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Die Legende der vier Königreiche - Die komplette Saga (3in1)

DIE LEGENDE DER VIER KÖNIGREICHE - UNGEKRÖNT

Einst waren die vier Königreiche geeint. Nun herrschen Krieg und Zerstörung. Die Eltern von Emelina, der Prinzessin von Ruina, wurden vom König des Nachbarreiches Lera umgebracht und ihre Schwester verschleppt. Emelina will Vergeltung! Ihr Plan ist so grausam wie genial. Erst tötet sie die Verlobte von Cas, dem Thronfolger von Lera, dann nimmt sie deren Platz ein. Am Hofe des Feindes will sie den König und alles, was ihm teuer ist, auslöschen - auch Cas. Aber je mehr Zeit sie mit dem Prinzen verbringt, desto mehr will ihr Herz ihr Vorhaben vereiteln …

DIE LEGENDE DER VIER KÖNIGREICHE - VEREINT

Wieder vereint! Die Schwestern Emelina und Olivia wollen ihr Königreich Ruina zu alter Stärke zurückführen. Doch während Olivia nach ihrer Gefangenschaft auf Rache sinnt, hofft Emelina auf eine friedliche Lösung - nun, da Cas den Thron von Lera innehat. Aber die Spannungen zwischen den Schwestern bergen Gefahren. Ein zu allem entschlossener Gegner macht sich Emelinas Zerrissenheit zwischen Loyalität und Liebe zunutze und spinnt eine blutige Intrige …

DIE LEGENDE DER VIER KÖNIGREICHE - BESIEGELT

Lera soll fallen! Immer grausamer verfolgt Olivia ihr Ziel, die Truppen von Ruina zum Triumph zu führen. Doch ihre Schwester Emelina steht auf der Seite ihres geliebten Cas, des Königs von Lera. Und nicht nur sie weigert sich, Olivia blind auf dem blutigen Pfad der Vergeltung zu folgen. Auch das Volk ist gespalten, und eine kleine Gruppe Abtrünniger schließt sich Emelina an. Bald stehen sich die beiden Schwestern in feindlichen Lagern gegenüber - in einem Kampf, den nur eine gewinnen kann und der das Schicksal der vier Königreiche besiegeln wird …

»Die perfekte Mischung aus Fantasy, Abenteuer und Liebesgeschichte. Ich habe es in einem Rutsch verschlungen.«
SPIEGEL-Bestsellerautorin Amie Kaufman über »Die Legende der vier Königreiche - Ungekrönt«

»Die Legende der vier Königreiche - Ungekrönt ist so atemberaubend voller Action, Romantik und unerwarteter Wendungen, dass ich bis zur letzten Seite gefesselt war!«
SPIEGEL-Bestsellerautorin Kiera Cass

»Die Legende der vier Königreiche-Reihe bleibt einem im Gedächtnis; sie ist so spannend und gefühlvoll.«
VOYA


  • Erscheinungstag: 06.05.2019
  • Aus der Serie: E Bundle
  • Seitenanzahl: 1040
  • Altersempfehlung: 1
  • Altersempfehlung: 12
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959678797

Leseprobe

Cover

Amy Tintera

Die Legende der vier Königreiche - Die komplette Saga (3in1)

HarperCollins YA!®

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Copyright © 2017 by HarperCollins YA!®
in der HarperCollins Germany GmbH
Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der amerikanischen Originalausgabe:
Ruined
Copyright © 2016 by Amy Tintera
erschienen bei: HarperTeen, New York

Published by arrangement with HarperTeen,
an imprint of HarperCollins Publishers, LLC.

Covergestaltung: Formlabor, Hamburg
Coverabbildung: plainpicture / Baertels
Redaktion: Ira Panic

ISBN E-Book 9783959677301

www.harpercollins.de

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

1. Kapitel

Die Räder der Kutsche rollten knarrend über den Feldweg. Das Geräusch hallte durch den stillen Wald.

Ruhig kauerte Em hinter dem Baum und umklammerte den Griff ihres Schwerts mit jedem einzelnen Finger. Ein Eichhörnchen huschte über die staubige Straße und verschwand im dichten Gebüsch. Weder von der Prinzessin noch von ihren Wachen war etwas zu entdecken.

Em schaute über ihre Schulter zu Damian, der vollkommen regungslos hinter einem Busch hockte, ja, er schien nicht mal zu atmen. So war Damian – unglaublich schnell oder unglaublich still, je nach dem, was die Situation verlangte.

Auf der anderen Seite des Weges saß Aren mit gezogenem Schwert auf einem Ast.

Beide Jungs hatten ihre Blicke auf Em gerichtet und warteten auf ihr Signal.

Sie drückte ihre Hand gegen den Baumstamm und spähte dahinter hervor. Hinter ihr ging die Sonne unter, und sie konnte die weißen Wölkchen sehen, die ihr Atem in der kühlen Luft hinterließ. Sie zitterte.

Die erste Wache kam auf einem Pferd um die Kurve, leicht zu erkennen an seiner hellen gelb-schwarzen Uniform. Gelb war zwar die Farbe des Hauses der Prinzessin – der Vallos –, aber Em hätte darauf bestanden, dass ihre Leute Schwarz trugen. Außerdem hätte sie angeordnet, dass ein paar Soldaten die Umgebung um die Kutsche herum auskundschaften.

Anscheinend war die Prinzessin nicht so schlau. Oder sie fühlte sich in ihrem Königreich sicher.

Em konnte sich kaum daran erinnern, wie sich Sicherheit anfühlte.

Erneut zitterte sie, diesmal allerdings lag es nicht an der Kälte. Jede Faser ihres Körpers war in Alarmbereitschaft.

Die vierspännige Kutsche fuhr hinter der ersten Wache den Weg entlang. Insgesamt waren es fünf Mann Begleitschutz: einer vor dem Gefährt, einer an jeder Seite und zwei Wachen hinter der Kutsche. Alle saßen auf Pferden und waren mit Schwertern bewaffnet. Die Prinzessin musste also in der Kutsche sein.

Sechs gegen drei. Ems, Damians und Arens Chancen hatten schon viel schlechter gestanden.

Der vordere Reiter sagte etwas zu einem der anderen Männer, dann lachten beide. Die blauen Stellen auf ihrer Brust waren aus der Entfernung nicht zu erkennen, doch Em wusste, dass sie dort waren. Denn alle Soldaten, die mindestens zehn Ruined umgebracht hatten, trugen blaue Anstecknadeln. Für die ersten zehn gab’s die erste Nadel, für die nächsten zehn die zweite und so weiter.

Der Mann vor dem Gefährt hatte mindestens drei Stück.

Em freute sich schon darauf, ihm das Grinsen aus dem Gesicht zu wischen.

Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Damian und nickte ihm kaum merklich zu.

Langsam richtete Damian sich auf, in einer Hand einen Dolch, in der anderen ein Schwert. Er hob den Dolch und visierte sein Ziel an.

Die Klinge schoss durch die Luft.

Em schnellte hoch. Damians Dolch bohrte sich in den Hals des Mannes an der Seite der Kutsche; ein Schrei zerriss die Luft. Die Wache kippte aus dem Sattel, die anderen Gardesoldaten sprangen ab und zückten ihre Schwerter. Die Pferde wieherten panisch und eines galoppierte davon. Die Hufe klackerten auf dem Boden, als es zwischen den Bäumen verschwand.

Aren schwang sich von seinem Baum und landete auf zwei Wachen. Seine Klinge zischte durch die Luft und fand schließlich ihr Ziel.

Damian rannte auf den Soldaten zu, der versuchte, die seitliche Tür der Kutsche zu schützen. Das Gesicht der Wache war angstverzerrt, sein Grauen war förmlich greifbar.

Damit blieb nur einer übrig – der vor dem Gefährt. Er starrte Em direkt ins Gesicht. Noch fester umklammerte sie ihre Waffe, während sie auf ihn zustürmte.

Er griff hinter sich. Em hatte kaum Zeit, auf den Anblick des Bogens zu reagieren, da schoss schon ein Pfeil direkt auf sie zu. Sie wich zur Seite, doch der Pfeil schlitzte ihren linken Arm auf. Der kurze Schmerz ließ sie nach Luft schnappen, allerdings hatte sie keine Zeit, sich davon ausbremsen zu lassen. Denn er zog bereits einen weiteren Pfeil.

Sie rannte los, er zielte, sie konnte ausweichen, und das zweite Geschoss verfehlte sie nur haarscharf.

Plötzlich tauchte Damian hinter der Wache auf und stieß sein Schwert kraftvoll in den Rücken des Mannes. Der Soldat japste und fiel auf die Knie.

Em wirbelte herum und erblickte Prinzessin Mary, die mit gezücktem Schwert aus der Kutsche sprang.

Erleichterung stieg in ihr auf, als sie feststellte, dass sie beide denselben dunklen Haarton und den gleichen olivfarbenen Teint hatten. Jedoch waren Marys Augen grün, während die von Em dunkel waren. Außerdem waren die Gesichtszüge der Prinzessin fein und weich, was ihr eine Art Schönheit verlieh, die Em nie besitzen würde. Aber aus der Ferne wären die meisten Leute nicht in der Lage, die beiden auseinanderzuhalten.

Em hob ihr Schwert, da Mary sich näherte, allerdings stolperte die Prinzessin auf einmal zurück, als ob sie von einer unsichtbaren Macht weggezogen würde. Ihre Finger spreizten sich, und ihr Schwert glitt scheppernd zu Boden.

Aren stand hinter Mary, sein Blick war starr auf sie gerichtet, während er seine Ruined-Magie benutzte, um die Prinzessin festzuhalten.

Em verfügte über keine Zauberkräfte, dafür konnte sie besser als alle anderen mit einem Schwert umgehen.

Sie schaute Aren an und schüttelte den Kopf. Er gab Mary frei.

Em brauchte seine Hilfe nicht. Sie trat einen kleinen Schritt zurück, was der Prinzessin erlaubte, ihr Schwert aufzuheben.

Em wollte ihre Gegnerin schlagen, im wahrsten Sinne des Wortes. Sie wollte Marys Gesicht sehen, wenn sie erkannte, dass Em sie besiegt hatte.

Wut stieg in ihr auf, zögernd zunächst, als wäre Angst eigentlich die passendere, der Situation angemessenere Emotion, aber Em gab sich der Wut hin, ließ sie weiter anschwellen, bis sie so gegen ihre Brust drückte, dass ihr die Luft wegblieb.

Sie griff als Erste an, und Mary hob abwehrend ihr Schwert. Die Prinzessin behielt Damian im Auge, doch Em wusste, dass keiner ihrer Freunde ihr noch einmal zu Hilfe eilen würde, außer im äußersten Notfall. Ihnen war klar, dass Em das hier selbst erledigen musste.

Erneut rannte Em auf sie zu, Erde spritzte in die Luft. Mary schwenkte ihr Schwert, Em duckte sich und ließ die Klinge über ihren Kopf hinweg durch die Luft sausen. Wieder sprang sie auf und schlitzte Mary mit einer geschmeidigen Bewegung den rechten Arm auf.

Erschrocken schnappte die Prinzessin nach Luft und stolperte. Em nutzte den Moment der Schwäche aus. Sie stieß mit ihrem Schwert gegen Marys und schlug ihrer Gegnerin die Waffe aus der Hand.

Em trat einen Schritt nach vorn und zielte mit der Spitze ihres Schwertes auf den Hals der Prinzessin. Ihre Hände zitterten, und sie schloss sie fester um den Schwertgriff. Diesen Teil des Plans war sie in Gedanken schon Hunderte Male durchgegangen, doch sie hatte nicht mit dem unwohlen Gefühl in ihrem Bauch gerechnet.

„Weißt du, wer ich bin?“, fragte Em.

Mary schüttelte den Kopf, dabei hob und senkte sich ihre Brust deutlich.

„Ich glaube, du kanntest meinen Vater?“, fuhr Em fort. „Du hast ihn umgebracht und seinen Kopf aufgespießt, damit ich ihn finde.“

Mary presste ihre Lippen zusammen, ihr Blick glitt von Em zu der Klinge an ihrem Hals. Sie öffnete den Mund, brachte aber erst nur eine Art Quieken zustande, bevor sie zum Sprechen ansetzte. „Ich …“

Sie brach ab, bückte sich und fasste nach etwas an ihrem Knöchel. Mit einem Dolch in der Hand schnellte sie wieder hoch und stürzte sich auf Em.

Em sprang zur Seite, einen Anflug von Panik niederkämpfend. Falls Mary sie tötete oder flüchtete, würde der gesamte Plan in sich zusammenfallen.

Wieder schwang Mary den Dolch in ihre Richtung, doch Em packte ihre Gegnerin an der Hand, in der sie Waffe hielt, und riss ihr den Arm hoch

Und dann rammte sie ihr Schwert mitten in die Brust der Prinzessin.

Die blauen Anstecknadeln fielen leise klirrend auf den Boden. Em zählte mit, während Damian, Aren und sie der toten Vallos-Garde die Uniformen vom Leib zerrten. Insgesamt neun Anstecknadeln. Neunzig ermordete Ruined, allein von diesen fünf Männern.

Em bückte sich und hob die Abzeichen auf. Zwei ineinander greifende Ringe symbolisierten die Vereinigung zweier Länder – Lera und Vallos – in ihrem Kampf gegen die gefährlichen Ruined. Das Schwert, das über den Ringen lag, stand für ihre Stärke.

Em ließ fünf Anstecknadeln in Arens Hand sinken. „Mach die an deine Jacke.“

„Aber…“

„Die Soldaten der Lera werden Respekt vor dir haben. Warte mal …“ Sie legte eine weitere dazu. „Nimm lieber sechs. Du wirst ein Held sein.“

Aren verzog das Gesicht, als hätte er in etwas Saures gebissen, aber er brachte stillschweigend die Anstecknadeln wieder an einer der Jacken an. Er schlüpfte erst mit einem Arm in die gelb-schwarze Jacke, dann auch mit dem anderen, schloss die fünf goldenen Knöpfe und strich den Stoff mit seiner Hand glatt.

„Sehe ich aus wie eine Wache der Vallos?“ Er griff nach seinem Schwert. „Wartet. Das Ganze wirkt realistischer, wenn ich dabei mit meinem Schwert herumfuchtele, als hätte ich keine Ahnung, wie man es benutzt. Jetzt wirkt es richtig, oder?“ Er grinste breit, wobei die Grübchen in beiden Wangen zum Vorschein kamen.

Em schnaubte. „Perfekt.“ Sie zeigte auf die Stelle über seiner Augenbraue, wo Blut auf seiner dunklen Haut schimmerte. „Du blutest.“

Schnell wischte Aren sich über die Stirn, während Em die drei Abzeichen, die noch übrig waren, in Damians Hand fallen ließ. „Lass die hier verschwinden. Wir wollen doch nicht, dass Jäger sie entdecken und misstrauisch werden.“

Damian steckte die Anstecknadeln in seine Tasche. „Ich verbrenne sie zusammen mit den Leichen.“

Ems Blick glitt zu dem Wagen hinter ihm, auf dem die Prinzessin und ihre Wachen lagen. Eine Strähne von Marys dunklem Haar blitzte unter der Decke hervor und hing fast bis auf den Boden.

Em schaute wieder weg. Ihre Mutter hatte immer beteuert, die einzige Möglichkeit, Frieden zu finden, sei, alle zu töten, die ihn bedrohten. Doch das beklemmende Gefühl in ihrer Brust blieb.

„Ich sollte mich so schnell wie möglich um die Leichen kümmern“, sagte Damian leise.

Em nickte und schaute Damian an, nur um sofort den Blick auf den Boden zu senken. Er hatte erneut diesen Gesichtsausdruck, bei dem sich ihr Herz schmerzhaft zusammenzog. Es war eine Mischung aus Traurigkeit, Hoffnung und vielleicht sogar Liebe.

Er trat einen Schritt auf sie zu, und sie schlang die Arme um ihn. Sein vertrauter Geruch umhüllte sie. Er wusste, dass sie seine Gefühle nicht erwidern konnte. Nicht im Moment. Der brennende Wunsch nach Rache, der in ihr brodelte und sich aufbäumte, ließ keinen Platz für etwas anderes. Manchmal legte sich das Bedürfnis ein wenig, dann dachte Em schon, dass es vielleicht ganz verschwinden würde, aber es kam immer wieder.

Auch in diesem Moment war Em zurück in ihrem Zuhause, spürte den Qualm in ihren Lungen und die Tränen in ihren Augen, als sie um die Ecke spähte und mitansehen musste, wie König Salomir sein blutiges Schwert aus der Brust ihrer Mutter zog. Sie hörte die Schreie ihrer Schwester, während die Soldaten sie wegzerrten. Fand ihren Vater ein paar Wochen später, nachdem Prinzessin Mary ihn ermordet hatte.

Vielleicht wäre sie ja imstande, etwas anderes zu fühlen, wenn sie erst den König und seine Familie umgebracht hatte. Vielleicht könnte sie Damian dann genauso ansehen, wie er sie anschaute.

Sie versuchte, ihm zuzulächeln. Ein Kloß hatte sich in ihrem Hals geformt und ihr Lächeln ähnelte wahrscheinlich eher einer Grimasse. Sie beobachtete, wie Damian sich von Aren verabschiedete.

„Ich sollte morgen Abend zurück im Camp der Ruined sein“, sagte er dann und blieb neben einem der Pferde stehen, die den Wagen zogen. Er sah Em an. „Bist du sicher, dass ich denen nicht sagen soll, dass du auf der Suche nach Olivia bist? Sie sollten doch wissen, dass ihre Königin möglicherweise zurückkehrt. Dass es zumindest eine Chance gibt.“

Em schüttelte den Kopf. „Noch nicht. Sie haben dich als ihren Anführer gewählt, sie brauchen jetzt jemanden, auf den sie sich verlassen können. Mach ihnen lieber keine Hoffnungen.“

Bei dem Wort „Anführer“ breitete sich ein Ausdruck des Bedauerns auf seinem Gesicht aus. Er war ein guter Anführer, obwohl er noch jung war. Dennoch hatte er diese Position nur, weil die Ruined sich von Em abgewandt hatten. Sie mochte zwar die Thronerbin sein, da ihre Mutter tot war und ihre Schwester als vermisst galt, aber sie war nutzlos. Eine Unbegabte und daher ungeeignet als Anführerin, hatte es geheißen, als die Ruined vor einem Jahr darauf bestanden, dass Damian diese Rolle übernahm.

„Beschütze sie“, bat ihn Em. „Ich warte auf Nachricht von dir.“

Damian kletterte in den Wagen, dabei schlug er sich einmal mit seiner rechten Faust gegen die Brust. Der Faustschlag war der offizielle Gruß an die Königin von Ruina – eine Huldigung, die ihr außer Damian und Aren nie jemand erwiesen hatte. Em blinzelte die Tränen in ihren Augen weg.

Sie hob ihre Hand und winkte Damian zum Abschied. Er erwiderte die Geste. Auf seiner Hand und seinem Handgelenk waren die Zeichen der Ruined zu erkennen, eine Erinnerung daran, wieso er nicht mal daran denken durfte, auf ihren Rachefeldzug mitzukommen. Denn diese Zeichen offenbarten der Welt, dass er ein Ruined mit magischen Kräften war. Em besaß diese Magie nicht, daher trug sie auch keine Symbole.

