie war inzwischen unentbehrlich im Schloss, unterstützte Cas in seinen Bemühungen, die Rolle des Königs zu erfüllen, und erwies sich als starke Verbündete. »Ja, es gibt ein paar, die infrage kommen. Du wirst sie bald treffen. Und die nächste Besprechung ist in einer halben Stunde mit mir und den neuen Gouverneuren. Außerdem ist Jovita wiederaufgetaucht.«

Ruckartig blickte Cas hoch. »Man hat sie gefunden? Wann?«

»Wir haben es gerade erst erfahren. Ein paar Soldaten folgen ihr, unauffällig, wie befohlen. Sie hat eine Armee um sich herum versammelt, aus Jägern und ein paar ehemaligen Soldaten, die dich hintergangen haben. Eine kleine Armee zwar, aber sie ist schon gewachsen, seit sie Lera vor ein paar Tagen verlassen hat.«

»Und du denkst, mit dieser Armee will sie mich angreifen?«

»Dich und die Ruined. Vielleicht aber nicht in der Reihenfolge. Sie ist nach Westen unterwegs, was uns Sorgen bereitet.«

»Weshalb?«

»Weil nichts im Westen ist, abgesehen vom Dschungel. Jedenfalls bis man Olso erreicht.«

Cas holte tief Luft. »Du glaubst, dass sie ein Abkommen mit August treffen will.«

»Wir können uns nicht sicher sein. Sie könnte auch einfach vorhaben, eine Weile im Dschungel unterzutauchen, doch laut unseren Soldaten hat sie bisher keine Anstalten gemacht, irgendwo zu verweilen.«

Die Wut brodelte in seinen Adern, heftiger als erwartet. Jovita hatte schon einmal gegen die Ruined verloren, sie hatte Hunderte von Leras Soldaten losgeschickt, nur damit sie abgeschlachtet wurden. Sie hatte auch gegen Cas verloren, als sich die Mehrheit der Lera hinter ihn gestellt hatte. Aber sie konnte keine Niederlagen verkraften, nicht mal dann, wenn die Gefahr bestand, dass Lera von Olivia angegriffen wurde.

»Wären sie dazu in der Lage, Jovita umzubringen? Die Soldaten, die ihr folgen?«, wollte Cas wissen. Die Worte kamen so schnell aus seinem Mund, dass sie ihn beinahe selbst überraschten.

Auch Violet schien nicht damit gerechnet zu haben. »Sicher könnten sie das, wenn du den Befehl erteilst, bevor sie die Grenze zu Olso überquert.«

Er hätte sie selbst umbringen sollen, als er noch die Gelegenheit dazu hatte. Er hatte Em gesagt, er würde es tun, dann allerdings gezögert, bis es zu spät war. Dabei hätte er sich eine Menge Ärger erspart, wenn er sie direkt losgeworden wäre.

Der Gedanke wunderte ihn selbst, und als er zu Violet hochschaute, bemerkte er, dass auch ihr Gesicht einen leicht alarmierten Ausdruck angenommen hatte. Sie musste ihm seinen Zorn angesehen haben.

»Wir reden bei der Besprechung darüber«, erklärte er und senkte seinen Blick wieder.

»Sicher.« Violet erhob sich. »Gibt es sonst noch etwas?«

Er starrte weiter konzentriert auf den Tisch, als würde er die Liste der Flüchtlinge in den Unterkünften durchgehen. »Ist es wirklich möglich zu beweisen, dass Jovita es war, die mich auf der Festung vergiftet hat?«

»Wir könnten es auf jeden Fall versuchen. Denkst du, es könnte jemand anderes gewesen sein?«

»Nein, aber sie hat es immer geleugnet. Ich würde es gern mit Sicherheit wissen.«

»Ich schaue mal, ob ich irgendwie an Informationen komme.«

»Danke.« Vielleicht würde es ihm leichter fallen, Jovitas Tod anzuordnen, wenn er handfeste Beweise hatte, dass sie wirklich versucht hatte, ihn umzubringen. Das würde sicher helfen, das mulmige Gefühl in seinem Bauch loszuwerden. Sie hatte es verdient zu sterben, er musste nur sichergehen.

3. KAPITEL

Galo war ein fantastischer, fleißiger und bewundernswerter Mann. Jedenfalls laut seinen Eltern. Das Lob war unerwartet – und kam, erstaunlicherweise, nicht besonders gut an.

Sein Vater strahlte ihn über den Esstisch hinweg an. Galo war erst seit ein paar Stunden zu Hause, doch in der kurzen Zeit hatte er seinen Vater schon öfter lächeln gesehen als zuvor in seinem ganzen Leben.

Seine Mutter stellte gerade eine Obstplatte zum Dessert auf den Tisch, wobei sie Mateo für einen Moment eine Hand auf die Schulter legte. Noch nie hatte Galo einen Freund mit nach Hause gebracht, und seine Eltern schienen von Mateo begeistert. Allerdings wirkten sie im Moment von allem begeistert, wenn es um Galo ging.

»Wirst du die Wache umorganisieren, jetzt, wo ihr zurück im Schloss seid?«, erkundigte sein Vater sich interessiert.

»Ähm.« Galo rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Die Begeisterung über seinen neuen Posten als Kommandant der Garde machte ihn beinahe etwas sprachlos. Bisher war er eher daran gewöhnt, in den Augen seines anspruchsvollen Vaters eine ewige Enttäuschung darzustellen. Als Galo vor drei Jahren fortging, um der Wache beizutreten, lautete der väterliche Kommentar in etwa: »Du wirst wahrscheinlich sowieso nichts Besseres finden.«

Jetzt hatte Galo allerdings den höchsten Posten der gesamten königlichen Wache inne, und da fand selbst sein Vater nichts mehr zu meckern.