Inzwischen war es komplett dunkel geworden, und Damians Gestalt verschwand schnell zwischen den Bäumen, während das Klappern der Hufe noch länger durch die Nacht hallte.

Em wandte sich zu Aren um, der seinen Kragen von seinem vernarbten Hals wegzog. Aren hatte es nur knapp aus dem brennenden Schloss von Ruina geschafft, und der Großteil seines Oberkörpers war ein Beweis dafür. Die Brandnarben verdeckten die Zeichen seiner Magie, da das Feuer alle Spuren seiner Symbole ausgelöscht hatte. Seine Zeichen waren wunderschön gewesen – weiß auf seiner dunklen Haut, die schmalen Linien waren verwoben und zogen sich spiralförmig über seine gesamten Arme, seinen Rücken und seinen Oberkörper.

„Bereit?“, fragte er leise.

Em griff nach ihrer Kette und strich mit dem Daumen über das Silber. Oh nein. Sie plante das hier schon seit fast einem Jahr, doch sie war niemals bereit dafür gewesen.

„Wir sollten es bis zum Morgengrauen zur Grenze von Lera schaffen.“ Aren ging zur Kutsche und kletterte hinauf. Dann deutete er hinter sich. „Willst du in der Kutsche fahren, wie eine echte Prinzessin der Vallos?“

Em lief auf eines der Pferde zu. „Noch nicht. Ich reite ein bisschen voraus, um die Gegend auszukundschaften. Ich steige ein, sobald wir in die Nähe der Grenze kommen.“ Sie schwang sich in den Sattel, schaute zu Aren und sah, dass ihr Freund sie beobachtete. „Was?“

„Deine Mutter wäre stolz auf dich, Em.“ Er beugte seinen Kopf leicht nach vorn, als er die tote Königin erwähnte.

„Das hoffe ich.“ Die Worte kamen nur als ein Flüstern über ihre Lippen. Sie war sich sicher, dass ihre Mutter rasend vor Wut wäre, weil Em es zugelassen hatte, dass ihre jüngere, wehrlose Schwester vom König der Lera entführt wurde. Sie hätte Olivia beschützen müssen, aber sie hatte versagt.

Doch sie würde es wieder gutmachen. Sie würde ihre Schwester retten und den Mann umbringen, der sie mitgenommen und ihre Mutter getötet hatte.

Lass die Menschen dich fürchten, Emelina. Die Worte ihrer Mutter hallten in ihrem Kopf wieder. Hör auf, dir Gedanken darüber zu machen, was du nicht hast, und konzentriere dich darauf, was du hast. Lass die Menschen erbeben, wenn sie deinen Namen hören. Angst ist deine Macht.

Wenda Flores hatte die glorreichen Zeiten, in denen die Ruined gefürchtet waren für ihre Magie und wie Götter verehrt wurden, nicht mehr selbst kennengelernt, aber sie hatte sich stets danach gesehnt. Ihr größter Wunsch war gewesen, die Menschen dazu zu bringen, sich aus Angst vor ihr zu verneigen.

Em reckte das Kinn und schaute nach vorn.

Niemand fürchtete Emelina Flores, die nutzlose Tochter der mächtigsten Königin, die Ruina jemals gehabt hatte.

Aber das würden sie noch.

2. Kapitel

Cas wich geschickt zur Seite aus und entkam dadurch gerade so eben dem Schwerthieb auf Höhe seines Halses. Dabei blieb er mit dem Fuß an einem Stein hängen und stolperte, sodass er die Arme ausbreiten musste, um nicht vornüberzufallen.

Das Schwert seines Gegners pikste ihm in die Brust. Bedauerlich.

„Tot.“ Galo grinste ihn an und zog seine stumpfe Klinge zurück. „Erschöpft, Euer Hoheit?“

Cas trat einen Schritt zurück und strich sich mit der Hand durch die leicht verschwitzten Haare. Die Sonne knallte heiß auf den Schlosshof. „Ich bin tatsächlich etwas erschöpft. Vermutlich weil ich die ersten vier Runden gewonnen habe.“

Lachend breitete der Wachsoldat die Arme aus. Er atmete immer noch schwer vom Kampf. „Ich wiege dich eben gern erst in Sicherheit. Dann fange ich richtig an.“

Cas lachte ebenfalls und nahm sein Schwert in die linke Hand, um die Ärmel seines weißen Hemds hochzukrempeln. Seine Jacke lag auf dem Boden und war voller Erde, die sie mit ihren Schritten aufgewirbelt hatten. Seine Mutter würde nicht glücklich darüber sein.

„Noch eine Runde, los.“ Cas hob auffordernd das Schwert.

„Vielleicht solltest du dich einen Augenblick ausruhen.“ Galo stützte seine Hände auf seine Oberschenkel, ließ das Schwert von den Fingern baumeln und atmete geräuschvoll aus. „Du siehst fertig aus.“

„Klar doch. Ich bin derjenige, der fertig aussieht.“

Galo richtete sich wieder auf und blickte zum Schloss. Die weißen Mauern ragten neben ihnen auf und warfen mächtige Schatten über die Gärten. An einem der Rundbogenfenster im ersten Stock war eine Magd zu sehen, die einen Teppich ausklopfte.

„Oder vielleicht sollten wir lieber aufhören.“ Galo zeigte auf die eingestaubte Jacke auf dem Boden. „Du wirst nach Dreck und Schweiß riechen, wenn deine Braut hier eintrifft.“

Cas ließ das Schwert auf seine Jacke fallen, die dadurch nicht sauberer wurde. „Sie ist seit Tagen unterwegs. Sie riecht sicherlich auch nicht besser. Dann sind wir quitt.“

„Wie rücksichtsvoll von Euch, Hoheit.“

Galo nannte ihn nur „Hoheit“, wenn er sich über ihn lustig machte. Cas warf ihm einen wenig amüsierten Blick zu. Galo war zwei Jahre älter als er und ihm in seinen drei Jahren als Wachsoldat eher ein Freund geworden als jemand, der ihn mit seinem Titel ansprechen sollte.

„Hast du schon gehört, dass nach der Hochzeit eine Abordnung Olso-Kämpfer hierherkommt?“, fragte ihn Cas.

„Habe ich nicht“, antwortete Galo und strich sich durch sein dunkles Haar. „Wieso?“

„Verhandlungen. Sie haben wohl ein paar Probleme mit der Tatsache, dass Lera seit dem letzten Krieg ihren Haupthafen kontrolliert und würden das entsprechende Abkommen gern nachbessern. Aber ich glaube, mein Vater hat dem Besuch nur zugestimmt, damit er angeben kann.“

„Womit genau angeben?“

„Nach meiner Hochzeit kontrolliert Lera immerhin Vallos und Ruina.“ Cas lachte. „Das ist ziemlich beeindruckend. Er kann es nicht lassen, damit zu prahlen, dass er mir zwei Königreiche mehr hinterlässt, als sein Vater ihm hinterlassen hat. Natürlich ist eines davon Ruina, also nicht wirklich etwas, womit man angibt.“

„Außer man ist ein Fan von toten Feldern und grauem Himmel.“

„Ich habe ihn gefragt, ob ich Ruina mal besuchen könnte, die Minen, aber …“ Cas zuckte mit den Schultern. „Vielleicht ist es immer noch zu gefährlich.“

„Casimir? CASIMIR!“

Cas drehte sich zum Schloss um, woher die Stimme seiner Mutter ertönte. Sie kam auf den Balkon der Bibliothek im ersten Stock gerauscht, der Rock ihres hellblauen Kleides raschelte um ihre Knöchel. Sie stützte ihre Hände auf ihre Hüften.

„Sie wurde am Ende der Straße gesichtet“, rief sie ihnen zu.

Cas’ Herz zog sich zusammen. „In Ordnung.“

„Du könntest wenigstens so tun, als ob du dich freust.“

„Ich bin erfüllt von Aufregung und Vorfreude. Ich kann wirklich kaum an mich halten.“ Ein falsches Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Wie war das?“

Galo überdeckte sein Lachen durch Hüsteln. Cas’ Mutter seufzte genervt und marschierte zurück ins Schloss.

„Ich sollte lieber gehen.“ Cas griff nach seinem Schwert und reichte es Galo. Dann hob er seine Jacke vom Boden und schüttelte den Staub ab.

„Viel Glück“, wünschte ihm Galo, dann runzelte er die Stirn. „Sagt man das in so einer Situation?“

Cas hob eine Schulter. Es gab nicht viel, was man jemandem sagen könnte, der auf dem Weg war, die Frau zu treffen, die er heiraten musste. Versuch, nicht zu kotzen, wäre vielleicht die beste Wahl.

Er lächelte Galo verkrampft zu und sprang die Stufen hoch. Oben angekommen, packte er die Klinke der massiven Holztür. Er stieß die Tür auf, und seine Augen mussten sich erst mal an die dunkle Beleuchtung im Bediensteten-Esszimmer gewöhnen. Links von ihm trat ein Junge rücklings durch die Tür zur Küche, gefolgt von Gebrüll und Pfannengeklapper. Er hielt ein Tablett mit Gebäck in den Händen und blieb abrupt stehen, als er den Prinzen sah.

Im Vorbeilaufen nickte Cas dem Jungen zu und steuerte die Tür an, die zum Gang führte. Durch die Fenster auf der rechten Seite strömte Licht in den Korridor, was die Wände am Nachmittag beinahe rosa erscheinen ließ. Später würden sie in Rot leuchten. Jeder Korridor war in einer anderen Farbe gestrichen, und als Cas um die Ecke bog, bemerkte er zwei Bedienstete, die gelbe Blumen vor den hellgrünen Wänden aufstellten.

Das ganze Schloss vibrierte scheinbar vor Lärm, während er ins Foyer ging. Ein Diener schmückte das Treppengeländer mit weiteren Blumen, die er mit blauen Schleifen befestigte. Die Luft prickelte geradezu vor Aufregung und Vorfreude, während die Bediensteten alles für die Ankunft der neuen Prinzessin vorbereiteten. Beim Anblick ihrer erwartungsvollen Gesichter grauste es Cas nur noch mehr.

Er stellte sich neben seine Mutter und seinen Vater, die vor der Tür am Haupteingang standen.

„Du bist ganz dreckig“, bemerkte seine Mutter und nahm ihm die Jacke ab. Sie klopfte sie mit der Hand ab und versuchte, sie vom Staub zu befreien. „Musstest du unbedingt mit diesem Soldaten kämpfen, bevor sie ankommt?“

Der König schlug seinem Sohn auf die Schulter. „Er ist nur nervös. Verbrennt etwas Energie.“

„Bin ich nicht.“ Doch, war er.

Vielleicht war nervös nicht das passende Wort. Cas war sich schon immer darüber im Klaren gewesen, dass er jemanden heiraten würde, den seine Eltern für ihn aussuchten. Er hatte es gewusst, aber er war nicht wirklich darauf vorbereitet, wie es sich tatsächlich anfühlte. Nämlich ungefähr so, als würde sein Magen bis zu seinen Füßen rutschen und sein Kopf gleichzeitig explodieren.

Wie nannte man das?

„So, besser wird es nicht“, meinte seine Mutter und gab ihm seine Jacke zurück. Er zog sie über.

Versuch wenigstens, mit ihr zu reden“, bat der König ihn. „Es ist unangenehm für die anderen, wenn du einfach nur dastehst und schweigst.“

„Ich habe nicht immer was zu sagen.“

„Dann denk dir etwas aus“, erwiderte sein Vater gereizt.

Die Königin schritt zur Tür und winkte ihrem Mann und ihrem Sohn, ihr zu folgen. „Kommt ihr beiden.“ Sie ließ den König an sich vorbeilaufen und legte eine Hand auf Cas’ Arm. „Keine Sorge, Cas. Ich bin sicher, sie wird recht angetan von dir sein.“

Er schüttelte sie ab, versuchte allerdings, so zu lächeln, dass sie ihm auch glaubte. Recht angetan von dir. Wie lächerlich. Es war eine Zweckehe, und Mary wusste so viel über ihn wie er über sie. Also nichts.

Sie schritten nach draußen in die Sonne, Cas hinter seinen Eltern her. Ungefähr zehn Angestellte und mehrere Wachen von Cas’ Garde waren in zwei ordentlichen Reihen aufgestellt.

Cas stieg die Stufen vom Schlosseingang hinunter und nahm seinen Platz neben seinen Eltern ein, während das Tor sich langsam öffnete. Er verschränkte seine Hände auf dem Rücken, dann zog er an jedem Finger seiner linken Hand einzeln, bis er das Knacken seiner Knöchel spürte. Sein Herz klopfte so laut, dass seine Ohren rauschten. Er bemühte sich darum, eine neutrale Miene aufzusetzen.

Vom Schloss zum vorderen Tor führte ein Pfad, an beiden Seiten von üppigen, grünen Büschen gesäumt, die sauber zu quadratischen Hecken getrimmt waren. Zwei Wachen zogen das eiserne Tor auf und huschten aus dem Weg, als Leras königliches Geleit auf Pferden Einzug hielt.

Hinter ihnen kam eine kleine Kutsche, die schon mal bessere Tage gesehen hatte. Dreck und Schlamm bedeckten die Räder, aber das war nicht anders zu erwarten, nach einer Reise durch den Lera-Dschungel. Der Hauptteil war in schlichtem Grau mit einem Fenster aus Glas an beiden Seiten. Die Fenster waren geöffnet, und das auf Cas’ Seite sah aus, als würde es jeden Moment aus den Angeln fliegen. Ein Vorhang versperrte einem den Blick ins Innere der Kutsche.

Ein junger Mann in einer Vallos-Uniform saß auf dem Kutschbock und hielt die Zügel. Cas hätte ein größeres Geleit erwartet, aber er war der Einzige, der das Gelb der Vallos trug. Seltsam. Cas nahm immer mehrere Wachen mit, wenn er länger unterwegs war.

Der Vallos-Soldat hielt die Pferde an, sprang von dem Gefährt und zog sich die Jacke zurecht. Seine Hände waren mit Narben bedeckt, als wäre er verbrannt worden, und Cas versuchte, nicht hinzustarren, während der Mann die Tür der Kutsche öffnete. Er hatte noch nie derart entstellte Haut gesehen.

Zuerst war nur eine Hand zu erblicken. Der Soldat ergriff sie und trat zurück, als auch der dunkle Kopf dazu auftauchte.

Prinzessin Mary sprang aus der Kutsche, wobei sie die Stufe ignorierte und bei ihrer Landung entsprechend Staub aufwirbelte.

Sie war groß, langbeinig und trug ein gelbes Kleid, das an der Brust recht eng war. Außerdem war es zu kurz und zeigte ihre Knöchel. Cas fragte sich, ob seine Braut kürzlich noch gewachsen war oder nur eine schlechte Näherin hatte. Ein paar Strähnen ihres dunklen Haares hatten sich aus dem Zopf gelöst, was ihr einen wilden, zerzausten Anblick verlieh.

„Die Gerüchte über ihre Schönheit waren … übertrieben“, murmelte Cas’ Vater.

Cas hatte tatsächlich eine Sache über Mary gewusst, da ihre Eltern noch geschrieben hatten, bevor sie starben. Und zwar, dass sie „wunderschön“ war, „entzückend“ und „so hübsch und zart“. Aber das Mädchen, das jetzt vor ihnen stand, war nichts davon. Sie hatte scharfe Konturen und strenge Züge. Nichts an ihr schien auch nur ansatzweise zart.

Der Wachsoldat gestikulierte unbeholfen in Marys Richtung. Er war offensichtlich normalerweise nicht dafür zuständig, sie vorzustellen. „Prinzessin Mary Anselo von Vallos.“ Cas dachte, dass sie Mary vielleicht mit „Königin Mary“ ansprechen würden, aber genau genommen hatte sie den Thron nicht bestiegen, nachdem ihre Eltern gestorben waren. Vallos gehörte jetzt Cas’ Vater.

Marys Blick wanderte sofort zu Cas. Sie hatte dunkle, durchdringende Augen, umgeben von langen Wimpern. Die Haut darunter war auch etwas dunkel, was sie entweder müde oder wütend aussehen ließ. Vielleicht auch beides.

Cas neigte zur Begrüßung leicht den Kopf, dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Bäume in der Ferne. Es war weniger wahrscheinlich, die Nerven zu verlieren, wenn er keinen Augenkontakt hatte.

Der Bote trat vor und deutete schwungvoll auf das Königspaar. „Seine Majestät, König Salomir Gallegos. Ihre Majestät, Königin Fabiana Gallegos. Und seine Hoheit, Prinz Casimir Gallegos.“

„Es ist schön, dich kennenzulernen, Mary“, sagte Cas’ Mutter und verbeugte sich dezent. Dann trat sie einen Schritt auf Mary zu und umfing deren Hand mit ihren beiden. Das Mädchen schien davon überrascht und lehnte sich zurück, als wollte es weglaufen.

Cas konnte es ihr nicht verübeln. Er spielte selbst mit dem Gedanken wegzulaufen.

„Es ist ebenfalls schön, Sie kennenzulernen“, erwiderte Mary leise.

Der König strahlte sie an, so wie er es bei jeder Frau tat. „Es ist mir ein Vergnügen.“

Einer von Marys Mundwinkeln zog sich zu so etwas wie einem Lächeln nach oben. Oder zu einer Grimasse. Cas fand es schwierig, ihre Gesichtsausdrücke einzuordnen.

„Das hier ist mein Gardesoldat, Aren“, sagte Mary. Der junge Mann kam nach vorn.„Hast du nur den einen mitgebracht?“ In der Frage des Königs schwang leichtes Misstrauen mit.

„Viele der Vallos-Soldaten sind auf der Jagd nach den Ruined“, antwortete Mary. „Ein paar haben mich bis zur Grenze von Lera begleitet, aber ich dachte, es wäre das Beste, sie dorthin zurückzuschicken, wo sie gebraucht werden.“ Ihr Mund verzog sich zu etwas, das immer noch nicht ganz wie ein Lächeln aussah. „Sie haben so viele hervorragende Wachleute hier in Lera.“

„Wie wahr.“ Der König grinste breit, als er Julio, dem Oberhaupt von Cas’ Wache, ein Zeichen gab. „Nimm Aren mit nach drinnen und zeig ihm die Räumlichkeiten.“

Aren warf sich eine Tasche über die Schulter und folgte Julio ins Schloss.

Mutter und Vater drehten sich zu Cas, als würden sie erwarten, dass er etwas sagte, aber sein Mund war völlig ausgetrocknet.

Mary starrte ihn ebenfalls an, als erwartete sie etwas von ihm, und plötzlich hatte er das Bedürfnis, nie wieder zu sprechen. Ihre Blicke trafen sich, und es fühlte sich sofort danach an, als wäre das hier ein Wettkampf, wer sich als Erstes unwohl fühlen würde. Cas war ziemlich sicher, dass er diesen Wettbewerb jedes Mal gewinnen würde.

„Großartig“, meinte die Königin. Der König sah seinen Sohn mit großen Augen an. Cas’ Mutter streckte ihren Arm aus und hakte sich bei Mary ein, um sie zum Schloss zu führen. „Werden deine Sachen demnächst gebracht?“

„Alles, was ich besitze, ist in der Kutsche.“ Sie sagte es nicht so, als würde sie sich dafür schämen. Cas warf noch einen Blick auf die kleine Kutsche. Es passte wohl kaum mehr als ein Gepäckstück hinein.