»Ich habe noch nicht wirklich darüber nachgedacht«, log Galo. »Wir sind immer noch dabei, uns zu arrangieren.«

»Das schmeckt köstlich«, unterbrach Mateo, der auf einem Stück Mango kaute und offensichtlich versuchte, Galo aus der Unterhaltung zu retten. Er wusste, dass das Letzte, worüber Galo momentan sprechen wollte, seine Aufgabe war, den König zu beschützen. Nicht zuletzt aus diesem Grund war er jetzt hier.

»Es ist noch genug da, falls du mehr möchtest«, antwortete Galos Mutter lächelnd. Das stimmte auch, die Küche war gut ausgestattet, seine Familie hatte nicht unter dem Krieg gelitten. Galos Eltern waren vielleicht nicht wohlhabend, aber sie hatten immer genügend Essen und ein gemütliches Heim.

Er hatte schon befürchtet, das Haus könnte womöglich nicht mehr stehen. Gestern, als er die königliche Stadt verließ, rechnete er mit dem Schlimmsten – dass sein Zuhause abgebrannt und seine Eltern tot waren. Die Krieger der Olso schienen aber nicht so weit in den Norden vorgedrungen zu sein, sondern sich auf die zwei größten Städte konzentriert zu haben, die königliche Stadt und Gallego. Seine Heimatstadt, Mareton, sah jedenfalls noch genauso aus wie immer. Die Einwohner hätten ohne die Nachrichten der Boten aus anderen Landesteilen nicht mal erfahren, dass sie sich im Krieg befanden.

»Ich habe gehört, dass die Ruined immer noch in Lera sind«, fuhr Galos Vater fort. »Der König wird sie aber nicht wirklich dableiben lassen, oder?«

Galos Mutter beugte sich vor und fing an zu flüstern, als könnte jemand sie hören und verurteilen. »Ich habe ja nichts gegen diese Leute, doch sie sollten einfach dahin zurück, wo sie hergekommen sind, finde ich. Sie gehören hier einfach nicht her, wisst ihr?«

Galo merkte, dass er sich geirrt hatte – das wirklich Allerletzte, worüber er momentan sprechen wollte, waren die Ruined. Seine Eltern hatten zwar nie einen richtigen Hass gegen sie gehegt, waren ihnen aber auch nicht wirklich zugetan. Galo wurde die Situation langsam unangenehm. Die Ausrottung der Ruined hatte ihm nie ein gutes Gefühl gegeben, aber nun, da er persönlich etliche Ruined kannte, schämte er sich dafür, wie leichtfertig seine Eltern über sie redeten.

»König Casimir hat eine enge Bindung zu Em – zu Emelina Flores«, erklärte er. Cas hatte nicht vor, seine Gefühle für Em zu verheimlichen. »Außerdem haben sie kein Zuhause, zu dem sie zurückkehren könnten.«

»Das kann man sicher wiederaufbauen«, entgegnete seine Mutter. Sie nahm sich ein Stück Obst von der Platte, die noch von Galos Großmutter handbemalt worden war. Es war leicht, den Ruined zu sagen, sie sollten doch einfach ihr ganzes Leben wiederaufbauen, wenn man selbst nichts verloren hatte.

Galos Vater schien ihm seine Gedanken ansehen zu können und wechselte schnell das Thema. Er fragte nach den Ereignissen der letzten Wochen – Cas’ Vergiftung, ihre Reise nach Vallos, ihr Weg zurück zur königlichen Stadt –, bis Galo mitbekam, wie Mateo versuchte, sich ein Gähnen zu verkneifen, und das als Ausrede nahm, um sich auf sein Zimmer zurückzuziehen.

Er sagte Gute Nacht, nahm Mateos Hand und führte ihn zu seinem Zimmer, das weiter hinten im Haus lag. Es war klein und karg, nur ein Bett und ein Schrank standen darin. Galo kam nicht oft nach Hause.

Er setzte sich seufzend auf sein Bett. Mateo streifte seine Schuhe ab, legte sich auf den Rücken neben Galo und strich ihm durch die dunklen Locken.

»Deine Eltern mögen mich«, verkündete er.

Galo lächelte. »Jeder mag dich.«

»Na ja, schon. Aber dein Vater ist sonst gegen alles, was du tust, daher dachte ich, das betrifft auch mich.« Mateo hatte Galos Vater zwar heute zum ersten Mal getroffen, aber Galo hatte schon einiges über ihn erzählt.

»Offensichtlich hat sich das jetzt geändert«, murmelte Galo. »Ist es komisch, dass all das Lob mir unangenehm ist?«

»Ja.« Mateo sah ihn ernst an, diese Unterhaltung hatten sie schon mal geführt.

»Ich meine ja nur … Cas wurde eingesperrt, mit einem Messer attackiert und vergiftet. Vielleicht bin ich keine so gute Wache.«

»Hörst du endlich damit auf?«

»Erinnerst du dich noch daran, als Aren meinte, dass ich keine gute Arbeit leiste? Irgendwie hatte er …«

»Wen interessiert, was Aren denkt?«, unterbrach Mateo ihn. »Der Typ ist schrecklich. Außerdem ist die gesamte Wache dafür verantwortlich, dass Cas gefangen gehalten wurde. Du kannst nicht die alleinige Verantwortung übernehmen, und du warst nicht einmal da, als er mit dem Messer angegriffen wurde.«

»Ich habe zugelassen, dass er gefangen wird.«

Mateo atmete genervt durch die Nase aus. »Und Jovita hat dich nicht in seine Nähe gelassen, während sie ihn vergiftet hat. Du hattest gar keine Möglichkeit, es aufzuhalten.«

»Weil ich es eben zugelassen habe.« Galo rutschte weiter zurück, um sich neben Mateo zu legen.

Mateo rollte sich auf die Seite, legte einen Arm auf Galos Bauch und seinen Kopf auf Galos Schulter. »Du bist nicht allein für alles verantwortlich, Galo. Du musst nicht die ganze Welt beschützen.«

»Ich muss zumindest Cas beschützen, das ist meine Aufgabe.«

Mateo schnaubte. »Ach, bitte. Du willst doch alle beschützen. Eine liebenswerte, aber auch sehr anstrengende Eigenschaft von dir.«

Mateo könnte recht haben. So waren sie damals sogar zusammengekommen – Galo half Mateo dabei, seinen Bruder davor zu bewahren, den Jägern beitreten zu müssen. Damals kannten sie sich noch kaum, aber Galo war dennoch das Risiko eingegangen. Natürlich hatten dabei auch Mateos Grübchen eine Rolle gespielt.

»Außerdem hast du Cas gerettet. Er ist wieder im Schloss, wird rund um die Uhr bewacht. Du warst also erfolgreich.«

Galo war sich da nicht so sicher. Dass Cas noch lebte, war Em zu verdanken, nicht ihm. Und Aren – ausgerechnet Aren –, der ihnen geholfen hatte, aus der Festung zu fliehen, weg von Jovita, ohne Kampf. Alle Soldaten wussten davon, und Galo war schon aufgefallen, wie einige von ihnen plötzlich verstummten, sobald er einen Raum betrat. Ihm war bewusst, dass viele ihn nicht als qualifiziert genug für den Posten des Anführers betrachteten und glaubten, dass Cas ihn nur deshalb ausgewählt hatte, weil sie befreundet waren.

Vielleicht hatten sie recht, sosehr Galo diese Vorstellung auch hasste. Schon jetzt erdrückten ihn die Gedanken an alles, was er als Kommandant tun musste; bei vielen Dingen wusste er nicht einmal, wie man sie machte. Der vorherige Anführer von Cas’ Leibwache war tot, genauso wie der letzte Kommandant der königlichen Wache. Normalerweise hatten Anführer mindestens ein Jahrzehnt Erfahrung vorzuweisen, statt wie er drei Dienstjahre und eine Verbindung zur Königsfamilie.

Davon abgesehen hatte Galo eigentlich nicht vor, für immer bei der Wache zu bleiben. Der Beruf hatte zwar sein Gutes, aber oft war es langweilig und eintönig. Wäre nicht seine Freundschaft zu Cas gewesen und die Tatsache, dass sein Vater es ihm niemals verzeihen würde, hätte er vielleicht nicht einmal ein Jahr durchgehalten.

Er legte einen Arm um Mateos Schultern und drückte seinen Freund an sich. »Ich glaube, ich werde zurücktreten«, bekannte er leise.

»Sei kein Idiot«, entgegnete Mateo liebevoll.

»Ich meine es ernst.«

Überrascht schaute Mateo zu ihm hoch. »Du denkst wirklich darüber nach, als Kommandant zurückzutreten?«

»Ja. Ich glaube, ich möchte darum bitten, die Wache komplett verlassen zu dürfen.«

Mateo richtet sich ungläubig auf. »Du überreagierst doch.«

Auch Galo setzte sich jetzt wieder hin, schlug die Beine übereinander und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. »Es gibt Menschen, die besser darin wären, und Cas braucht im Moment den besten Schutz.«

»Ist das jetzt irgendeine Art verdrehte Reaktion auf das Lob deines Vaters? Du solltest nicht seinetwegen alles aufgeben.«

»Das hat nichts mit ihm zu tun. Es geht nur darum, was das Beste für mich ist, und für Cas. Sie bauen die Wache neu auf, es ist der perfekte Zeitpunkt, die Verantwortung an einen neuen Anführer weiterzugeben. Momentan bin ich anderweitig eine größere Hilfe.«

»Und wo?«, wollte Mateo stirnrunzelnd wissen.

»Keine Ahnung. Aber lässt dich das hier«, seine Geste umfasste das ganze Zimmer, »nicht nachdenklich werden? Dass unser Zuhause unberührt geblieben ist, als wäre nichts passiert?«

»Nachdenklich im Sinne von erleichtert? Ja.«

»Nein, wie … als hätten wir unheimliches Glück gehabt. Die Häuser in der königlichen Stadt sind zerstört, die Menschen in Gallego haben kein Heim mehr, und auch die Menschen in Westhaven mussten fliehen, um am Leben zu bleiben. Die Ruined haben ebenfalls alles verloren. Ich habe vorher gar nicht darüber nachgedacht, aber Cas sagte, dass Em zurück nach Ruina gereist ist, zu dem Ort, wo ihr Zuhause einmal stand, und alles war niedergebrannt. Das ganze Land war niedergebrannt.«

Mateo starrte ihn einfach weiter an.

»Ich fühle mich einfach so unfassbar schuldig und habe keinen Schimmer, wie ich damit umgehen soll. Aber ich weiß, dass es gerade nicht der richtige Weg ist, in der Wache zu bleiben.«

»Aber gerade jetzt ist doch die Zeit, wo du erst recht in der Wache bleiben solltest. Es ist nichts sicher.«

»Es wäre besser, jetzt auszutreten, wenn gerade eine kurze Pause von dem ganzen Wahnsinn herrscht.« Wenn die letzten Monate ihn irgendetwas gelehrt hatten, dann, dass die ruhigen Phasen nie lange anhielten. Neue Gefahren warteten immer direkt hinter der nächsten Ecke.

Mateo sah ihn weiter an, als würde er es immer noch nicht verstehen, aber das erwartete Galo auch gar nicht von ihm. Er selbst war nun seit drei Jahren bei der Wache, Mateo war erst ein paar Monate vor Ems Ankunft beigetreten. Als alles anfing, aus dem Ruder zu geraten. Die öden Jahre davor hatte er nie miterlebt. So langweilig sie auch gewesen waren, Galo wünschte sie sich dennoch zurück.