„Das ist in Ordnung, ein Neuanfang ist schön“, erwiderte die Königin schmeichelnd. „Ich schicke sofort jemanden hoch, der deine Maße nimmt. Ich habe gehört, dass du dich für Kleider interessierst?“

„Wer tut das nicht?“

Cas beobachtete, wie die beiden Frauen die Stufen hinaufgingen und hinter den schweren Holztüren verschwanden. Er hatte absolut kein Wort mit ihr gewechselt. Vielleicht hätte er sie zumindest fragen sollen, wie ihre Reise war oder ob sie irgendetwas brauchte.

Der König seufzte. „Ich nehme mal an, du hättest es schlechter treffen können als mit Mary.“

„Wir sollten den Priester anweisen, genau das bei der Trauung zu sagen“, schlug Cas vor. „Und nun vereinen wir Casimir und Mary. Beide hätten es schlechter treffen können.“

3. Kapitel

Ein Klopfen an der Tür riss Em aus dem Schlaf. Sie schreckte hoch und schnappte nach Luft; die Decke lag zerwühlt am Fußende. Sie rollte vom Bett hinunter, stieß einen spitzen Schrei aus und landete mit einem dumpfen Schlag auf den Boden.

Sie zuckte zusammen und schob sich die Haare aus dem Gesicht. Ein Wunder, dass sie überhaupt eingeschlafen war. Als die ersten Sonnenstrahlen durch die Vorhänge schienen, war sie noch wach gewesen. Es war schwierig, in einem Schloss voller Feinde zur Ruhe zu kommen. Sie hatte fast ein Jahr damit verbracht, diese Infiltration zu planen, aber in Wirklichkeit war alles anders. Von Menschen umgeben zu sein, die sie töten würden, wenn sie wüssten, wer sie wirklich war, machte sie unruhiger, als sie erwartet hatte.

„Eure Hoheit?“, rief jemand vor der Tür.

Em stand auf und strich ihr Nachthemd glatt. „Ja?“

Die Tür öffnete sich, und sie sah Davina, eine ihrer Zofen, die ein Tablett mit Essen trug. Eine ihrer Zofen. Das Leben, das diese Menschen führten, war einfach lächerlich. Ems Mutter hatte keine Zofen gehabt.

Eine Zofe ist eine potenzielle Spionin, hatte sie immer gesagt.

Davina hielt das Tablett hoch. „Ich habe Euch Frühstück gebracht, Eure Hoheit. Außerdem hat die Königin nach Eurer Anwesenheit verlangt.“ Sie stellte das Tablett auf dem Tisch in der Ecke des Zimmers ab und drehte sich mit einem Lächeln auf ihrem jungen, hübschen Gesicht zurück zu Em. Auf dem Tablett lag ein Messer, das Em genau betrachtete, um einzuschätzen, wie scharf es war. Drei schnelle Schritte durchs Zimmer, und sie könnte an Davina vorbei nach dem Messer greifen und es ihr in den Hals stechen, bevor die Zofe überhaupt mitbekäme, was passiert. Höchstens fünf Sekunden.

Em verdrängte den Gedanken. Sie musste ihre Zofe nicht umbringen, jedenfalls im Moment noch nicht. „Verlangt meine Anwesenheit wobei?“

„Bei der Anprobe des Hochzeitskleides, Eure Hoheit.“

„Ah, genau.“ Sie versuchte, nicht so auszusehen, als würde ihr bei dem Gedanken an ihr Hochzeitskleid speiübel.

„Der Bündniskampf ist heute Nachmittag“, ergänzte Davina. „Die Königin möchte zuerst die Anprobe durchführen.“

Sollte sie wissen, was der Bündniskampf war? Was auch immer es war, es klang nicht gut.

„Natürlich“, antwortete Em. „Ich beeile mich mit dem Anziehen.“

Davina machte eine Geste, als wollte sie bleiben und ihr dabei helfen, aber Em schüttelte den Kopf.

„Das schaffe ich schon. Ich rufe dich, wenn ich so weit bin.“

Davina zögerte, ging aber dann zur Tür. „Soll ich draußen vor der Tür warten?“

„Ja, bitte“, sagte Em.

Em seufzte, als Davina durch die Tür verschwand. Die Zofe hatte Tee und eine dicke Scheibe merkwürdig aussehendes Brot dagelassen. Em brach ein Stück davon ab und steckte es in den Mund. Es war süß und herrlich; schnell hatte sie das ganze Stück vertilgt. Das letzte Jahr über war gutes Essen nicht gerade an der Tagesordnung gewesen.

Sie blickte sich in ihrem Zimmer um. Sie hatte nicht mal wirklich ein Bett gehabt im vergangenen Jahr, und jetzt verfügte sie über ein Wohnzimmer, ein Büro und ein Schlafzimmer. Durch die großen Fenster an der einen Wand hatte sie eine schöne Aussicht über die Gärten. Das Zimmer war in Blau gehalten, der offiziellen Farbe der Lera. Der Sessel in der Ecke war blau, die Tapete war blau, und die Bettwäsche war blau.

Alles war makellos und wunderschön, und Em wollte alles in Stücke schlagen. Die Leute hier lebten so, während die Ruined aus ihren Häusern vertrieben wurden und alle paar Tage weiterziehen mussten, nur um am Leben zu bleiben.

Em würde dieses Schloss bis auf die Grundmauern niederbrennen, bevor sie hier fertig war, so viel stand fest. Sie konnte immer noch den Qualm des Tages riechen, an dem der König ihr Zuhause in Flammen aufgehen ließ, ihre Mutter tötete und ihre Schwester entführte. Es war nur gerecht, sich zu revanchieren.

Sie stürzte den Tee herunter und zog Marys scheußliches pinkfarbenes Kleid an. In Vallos war das Wetter kühler als in Lera, und die Menschen waren oft von Kopf bis Fuß komplett bedeckt. Marys Kleider waren steif, langärmelig und eher funktional als schön. Sie waren ungeheuer deprimierend.

Das Kleid fühlte sich zu kurz und zu eng an, genau wie das Kleid, das sie gestern getragen hatte. Dafür verdeckte der weite Rock ausreichend, dass es nicht passte.

Ems Kette hing mittig auf ihrer Brust, und für einen Moment umschloss sie den Anhänger mit ihrer Hand. Das silberne O stand für Olivia, und sie hatte erwogen, das Schmuckstück zurückzulassen, als sie in Marys Rolle schlüpfte, aber sie trug diese Kette jeden Tag, seit sie sie bei der Ruine ihres Schlosses im Schutt gefunden hatte. Falls sie Olivia jemals finden würde, würde sie ihr die Kette zurückgeben.

Wenn sie Olivia fand. Sie wusste nicht, wieso der König ihre Schwester entführt hatte, statt sie einfach umzubringen, aber nichts würde sie davon abhalten, es herauszufinden und Olivia zu retten.

Sie ließ die Kette los, und der Anhänger fiel wieder auf ihre Brust. Sollte sie jemand darauf ansprechen, könnte sie einfach behaupten, dass es sich um einen schlichten Kreis handelte. Ein Geschenk ihrer Eltern.

Sie zog ihr Haar zurück und band es zu einem einfachen Dutt. Davina kam wieder ins Zimmer, knöpfte Em das Kleid im Rücken zu und begleitete sie aus dem Zimmer.

Nahe der Tür stand Aren mit zwei anderen Wachen; er trug die blau-weiße Uniform der Lera. Em musste sich beherrschen, nicht zu ihm zu laufen. Das ganze letzte Jahr war Aren permanent an ihrer Seite gewesen, und jetzt fühlte sie sich, als würde ihr ohne ihn ein Körperteil fehlen.

Em wollte ihn fragen, wie er sich einlebte, ob er etwas herausgefunden hatte, ob jemand etwas ahnte, aber Davina ging zügig an ihm und den anderen Wachen vorbei. Doch sie schaute kurz über ihre Schulter zu ihm hin und wurde rot, als er die beiden Frauen anlächelte. Em musste sich das Lachen verkneifen. Die Liste an Mädchen, die wegen Aren rot wurden, nahm kein Ende.

Em und Davina gingen um ein paar Ecken. Em verlor sofort die Orientierung und wusste nicht mehr, wo sie war. Die Gänge sahen alle gleich aus, abgesehen von den leuchtenden Farben an den Wänden, die sich immer änderten, sobald sie um die nächste Ecke bogen. Das Schloss war wie ein Quadrat aufgebaut, also konnte sie zumindest davon ausgehen, dass sie irgendwann wieder da ankommen würde, wo sie losgegangen war, wenn sie sich jemals verlaufen sollte, was vermutlich unvermeidlich war.

In der Mitte der lichtdurchfluteten Gänge lagen dunkelblaue Teppiche. Die nach Osten ausgerichteten Fenster standen offen, daher konnte man gerade so eben das Meer erkennen. Eine salzige Brise zog durch die Korridore. In Lera war es viel wärmer als in Vallos oder in Ruina, und der Himmel war wolkenlos. Em konnte nachvollziehen, wieso die Lera vor Generationen die Ruined vertrieben hatten, damit sie selbst bleiben konnten. Sie wollte auch nicht wieder hier weg.

Vor einer großen Holztür blieb Davina stehen und klopfte an. Eine junge Frau öffnete, und die Zofe huschte davon.

Die Frau begleitete Em hinein. Die Königin stand in der Mitte des Zimmers, in einem leuchtend roten Kleid, das einen scharfen Kontrast zu den cremefarbenen Gewändern der beiden Frauen neben ihr bildete.

In dem großen Zimmer befanden sich Schränke voller Kleider, Hosen, Blusen, und es gab eine komplette Wand nur für Schuhe. Das Ankleidezimmer der Königin. Em konnte einfach nicht anders, als zu hoffen, dass sie auch über solch eine Garderobe verfügen würde, solange sie hierblieb. Wenn sie sich schon mit diesen Menschen arrangieren musste, könnte sie dabei doch wenigstens ein paar schöne Sachen tragen.

Sie suchte mit ihrem Blick das Zimmer nach Waffen ab. An der Wand war ein Spiegel befestigt, aber der war zu groß, als dass sie ihn zerbrechen könnte. Auf dem Tisch stand eine gewaltige weiße Keramik-Obstschale, die vermutlich robust genug war, um jemanden ernsthaft zu verletzen, wenn man ihm damit auf den Kopf hämmerte. Zwei, drei, sechs Schritte, und sie könnte sich an den Zofen vorbeischlängeln, zur gegenüberliegenden Ecke des Zimmers, die Schale schnappen, einer Zofe aus dem Weg gehen und sie der Königin gegen den Kopf schlagen, dann müsste sie sich umdrehen, die andere Zofe wegschubsen und könnte der Königin mit einer der Scherben von der Schale die Kehle aufschlitzen. Tot.

„Mary!“ Die Königin hieß sie mit ausgebreiteten Armen willkommen.

Em ballte ihre Hände zu Fäusten, um den Schrei zu unterdrücken, der in ihrem Hals steckte. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass es derart schwierig sein würde, den Menschen gegenüberzustehen, die ihr Leben zerstört hatten. Als sie gestern aus der Kutsche ausstieg, hätte sie beinahe nach Arens Schwert gegriffen und wäre auf den König losgegangen.

Um sich zu beruhigen, atmete Em tief durch. Das half. Ihre Mutter war die angsteinflößendste Frau gewesen, die sie jemals gekannt hatte – für die meisten anderen ebenfalls –, unter anderem auch deshalb, weil sie niemals aus der Fassung geriet. Wenn sie einen umbringen wollte, bemerkte man es erst dann, wenn man schon das Messer im Bauch stecken hatte.

Und gerade jetzt musste Em sich ihre Mutter als Beispiel nehmen.

Die Königin schien zu spüren, dass Em nicht umarmt werden wollte, denn sie ließ ihre Arme sinken und nahm stattdessen Ems Hände in ihre. Als sie lächelte, bewegte sich die kleine sichelförmige Narbe auf ihrer linken Wange. In ihrem sonst eher langweiligen Gesicht war die Narbe das einzig Interessante.

„Wie war deine erste Nacht hier? Bist du zufrieden mit deinen Zimmern?“

„Sie sind perfekt, Eure Hoheit“, antwortete Em.

„Bitte nenn mich Fabiana“, sagte die Königin und ließ Ems Hände wieder los. „Bald sind wir eine Familie.“

„Natürlich.“ Fabiana war ein grauenvoller Name, also nannte Em sie liebend gern so.

„Wie gefällt dir Lera bisher?“, fragte die Königin. „Es ist anders als Vallos, oder? Nicht so trostlos.“

„Das stimmt“, antwortete Em, der die subtile Spitze gegen Vallos nicht entging. „Und wie ist Lera im Vergleich zu Olso? Dort soll es ja sehr kalt sein.“

Fabiana verzog kaum eine Miene. „Lera ist weniger … steif.“

„Oh, verstehe.“ Em war noch nie in Olso gewesen, aber sie kannte die dortigen Kämpfer gut, die Männer und Frauen, die das Königreich beschützten. Einst war Fabiana eine von ihnen gewesen, aber dann lief sie nach Lera über, mitsamt geheimen Informationen. Sie war wahrscheinlich die bekannteste Verräterin in ganz Olso. Als Em die Olso-Kämpfer bat, sich mit ihr zu verbünden, hatte sie sie an Fabianas Verrat erinnert, und sie hatten sich Em bereitwillig angeschlossen.

Die Tür öffnete sich, und ein dunkelhaariges Mädchen kam ins Zimmer.

„Jovita!“, rief die Königin. „Wie schön, dass du da bist.“

Em musterte die Nichte der Königin. In der Erbfolge war sie die zweite, die Anspruch auf den Thron hatte. Sie war ungefähr in Ems Alter, aber irgendetwas an der Art, wie sie sich gab, ließ sie älter wirken. Jovita war etwas kleiner als Em, hatte aber dennoch eine eindrucksvolle Ausstrahlung. Unter ihrer dünnen grauen Tunika konnte man bei jeder Bewegung ihre breiten Schultern und ihre muskulösen Arme erkennen. Sie lächelte nicht, aber Em glaubte nicht, dass sie unglücklich war. Sie wirkte einfach wie eins dieser Mädchen, die nicht immer nur lächelten, damit andere sich wohler fühlten.

„Ich dachte, ich schaue mal vorbei und gucke, wie sich unsere neue Prinzessin so einlebt.“ Sie ging zu der Obstschale und steckte sich eine Weintraube in den Mund. Em runzelte die Stirn. So wie Jovita jetzt stand, erschwerte sie es Em, zu ihrer geplanten Waffe zu gelangen.

„Perfektes Timing. Sie probiert gleich das Kleid an.“ Die Königin gab den Zimmermädchen ein Zeichen, und eine der Frauen huschte davon, um kurz darauf mit einem Haufen blauem Stoff in den Armen wiederzukommen, der ihr fast bis über den Kopf reichte.

„Wenn du dich bitte entkleiden würdest, Mary“, bat die Königin und wedelte auffordernd mit einer Hand.

Prompt fing eines der Mädchen an, das pinkfarbene Monstrum von einem Kleid aufzuknöpfen. Als es zu Boden fiel, senkte Em den Kopf, um ihre feuerroten Wangen zu verbergen. Diese Frauen zogen sich vielleicht ganz selbstverständlich vor fremden Menschen um, aber für Em war es das erste Mal, dass jemand anderes als ihre Mutter oder Schwester sie nur in Unterwäsche sah.

„Wir nehmen noch deine Maße und lassen dir ein paar andere Sachen bringen“, erklärte die Königin, während die Zimmermädchen Marys Kleid wegtrugen. Sie spürte Fabianas Verachtung für das Kleidungsstück. Plötzlich gefiel es Em doch irgendwie.

Um wieder bedeckt zu sein, stieg sie hastig in das blaue Kleid, das ihr hingehalten wurde. Der Stoff fühlte sich weich und kühl an. Der Rock war ab Gürtellinie weit ausgestellt. Ein berüschtes Mieder schmiegte sich eng um ihren Oberkörper, und um ihre Taille schlang sich eine wunderschöne Perlenkette. Behutsam strich Em über den weichen Stoff des schlichten, eleganten Gewands.

„Oh ja, das sieht hübsch aus.“

Die Königin stand neben dem Spiegel, als Em hochsah. Em stellte sich davor und starrte ihr Spiegelbild an. Das Kleid war noch umwerfender, wenn man es in seiner ganzen Pracht bewundern konnte. Es war das schönste Kleid, das sie jemals gesehen hatte. Olivia hätte geklatscht und vor Freude getanzt, wenn sie hier gewesen wäre.

Tränen stiegen ihr in die Augen. „Tut mir leid“, flüsterte Em, als ihr eine Träne über die Wange kullerte. Sie wischte sie schnell wieder weg.

„Du hättest gern deine Mutter hier?“, mutmaßte die Königin.

Em nickte. Die wahre Mary würde wahrscheinlich auch um ihre Familie trauern. Vielleicht würde jedes Mädchen in dieser Situation weinen, unabhängig davon, wer die Mutter war. Sie musste immerhin Casimir heiraten.

Cas. Allein bei dem Namen zog sich schon alles in ihr zusammen. Gestern hatten sie kaum ein Wort gewechselt, und sie hatte gehofft, dass er sie einfach komplett ignorieren würde. Seine Eltern hatten die Hochzeit arrangiert, vielleicht hatte er sogar irgendwo ein Mädchen, das er liebte, und würde so tun, als wäre Em gar nicht da.

Bei den Vorbereitungen ihres Plans hatte sie durchaus im Hinterkopf gehabt, dass sie irgendwie mit der Hochzeitsnacht klarkommen musste. Sex gehörte nun mal normalerweise zu einer Hochzeit dazu, was bedeutete, dass sie morgen Abend in Cas’ Bett landen würde. Sie hatte noch nie in jemandes Bett gelegen.

Sie verdrängte den Gedanken. Ein Tag noch bis zur Hochzeit, und die beste Option war wohl, so zu tun, als existierte dieses Thema nicht.

Sie könnte sich stattdessen auf ihren Plan, ihn umzubringen, konzentrieren. Noch brauchte sie Cas, jedenfalls noch ein bisschen, aber sie hoffte doch, sich seiner entledigen zu können, bevor sie Lera wieder verließ. Ihn würde sie vor dem König und der Königin umbringen, damit die auch einen Teil des Schmerzes fühlten, den Em gespürt hatte, als ihre Familie ermordet wurde.

„Entschuldigung“, sagte Em noch mal und versuchte, sich zusammenzureißen. „Das Kleid ist traumhaft.“

„Natürlich“, gab die Königin zurück. „Ich habe einen hervorragenden Geschmack.“

Em musste unwillkürlich lachen und wurde mit einem anerkennenden Lächeln der Königin belohnt.

Eines der Mädchen nahm Ems Maße und steckte das Kleid ab, dann half es ihr beim Ausziehen.

„Hast du viel mit Cas gesprochen, seit du hier bist?“, erkundigte sich die Königin, während Em wieder in das rosafarbene Kleid schlüpfte.

„Nur ein bisschen“, erwiderte Em. Sofern man zählte, dass er sie gestern beim Abendessen gegrüßt hatte.