»Und was willst du stattdessen machen?«, hakte Mateo nach.

»Ich habe keine Ahnung.«

4. KAPITEL

Em rettete noch drei weitere Menschen vor den Flammen. Langsam wurde das Ganze lächerlich.

Zwei hatten sich in einer Scheune versteckt, wo Em sie fand. Sie schrien, als sie entdeckt wurden, und dann nochmals, als ihre Blicke auf Ems Kette fielen und sie herausfanden, wer sie war. Danach starrten sie sie nur verwirrt an, als sie ihnen sagte, dass sie leise sein und verschwinden sollten. Sie war sich nicht sicher, wie weit die beiden es schaffen würden.

Der andere wanderte wie ein Idiot die Straße entlang. Sie hielt ihn auf, drehte ihn in die andere Richtung und wies ihn an, zurück zur königlichen Stadt zu gehen, woraufhin er lächelte, nickte und ihr den Kopf tätschelte.

Es waren ein paar seltsame Tage.

Em trat aus ihrem Zimmer und schlich durch das stille Haus, das sie sich mit Olivia teilte. Es bestand aus einem Erdgeschoss, mit einer großen Sitzecke, einer Küche und einem Esszimmer, das man erst sah, wenn man durch die Küche nach hinten ging. Im hinteren Teil des Hauses befanden sich außerdem drei Schlafzimmer und noch ein weiteres Zimmer, in dem ein Arbeitszimmer war. Soweit Em das einschätzen konnte, hatten hier einst Lehrer gewohnt. Alles stand voller Bücher, und im Arbeitszimmer lagen unzählige Sachbücher, Aufsätze und Essays herum.

Em ließ sich in einen der Stühle am Esstisch fallen. Sie legte ihren Kopf auf den großen, hölzernen Tisch und streckte auch ihre Arme darauf aus. An diesem großen Tisch frühstückte sie immer allein, obwohl daran Platz für acht Personen gewesen wäre. Es überraschte sie, dass Olivia sich kein eigenes Haus gesucht hatte, weit weg von Em, aber vielleicht dachte sie sich auch, dass dieses hier groß genug wäre, um einander aus dem Weg zu gehen.

Draußen ertönte ein Schrei. Em rührte sich zunächst nicht, Schreie waren nichts Ungewöhnliches. Schon seit mehr als einem Jahr nicht, aber mit Olivia in der Nähe erst recht nicht mehr.

Sie erwog kurz, wieder ins Bett zu gehen. Für das, was sie nicht sah, war sie auch nicht verantwortlich.

Aber dann stand sie doch langsam auf. Die Ausrede würde niemals funktionieren, sie glaubte es ja nicht einmal selbst.

Em trat ins Freie. Ihr Haus lag in der Marktstraße, im Stadtkern von Westhaven. Am Ende der Straße befanden sich jede Menge Shops und Essensstände, die inzwischen jedoch verlassen und von den Ruined geplündert worden waren.

Auf der Straße stand Olivia, umringt von etwa zwanzig Ruined. Alle saßen auf Pferden, bereit loszureiten.

Em musterte die Ruined. Es waren diejenigen, die sich klar auf Olivias Seite schlugen – Jacobo, Ester, Carmen, Priscila und noch ein paar andere, die sehr mächtig waren. Kein Wunder, dass sie sich für Olivia entschieden hatten. Em hatte mit den meisten von ihnen kaum ein Wort gewechselt, seit sie Königin geworden war. Sie würden niemals einer Unbegabten folgen.

»Willst du weg?«, fragte Em.

»Ja.« Olivia stieg in den Sattel.

»Kommst du wieder?«

»Natürlich«, erwiderte sie knapp.

Trotz der paar Tage Ruhe in Westhaven sah Olivia fertig aus. Ihre gebräunte Haut wirkte fleckig, ihre dunklen Haare hingen stumpf und dünn über ihre Schultern. Em war sich nicht so sicher, ob Olivia einfach nur schlecht schlief oder ob es doch Spuren hinterließ, dass sie ständig ihre Kraft benutzte.

»Sie wird die nächste Stadt südlich von hier angreifen«, hörte Em hinter sich. Als sie sich umdrehte, sah sie, wie Aren auf sie zukam. Er blieb neben ihr stehen und schaute zu Olivia. »Fayburn, oder?«

Olivia starrte ihn einfach nur an.

»Ich habe gestern Abend gehört, wie Jacobo und Ester darüber gesprochen haben.«

Olivia seufzte und warf Jacobo und Ester einen tadelnden Blick zu.

»Was?« Ester schien sich kein Stück dafür zu schämen. Sie hatte ein langes, spitzes Gesicht, war einige Jahre älter als Em und wirkte eigentlich meist genervt. Oder vielleicht auch nur, wenn Em gerade in der Nähe war. Aus ihrer Verachtung für Unbegabte machte sie nicht gerade ein Geheimnis. »Sollte das etwa unter uns bleiben? Brauchst du Ems Erlaubnis?« Sie forderte Olivia heraus, was die sofort mitbekam.

»Natürlich nicht.« Sie warf sich in die Brust.

»Wie ist denn der Plan? Wahllos Menschen angreifen, aus Spaß?«, hakte Aren nach.

»Unterschätz mich ruhig weiter, Aren. Das wird bestimmt gut für dich ausgehen«, entgegnete Olivia, woraufhin Aren kurz erstarrte. Em und er wussten beide sehr gut, dass man Olivia lieber nicht unterschätzen sollte.

»Ich werde jede größere Stadt zwischen hier und Gallego einnehmen«, verkündete Olivia. »Angefangen bei Fayburn.«

»Das sind«, in ihrem Kopf ging Em die Karte von Lera durch, »mindestens fünf Städte, vielleicht zehn, je nachdem, was für dich ›größer‹ ist.«

»Perfekt. Ich will sie alle einnehmen und die meisten Menschen dort umbringen. Vielleicht kannst du mir ja eine Karte aufzeichnen, Em, du kennst dich in Lera doch so gut aus.« Der letzte Teil klang wie eine Herausforderung. Manchmal hatte Em das Gefühl, ihre Schwester wüsste ganz genau, dass sie nicht mehr auf ihrer Seite war. Und dann wieder war sie überzeugt davon, dass Olivia niemals sie oder irgendeinen anderen Ruined verdächtigen würde, sie zu hintergehen. Jedenfalls nicht in diesem Ausmaß.

»Wieso? Was ist der Sinn dahinter?«, wollte Em wissen. »Einfach nur alle zu töten?«

»Nein. Die Überlebenden werden in die königliche Stadt fliehen. Dann werden wir die Städte im Norden einnehmen, bis sie alle in der Mitte gefangen sitzen. Der Süden ist inzwischen sowieso so gut wie verlassen, darum brauchen wir uns jetzt erst mal keine Gedanken zu machen. Der ganze Norden Leras wird den Ruined gehören, was wir mit der königlichen Stadt machen, entscheiden wir dann. Vielleicht lassen wir sie dort eine Weile leben. Sie könnten noch nützlich werden.« Olivia zeigte auf Aren. »Aren hat ja einen ganz guten Nutzen für Menschen entdeckt.«

Ems Brust schnürte sich zu. Olivia würde Tausende umbringen, wenn sie ihren Plan in die Tat umsetzte.

»Wir haben nicht genügend Leute«, widersprach sie. »Sobald wir hier weg sind, werden die Menschen wahrscheinlich einfach zurückkommen.«

»Ich denke, wir können ein paar Ruined entbehren, die zwischen den eingenommenen Städten hin und her reisen und aufpassen. Dann merken die Menschen schon, was passiert, wenn sie zurück in eine unserer Städte kommen.« Auf Olivias Gesicht erschien so etwas wie ein Lächeln. »Außerdem ist Casimirs Armee dieser Tage nicht gerade beeindruckend, oder? Will seine Cousine ihn nicht immer noch vom Thron drängen? Und Olso ist auch sicherlich noch nicht fertig mit den Lera, die Krieger ziehen sich nie lange zurück.«

Em musste schlucken. Leider hatte Olivia damit recht. Cas konnte unmöglich gegen drei Feinde gleichzeitig kämpfen. Jetzt war der perfekte Zeitpunkt für die Ruined, einzugreifen. Von so einer Situation hätte Ems und Olivias Mutter nur geträumt.

»Ein guter Plan, oder?«, fragte Olivia selbstgefällig.

»Ein riskanter Plan.«

»Das sind die guten immer. Das hast du mir beigebracht.«

Ems Brust schnürte sich immer fester zu. Das hatte sie ihr tatsächlich beigebracht. Olivia war nur dank Ems riskantem Plan frei. Weil sie die Prinzessin ermordet hatte und eigentlich noch viele weitere Menschen töten wollte. König Salomir war zwar für Olivias Entführung und ihre Wut verantwortlich, aber Em war auch nicht wirklich mit gutem Beispiel vorangegangen.

Instinktiv griff sie nach ihrer Kette mit dem kreisförmigen Anhänger – Olivias –, die sie immer getragen hatte. Vor ein paar Tagen hatte sie sie allerdings in eine Schublade gesteckt, was sie aber immer wieder vergaß und dann ihre Hand danach ausstreckte.

Olivias Blick folgte der Bewegung.

»Ich habe sie weggelegt«, erklärte Em ruhig. »Die Leute haben mich daran erkannt, das wollte ich vermeiden.« Das stimmte, aber es war nicht die ganze Wahrheit. Die Kette wurde langsam zu einer ständigen Erinnerung an ihre Schwester. Em wollte sie sich lieber aus dem Sinn schlagen.

Bevor Em ihre Reaktion sehen konnte, hatte sich Olivia schon weggedreht.

»Du kannst mitkommen, wenn du willst«, bot sie unbeschwert an. »Aber ich weiß, wie emotional du wirst, wenn du Menschen sterben siehst. Du hast inzwischen wahrscheinlich mehr mit ihnen gemeinsam als mit anderen Ruined, oder?«

Ein paar der umstehenden Ruined murmelten zustimmend.

Olivia sah zurück zu Em und zog ihre Augenbrauen hoch. Ganz offensichtlich wollte sie, dass Em mitkam, nur um zu beweisen, dass Em sie nicht an ihrem brutalen Vorhaben hindern könnte. Sie hatte recht. Selbst wenn Aren dabei wäre, könnten sie zu zweit unmöglich zwanzig Ruined aufhalten.

»Los geht’s«, verkündete Olivia schließlich, als keine Antwort von Em kam. Sie trieb ihr Pferd an und ritt los, die Straße hinunter, gefolgt von den anderen Ruined.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Aren leise, während sie zusahen, wie die anderen verschwanden.

»Nichts.« Em schloss ihre Augen und seufzte. Während sie selbst sich ärgerte und im Selbstmitleid suhlte, hatte Olivia einen Plan entworfen, ihre Anhänger mobilisiert, und nun gab es nichts, was Em tun konnte, um die Menschen von Fayburn zu retten.

Das Ganze würde gewiss nicht dazu beitragen, sich bei den Lera beliebt zu machen. Cas hatte schon genug damit zu tun, seine Leute davon zu überzeugen, dass nicht alle Ruined ihnen schaden wollten.