„Keine Sorge, ihr werdet euch schnell aneinander gewöhnen.“ Die Lippen der Königin zuckten leicht, als würde sie irgendetwas denken, was sie nicht preisgeben wollte. „Hat man dir schon vom Bündniskampf erzählt?“

„Ich kann mich nicht daran erinnern“, räumte Em vorsichtig ein, denn sie war nicht sicher, ob Mary darüber Bescheid wissen sollte. Sie hielt die Luft an, als eines der Zimmermädchen ihr Kleid enger zog, um es zuzuknöpfen.

„Der Tradition nach ist es ein fester Bestandteil einer königlichen Hochzeit in Lera“, erklärte die Königin. „Die oder der Zukünftige des Herrschers oder der Herrscherin sucht sich einen Gegner aus und dann kämpfen die beiden, zur Unterhaltung. Natürlich nicht mit scharfen Klingen.“

Em verkniff sich ein Lächeln. Das hörte sich genau nach ihrer Art Hochzeitsfeier an.

„Es geht darum, deine Kampffähigkeiten unter Beweis zu stellen“, fügte Jovita hinzu. „Also, ich freue mich jedenfalls schon darauf. Die Königin hat bei ihrem Kampf das Oberhaupt der königlichen Garde besiegt. Das war wirklich eine mutige Wahl als Gegner, und dann hat sie ihn fertiggemacht. Davon sprechen die Leute immer noch.“

„Hör auf, Jovita“, sagte die Königin wegwerfend. „Du machst ihr noch Angst.“ Dabei tätschelte sie Ems Hand. „Du kannst dir aussuchen, wen immer du magst, Liebes.“

Die Worte waren so voller Herablassung, dass Em beinahe lachen musste. Sehr passend für die Königsfamilie der Lera; alle dachten immer, dass sie jeden anderen schlagen könnten.

„Um Cas heiraten zu können, musste ich den König der Ruined umbringen. Reicht das nicht als Beweis meiner Kampffähigkeit?“, log Em. Sie musste schlucken, um die Übelkeit, die in ihr hochstieg, zu verdrängen. Dass Mary ihren Vater ermordet hatte, war für diese Menschen hier nicht mehr gewesen als ein Test.

„Dann wird das heute ja keine große Herausforderung sein“, erwiderte Jovita. Ihr Lächeln veränderte sich nicht, aber sie wechselte einen kurzen Blick mit der Königin.

„Bist du fertig?“, fragte Fabiana das Dienstmädchen, das gerade den letzten Knopf schloss. „Sagen wir Cas Bescheid.“

„Oh, das ist doch nicht nötig“, warf Em schnell ein.

„Er bringt dich nur zurück in dein Zimmer. Er kann dir ja nicht ewig aus dem Weg gehen.“ Sie wies eines der Mädchen an, ihn zu holen.

Seufzend strich Em sich mit der Hand durchs Haar. Ein Blick in den Spiegel bestätigte ihr, dass sie blass und müde aussah – und vollkommen lächerlich in dem zu kleinen rosafarbenen Kleid. Sie hoffte nur, dass Cas sie ebenfalls unheimlich unattraktiv fand.

Kurze Zeit später öffnete sich die Tür, und Cas kam herein. Er sah so aus, als würde man ihn mit heißen Klingen zu etwas zwingen, wirkte wütend, gelangweilt oder auch beides gleichzeitig. Für einen kurzen Moment sah er sie an, sagte aber kein Wort. Unsicher verlagerte Em ihr Gewicht von einem Bein aufs andere. Sie vermutete, dass sein Verhalten allen Anwesenden unangenehm aufstieß.

Trotz allem war Cas leider gut aussehend, auf eine sehr auffällige Art und Weise. Von seinem Vater hatte er die dunklen Haare geerbt und von seiner Mutter die blauen Augen. Beides zusammen war bemerkenswert. So wie Em hatte der König einen eher olivfarbenen Teint, die Haut der Königin war heller. Irgendwo in der Mitte kam dann Cas, der wohl auch von der ständigen Sonne in Lera leicht gebräunt war. Er trug ein dünnes, weißes Hemd, dessen Ärmel er bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt hatte und durch das sich seine Muskeln abzeichneten. Schnell wandte Em ihren Blick wieder ab.

„Du hast nach mir gerufen, Mutter?“ Sein Ton war steif, fast wütend, als er dann endlich den Mund aufmachte.

„Ich dachte, es wäre ganz schön, wenn du Mary zurück in ihr Zimmer bringst. Wir sind fertig mit der Anprobe des Hochzeitskleides.“

Er würdigte Em nicht mal eines Blicks. „Natürlich.“

„War schön, mit dir zu reden, Liebes“, sagte die Königin. Jovita war offensichtlich immer noch glücklich darüber, dass sie es geschafft hatte, die neue Prinzessin aus der Fassung zu bringen, denn sie grinste selbstzufrieden.

Em murmelte eine freundliche Antwort und trat vom Spiegel weg. Sie nahm Cas ausgestreckten Arm an und versuchte, bei der Berührung keine Miene zu verziehen.

Cas drehte sich so abrupt zur Tür, dass Em beinahe stolperte, als er sie mit sich zog. Sie wollte sich nicht blamieren und ihm vor die Füße fallen, also klammerte sie sich fester an ihn.

„Wie war deine Reise hierher?“, fragte Cas und starrte auf den Gang vor ihnen.

„Ganz in Ordnung. Danke.“ Um ehrlich zu sein, war sie immer noch erschöpft, und von dem tagelangen Reiten tat ihr alles weh. Und nach dem Überfall auf die Wachsoldaten hatten sie von der Grenze aus mit der nervigen schweren Kutsche noch mehrere Tage bis zum Schloss gebraucht.

„Und bist du mit den Zimmern zufrieden?“, fragte er weiter.

„Sie sind sehr schön.“

Er nickte und gab jeden weiteren Versuch auf, eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Em war sich nicht sicher, ob sie erleichtert sein oder ihn für unglaublich unfreundlich halten sollte, also hielt auch sie den Mund.

Auf dem Korridor kamen ihnen zwei Wachen und ein Dienstmädchen entgegen. Em musterte die Schwerter, die an den Hüften der beiden Soldaten baumelten. Es dürfte sich eher schwierig gestalten, einen der Männer zu entwaffnen, daher wäre es wohl sinnvoller, eine Kordel von den Vorhängen abzureißen und Cas damit zu erwürgen. Allerdings würde das länger dauern, sie müsste ihn also für mindestens eine Minute in ein abgelegenes Zimmer oder eine Ecke ziehen.

Vor ihrem Zimmer blieb er stehen, und sie entzog ihm ihren Arm. „Danke“, sagte sie und griff nach der Türklinke.

„Man hat dir vom Kampf heute Nachmittag erzählt?“, erkundigte er sich.

„Ja. Klingt lustig.“

Cas zog eine Augenbraue hoch, und ein Anflug von Belustigung huschte über sein Gesicht. „Freut mich, dass du es so siehst.“ Auf einmal flüsterte er. „Von einer zuverlässigen Quelle habe ich erfahren, dass einer der Wachen gestern zu viel getrunken hat und heute nicht gerade in Bestform ist. Er hat einen roten Bart und jede Menge Sommersprossen, falls du nach einem leichten Gegner suchst.“

Em war sich nicht sicher, ob das irgendeine Art Falle war. Sie blinzelte erst mal. „Soll ich mir denn einen einfachen Gegner aussuchen?“ Die Königin und Jovita hatten gerade das genaue Gegenteil angedeutet.

„Na ja, dann kommst du besser weg.“ Cas trat einen Schritt zurück. Er wirkte sehr viel weniger nervig, wenn er lächelte. „Ich verrate es niemandem, versprochen.“

„D-danke?“ Es fühlte sich wie eine Falle an. König Salomir nutzte jede Gelegenheit, um zu beweisen, dass Lera die Besten waren, und der Kampf schien keine Ausnahme zu sein. Sie wollten, dass Em verlor, um sich anschließend über ihre Unfähigkeit lustig machen zu können.

In Cas’ Mundwinkeln war ein Zucken zu sehen, was Em erst recht davon überzeugte, dass sein Tipp nur ein weiterer Plan war, sie vor allen zu erniedrigen.

„Ich werde dran denken.“ Sie legte ihm eine Hand auf den Arm und schaute ihm direkt in die Augen. „Wie freundlich, dass du mir hilfst.“

Cas wich noch einen Schritt zurück und räusperte sich. „Äh, natürlich. Bis später.“ Dann drehte es sich um und ging mit großen Schritten den Gang hinunter.

Em schaute ihm grinsend hinterher. Um sie zu täuschen, musste er sich schon mehr anstrengen.

4. Kapitel

Der Bündniskampf sollte im Ruhmes-Saal stattfinden, dem kleinsten der drei Festsäle, wie Davina Em erklärte. Er war dennoch von eindrucksvoller Größe. In der Mitte befand sich ein Quadrat aus Parkett, das von purpurnem Teppich umgeben war. An den Wänden, vor denen sich Zuschauer sammelten, hatten bereits Wachposten Stellung bezogen. Drei große Stühle im vorderen Teil des Saales – die einzigen weit und breit – waren offensichtlich für die königliche Familie bestimmt. Vor den Eingangstüren wartete das Küchenpersonal, um nach dem Wettstreit das Essen zu servieren.

Für den Kampf hatte Em sich eine schwarze Hose und ein enges schwarzes Oberteil angezogen. Sie breitete erleichtert ihre Arme aus, wobei das weiche Material sich ihren Bewegungen anpasste, denn es waren ihre eigenen Klamotten.

In einer Reihe hingen die Schwerter von den Hüften der Wachposten. Selbst wenn es Em gelingen sollte, einen zu überraschen und ihm die Waffe abzunehmen, würde sie es höchstens schaffen, zwei Soldaten zu töten, bevor man sie zur Strecke brachte. Sie musste schlucken und versuchte, nicht weiter daran zu denken.

In der Masse entdeckte sie Aren. Er wirkte ruhig, hatte einen neutralen Gesichtsausdruck, während einer der Männer ihm etwas zuflüsterte.

Seine braunen Augen leuchteten fast, auf eine Art und Weise, wie Em es noch nie gesehen hatte. Die Ruined sammelten Kraft von denen um sie herum, was in Arens Fall die Kraft aller Schlossbewohner war. Nach ein paar Wochen würde er wahrscheinlich in der Lage sein, die Knochen von zehn Männern zu zerschmettern, bevor diese angesammelten Kräfte verbraucht wären. Das war jedenfalls ihre Hoffnung.

An der Wand hingen verschiedene Landkarten. Em stellte sich auf die Zehenspitzen, um die, die ihr am nächsten war, genauer zu betrachten. Das Datum verriet, dass sie aus der Zeit des Krieges zwischen Lera und Olso vor zwei Generationen stammte. Auf der Karte waren alle vier Königreiche abgebildet – im Osten Lera, direkt darunter Vallos, Olso westlich von Lera und südlich von Olso Ems Heimat, Ruina.

Auch wenn es eher unwahrscheinlich schien, dass sie dort, wo ihre Schwester sich aufhielt, einfach Olivia auf die Karte schreiben würden, schaute Em trotzdem genau hin, nur zur Sicherheit. Dann ging sie zur nächsten Landkarte weiter.

„Mary!“, rief die Königin ihr von der Eingangstür aus zu. Sie sah gereizt aus. „Komm bitte da raus. Du betrittst den Saal zusammen mit Cas.“

Em ging zum Eingang und schob sich an der Königin vorbei. Cas stand hinter seiner Mutter oder vielmehr: Er lehnte hinter ihr an der Wand, mit vor der Brust verschränkten Armen, und wirkte immer noch so, als würde man ihn mit glühenden Klingen im Rücken zu etwas zwingen, das ihn inzwischen aber eher langweilte. Gequälte Langeweile, das beschrieb den Prinzen ganz gut.

„Wenn du schon nicht weißt, wo du sie hinschicken sollst, dann lass sie nicht einfach irgendwo stehen“, ermahnte die Königin Davina, die nervös neben ihr stand. „Bring sie zu mir, wenn es nicht anders geht.“

„Ja, Eure Hoheit.“

Die Königin verschwand, dicht gefolgt von ihren Zofen, im Festsaal. Stille legte sich über den Gang. Em sah zu, wie sich die Türen zum Saal schlossen.

„Wenn mein Vater kommt, gehen wir rein.“ Cas stieß sich von der Wand ab und schaute sich um, in der Hoffnung, dass es endlich so weit war.

Em nickte nur und strich mit ihrem Daumen über ihre Kette. Sie sah, wie Cas’ Blick von ihrem Gesicht hinunter zu ihrer Hand wanderte.

„Bist du aufgeregt?“, fragte er.

Schnell ließ sie die Kette fallen und vergrub ihre Hände in ihren Taschen. „Nein.“

„Es hat nicht wirklich irgendetwas zu bedeuten, ist nur eine Tradition.“

„Wenn es nichts bedeuten würde, wieso solltet ihr es dann machen?“ Sie sah ihn an. „Habt ihr immer schon stumpfe Klingen benutzt?“

„Natürlich.“

„Wieso? Aus Angst, dass die Braut oder der Bräutigam gewinnen könnte und einer von euren Leuten stirbt?“

„Ich denke, wir machen uns mehr Sorgen, dass sie verlieren könnten und wir einen Ersatz suchen müssten.“

Er hatte wieder dieses Zucken in den Mundwinkeln. Em musste beinahe lachen. „Es würde der Hochzeit morgen einen ziemlichen Dämpfer verpassen, wenn ich hier gleich auf dem Boden verblute“, bemerkte sie.

Die Belustigung in seinem Gesicht hielt sich einen Tick zu lange. Vielleicht wollte er das mit den stumpfen Klingen noch mal überdenken. „Ja, würde es.“

„Mary!“

Die dröhnende Stimme des Königs ließ Em zusammenzucken. Salomir eilte mit großen Schritten auf sie zu; seinen Mund hatte er zu einem fast schon skurrilen Grinsen verzogen. Sein Lächeln war zu breit, als würde es versuchen, seine übrigen Gesichtszüge zu überdecken.

Er und Cas waren in etwa gleich groß, wobei der König breiter gebaut war und einen gepflegten dunklen Bart hatte. Manche fanden ihn gut aussehend, aber Em gehörte nicht dazu.

„Bist du bereit für den Kampf?“, fragte er sie.

„Ich freue mich schon.“

Er lachte und schlug ihr leicht mit einer Hand auf die Schulter. Em dachte darüber nach, ihm ein paar Finger zu brechen.

Er nahm seine Hand wieder herunter und ging voraus zum Festsaal, wobei er sie anwies, ihm zu folgen. Dann stieß er mit einer hochdramatischen Geste beide Türen auf und schritt mit ausgebreiteten Armen in den Saal, als wollte er seinen Bewunderern signalisieren, dass sie ihn jetzt vergöttern durften. „Herzlich willkommen zum Bündniskampf!“, rief er.

Die Menge jubelte. Em trottete Cas und seinem Vater quer durch den Saal hinterher, bis der König sie anwies, in der Mitte des Raumes stehen zu bleiben. Er selbst und Cas gingen weiter zur Königin und Jovita.

Als die Meute verstummte, ergriff der König wieder das Wort. „Heute feiern wir die Vereinigung von meinem Sohn, Prinz Casimir, und Prinzessin Mary aus Vallos. Falls dies euer erster Bündniskampf sein sollte: Die Regeln sind sehr einfach. Unsere zukünftige Prinzessin wird sich eine Person aussuchen, gegen die sie antritt. Es werden nur Schwerter zum Kämpfen verwendet. Der erste, der drei tödliche Treffer landet, ist der Sieger. Ich sage jeden dieser Treffer an, sobald es dazu kommt.“ Jetzt richtete er seinen Blick auf Em. „Mary, du hast die freie Wahl unter meinen Wachen oder denen meines Sohnes. Oder“, die Belustigung stand ihm ins Gesicht geschrieben, „du wählst eine Person aus der königlichen Familie, mit der einzigen Ausnahme von Cas. Aber sei gewarnt, diejenigen, die ein Mitglied der königlichen Familie wählen, bereuen es meist nach dem Kampf. Wenn du dir deiner Fähigkeiten nicht sicher bist, würde ich es nicht empfehlen.“

Diese letzte Anmerkung war eine klare Herausforderung, das war Em bewusst. Allen im Saal war es bewusst.

Em musterte die Wachen. Sie entdeckte den Mann mit dem roten Bart und den Sommersprossen, er sah tatsächlich etwas blass aus.

Sie drehte sich wieder nach vorn. Sie könnte die Herausforderung annehmen und den König selbst wählen. Oder die Königin, die in Olso zur Kriegerin erzogen worden war.

Oder Jovita. Über deren Kampffähigkeiten wusste Em am wenigsten, aber da sie ein Mitglied der königlichen Familie war, hatte sie wahrscheinlich Training in allen Arten des Nahkampfes. Außerdem hatte sie ihre Zweifel an Ems Fähigkeiten deutlich gemacht.

Jovita merkte, dass Em sie ansah, und zog beide Augenbrauen hoch. Der König lachte.

Ems Blick wanderte zu Cas, der unauffällig den Kopf schüttelte.

Es geht darum, deine Kampffähigkeiten unter Beweis zu stellen.

„Jovita“, verkündete Em kurz.

Der König musste erneut lachen. „Eine gewagte Wahl. Ich schätze, du wirst die ganze Nacht deine blauen Flecken spüren.“

„Ja, wird sie“, sagte Jovita grinsend. Sie ging über den Holzboden und blieb vor Em stehen. „Keine Sorge“, flüsterte sie ihr zu. „Ich konzentriere mich auf deine untere Körperhälfte, damit du an deinem Hochzeitstag auch noch hübsch aussiehst.“

„Viel Glück dabei.“

Während ein Mann ihnen stumpfe Schwerter brachte, grinste Jovita Em selbstgefällig an. Em nahm ihre Waffe und war erleichtert, wieder ein Schwert in der Hand zu halten, auch wenn es kein richtiges war.

„Ich möchte euch daran erinnern, dass es unterhaltsam sein soll. Also gebt euch bitte ruhig etwas Mühe“, fügte der König noch hinzu, bevor er sich hinsetzte.

Em begutachtete die Waffe in ihrer Hand, um ein Gefühl für das Schwert zu bekommen. Es war schwerer als jenes, das sie bei Damian lassen musste, aber nicht viel. Jovita tänzelte mit ihrem Schwert etwas im Kreis und stieß damit in die Luft.

Die Königsfamilie hatte sich auf den drei Sitzgelegenheiten niedergelassen, und Em beobachtete sie. Der König lümmelte breit grinsend in seinem Stuhl. Die Königin wirkte eher desinteressiert und hatte ihre Hände im Schoß gefaltet.

Cas dagegen lehnte sich nach vorn, sah sie freundlich an und nickte ihr zu. Wollte er ihr Mut machen? Sie wünschte sich, er würde es lassen.

„Ich eröffne den Kampf“, schallte der Ruf des Königs durch den Saal.

Em wandte sich wieder Jovita zu. Wenn sie jetzt nicht gewann, würde sie während ihrer gesamten restlichen Zeit in Lera diesen eingebildeten Blick ertragen müssen. Sie musste gewinnen. Sie wollte Jovita auf Knien sehen, mit ihrem Schwert an der Kehle.

„Drei … zwei … eins.“

Em wich nach links aus, als Jovita auf sie zukam. Es war eher ein vorsichtiges Anpirschen, so wie Em es von erfahrenen Kämpfern kannte. Die Jungen stürmten wild aufeinander los, die Erfahrenen ließen sich Zeit.