»Wir müssen herausfinden, wer wirklich auf unserer Seite steht«, sagte Em. »Wir brauchen einen Plan, um sie aufzuhalten.«

»Ich wüsste da ein paar. Ich kann mal mit Mariana und Ivanna sprechen und mal sehen, wer uns vielleicht unterstützt.«

»Gut. Tu das. Wir sollten uns direkt morgen früh treffen.«

»Haben wir denn einen Plan, den wir ihnen präsentieren können?«, fragte Aren.

»Nicht wirklich. Aber ich denke, ich weiß, womit wir anfangen müssen.«

»Womit denn?«

»Uns mit Cas und Leras Armee zu verbünden.«

5. KAPITEL

Seit drei Tagen saß Iria in einer Gefängniszelle.

Sie war sogar für das winzige, lumpige Bett in ihrer Zelle dankbar gewesen, als sie dreckig und erschöpft von ihrer Reise über das Meer nach Olso zurückgekehrt war. Wenigstens bewegte es sich nicht ständig auf den Wellen. Sie hasste Schiffsreisen.

Allerdings schlief sie nur die erste Nacht gut. Am nächsten Morgen kamen Krieger herein, einer nach dem anderen, um sie anzustarren und anzubrüllen. Normalerweise durften Gefangene, die auf ihren Prozess warteten, keine Besucher empfangen, aber für Iria schienen sie eine Ausnahme zu machen.

Als sie am vierten Morgen aufwachte, brach noch nicht einmal die Sonne durch das kleine Fenster am Ende ihrer Zelle. Sie setzte sich auf und zog die Knie an die Brust.

Heute würde kein guter Tag werden. Heute würde sie sich vor Gericht verantworten müssen. Wegen Verrats.

Von draußen drangen die Geräusche des beginnenden Tages zu ihr durch – Gemurmel, Pferdehufe auf der Straße. Sie konnte sogar frisch gebackenes Brot riechen. In der Nähe des Gerichts lag eine Bäckerei, und an manchen Tagen wehte etwas von dem Duft zu ihr rüber.

Nicht weit von hier war sie aufgewachsen, sie hatte schon öfter in der Bäckerei etwas besorgt. Das ganze Jahr lang war es morgens eher kühl, die Schule begann oft früh, daher schaute sie öfter in der Bäckerei vorbei und wärmte sich mit einer Zimtschnecke auf. Die Besitzerin, eine ältere Frau mit einem freundlichen Lächeln, machte ihr manchmal kostenlos eine heiße Schokolade, dann saß Iria immer auf einem der Hocker am Fenster und beobachtete die Krieger, Richter und anderen Menschen von der Regierung, die in das Gerichtsgebäude strömten.

Auch als sie vor Kurzem wieder hier war, zwischen ihren Reisen nach Lera und Ruina, hatte sie wieder in der Bäckerei vorbeigeschaut. Die nette Besitzerin war inzwischen verstorben, und ein ebenfalls freundlicher junger Mann hatte die Bäckerei übernommen, aber die Zimtschnecken schmeckten anders, und sie verkauften auch keine heiße Schokolade mehr. Als sie den Laden damals wieder verließ, mit einer eher enttäuschenden Zimtschnecke, musste sie an Aren denken und fragte sich, ob er es nach Ruina geschafft hatte und ob er wohl genug zu essen hätte. Deswegen war es ihre Idee gewesen, den Ruined Essen mitzubringen, als der König sich entschied, August nach Ruina zu schicken.

Iria verdrängte die Gedanken an Aren, als sie eine Wache den Gang entlangstapfen hörte. Es gab hier unten noch mindestens zwanzig andere Zellen, aber bislang hatte Iria andere Gefangene weder gehört noch gesehen. Vielleicht dachten sie ja, Verrat wäre ansteckend.

Sie stand auf, als die Wache vor ihrer Zelle stehen blieb. Mit einem Knall öffnete sich die Tür, und noch eine Wache tauchte neben der ersten auf.

»Es ist so weit«, sagte die erste Wache. »Gib mir deine Arme.«

Sie gehorchte ihm, und er legte ihr Handschellen an. Die Ketten daran klirrten, als sie ihre Hände wieder fallen ließ.

»Mir nach.« Die Wache trat aus der Zelle, und sie folgte ihm. Die andere Wache blieb dicht hinter ihr, und weiter vorn konnte Iria noch zwei weitere Männer in weiß-roten Uniformen sehen. Es war sowieso nicht einfach, aus Olsos Gefängnis zu fliehen, aber sie wollten offensichtlich absolut kein Risiko eingehen.

Die Zellen waren durch einen langen Gang mit dem Gerichtsgebäude verbunden, ihr Herz hämmerte wild, während sie den Weg abschritten. Seit sie wieder in Olso war, hatte sie weder ihre Familie noch ihre Freunde gesehen. Sie fieberte der Begegnung mit Freude und Angst entgegen.

Am Ende des Ganges zog die Wache eine Tür auf. Iria kniff die Augen zusammen, als das helle Licht sie blendete.

Das Gericht kannte sie gut – die hohen Decken, die weißen Marmorböden und die Buntglastüren, durch die immer, wenn jemand sie öffnete, eine kühle Brise hereinwehte. Ihr Vater war Richter. Sie fragte sich, ob er seinen Posten wohl immer noch hatte oder ob auch er für ihre Taten bestraft wurde.

Das gesamte Gerichtsgebäude war voller Menschen, und alle drehten sich zu ihr um, starrten sie an, als sie vorbeiging. Bisher galt Leras ehemalige Königin, Cas’ Mutter, als berühmteste Verräterin in Olso, aber es schien beinahe, als hätte Iria nun diesen Platz eingenommen.