Einen Moment lang gingen sie im Kreis umeinander herum, bevor Em den ersten Angriff wagte. Bis auf das Geräusch von Metall, das Metall schlug, war es vollkommen still im Saal.

Dann jubelte eine Person, als es losging, und andere schlossen sich an. Jovita machte zwei schnelle Schritte auf Em zu. Em konnte das Schwert gerade noch abwehren, bevor es ihren Hals getroffen hätte. Sie sprang zurück, wich Jovitas zweiter Attacke aus und rollte sich über den Boden, um auf ihre andere Seite zu gelangen. Dort schnellte sie vor und traf die andere direkt im Rücken, mit ihrem Schwert.

„Ein Treffer für Mary“, verkündete der König, ein wenig überrascht. Die Masse jubelte.

Eins. Der erste Treffer. Sie wippte auf ihren Fußballen. Es war wichtig, dass sie den ersten Treffer landete.

Jovita sah nicht mehr so vergnügt aus, als sie sich herumdrehte. Offensichtlich hatte sie sich entschieden, Em jetzt ernst zu nehmen, was Em umso mehr reizte. Ihre Kampfeslust war geweckt.

Jovitas nächstem Angriff ging sie aus dem Weg. Beide zirkelten umeinander herum, während das Publikum weiter tobte. Als Jovita dann rechts antäuschte, fiel Em auf sie herein und hatte ein Schwert an der Brust.

„Treffer für Jovita.“

Em hatte kaum Zeit, einmal durchzuatmen, bevor Jovita wieder auf sie losging. Um sie herum fingen die Gesichter und das Gebrüll allmählich an zu verschwinden, sie konzentrierte sich jetzt nur noch auf das Mädchen vor ihr. Als sie noch klein war, hatte ihre Mutter Em jeden Tag verschiedene Kampfstile üben lassen, weshalb sie nun Kämpfen fast als beruhigend empfand.

Du bist unbegabt geboren, aber es liegt an dir, ob du auch hilflos bleibst. Das hatte ihre Mutter immer gesagt.

Em nutzte die Gelegenheit und stach direkt in Jovitas Bauch, dabei entging sie nur knapp einem Stoß gegen den Hals.

„Zwei Treffer für Mary“, gab der König bekannt.

Em entfernte sich mit einem großen Schritt wieder von Jovita. Sie hatte sich an den Rand des Parketts zurückgezogen, bis Jovita frustriert schnaubte. Em ging wieder auf sie zu. Manchmal half ein Moment, um den Kopf freizubekommen.

Jovita stürzte sich so schnell auf sie, dass Em die Bewegung kaum wahrnahm. Die Klinge war direkt auf ihre Stirn gerichtet.

„Zwei Treffer für Jovita.“

Das mit dem Kopf freibekommen hatte sich wohl erledigt.

Em wirbelte herum auf der Suche nach einer besseren Position, in der Jovita sie nicht in die Ecke drängen könnte. Sie atmete etwas schwerer, aber seit ihrer Ankunft gestern war sie nicht mehr so entspannt gewesen wie in diesem Moment. Sie sollte sich jemanden suchen, mit dem sie jeden Tag kämpfen konnte, sonst würde sie in diesem Schloss noch durchdrehen.

Em blockte Jovitas Angriffe einmal, zweimal, dreimal. Sie duckte sich, wich aus, und plötzlich fühlte sie sich noch besser als zu Beginn des Kampfes. Ein Lächeln breitete sich langsam auf ihrem Gesicht aus, während sie über den Holzboden sauste.

Auf einmal bot sich eine Gelegenheit, und mit einem schnellen, gezielten Tritt gegen Jovitas Beine brachte sie ihre Gegnerin auf die Knie. Em sprang vor sie und zielte mit dem Schwert direkt auf Jovitas Hals. Jubel und Zurufe schallten durch den Saal.

„Mary gewinnt“, rief der König über das Gebrüll hinweg.

Em hielt ihre Schneide einen Augenblick länger als nötig an Jovitas Hals. Umbringen konnte sie mit diesem stumpfen Schwert zwar niemanden, aber zumindest kurz ausmalen durfte sie es sich ja wohl.

Dann trat sie einen Schritt zurück, schluckte und senkte ihre Waffe.

„Das habe ich wohl verdient, dafür dass ich dich unterschätzt habe.“

Em lachte gut gelaunt, als wäre das Ganze nur ein Scherz für sie. Dann drehte sie sich von Jovita weg.

„Ja, hast du“, murmelte sie in sich hinein.

5. Kapitel

Unter seinem Anzug schwitzte Cas vor sich hin. Die Fenster in der großen Halle standen offen, damit eine frische Meeresbrise Luft in den Raum blies, aber er saß in dem kleinen, stickigen Wartezimmer nebenan fest, zusammen mit seinen Eltern. Er würde noch eingehen, dachte er, bevor die Hochzeit überhaupt anfing.

„Du siehst nervös aus“, bemerkte sein Vater und richtete ihm den Kragen.

„Tu ich nicht.“

„Nun ja, du hast gar keinen Gesichtsausdruck, was bei dir bedeutet, dass du nervös bist.“

Cas runzelte die Stirn. Sein Vater hatte diese Art an sich, alle zum Lachen zu bringen, aber Cas versuchte, nicht so leicht nachzugeben.

„Ich glaube nicht, dass sie dich besonders mag“, fuhr der König fort und lachte leise.

Die Königin stieß einen genervten Seufzer aus und überprüfte ihre übertrieben aufwendige Frisur. Ihre Haare waren auf ihrem Kopf derartig nach oben gestapelt, dass es schmerzhaft sein musste. „Sie mag ihn genug. Sie hat mich erst gestern gefragt, ob ich denke, dass er sie mag.“

„Und was hast du geantwortet?“, erkundigte sich ihr Gatte.

„Ich habe ihr die Wahrheit gesagt. Dass ich glaube, er ist sich noch nicht sicher.“

Der König berührte seine Frau am Arm. „Die Antwort hat sie sicherlich sehr erleichtert.“

Brutale Ehrlichkeit war nicht ungewöhnlich für Casimirs Mutter, allerdings war ihr ebenso der Nutzen einer passenden Lüge bewusst. Es überraschte Cas, dass seine Mutter Mary nicht mittels einer Lüge versichert hatte, dass er ihr vom ersten Moment an verfallen war und nur aus Schüchternheit nichts gesagt hatte.

Es machte aber vielleicht auch gar keinen Unterschied, ob sie die Wahrheit wusste. Unabhängig davon, ob er sie nun mochte oder nicht, würde die Hochzeit stattfinden.

Oder unabhängig davon, ob sie ihn mochte. Als er ihr gestern vor dem Bündniskampf mit seinem Tipp weiterhelfen wollte, hatte sie ihn angesehen, als sei er nichts weiter als lästiges Ungeziefer.

Der Priester in seinem schwingenden, leuchtend orangefarbenen Gewand öffnete die Tür. „Wir können jetzt anfangen.“

Cas drehte sich von seinen Eltern weg und ging am Priester vorbei in die große Halle. Von drinnen hatte man durch die durchgehenden Fenster auf der linken Seite eine beeindruckende Aussicht über Lera, bis hin zum Meer. Die Bänke, die den Raum füllten, waren mit Blumen und weißen Schleifen verziert.

Als er eintrat, sprangen plötzlich alle auf, sodass die Bänke knarrten und das Geräusch von schabenden Füßen den Raum erfüllte. Er blieb stehen, eine Hand um seinen Oberarm geschlungen, und schaute Richtung Mittelgang. Hoffentlich trödelte sie nicht.

Seine Eltern kamen nach ihm in den Saal und nahmen in der ersten Reihe Platz, neben Jovita. Alle drei sahen aus, als würden sie sich freuen. Cas versuchte, woanders hinzusehen.

Während alle wieder ihre Plätze einnahmen, sah Cas sich im Raum um. Jeder Gast hielt ein gefülltes Weinglas, was eigentlich nicht üblich war, aber der König hatte wohl gedacht, dass die Feier ein wenig mehr Stimmung vertragen könnte. Da hatte er recht.

Die Gäste lächelten und tuschelten, außerdem roch es wie am Ende einer Feier, nicht wie am Anfang. Nämlich nach Alkohol, Enttäuschung und der üblen Vorahnung, dass morgen ein Kater und Elend auf einen warteten.

Wie passend, dachte Cas.

Als sich dann die Tür am Ende des Ganges wieder öffnete, standen die Leute erneut auf und sahen Mary an. Sie trug ein dunkelblaues Kleid, das im Licht erstrahlte, und ihre Haare waren zu einer Hochsteckfrisur zusammengebunden, durch die sich Perlen zu schlängeln schienen. Das Kleid bedeckte gerade so ihre Schultern, darunter wirkte ihre Haut weich und nahezu leuchtend.

Für gewöhnlich wurde die Braut von ihren Eltern flankiert, aber Mary ging allein. Cas wusste, dass seine Eltern sicher angeboten hatten, mit ihr einzulaufen, sie aber abgelehnt haben musste, was er auch verstand.

Er versuchte, fröhlich zu wirken, was ihm allerdings schwerfiel, da sie so unglücklich aussah, dass er ihr nicht mal in die Augen schauen konnte. Stattdessen konzentrierte er sich die ganze Zeit, in der sie den Gang entlang auf ihn zukam, auf einen Fleck irgendwo hinter ihrem Kopf.

Sie lächelte nicht, als sie vor ihm stehen blieb. So, wie sich ihre Lippen bewegten, wollte sie wohl Freude signalisieren, aber was ihre Miene ausstrahlte, kam einem Grauen näher. Beide wandten sich dem Priester zu.

„Lasst uns unseren Ahnen danken, die unsere Welt aufgebaut haben“, fing der Priester an.

Cas, der mit einem Stück Faden an seiner Jacke spielte, senkte seinen Kopf.

„Wir danken Boda für den Körper, den sie für uns geschaffen hat“, fuhr der Priester fort. „Lelana für das fruchtbare Land, das sie Lera geschenkt hat. Solia für unsere Seele, die uns erst zu Menschen macht. Und wir beten für die Erlösung von den Ruined, die unsere Gaben verdorben haben.“

Aus dem Augenwinkel nahm Cas wahr, wie Mary dezent ihren Kopf hob. Er sah zu ihr rüber. Sie fummelte an irgendetwas herum, hörte aber sofort auf, als sie mitbekam, dass Cas sie beobachtete.

Die Zeremonie zog sich. Warum der Priester das Verlangen hatte, alles über Liebe, Heirat und Aufopferung herunterzuleiern, was er kannte, wusste Cas nicht. Ihm war doch genauso bewusst wie allen anderen, dass es sich nur um eine Zweckehe handelt. Das war fast schon unhöflich.

„Und um die beiden nun zu vereinen“, kam er schließlich zum Ende, „verbinden wir unsere Seelen mit den Elementen.“

Cas und Em streckten ihre Hände aus, die Innenflächen nach unten. Der Priester streute eine dünne Schicht Erde darüber, gefolgt von Wasser.

„Lasst uns die Zusammenführung durch einen Kuss besiegeln, vereint bis zum Tode. Möge diese Verbindung von den Ahnen gesegnet sein.“

Cas drehte sich zu Mary. Ihre Hände zitterten so stark, dass es sich sogar bis zu ihren Schultern nach oben zog. Sie holte verkrampft Luft und schluckte. Es hatte noch niemals jemand aus Angst vor ihm gezittert, und dieser Moment war wahrscheinlich der schlimmste, um es zum ersten Mal zu erleben.

Er beugte sich vor. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke. Er hatte kaum ihre Lippen mit seinen berührt, da applaudierten die Gäste schon.

Cas sah zu Mary, die neben ihm saß. Ihr Essen hatte sie zu sich genommen, aber das Weinglas drehte sie nur in ihrer Hand herum, ohne einen Schluck zu nehmen.

Um sie herum herrschte eine ausgelassene Stimmung. Die Tische im Kronsaal waren in einem Halbkreis um die Tanzfläche herum aufgestellt, die sich direkt vor ihnen befand. Am anderen Ende des Saales spielten die Musiker. Die Gäste waren nur als Farbwirbel wahrzunehmen. In roten, orangefarbenen oder grünen Gewändern drehten sie sich zur Musik. Die meisten Männer waren weiß oder beigefarben gekleidet, einzig die Blumen an ihren Revers sorgten für farbige Akzente. Es trug niemand Blau, denn die Farbe war allein Marys Kleid und der Blume an Cas’ grauem Jackett vorbehalten.

Als ein Mann zu ihnen an den Tisch kam, um zu gratulieren, setzte Mary eine höfliche Miene auf. Cas kannte diesen Ausdruck langsam sehr gut – die Lippen leicht geschürzt, den Kopf leicht seitlich geneigt, als würde sie die Unterhaltung faszinieren (was sie nicht tat), und dann ein erleichterter Seufzer, wenn die Person wieder wegging.

An der Wand rechts von Cas stand Galo mit den anderen Wachen. Cas schob seinen Stuhl zurück und stand auf.

„Ich komme gleich wieder“, sagte er in Richtung seiner Eltern. Anschließend ging er zügig weg, ehe sie etwas einwenden konnten. Den Gouverneur der südlichen Provinz grüßte er kurz, damit er wenigstens behaupten konnte, die Gäste willkommen geheißen zu haben, falls seine Eltern fragten.

Sobald Cas auf Galo zukam, entfernte dieser sich von der Wand. Zusammen entfernten sie sich ein paar Schritte von den anderen Wachen, außer Hörweite. Cas sah zu, wie die Leute vor ihm anfingen zu einem schnelleren Lied zu tanzen.

„Ich weiß nicht, wer elender aussieht, du oder deine Ehefrau“, sagte Galo leicht amüsiert.

Das Wort Ehefrau ließ Cas zusammenzucken. Sein Vater hatte eine Ehefrau, so wie all die Berater und Gouverneure Ehemänner und Ehefrauen hatten. Es fühlte sich einfach nicht an, als passte das Wort in Cas’ Leben.

„Ist das nicht verständlich? Sie ist gerade mal seit zwei Tagen hier.“ Cas’ Blick wanderte durch den Raum, bis er Aren ausfindig gemacht hatte. Aren hatte Mary immer im Blick, folglich kam Cas in den Sinn, dass er vielleicht mehr für sie war als eine Wache oder ein Freund.

„Hast du Aren inzwischen kennengelernt?“, fragte er Galo und versuchte, es beiläufig klingen zu lassen.

„Ein bisschen. Er ist auf jeden Fall nicht in Mary verliebt, falls du das meinst. Er hat schon einen Eindruck bei ein paar weiblichen Wachen hinterlassen.“

Cas zuckte nur mit den Schultern. Er wollte nicht zugeben, dass es ihn interessierte, ob Mary jemand anderen liebte.

„Er ist ein bisschen komisch“, fuhr Galo fort. „Er hat sechs Abzeichen.“

„Und?“

„Das heißt, dass er sechzig Ruined umgebracht haben muss, aber er verhält sich eher wie ein ungeübter Jäger“, erklärte Galo. „Einer, der nicht damit klarkommt und nach ein paar Toten darum bittet, versetzt zu werden.“

Interessiert drehte sich Cas zu Galo. „Wie sind Jäger denn so?“ Galo hatte noch nie erzählt, wie es war, Jäger zu treffen. Für Cas war es schwer nachvollziehbar, sechzig Menschen umzubringen und dann noch eine Erinnerung daran auf der Brust zu tragen. Wobei die Ruined nicht direkt Menschen waren. Dennoch war er sich nicht sicher, ob er darauf stolz wäre.

„Aren benimmt sich genau wie die Neulinge immer – verstört, verängstigt.“ Galo wies mit dem Kopf in Arens Richtung. „Er ist schreckhaft und trägt immer seine Waffe bei sich, selbst wenn wir was trinken oder trainieren. Er ist ständig angespannt und prahlt auch nie mit den Abzeichen, nicht mal, wenn eine der anderen Wachen ihn darauf anspricht. Die anderen Jäger mit so vielen Abzeichen … “ Bitter dreinschauend schüttelte Galo den Kopf. „Die sind nicht so mitgenommen. Normalerweise jagen sie die Ruined gern. Sie sind eher stolz, aber doch nicht ängstlich.“

Cas sah wieder zu Aren. „Er könnte sie geklaut haben, um uns zu beeindrucken.“

„Wahrscheinlich“, antwortete Galo. „Lass ihn nichts Wichtiges übernehmen, bis ich ihn besser einschätzen kann. Auf jeden Fall ist er zu traumatisiert für irgendwelche entscheidenden Situationen.“

„Danke, werde ich nicht tun.“ Das Wort „traumatisiert“ hallte in Cas’ Gedanken nach und ließ ihn grübeln, wie viele Jäger im Moment engagiert waren. Die meisten Jäger kamen aus den Gefängnissen in Lera, ein paar auch aus Vallos. Was taten diese Menschen wohl, nachdem sie all die Ruined umgebracht hatten? Erwartete man von ihnen, dass sie ihr normales Leben weiterführten, als wäre nichts passiert?

„Mary sieht wirklich hübsch aus, heute, oder?“ Galos Worte holten Cas aus seinen Gedanken zurück.

„Ja.“

„Hast du mehr mit ihr geredet?“, fragte Galo vorsichtig.

„Nein.“

„Es ist nur …“ Galo brach ab.

Seufzend drehte Cas sich zu seinem Freund. „Raus damit.“

„Nein, ist nicht wichtig.“

„Doch ist es. Sag, was du sagen willst. Ich werde nicht wütend.“

Leise fuhr Galo fort. „Es ist nicht ihre Schuld, dass du sie heiraten musst. Aus ihrem Königreich ist niemand mit ihr gekommen, abgesehen von einer Wache. Sie muss einsam sein, meinst du nicht?“

Natürlich hatte Galo recht, aber das gab Cas nicht zu. Vielleicht hätte er wenigstens einmal bei ihr vorbeischauen können, seit Mary angekommen war. Sie dachte wahrscheinlich, dass er sie hasste.

Cas glaubte nicht, dass er sie hasste. Irgendwie konnte er keinerlei Gefühle für sie feststellen.

„Ich habe schon versucht, nett zu ihr zu sein“, sagte Cas. „Gestern habe ich ihr den Tipp mit Henry gegeben, für den Kampf.“

Galo musste lachen. „Diesen Tipp hat sie offensichtlich ignoriert.“

„Na ja, anscheinend hatte sie keinen leichten Gegner nötig.“

„Mit dem Schwert ist sie praktisch so gut wie du.“

„Übertreiben wir mal nicht gleich“, erwiderte Cas.

„,Praktisch‘, habe ich gesagt.“

Cas warf Galo einen belustigten Blick zu, dann seufzte er. „Ich hätte mir mehr Mühe geben können. Gestern, nach dem Kampf, hätte ich mit ihr reden sollen. Es ist nur alles so unangenehm.“

„Sicherlich. Aber es wird nur noch unangenehmer, wenn du nie mit ihr sprichst.“

„Na gut.“ Cas trat einen Schritt zurück und sah zu Mary. „Aber wenn sie sich weiter weigert, mich anzulächeln, gebe ich mir auch keine Mühe mehr.“

„Vielleicht solltest du als Erster lächeln.“

„Deine Redezeit ist vorbei.“

„Ja, Euer Hoheit.“ Galo lachte und stellte sich zurück auf seinen Platz an der Wand.