Sie musste eine Panikattacke unterdrücken. Sie war immer noch nicht ganz sicher, wie sie überhaupt in diese Situation geraten war. Ihre Familie war in Olso gut angesehen, und auch die Prüfungen zur Kriegerin waren nie ein Problem für sie gewesen. Sie hatte sich sogar gegen die harte Konkurrenz durchgesetzt, als es darum ging, wer die Ehre haben sollte, Emelina Flores dabei zu helfen, ihren Plan durchzuführen, Lera zu stürzen. Und dann war Lera gefallen, die Ruined hatten zugestimmt, sich mit Olso zu verbünden, und Iria galt als Heldin. Sie konnte immer noch den Stolz in den Augen ihrer Mutter sehen, als sie zum ersten Mal aus Lera zurückgekommen war. Sie hatte ihre Erwartungen übertroffen, und das war nicht einfach bei ihrer Mutter.

Jetzt stand Iria hier. Kurz davor, wegen Verrats verurteilt zu werden.

Aren. Sein Gesicht tauchte in ihren Gedanken auf und wollte einfach nicht wieder verschwinden, egal, wie sehr sie versuchte, es wegzuschieben. Im Dschungel hatte sie die anderen Krieger betrogen, für ihn. Sie hatte die Wahl gehabt, entweder zuzulassen, dass die anderen ihn umbrachten – oder die anderen zu hintergehen. Die Entscheidung war ihr nicht schwergefallen. Sie hatte gar nicht wirklich darüber nachgedacht, bevor sie losschrie – das Warnsignal, das Aren das Leben rettete. Sie hatte nicht gezögert loszurennen, als er ihre Hand nahm.

Er hingegen hatte oft gezögert. Er war immer noch in Lera, oder vielleicht auch wieder in Ruina, weil er sich nicht dazu durchringen konnte, die Ruined zu verlassen. Selbst als Olivia ihm Angst machte, entschied er sich für sie statt für Iria. Wegen der Zeichen auf ihrer Haut. Wegen der Kraft, die sie teilten. Sie hatte den Konflikt in seinen Augen gesehen, aber dennoch hatte er gezögert.

Jetzt spielte es sowieso keine Rolle mehr. Wenn kein Wunder geschah, dann würde sie für den Rest ihres Lebens in einer Gefängniszelle verrotten.

Ich werde dich finden. Selbst wenn ich in jedes Gefängnis in Olso einbrechen muss. Ich werde dich finden. Versprochen. Das waren Arens letzte Worte an sie gewesen. Es war erst wenige Wochen her. Damals hatte sie ihm geglaubt. Sie konnte sich noch daran erinnern, wie sie dachte, dass der mächtigste lebende Ruined sie natürlich retten würde.

Auf der Reise über das Meer ereilte sie dann die Realität. Als man sie in ihre Zelle steckte. Aren war niemals in Olso gewesen. Die Ruined standen kurz vor dem Krieg mit Lera. Seine Prioritäten lagen nicht bei ihr, und auf eine wundersame Rettung durch ihn zu hoffen, würde nur Enttäuschung nach sich ziehen.

Ein Ruf von draußen ließ sie aufhorchen. Durch die vorderen Fenster konnte sie eine große Menschenmenge sehen, die sich vor dem Gericht versammelt hatte. Die meisten von ihnen trugen schwarze oder braune Mäntel – die Mode in Olso war deutlich schlichter als die in Lera –, dazwischen blitzten auch ein paar rote Kriegeruniformen auf. Manche hielten Schilder hoch. Iria reckte sich, um sie lesen zu können.

WIR FORDERN DEN SIEG.

KÄMPFT GEGEN DIE RUINED.

Einige Demonstranten versuchten, in das Gerichtsgebäude zu gelangen, die Wachen hatten Mühe, sie zurückzuhalten.

Iria spürte, wie an ihren Ketten gezogen wurde, damit sie schneller ging, weg von den Demonstranten. In Lera und ihrem eigenen Land hatten die Krieger erniedrigende Niederlagen wegstecken müssen; es schien, als wären noch nicht alle bereit, den Kampf aufzugeben.

Die Wache öffnete die Tür zum Gerichtssaal. Die Bänke rechts und links von ihr waren gut gefüllt, dennoch war es still. Iria musste ein paar Tränen wegblinzeln, als sie zu den Menschen hinsah. Viele der Gesichter kannte sie.

Ihre Eltern entdeckte sie fast sofort. Ihre Mutter hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich umzudrehen, als Iria reinkam. Sie stand steif da, den Blick nach vorn gerichtet. Sie hatte schon für die kleinsten Dinge kein Verständnis, daher würde sie sicher kein Mitleid mit ihrer Tochter, der Verräterin, haben. Iria hatte es schon vorher gewusst, aber es tat dennoch weh. Ihr Vater hatte sich zu ihr umgedreht, er hatte Tränen in den Augen, in seinem Blick lagen Enttäuschung und Wut.

Am Ende des Raumes, auf einer erhöhten Plattform, saß der Richter. Links von ihm sah Iria noch eine Frau, die sie nicht kannte, wahrscheinlich irgendeine Regierungsangestellte, und rechts neben ihm erkannte sie August. Inzwischen König August, da Olivia beinahe seine gesamte Familie ausgelöscht hatte. Von allen Erbberechtigten in der Thronfolge Olsos hätte Iria August als Letzten gewählt.

Normalerweise wohnte der König solchen Prozessen nicht bei, aber Irias Fall schien etwas ganz Besonderes zu sein. Mit emotionsloser Miene beobachtete er, wie sie in den Saal gebracht wurde. Bei seinem Volk war er unbeliebt, da die Leute ihn für den Angriff der Ruined auf Olsos Schloss verantwortlich machten, berechtigterweise.

Vor dem Richter befand sich ein langer Tisch. Die Wache brachte sie hin, und sie blieb davor stehen, die Hände immer noch in Handschellen.