Während er wieder zurück zum vorderen Teil des Saales ging, versuchte Cas, einen angemessenen Gesichtsausdruck aufzusetzen. Genau. Jetzt lächelte er, beinahe.

„Willst du tanzen?“, fragte er Mary und reichte ihr seine Hand. Er müsste sich noch etwas überlegen, worüber sie beim Tanzen reden könnten, aber es war schon mal ein Anfang.

„Oh ja!“, rief Cas’ Mutter, bevor Mary die Möglichkeit hatte zu antworten. Fabiana wies die Musiker an, mit dem Spielen aufzuhören. „Der traditionelle Hochzeitstanz.“

„Mutter, sie hatte keine Zeit, den zu lernen“, erinnerte Cas sie. „Wir können doch einfach zu was anderem tanzen.“

„Es ist Tradition! Du führst sie, Cas.“

„Ich kann wirklich nicht …“

„Ich schaffe das“, unterbrach Mary sie mit strengem Gesichtsausdruck, als hätte man sie beleidigt. Cas wollte nicht implizieren, dass sie es nicht konnte. Er wollte ihr nur die Bloßstellung ersparen.

„Dann lass uns tanzen“, sagte er und hielt ihr erneut seine Hand hin.

Ihre Hand war kalt, als Mary aufstand und sie in seine legte. Kurz sah sie ihn an, dann schaute sie sich im Raum um. Die Leute hatten sich von der Tanzfläche verzogen, und die Musiker hinten richteten sich auf, die Bögen bereit zum Anfangen.

„Mir war nicht bewusst, dass wir die Einzigen sind“, bemerkte Mary, als Cas sie auf die Tanzfläche führte.

„Bereust du deine Entscheidung schon?“, fragte er sie.

Mary biss sich nur auf die Lippe.

„Du schaffst das schon.“ Er nahm ihre rechte Hand fest in seine linke und legte seine andere Hand auf ihren Rücken. „Zuerst gehe ich zurück und du nach vorn“, flüsterte er ihr zu. „Leg deine Hand auf meine Schulter.“

Sie konzentrierte sich nur auf ihn, während sie seine Anweisungen befolgte. Bisher war ihm noch gar nicht aufgefallen, dass in ihren dunklen Augen kleine goldene Flecke glitzerten. Jetzt, wo er ihr nahe genug war, um es zu erkennen, konnte er nicht mehr wegsehen.

Als die Musik anfing zu spielen, ging er einen Schritt zurück und drückte gleichzeitig leicht gegen ihren Rücken. Sie ließ sich von ihm führen, wobei ihr Kleid um ihre Beine schwang.

„Zur Seite“, wies er sie leise an. „Zurück, zurück.“

Schnell durchschaute sie die Schritte und ließ sich von ihm über die Tanzfläche ziehen und drücken. Für einen kurzen Moment streckte er seine und ihre Arme zur Seite, wodurch ihr Körper gegen seinen gedrückt war.

„Dreh dich“, sagte er und hob die Arme. Sie drehte sich. Als sie ihre Hand wieder auf seine Schulter legte, entdeckte er in ihren Augen ein Feuer, das das Verlangen in ihm auslöste, sie an sich zu ziehen.

Er bewegte sich immer schneller, gab ihr weiter leise Anweisungen. Zu spät erst bemerkte er, dass sie in die falsche Richtung gingen, und anstatt sie direkt gegen sich laufen zu lassen, hielt er sie an der Hüfte fest und hob sie vom Boden. Zusammen mit ihr drehte er sich, dann stellte er sie wieder auf den Boden. Um sie herum fingen alle an zu klatschen, als gehörte diese Einlage dazu.

Dankbar lächelte Mary ihn an. Sie war jetzt sicherer in den Schritten, als sie weitertanzten.

„Mir ist aufgefallen, dass du gestern meinen Tipp ignoriert hast“, sprach er sie leise an. „Beim Kampf.“

„Ich dachte, es wäre vielleicht eine Falle.“

„Eine Falle?“

„Ja. Als Teil der Tradition. Ein Versuch, mich dazu zu bringen, den einfachen Gegner zu nehmen, und zu sehen, ob ich mich darauf einlasse.“

Cas lachte. „Du vertraust Leuten nicht besonders, oder?“

„Nein.“

Er nahm seine Hand von ihrem Rücken. Sie drehte sich, dann legte er die Hand wieder zurück. Er wusste nicht, was er dazu sagen sollte.

„Also war es keine Falle?“, fragte sie zögerlich.

„Natürlich nicht.“ Cas sah kurz zu seinen Eltern. „Mein Vater wäre stinksauer, wenn er wüsste, dass ich dir geholfen habe. Das ist verboten.“

„Oh.“

„Du brauchtest allerdings keine Hilfe, offensichtlich.“

„Nein.“ Sie drückte leicht seine Schulter. „Aber danke.“

„Gern geschehen.“ Er schaute zu ihr runter. Ihre Mundwinkel bogen sich dezent nach oben. Es war das erste ehrliche Lächeln, das er bei ihr bisher gesehen hatte, und mit Abstand das schönste. Hinter diesem Lächeln steckten Geheimnisse, die er unbedingt ergründen wollte.

Mary nickte erst den Musikern zu, dann den Gästen, und das Lied war vorbei. Alle fingen an zu klatschen, selbst Fabiana stand strahlend und applaudierend auf.

Cas bot Mary seinen Arm an, den sie auch annahm. Eine Haarsträhne hatte sich aus ihrer Frisur gelöst und fiel auf ihre Schulter, und plötzlich hatte er das starke Bedürfnis, sie ihr hinters Ohr zu streichen.

Mary legte ihren Kopf schräg, als etwas vor ihnen ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Erschrocken rang sie nach Luft.

Cas drehte sich gerade noch rechtzeitig nach vorn, um zu sehen, wie die Klinge in seinem Körper versank.

6. Kapitel

Glück gehabt, war Ems erster Gedanke.

Sie musste einfach nur dastehen und zugucken, während dieser Mann mit dem Schwert Prinz Casimir umbrachte. Sie brauchte sich nicht mal Sorgen wegen der Hochzeitsnacht zu machen.

Ihr zweiter Gedanke war allerdings, was das für den Plan bedeuten würde. Sollte Cas sterben, käme sie zurück nach Vallos, und Jovita wäre dann die Nächste in der Thronfolge. Em hätte nichts erreicht, falls Cas jetzt starb.

Geschrei brach überall im Saal aus, als der Mann sein Schwert aus Casimirs linker Schulter zog. Cas stolperte nach hinten und ließ dabei Ems Arm los. Das Schwert des Mannes zielte direkt auf Casimirs Herz. Wie benommen stand der unbewaffnete und verwirrte Prinz da. Blut tropfte von seinen Fingern zu Boden. Offensichtlich war er nicht daran gewöhnt, angegriffen zu werden.

Die Situation war Folgende: ein Mann mit einem Schwert, mindestens zwanzig Männer der Wache, die bereits auf sie zugerannt kamen, und – am wichtigsten – Em. Ein Kinderspiel.

Em ging auf den Mann zu. Für sie war es nicht so ungewöhnlich, angegriffen zu werden. Es fühlte sich eher wie zu Hause an.

Sekunden, bevor er zustechen konnte, trat sie ihm gegen sein Knie. Der Mann verlor das Gleichgewicht, sein Schwert schwang zur Seite und verfehlte Cas. Jetzt drehte er sich zu Em, aber sie schlug ihm ihre Faust ins Gesicht, wobei sie ihn mit der anderen Hand gleichzeitig entwaffnete.

Als er auf sie losgehen wollte, zogen ihn plötzlich drei Wachen zurück. Eine von ihnen war Aren, der Em mit aufgerissenen Augen ansah, was entweder Anerkennung sein sollte oder Verwirrung.

„Cas! Cas!“, schrie die Königin, die sich an ihnen vorbeidrängte. Cas kniete auf dem Boden und hielt sich seine Schulter. Ein Großteil des Blutes wurde von seiner grauen Jacke verdeckt, trotzdem hatte sich auf dem Boden bereits eine kleine Pfütze aus dem Blut gebildet, das seinen Arm hinunterlief. Er sah sehr blass aus.

Jemand packte Em bei den Armen und hielt sie fest, obwohl sie versuchte, sich loszureißen.

„Wir müssen Euch in Sicherheit bringen, Hoheit“, sagte die Wache und zog weiter an ihren Armen. Zwei weitere Männer umzingelten sie.

Als sie weggebracht wurde, warf Em noch einen Blick über ihre Schulter zu Cas, konnte ihn allerdings nichts sehen, weil inzwischen so viele Menschen um den Prinzen herumstanden.

Du darfst nicht sterben, betete sie. Noch nicht.

Die Wachen brachten sie in ihr Zimmer und schlossen die Tür hinter sich. Alle drei blieben angespannt und mit den Armen hinterm Rücken verschränkt vor der Tür stehen.

Em spürte einen stechenden Schmerz in der Hand, mit der sie zugeschlagen hatte, beachtete ihn aber nicht weiter. „Ich möchte nachsehen, wie es Cas geht.“

Der größte Mann von den dreien schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid, Eure Hoheit. Es ist vorgeschrieben, dass wir Euch hier bewachen, bis festgestellt wurde, ob das Schloss wieder sicher ist.“

„Passiert so was öfter?“, fragte Em überrascht. Sie hatte immer gedacht, dass Lera das sicherste der vier Königreiche wäre. Dafür hatten sie schließlich alle anderen Königreiche unterdrückt.

„Für alle möglichen Situationen gibt es Vorschriften“, erklärte die Wache.

Keine direkte Antwort. Sehr interessant.

„Wisst ihr, wer das war?“, fragte sie nach. „Wieso wollte er Cas umbringen?“

„Es tut mir leid, Eure Hoheit, das weiß ich nicht. Er wird bald befragt.“

Em ging zu ihrem Bett hinüber und setzte sich in Gedanken versunken auf die Matratze. Ihr fiel niemand ein, der den Prinzen umbringen wollen könnte. Na ja, abgesehen von ihr selbst.

Die Minuten verstrichen nur langsam. Em pendelte zwischen Bett und Fenster hin und her, bis sich nach mindestens einer Stunde endlich die Tür öffnete. Draußen stand Jovita. Sofort sprang Em auf und rannte zu ihr.

„Lebt er?“, fragte sie.

„Ihm geht es gut“, antwortete Jovita. „Es hat nur seine Schulter getroffen.“

Em seufzte erleichtert, die drei Wachen folgten ihrem Beispiel.

„Er möchte dich sehen“, fuhr Jovita fort. Sie lehnte mit dem Rücken an der offenen Tür und gab Em mit zwei Fingern ein Zeichen.

Er wollte doch sicher nicht auf der Hochzeitsnacht bestehen, nachdem er angegriffen worden war, oder? Em schluckte. Zusammen mit Jovita und zwei Wachen ging sie den Flur entlang. Vielleicht waren seine Verletzungen gar nicht so schlimm. Er hat stark geblutet, aber Em kannte auch eigene Verletzungen, die zwar sehr geblutet, sie aber nicht sonderlich beeinträchtigt hatten.

„Wir sollten bald darüber reden, was in einem Notfall zu tun ist“, begann Jovita. „Es gibt einen Treffpunkt für den Fall, dass das Schloss eingenommen wird oder unsicher ist.“

„Und wo?“, fragte Em.

„Fort Victorra in den südlichen Bergen. Weißt du, wo das ist?“

„Ja, es ist nah an der Grenze zu Vallos.“

„Gut. Sicherheitshalber gebe ich dir später noch eine Landkarte. Die bekommen alle Mitglieder der königlichen Familie.“

Vor Casimirs Zimmer standen fünf Wachen. Jovita führte Em an ihnen vorbei und durch das dunkle Arbeitszimmer voller Bücher. Die Tür zu Casimirs Schlafzimmer stand einen Spalt offen.

„Du solltest dich ausruhen, Cas“, drang die Stimme der Königin von der anderen Seite der Tür zu ihnen.

„Mache ich, Mutter.“ Dann, etwas liebevoller: „Mir geht es gut.“

Jovita klopfte an und öffnete die Tür dann ganz. Das Zimmer war noch größer als das von Em, ausgestattet mit einem beeindruckenden Kleiderschrank und einem verschnörkelten Spiegel. Vor einem riesigen Fenster, dessen dunkelblaue Vorhänge im Moment zugezogen waren, standen zwei große Sessel. In der Mitte des Raums stand ein geräumiges Bett, in dem Cas oberkörperfrei und mit einem Verband um die Schulter lag. Er lächelte Em an, als sie ins Zimmer kam, wirkte aber immer noch ziemlich blass.

Die Königin drehte sich um und drückte Em plötzlich so fest an sich, dass es ihr schwerfiel zu atmen.

„Danke“, flüsterte Fabiana ihr zu.

Das Augenrollen verkniff Em sich, während sie sich aus der Umarmung der Königin befreite. Neben Fabiana stand ihr Mann, dem seine Dankbarkeit deutlich vom Gesicht abzulesen war. Sicherheitshalber verschränkte Em ihre Arme vor der Brust, damit er ja nicht auf die Idee kam, sie auch noch zu umarmen.

„Lasst ihr uns einen Moment allein?“, bat Cas.

„Wir warten gleich vor der Tür“, antwortete die Königin und wischte sich die Tränen von den Wangen.

Als sie an Em vorbeigingen, legte der König ihr seine Hand auf die Schulter.

„Wir haben dir einiges zu verdanken“, sagte er leise.

Em gab sich alle Mühe, nicht zu selbstgerecht zu wirken. Sie hätte sich bei dem König und der Königin nicht besser beliebt machen können, wenn es geplant gewesen wäre.

Mit einem dumpfen Geräusch fiel die Tür ins Schloss. Plötzlich wurde Em nervös und fing an, mit ihren Fingern zu spielen. Keine drei Schritte entfernt hing ein aufwendig mit Edelsteinen besetztes Schwert an der Wand, ein weiteres lag in der Scheide und bereit, eingepackt zu werden, auf der Kommode in der Ecke. Fünf Sekunden und der Prinz wäre tot. Verführerischer Gedanke, hätte Em ihm nicht gerade das Leben gerettet.

Cas lächelte sie immer noch an. Mit seiner gesunden Hand winkte er sie zu sich. „Kommst du her?“

Er hatte es als Frage formuliert, daher nickte sie und ging auf ihn zu. Sie war versucht, in der Mitte des Raumes stehen zu bleiben, aber das erschien ihr merkwürdig, also ging sie weiter und blieb neben dem Bett stehen.

Sie hatte noch nie einen Mann mit freiem Oberkörper im Bett liegen gesehen. Zwar hatte sie sich schon öfter ein Zelt mit Damian geteilt, aber das war irgendwie anders gewesen. Da waren sie beide angezogen, es war schmutzig, und meist war auch noch Aren dabei. Das hier fühlte sich intimer an. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und sie wischte die verschwitzten Hände an ihrem Kleid ab.

„Ich wollte mich nur bedanken.“ Cas schaute ihr die ganze Zeit in die Augen, weshalb sie Mühe hatte wegzusehen. In einem bestimmten Licht sahen seine Augen blau aus, aber manchmal war auch ein Grünstich zu erkennen. So oder so waren sie auffallend klar.

„Gern geschehen.“

„Mir an unserem Hochzeitstag auch noch das Leben zu retten ist wirklich mehr, als von dir erwartet wird.“

„Nicht der Rede wert.“

Cas zog einen Mundwinkel und zugleich auch eine Augenbraue nach oben. Er fand es amüsant, aber gleichzeitig auch … interessant? Er sah sie an, als würde er sie mögen. Em war sich nicht sicher, ob sie wollte, dass er sie mochte. Dennoch musste sie zugeben, dass es hilfreich wäre. Sie konnte ihn schlecht ignorieren und trotzdem erwarten, geheime Informationen über Olivias Aufenthaltsort oder Leras Abwehr zu bekommen.

Sie ging noch einen kleinen Schritt näher ans Bett. „Hast du Schmerzen?“

„Ein bisschen. Es wird besser.“ Er schaute auf seinen Verband. „Der Arzt hat mir was dagegen gegeben. Er meinte, davon würde ich schläfrig werden, also wundere dich nicht, wenn ich plötzlich wegnicke.“

Sie unterdrückte einen erleichterten Seufzer. Wenn er einschlief, erwartete sicherlich niemand von ihr, zu ihm ins Bett zu steigen. Ihr blieben also noch ein oder zwei Tage, bis sie sich dieser besonderen Herausforderung stellen musste.

„Kommt es öfter vor, dass du angegriffen wirst?“

„Das war das erste Mal.“ Er lächelte ihr aufmunternd zu. „Normalerweise ist es in Lera wirklich sicher. Besonders hier im Schloss. Du musst dir keine Sorgen machen.“

„Mache ich nicht. Ich habe ihn doch besiegt.“

Er lachte, und seine Augen blitzten vergnügt. „Das hast du. Es war ganz schön beeindruckend.“

„Ich wurde schon öfter angegriffen, als ich zählen kann“, sagte sie fast schon eingebildet.

Das Lächeln auf Cas Gesicht verschwand. „Stimmt. In Vallos gibt es viele Ruined, oder?“

„Gab es mal, inzwischen sind es weniger.“

„Und die haben dich oft angegriffen?“

In ihr stieg mehr und mehr Wut auf, vor allem wegen seines mitfühlenden Gesichtsausdrucks. Er hatte Mitleid, weil sie mit diesen schrecklichen, bösen Ruined zu tun gehabt hatte.

„Sie wurden gejagt und umgebracht, da haben sie sich oft gewehrt, ja.“ Bevor sie nachdenken konnte, sprudelten die Worte aus ihrem Mund. Es war ihr egal. Sie würde es wieder sagen, allein, um den dummen, verwirrten Blick von Cas zu sehen.

„Denkst du …“, begann er, zuckte aber vor Schmerz zusammen, bei dem Versuch, sich aufzusetzen.

„Du solltest dich ausruhen“, unterbrach sie ihn schnell, bevor er den Satz zu Ende bringen konnte. Mit dem Prinzen über die Ruined zu sprechen war wirklich das Letzte, was sie wollte. Sie wäre vermutlich nicht in der Lage, die Kontrolle zu wahren.

Em ging einen Schritt vom Bett weg, aber er hielt sie mit einer Hand zurück. Er sah nachdenklich aus, sein Blick war sanft und überhaupt nicht mit dem seines Vaters zu vergleichen. „Ich würde gerne mehr über deine Erfahrungen mit den Ruined reden. Wenn es dir nichts ausmacht, erzähl ruhig mal.“

„Sicher“, log sie ihm ins Gesicht, in der Hoffnung, dass er es wieder vergessen würde.

Er strich ihr mit dem Daumen über die Hand. Da fiel ihr erst auf, dass ihre Knöchel rot und lilafarben angelaufen waren vom Schlag.

„Soll sich der Arzt noch deine Hand ansehen?“ Er lockerte seinen Griff, als hätte er Angst, ihr wehzutun.

„Nein, das ist schon gut“, antwortete sie. „Nur ein blauer Fleck.“

Langsam ließ er sie los. Während sie zur Tür ging, hatte sie zwar den Kopf gesenkt, aber einen letzten Blick zurück zu ihm konnte sie sich dennoch nicht verkneifen. Seine nackte Brust schimmerte im Licht der Lampe, die neben seinem Bett stand. Er wischte sich eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Gute Nacht“, sagte er.

Em griff nach der Türklinke und murmelte nur noch ein „gute Nacht“, bevor sie die Tür aufzog und aus dem Zimmer ging.

7. Kapitel

Schritte näherten sich, und Cas drehte seinen Kopf zur Tür. Den Morgen über war er hauptsächlich allein gewesen, und sein erster Gedanke – oder seine Hoffnung – war, dass es Mary sein musste. Er lehnte sich gegen sein Kissen und fuhr sich mit der Hand durchs Haar.

Allerdings war es Galo, der die Tür öffnete. Cas versuchte sich einzureden, dass er nicht enttäuscht war.

„Hoheit“, sagte Galo, während er ins Zimmer kam.

„Sind wir heute Morgen ganz förmlich?“

„Scheint angebracht, nachdem ich dich gestern schon nicht verteidigt habe.“ In Galos Stimme klang etwas Merkwürdiges mit; außerdem sah er Cas nicht direkt an.

„Fast alle Wachen waren im Saal. Ich glaube nicht, dass wir dich persönlich dafür verantwortlich machen können“, scherzte er, aber Galo war nicht nach Lachen zumute. „Hat mein Vater dich angeschrien?“

„Deine Mutter auch. Und Jovita. Die Wachen am Eingang, die den Mann durchgelassen haben, wurden entlassen.“

Seufzend lehnte Cas sich zurück, wobei Schmerz durch seine Schulter schoss. „Wissen sie schon, wer er überhaupt ist?“

„Ich habe noch nichts gehört. Im Moment ist der König bei ihm.“ Galo rieb sich mit der Hand über das stoppelige Kinn. „Ich muss mich dafür entschuldigen, dass …“

„Nein, musst du nicht“, unterbrach Cas ihn. „Ich möchte nicht immer und überall von Wachen belagert werden. Du kannst mich nicht rund um die Uhr beschützen.“

„Eigentlich ist das mein Job. Dich die ganze Zeit zu beschützen. Obwohl, wie es aussieht, ist Mary gern bereit, ab und zu auszuhelfen.“

„Ja, ist sie“, murmelte Cas, der in dem Augenblick das Bild von Mary, wie sie dem Mann ins Gesicht schlug, vor Augen hatte. Jahrelange Kämpfe gegen die Ruined hatten sie zu einer ausgezeichneten Kämpferin gemacht.

„Aber ich muss mich schon im Namen der Wache entschuldigen“, fuhr Galo fort. „Wir würden es dir nicht verübeln, wenn du uns alle austauschen möchtest.“

„Du weißt, dass ich das nicht tun werde“, entgegnete Cas.

„Das wäre keine so schlechte Idee.“ Jovita stand in der Tür. Mit einem kurzen Kopfnicken wies sie Galo an, aus dem Zimmer zu gehen, was der Wachsoldat auch zügig tat.

Jovita kam ins Zimmer und schloss die Tür hinter sich. „Wie geht es deiner Schulter?“

„Gut. Die Verletzung ist nicht so schlimm, aber der Arzt hat darauf bestanden, dass ich heute noch im Bett bleibe.“

„Ich bin froh, dass es so glimpflich ausgegangen ist.“

Cas schnaubte. „Genau.“

Jovita warf ihm einen genervten Blick zu, aber gleichzeitig umspielte ein Lächeln ihre Lippen, als sie sich in den Sessel neben dem Fenster fallen ließ. „Ich wäre sehr traurig, wenn dir etwas zustoßen würde, Cas.“

„Sicherlich. Du wärst am Boden zerstört, den ganzen Weg bis zum Thron hin.“

Jovita saß seitlich im Sessel, sodass ihr langer, dunkler Zopf über die Armlehne baumelte, als sie ihren Kopf nach hinten neigte. „Erwischt. Ich habe den Mann engagiert, damit er dich auf deiner Hochzeit umbringt. Weil ich entsetzlich neidisch auf dich bin.“

„Wusste ich’s doch. Obwohl ich immer dachte, dass du Gift nehmen würdest.“

„So ist es viel dramatischer.“ Sie drehte sich grinsend zu ihm. „Ich bin allerdings mit wichtigen Neuigkeiten hier“, sagte sie und schwang ihre Beine herum, damit sie wieder gerade saß. „Der Mann, der dich angegriffen hat, hat endlich den Mund aufgemacht. Es ist ein Jäger.“

Cas war verdutzt. „Ein Jäger? Der Ruined jagt?“

„Ja.“

„Was hat das mit mir zu tun?“

„Eine kleine Gruppe von Jägern hat sich gegen den König verbündet. Sie verlangen schon eine ganze Weile nach Änderungen an den Jagdtaktiken. Hauptsächlich, dass niemand mehr dazu gezwungen wird.“

„Würden sich denn wirklich Leute freiwillig melden, um Ruined zu jagen und zu töten?“

„Nicht viele. Deswegen wird es als Strafe genutzt, statt Gefängnis.“ Sie rieb sich ihr Kinn. „Was Kriminelle wollen, ist irrelevant. Wir brauchen Jäger. Der König hatte bereits Gerüchte gehört, dass sie sich zusammenschließen, aber offensichtlich müssen wir anfangen, es ernster zu nehmen. Bisher hat der Mann noch keine anderen Namen genannt, aber er kann nicht allein gewesen sein. Wir finden seine Komplizen schon. In der Zwischenzeit haben wir immer noch genügend Jäger, die am Tag mehrere Ruined umbringen.“

Sie wurden gejagt und umgebracht, da haben sie sich oft gewehrt, ja. Zum hundertsten Mal, seit Mary die Worte ausgesprochen hatte, gingen sie Cas durch den Kopf. Er hatte noch nie mitbekommen, wie jemand die Ruined auch nur ansatzweise in Schutz nahm. Niemand benutzte das Wort „umgebracht“. Sie wurden beseitigt, ausgelöscht oder vernichtet. Marys Wortwahl klang in ihm nach, ließ ihm keine Ruhe.

„Machst du dir jemals Gedanken, ob es die richtige Entscheidung ist, all die Ruined auszulöschen?“, fragte er vorsichtig.

Jovita zog ihre Augenbrauen so hoch, wie es irgend ging. „Nein!“

„Sind sie wirklich alle so schlimm? Jeder Einzelne von ihnen?“

„Ja, jeder Einzelne“, antwortete sie mit einem Hauch von Verbitterung. Sie war erst seit einem Jahr eine Beraterin des Königs, dennoch tat sie die ganze Zeit so, als wüsste sie viel mehr als Cas. „Über Jahrhunderte haben die Ruined uns beherrscht, ohne jegliches Mitgefühl. Wir revanchieren uns nur.“

„Stimmt“, murmelte Cas. Er selbst hatte die Zeiten nicht miterlebt, in denen die Ruined Menschen unterdrückt oder sie aus Spaß getötet hatten. Sein Vater auch nicht. Sein Großvater hatte die Ruined aus Lera vertrieben, aber schon Jahre zuvor hatten sie ihre Macht über die Menschen verloren, nachdem ihre Kräfte schwächer wurden. Die Strafe der Ahnen dafür, dass sie ihre Kräfte missbraucht hatten, hatte sein Großvater immer gesagt.

Dass die Ruined ihre Kräfte verloren haben, hatte nichts mit den Ahnen zu tun, waren hingegen die Worte seines Vaters, die meist von einem Augenrollen begleitet wurden. Sein Vater war noch nie die Art von Mensch gewesen, die an etwas glaubte, was man nicht mit eigenen Augen sehen konnte. Die Ruined steigen wieder auf, wenn wir sie nicht daran hindern.

Bei den Worten „Die Ruined steigen wieder auf“, fuhr Cas damals jedes Mal ein eisiger Schauer über den Rücken, doch nun spürte er nur die Last der vielen verlorenen Leben. Trotz all ihrer Kräfte konnten sie nicht von den Toten auferstehen.

Jovita stand auf. „Die Krieger aus Olso werden in zwei Tagen hier ankommen. Wird es dir bis dahin gut genug gehen, um beim Essen dabei zu sein?“

„Natürlich wird es das. Ich werde sicherlich nicht den ersten Besuch der Krieger in Lera seit zwei Generationen verpassen.“

„Schön. Versuch bitte, diesmal nicht abgestochen zu werden. Wir wollen ja nicht, dass die Krieger denken, wir bräuchten jemanden aus Vallos, um unseren Prinzen zu retten.“ Sie sagte „Vallos“, als wäre es etwas Widerliches, dennoch umspielte ein Lächeln ihre Lippen.

„Entsetzliche Vorstellung! Beinahe so schlimm, wie beim Bündniskampf von ihrer Prinzessin besiegt zu werden.“

Jovita funkelte ihn an, während er sich lachend tiefer in die Kissen sinken ließ.

„Also, bisher hatte ich ja nicht vor, dich zu vergiften, aber jetzt auf jeden Fall“, sagte sie und zog die Tür schwungvoll auf. „Pass lieber auf, Prinz Casimir.“

Er grinste sie an. „Dafür habe ich doch schon Mary.“

„Wieso scheint eigentlich immer die Sonne?“ Aren sah angewidert in den Himmel und schützte seine Augen dabei mit der Hand vor dem grellen Licht. „Selbst das Wetter hier macht sich über mich lustig.“

Em sah ebenfalls zum strahlend blauen Himmel auf. Es wehte eine frische Brise, die Vögel flogen in Richtung Meer. Durch die vielen Blumen blühten die Schlossgärten rot, gelb und pink, an den Bäumen prangten verschiedene Zitrusfrüchte. Lera war wirklich ekelhaft schön.

„Von den Ahnen gesegnet“, sagte Em sarkastisch.

Aren rollte mit den Augen. „Wenn ich mir das noch einmal anhören muss, bringe ich jemanden um. Wundere dich nicht, wenn jemand plötzlich seinen Kopf verliert.“

Em drehte sich um und schaute den leeren Weg hinter ihnen hinunter. „Sag das doch noch etwas lauter, denn ich glaube, die auf der anderen Seite des Gartens haben dich nicht gehört.“

„Tut mir leid.“ Er senkte die Stimme. „Meine Mutter hat mir immer erzählt, dass die Ahnen mich gesegnet haben. Ich mag es nicht, wenn andere so was sagen.“

„Ich weiß“, sagte Em verständnisvoll.

„Vielleicht haben die Ahnen niemanden gesegnet. Vielleicht gab es gar keine Ahnen.“ Arens Stimme klang etwas zittrig. Seine Mutter war damals eine Geistliche gewesen, weshalb seine Worte Em sehr trafen. Noch vor einem Jahr hätte er nicht mal im Traum daran gedacht, so zu reden.

Em griff nach seiner Hand und drückte sie, und er erwiderte die Geste.

Sie näherten sich dem Rand des Gartens, und langsam tauchte das Schloss vor ihnen auf. Zwischen der Mauer und den Gärten war ein breiter Grünstreifen, damit die Wachen jeden sehen konnten, der versuchte, über die Mauer zu klettern.

„Eine Wache im Turm“, sagte Em, ohne sich noch mal danach umzudrehen. Der Turm lag auf der Ostseite des Schlosses und ragte über das Gebäude hinaus. Der perfekte Punkt, um die Mauer im Auge zu behalten.

„Vielleicht zwei“, fügte Aren hinzu. „Und hast du den Wachposten gesehen, als wir angekommen sind? So wie der steht, hat er einen ausgezeichneten Überblick über die gesamte Schlossanlage.“

„In der dummen Kutsche konnte ich gar nichts sehen.“

„Zwischen den Bäumen, nicht weit vom Haupttor entfernt.“

„Du musst herausfinden, wie die Wachen sich abwechseln. Ich möchte wissen, ob es immer dieselben Leute sind, oder ob sie immer neue nehmen.“

„Wird gemacht.“

Em berührte die Mauer. Stein. Sie war sehr hoch, aber vorn stand ein Baum relativ nah an der Mauer, den man hochklettern könnte. Es wäre nur ein ziemlicher Sprung bis auf die andere Seite.

„Sind auf der anderen Seite auch Wachen?“, flüsterte sie.

„Ja. Keine beliebte Stelle. Anscheinend sehr langweilig. Außerdem muss man die ganze Zeit stehen.“

„Bring in Erfahrung, wie viele es sind und wo sie stehen.“

„Schon dabei.“

„Ein Ruined könnte die Mauer zerstören, oder?“, fragte sie. „Jedenfalls ein Stück davon?“

„Damian könnte mit ganzer Kraft mindestens einen großen Brocken runterholen.“

„Gut.“

Sie gingen weiter, wobei Em sich merkte, wie lange es dauerte, den ganzen Weg zu gehen. Sollte eine schnelle Flucht nötig sein, würde die Mauer ein erhebliches Problem darstellen.

„Wie ging es dem Prinzen gestern? Du warst bei ihm, oder?“, fragte Aren sie.

„Gut, es ist nur eine verletzte Schulter.“ Sie schnaubte. „Er möchte mit mir über die Ruined reden.“

„Was? Wie seid ihr denn darauf gekommen?“

„Meine Schuld. Ich kann einfach nicht die Klappe halten. Ich habe vielleicht gesagt, dass sie uns umbringen.“

„Mary würde die Ruined hassen, Em. Sie haben ihre Eltern ermordet.“

„Na und? Niemand hier hat die Prinzessin jemals getroffen. Sie können sich da nicht so sicher sein.“

„War er wütend? Meinte er: ‚Darüber reden wir später, Untertan, lass mich in Ruhe weitermorden‘?“ Er verstellte seine Stimme dabei, um Cas nachzuahmen, und grinste.

„Nein. Es schien eher so, als wäre er neugierig. Als würde er darüber sprechen wollen“, antwortete sie, woraufhin Aren sie verdutzt ansah. „Ich weiß! Ich habe nie in Erwägung gezogen, dass man ihn vielleicht zur Vernunft bringen könnte.“

„Das ist keine Option“, erklärte Aren. „Selbst wenn er dir zuhört und der König morgen stirbt, würde es nichts ändern. Alle Berater des Königs sind Unterstützer der jetzigen Methode, was die Ruined angeht. Außerdem, wie alt ist er? Siebzehn?“

„Ja.“

„Seit zwei Jahren hätte er den Thron übernehmen können. Er war bei den Treffen, bei denen sie darüber entschieden haben. Hätte er etwas zu sagen, hätte er es schon getan.“

„Stimmt. Mitgefühl allein bringt nicht viel, wenn keine Taten folgen.“ Kurz überkam sie ein leichtes Zittern, als ihr das Bild von Cas oberkörperfrei durch den Kopf ging. Sie wollte ihn nicht in ihrem Kopf haben.

„Hast du schon irgendwas von Olivia gehört?“, unterbrach Aren ihre Gedanken.

„Nein. Ich warte noch auf eine passende Gelegenheit, es unauffällig anzusprechen. Sie dürfen nicht misstrauisch werden. Bisher reden sie mit mir nur über Kleider oder die Hochzeit. Sie haben mir noch nicht mal erzählt, wann die Olso-Krieger kommen. Ich arbeite schon an meinem überraschten Gesichtsausdruck.“ Em zog die Augenbrauen hoch und riss ihren Mund auf. „Wie ist das?“

„Grauenvoll, hör auf damit.“

„Vielleicht denkt Cas daran und erzählt es mir heute, immerhin sollen sie sehr bald ankommen. Vor gestern hat er fast überhaupt nicht mit mir geredet, also gab es auch noch nicht so viele Möglichkeiten.“ Sie sah plötzlich bedrückt aus. „Ich glaube, er mag mich.“

„Das war das Ziel, oder?“

„Ich schätze schon.“

Aren rieb sich mit einer Hand den Nacken. „Wir haben nie über … na ja … Sex und so geredet.“

„Und so wird es auch bleiben.“

„Wirst du ihn bitten, damit zu warten? Ich finde nicht, dass es unverschämt wäre. Schließlich habt ihr euch gerade erst kennengelernt.“

„Darüber reden wir nicht, Aren.“

„Stimmt, tut mir leid.“ Er vergrub die Hände in seinen Taschen und entfernte sich ein paar Schritte von ihr. „Ich muss wieder. Ich meinte zu den anderen, dass ich nur kurz nach dir sehe, also erwarten sie mich zurück.“ Er musste grinsen. „Außerdem sollten wir nicht zu viel Zeit zusammen verbringen. Die Leute denken, wir schlafen miteinander.“

Em versuchte, ihr Grinsen zu unterdrücken, und rümpfte stattdessen ihre Nase. „Igitt.“

„Ganz meine Meinung.“

8. Kapitel

Im Schloss fingen die Leute an, Em mit „Eure Königliche Hoheit“ oder „Prinzessin Mary“ anzusprechen, wobei sie jedes Mal innerlich zusammenfuhr.

Die Königin wollte eigentlich damit anfangen, Em in ihre „königlichen Pflichten“ einzuweisen, aber die nächsten beiden Tage verbrachte Mary meist allein und damit, die Schlossanlage zu studieren und nach Schwachstellen Ausschau zu halten. Essen tat sie auch allein, da die Königin und der König nach dem Angriff auf Cas nahezu verschwunden waren. Wahrscheinlich kümmerten sie sich um den Jäger, der lieber die königliche Familie umbringen wollte als die Ruined.

Cas ließ nicht nach ihr schicken, also besuchte sie ihn auch nicht. Von den Wachen wusste sie aber, dass er sich gut erholte. Anscheinend erwartete er nicht, dass sie ihm im Bett Gesellschaft leistete, sodass Em in den Nächten durch das Schloss wandern konnte. Sie konnte in Zimmer hineinhuschen, durch die Ankleiden gehen, jeweils auf der Suche nach Informationen über Olivias Aufenthaltsort.

Jovita war diejenige, die sich schließlich daran erinnerte, Em über den Besuch der Krieger aus Olso zu informieren, die für den Sommer nach Lera kamen, was Em die Gelegenheit gab, ihren überraschten Gesichtsausdruck aufzusetzen. Für das Willkommensessen gab man ihr ein wunderschönes hellrosa Kleid.

Inzwischen hatte sie eine gute Auswahl an Kleidern, von denen ihr Davina versicherte, dass sie noch viele Gelegenheiten haben werde, sie zu tragen. Es schien so, als wäre Feiern das Einzige, was die Menschen in Lera noch lieber machten als zu kämpfen.

Das Kleid für diesen Abend hatte eine lange Knopfleiste am Rücken, aber einen tiefen Ausschnitt vorn, der eine Menge Oberweite preisgab. Die meisten Kleider, die Em bekam, waren eher freizügig, was sie vermuten ließ, dass die Königin sie absichtlich ausgesucht hatte, um das konservative Mädchen aus Vallos in Verlegenheit zu bringen.

Lächelnd drückte Em ihre Schultern durch. Glücklicherweise war sie nicht aus Vallos.

Kurz nach Sonnenuntergang klopfte Cas an ihre Tür. Er trug eine schwarze Hose, ein weißes Hemd und eine offene schwarze Jacke mit silbernen Knöpfen. Er sah ein wenig zerzaust aus, als wäre er ein paar Mal durchs Schloss gerannt, bevor er bei ihr ankam. Sie hätte es bestimmt niedlich gefunden, wenn sie nicht so wild entschlossen gewesen wäre, ihn zu hassen.