Iria wagte einen Blick über ihre Schulter. Hinter ihr entdeckte sie Daven, einen Jungen, mit dem sie vor ein paar Jahren kurz zusammen gewesen war. Er schaute sie mit einer solchen Verachtung an, dass sie sich wünschte, sie wäre gemeiner gewesen, als sie sich von ihm trennte.

Sie drehte sich wieder nach vorn. Der Richter bat um Ruhe im Saal, und das leise Flüstern aus den Reihen verstummte.

»Iria Ubino«, begann der Richter. »Ihr werdet des Verrats, des Mordes und der Konspiration mit dem Feind beschuldigt. Ihr könnt Euch nun zu diesen Vorwürfen äußern.«

Iria umklammerte ihre eigenen Hände, damit sie nicht so zitterten. »Ich habe niemanden umgebracht.«

Der Richter zeigte rechts neben Iria. »Krieger Rodrigo, könntet Ihr Euch zu den Vorwürfen äußern?«

Erst als Iria sich in die angedeutete Richtung drehte, bemerkte sie Rodrigo. Sie kannte ihn gut. Er war dabei gewesen, als sie mit Aren floh – und auch, als die anderen Krieger anfingen, die Ruined zu attackieren, ohne Vorwarnung, ohne Grund.

»Drei Krieger starben, als dieser Ruined, Aren, uns angriff und mit Iria weglief«, antwortete er.

Iria schaute zum Richter. »Und zwei Ruined starben. Die Krieger haben sie umgebracht.«

»So, wie es ihnen befohlen wurde«, fügte der Richter hinzu.

»Der Befehl war falsch.«

»Das ist nicht Eure Entscheidung. Ihr habt ein Gelübde abgelegt, immer den Befehlen der Anführer zu folgen. Drei Krieger starben, weil Ihr Euch nicht daran gehalten habt. Habt Ihr den Vorwürfen noch etwas hinzuzufügen?«

Tränen schossen ihr in die Augen. Kein Wunder in Sicht. Sie wusste gar nicht, womit sie hätte rechnen sollen – etwa Verständnis? Nicht, wenn es um die Ruined ging. Nicht, wenn Olivia gerade einen großen Teil des königlichen Schlosses niedergebrannt und fast die gesamte Königsfamilie ermordet hatte.

Ihr Blick wanderte kurz zu August. Das Einzige, was sie möglicherweise noch retten könnte, wäre eine Begnadigung von ihm.

Er starrte sie an, sein Gesichtsausdruck steinhart, dunkle Ringe unter seinen Augen, als hätte er in letzter Zeit zu wenig geschlafen. Er sah nicht einmal wütend aus, einfach nur … leer. Als könnte er sich nicht einmal dazu durchringen, irgendetwas zu empfinden. Er würde ihr nicht helfen.

»Sie waren doch unsere Verbündeten«, fuhr sie leise fort und wandte sich wieder von August ab. Dann räusperte sie sich und sprach lauter weiter, damit alle sie hören konnten. »Ich wurde losgeschickt, um ihnen zu helfen, und nun werde ich bestraft, weil ich genau das getan habe.«

»Eure Loyalität sollte immer uns gelten, niemals denen.« Der Richter schob ein paar Blätter vor sich zur Seite. »Ich habe alles gehört, was ich hören musste.«

»Nein, habt Ihr nicht!«, hallte eine vertraute Stimme durch den Gerichtssaal. Erschrocken drehte Iria sich um und bemerkte Bethania, die sich zwischen den sitzenden Menschen erhoben hatte, die Hände zu Fäusten geballt. Sie war so wütend, dass ihre wilden, dunklen Locken beinahe vibrierten. Diesen Blick kannte Iria gut. In dem einen Jahr, in dem sie beide ein Paar gewesen waren, hatte Bethania sie oft genauso angeschaut – sie hatten sich gegenseitig wahnsinnig gemacht.

»Ruhe bitte«, forderte der Richter.

»Seit Jahren ist sie schon eine loyale Kriegerin«, rief Bethania daraufhin. Iria war zwar erst seit vier Jahren Kriegerin, aber Bethania übertrieb gerne mal. »Sie musste die unmöglichsten Aufgaben übernehmen, Ihr verlangt von ihr, dass sie sich mit den Ruined anfreundet, und dann bestraft Ihr sie, wenn sie genau das tut? Was für ein Mensch würde denn einfach tatenlos zusehen, wie ein Freund umgebracht wird?«

Der Richter griff sich genervt zwischen die Augenbrauen. »Schafft sie bitte jemand aus meinem Gerichtssaal?«

Zwei Wachen packten Bethania an den Armen und zerrten sie zu den Türen. Sie wehrte sich heftig.

»Ihr seid genauso schlimm wie Lera, wenn Ihr das tut!«, schrie sie. »Ihr seid Feiglinge!« Die Wachen schoben sie durch die Tür, und ihre Stimme wurde leiser, als sie immer weiter weggeschleppt wurde.

Iria wischte ihre feuchte Wange an ihrer Schulter ab. Die harten Blicke im Saal ließen darauf schließen, dass es nicht viele gab, die Bethanias Meinung teilten. Selbst ihre Eltern standen einfach nur schweigend da.

»Iria Ubino, hiermit befinde ich Euch für schuldig in allen drei Belangen«, verkündete der Richter. »Ihr werdet zu lebenslänglicher Haft im Zentralgefängnis von Olso verurteilt.« Er starrte in die Richtung, in der Bethania verschwunden war. »Ich würde gern noch betonen, dass Ihr dafür in Lera die Todesstrafe erhalten hättet. Ihr solltet Euch also glücklich schätzen, eine Bürgerin Olsos zu sein, und ich hoffe, Ihr nutzt diese Zeit, um über Eure Taten nachzudenken.«

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