„Guten Abend“, sagte er, als sie aus dem Zimmer kam. Plötzlich war sie sich nicht mehr so sicher, wo sie ihre Hände lassen sollte.

„Hallo“, murmelte sie und wich seinen Blicken aus. Er hielt ihr seinen gesunden Arm hin, den sie auch annahm, und führte sie den Flur entlang.

„Geht es dir gut?“ Kurz schaute sie zu ihm hoch. Das dunkle Schwarz seiner Jacke ließ seine Augen noch mehr hervorstechen als sowieso schon. Es fiel ihr schwer, ihn nicht anzustarren.

„Ja, danke. Leichte Schmerzen noch, aber es verheilt gut.“

„Das freut mich“, log Em. Wie „gut“ ging es ihm wohl genau? Gut genug, um die Hochzeitsnacht nachzuholen? Sie erschauderte. Mit den Fingern strich sie im Vorbeigehen über die Vorhangkordel.

„Jovita hat dir von den Kriegern erzählt?“, fragte er.

„Hat sie. Ich war überrascht. Ich dachte, das Verhältnis zwischen Olso und Lera wäre angespannt.“

„War es eine lange Zeit, aber die Krieger haben kürzlich einen Schritt auf uns zugemacht. Wollten persönlich kommen und über ein paar Verträge sprechen. Sie wollen den Frieden wahren, sagen sie.“

„Das ist wunderbar“, sagte sie, wobei sie sich ein Lächeln verkniff. Da war nicht mal ein Anflug von Misstrauen in Casimirs Ton. Er dachte tatsächlich, dass die Krieger gekommen waren, um Lera die Füße zu küssen, wie alle anderen.

„Hast du schon mal einen getroffen?“

Oh ja, und zwar nicht nur die, mit denen sie vor Kurzem noch verhandelt hatte. Viele Olso kamen nach Ruina, da ihre Könige und Königinnen immer eher fasziniert von den Ruined gewesen waren, anstatt Angst zu haben. Ems Mutter hatte die Krieger immer dafür bewundert, wie sie ihr Leben dem Kampf widmeten, also hatte sie viele von ihnen als Gäste in das Schloss eingeladen.

Cas wartete auf eine Antwort und beobachtete sie. Würde Mary irgendwelche Krieger kennen? Wahrscheinlich nicht. Olso schaute auf Vallos herab.

„Ich kann mich nicht daran erinnern“, bekannte Em fröhlich.

Die Geräusche von Gelächter und Unterhaltungen wurden immer lauter, als sie sich den Doppeltüren des Hauptspeisesaals näherten. Ein Bediensteter öffnete die Tür, und Em und Cas gingen hinein.

In der Saalmitte waren mehrere lange Tische aufgestellt, von denen die meisten schon voll besetzt waren. In der Mitte jedes Tisches standen große Schalen mit Obst und Brot. Die Bediensteten huschten umher, füllten Weingläser auf.

Es waren mindestens dreihundert Leute, vielleicht auch mehr. Die meisten Hochzeitsgäste blieben noch über Wochen im Schloss, genau wie die Krieger es vorhergesagt hatten. Um Lera richtig zu stürzen, musste Em viele der Oberhäupter umbringen, und davon saßen gerade eine Menge in diesem Raum. Die Gouverneure der sechs Provinzen, von denen fünf anwesend waren, unterstanden direkt dem König. Außerdem waren ein paar Abgeordnete da, die sich um Sicherheit und die Soldaten in ihrer jeweiligen Region kümmerten. Die Königin hatte Em noch erzählt, dass die Richter, also der niedrigste Rang in Lera, zum Großteil zu Hause geblieben waren, um sich in Abwesenheit der Gouverneure und Abgeordneten um die Provinzen zu kümmern. Aber sie waren sowieso nicht sonderlich wichtig.

„Prinz Casimir und Prinzessin Mary“, verkündete eine Stimme.

Im Saal standen alle zügig auf, was Em die Gelegenheit gab, sich umzusehen und nach den Kriegern Ausschau zu halten.

„Setzt euch bitte“, sagte Cas, und alle nahmen wieder ihre Plätze ein.

Drei Leute in rot-weißer Uniform blieben einen Augenblick länger stehen als die anderen. Die Krieger. Zwei Männer und eine Frau. Tatsächlich kannte Em das Mädchen. Vor drei Jahren war sie länger im Schloss in Ruina zu Besuch gewesen, mit ihren Eltern. Eine mächtige Olso-Familie.

Iria war ihr Name.

Als sie sie entdeckte, zuckte ein süffisantes Grinsen um ihren Mund. Em musste sich ein Augenrollen verkneifen. Die meiste Zeit, die Iria im Schloss in Ruina gewesen war, hatte sie damit verbracht, Em zu Duellen herauszufordern („Bis zum Tod!“, hatte sie dann immer gerufen und gekichert); die restlichen Stunden hatte sie alles darangesetzt, Em und Olivia zur Weißglut zu treiben.

War ja klar, dass König Lucio Iria schickte. Wahrscheinlich hatte sie darauf bestanden, weil sie wusste, dass es Em nerven würde.

Em atmete tief durch und sah, dass Cas sie anstarrte.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte er sie und zog die Brauen zusammen.

„Ja.“ Sie räusperte sich. „Sollen wir uns hinsetzen?“

Cas führte sie zu einem Tisch am anderen Ende des Raumes, an dem Jovita und ein paar der Gouverneure bereits Platz genommen hatten. Sofort fiel ihr auf, dass die Krieger nicht bei der königlichen Familie saßen, was nach einer absichtlichen Kränkung aussah.

Ein Bediensteter geleitete die Krieger gerade an den Tisch, als Em und Cas sich setzten. Em beugte sich vor und setzte ein breites Lächeln auf.

Den lächelnden Krieger mit den strahlenden Augen stellte der Bedienstete als „Koldo Herrerro“ vor.

„Benito Lodo.“ Der Mann mit dem dunklen Bart nickte.

„Iria Ubino.“

Iria machte einen Schritt auf sie zu. Ihr langes, lockiges, dunkles Haar fiel ihr über die Schulter, als sie ihren Kopf vor Em und Cas beugte, die übliche Begrüßung der Lera. Ihre dunklen Augen waren allein auf Em gerichtet. Cas sah zwischen den beiden hin und her.

„Kennt ihr euch?“, fragte er laut genug, dass es alle Krieger mitbekamen.

Iria verzog ihren Mund zu einem halben Lächeln. Em hoffte, die Kriegerin wusste, dass sie sich gerade ausmalte, sie zu erwürgen. „Nicht, dass ich wüsste.“

Iria schwieg eine ganze Weile, bevor sie antwortete. Währenddessen wünschte Em sich nur, es würde Iria nicht so offensichtlich Spaß machen, sie zu foltern.

„Verzeihung“, erwiderte Iria endlich. „Sie ähneln nur einer alten Bekannten von mir, Eure Hoheit.“

Em betete stumm, dass ihr Gesichtsausdruck gerade in irgendeiner Weise Freundlichkeit signalisierte, denn sie konnte sich nur sehr mühsam davon abhalten, Iria gegen das Bein zu treten.

Erschrocken fuhr sie hoch, als Cas’ Finger sanft ihre eigenen berührten und sich um ihre Hand schlossen. Iria beobachtete sie, und die kleine Szene schien sie nur noch mehr zu amüsieren.

„Bitte setzt euch“, sagte Cas.

Die Krieger gingen zurück zu ihren Plätzen, aber nicht bevor Iria Em noch einen Blick über die Schulter zugeworfen hatte. Cas zog seine Hand wieder zurück, beugte sich aber zu Em.

„Sie hat nur versucht, dich aus der Fassung zu bringen“, beruhigte er sie. „Lass sie nicht an dich heran.“

Ein ausgezeichneter Rat, aber leider unter den Umständen vollkommen falsch.

Die Diener fingen an, die Speisen zu servieren, und der Saal vibrierte erneut unter den Klängen von Gelächter und fröhlichen Unterhaltungen. Em zwang sich zum Essen, damit Cas sich bloß keine Sorgen machte.

Als alle fertig waren und die Musik zu spielen anfing, betraten auch endlich der König und die Königin den Saal. Einen Augenblick lang wurde es still. Em sah zu, wie König und Königin an den Kriegern vorbeigingen, ohne einen Ton zu sagen. Alle drei Gäste starrten die Königin mit ernsten Mienen an. Fabiana war ohne Frage die berüchtigste Verräterin in Olso und tat auch nichts, um die Situation zu entkrampfen.

Die Musiker fingen wieder an zu spielen. Em sah kurz zu Cas und lehnte sich dann zu ihm. Ihre Lippen berührten fast sein Ohr. „Wieso kommen sie jetzt erst?“

Er schüttelte nur dezent den Kopf. „Ich weiß es nicht.“

„Eine Kränkung für die Kämpfer“, fuhr Em fort. „Sieh sie dir an.“

Unauffällig schaute Cas zu ihnen und dann zurück zu Em. „Ich glaube, alles hier kränkt sie. Sie sind immer über irgendetwas wütend.“

„Und deine Eltern haben sichergestellt, dass sie auch darüber wütend sind.“

„Denkst du?“ Cas zog eine Augenbraue hoch.

„Ja.“ Typische Strategie der Lera. Ihnen war es schon immer mehr darum gegangen, allen zu zeigen, dass sie etwas Besseres waren, als darum, anderen ein wenig Respekt zu erweisen.

„Ich gehe mal eben hin und begrüße sie“, erklärte Em. „Damit sie sich ein bisschen willkommen fühlen.“

„Ich hatte den Eindruck, dass du Angst vor ihnen hast“, entgegnete er. „Du hast Iria beinahe so angesehen, als würde sie jeden Moment mit einem Schwert auf dich losgehen.“

Em verzog das Gesicht auf eine Weise, die Cas zum Lachen brachte. „Ich habe keine Angst!“

„Ein bisschen Angst vor den Kriegern ist wahrscheinlich angebracht.“

„Ich habe keine Angst“, wiederholte sie nachdrücklich. „Was sollen sie schon machen? Mich vor allen Leuten umbringen?“

„Eher unwahrscheinlich.“

„Das war nun nicht sehr beruhigend.“

Seine Augen funkelten vor Vergnügen. „Ich wollte ehrlich sein, nicht beruhigend. Erst kürzlich wurde ich auf meiner eigenen Hochzeit angegriffen, vergessen wir das nicht.“

„Stimmt.“

Sein Blick wanderte zu den Kriegern. „Wieso fragen wir sie nicht, ob sie herkommen möchten?“

„Nein, es wäre besser, wenn ich zu ihnen gehe, ein Zeichen des Respekts.“

Für einen Augenblick hielt Cas inne. „In Ordnung. Ich komme mit.“

Dem konnte Em nicht widersprechen, nicht ohne zu verraten, dass sie allein mit ihnen sprechen wollte. Sie und Cas standen auf, wobei Cas sich noch kurz zu seinem Vater beugte und ihm etwas zuflüsterte. Der König runzelte die Stirn, versuchte aber nicht, sie davon abzuhalten.

Im Saal um sie herum wurde es ruhiger. Die Olso-Krieger drehten sich zu ihnen und standen auf, um ihnen entgegenzublicken. Die Männer wirkten überrascht, als Cas und Em um ihren Tisch herumgingen und sich ihnen gegenüber auf die Bank setzten. Iria hatte immer noch den gleichen selbstgefälligen Gesichtsausdruck, aber Em beschloss, so zu tun, als würde es ihr nicht auffallen.

„Hat das Essen geschmeckt?“ Cas zeigte auf die leeren Teller.

„Es war sehr gut, Eure Hoheit, vielen Dank“, antwortete Koldo.

„Wenn ihr noch hungrig seid, wird euch mehr gebracht“, fuhr Cas fort. „Und bald gibt es das Dessert. Ich kann die Feigenküchlein empfehlen, die sind köstlich!“

Woraufhin Koldo sich nach den Leckereien umsah, während Benito nicht wirklich begeistert von dem Gedanken an ein Dessert schien.

„Ich werde auf jeden Fall eines probieren“, klinkte Iria sich ein. Ihr Blick war starr auf Cas gerichtet. „Alles Gute zur Vermählung.“

„Danke.“

„Wie wundervoll, dass Lera und Vallos endlich verbunden sind.“ Lächelnd wanderte ihr Blick von Cas zu Em.

„Warst du schon mal dort?“, fragte Cas sie. „In Vallos?“

„Oh ja“, antwortete sie. „Im Vergleich zu Lera ist es etwas öde, wenn auch nicht ansatzweise so düster wie Ruina.“

Em zwang sich, ruhig zu bleiben. „Ich war noch nie in Ruina, aber da hast du sicherlich recht.“

„Eure Hoheit.“ Iria schaute wieder zu Cas. „Macht es Euch etwas aus, wenn ich mit Eurer Frau tanze?“

„Wenn sie es möchte“, erwiderte er.

„Liebend gern.“ Em stand auf, hakte sich bei Iria unter, und zusammen gingen sie zur Tanzfläche.

Sie ließ sich bereitwillig von Iria führen, die ihr sofort eine Hand auf den Rücken legte. Es gab keinen Grund für Anfeindungen.

„Ist dieser Gesichtsausdruck wirklich nötig?“, stieß Em zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, während sie anfingen zu tanzen.

„Was für ein Gesichtsausdruck?“

„Als hättest du etwas herausgefunden, worüber du dich freust. Du bist hier, um mir zu helfen, erinnerst du dich?“

Iria kicherte. „Tut mir leid. Es ist nur so amüsant. Emelina Flores als die Prinzessin der Lera. Es ist so lächerlich!“ Sie sah rüber zu Cas, und Em folgte ihrem Blick. Er redete mit den beiden anderen Kriegern, behielt sie aber immer im Blick. „Obwohl er vollkommen überzeugt zu sein scheint.“

„Wieso auch nicht? Ich habe euch gesagt, dass ich es schaffe.“

„Das hast du. Ich habe gegen dich gewettet, um ehrlich zu sein, und eine Menge Geld verloren.“

„Wie schade“, entgegnete Em trocken. Sie sah zu Benito und Koldo. „Wissen die beiden über mich Bescheid?“

„Selbstverständlich. Denen kann man vertrauen.“

„Das entscheide ich. Sonst hast du niemandem erzählt, dass ich hier bin, oder?“

„Nein. Nicht einmal deinen eigenen Leuten. Es ist seltsam, die Ruined nicht über deinen Plan zu informieren, wenn du mich fragst.“

„Tue ich aber nicht. Je weniger Leute Bescheid wissen, desto besser.“ Die Ruined würden sowieso weder an Em noch an ihren Plan glauben. Die Überraschung auf ihren Gesichtern wäre umso schöner, wenn sie erkannten, dass sie es geschafft hatte.

„Ich habe gehört, dass du bei der Hochzeit deinen Prinzen vor dem Tode gerettet hast. Das war vielleicht ein Glück, oder?“

„Ja, war es.“ Em sah Iria misstrauisch an. „Oder?“

„Wir hatten damit nichts zu tun, aber wir versuchen, die Jäger ausfindig zu machen, um zu sehen, wie viele es sind und wie gut sie organisiert sind. Sie könnten noch hilfreich sein.“

„Hast du irgendwelche Neuigkeiten?“

„Ich habe Damian kurz gesehen, bevor ich Olso verlassen habe. Er hilft den Ruined, über die Grenze zu kommen. Bislang haben wir ein paar sicher rübergebracht. Sie waren auf dem Weg zu König Lucio, als ich abgereist bin.“

„Wieso müssen sie zum König?“, wollte Em wissen.

„Unser König ist freundlich.“

Darauf bekam sie offensichtlich keine ehrliche Antwort, also behielt sie die Frage für Damian im Hinterkopf. Dem Olso-König vertraute Em kein bisschen. Er hatte nur zugestimmt, ihr zu helfen, um Kontrolle über Lera zu erlangen, aber für die Ruined hatte er gar nichts getan, als sie gejagt und ermordet wurden.

„Damian hat mir eine Botschaft für dich mitgegeben“, sagte Iria.

„Nicht jetzt“, gab Em zurück, obwohl sie unheimlich gespannt auf die Nachricht war. „Ich möchte nicht, dass jemand mitbekommt, wie du mir etwas zusteckst.“

„In Ordnung. Hörst du mal auf, meine Hand so zu zerquetschen? Die brauche ich später noch.“

„Entschuldige“, murmelte Em und lockerte ihren Griff. Obwohl es eine willkommene Ablenkung wäre, wenn sie Iria die Hand brechen könnte. Sie würde ihr die Hand brechen, sich hinter sie stellen und ihr den Arm um den Hals legen. Iria war kleiner als Em, also hatte Em eine gute Chance, den Griff zu halten.

Em unterdrückte das Verlangen danach. Die Krieger waren auf ihrer Seite. Die musste sie nicht töten, um in Sicherheit zu sein.

„Du wirst sicher nicht so dumm sein und den König zu früh umbringen, oder?“ Iria wurde ernst. „Du kannst etwas aufbrausend sein, wenn ich mich recht erinnere.“

„Alles gut“, antwortete Em. „Und darüber sollten wir hier nicht sprechen. Komm morgen früh auf mein Zimmer, mit der Botschaft von Damian. Ich sage auch Aren Bescheid.“

„Okay. Aber wenn ich auf dein Zimmer kommen soll, musst du Cas erzählen, dass wir uns hervorragend verstanden haben. Sag ihm, dass wir sofort Freundinnen geworden sind.“

Em rollte mit den Augen. „Was soll ich ihm denn sagen, worüber wir geredet haben, dass das zu einer derartigen Blitzfreundschaft geführt hat?“

„Wir haben uns über Vallos unterhalten, und darüber, wie traurig du warst, als du gehen musstest.“

„Einverstanden. Und ich sage, dass du mir erzählt hast, wie sehr du deine Heimat liebst und wie nervös du vor deinem Besuch hier warst, aufgrund der schwierigen Beziehung zwischen Lera und Olso.“

„Ich bin nicht nervös.“ Auf der Nase und den Wangen hatte Iria ein paar Sommersprossen, die sich bewegten, wenn sie die Nase rümpfte.

„Na ja, jetzt bist du es eben. Du magst mich. Du hast dich mir anvertraut. Das ist alles, was ich ihm erzählen werde.“

„Ich mag dich nicht wirklich, nur damit du das weißt.“

„Ich bin zutiefst verletzt“, antwortete Em.

„Aber ich bewundere das hier schon.“ Iria deutete auf Em. „Ehrlich gesagt, dachte ich nicht, dass du es hinkriegst. Als ich dich kennenlernte, wirktest du etwas weinerlich auf mich. Schnell eingeschnappt.“

Das Lied war vorbei. Em trat einen Schritt zurück und ließ Irias Hand fallen. Die Kriegerin hatte sicherlich nicht unrecht, aber das würde Em nicht vor ihr zugeben. Als sie sich kennengelernt hatten, vor drei Jahren, war Em enttäuscht darüber, dass sie keine Kräfte besaß, und sie war neidisch auf Olivias Kräfte gewesen. „Weinerlich“ war wahrscheinlich noch nett ausgedrückt.

„Dinge ändern sich“, sagte Em.

Der Ausdruck, der über Irias Gesicht huschte, erinnerte verdächtig an Mitgefühl. „Ich halte die Ohren offen nach Neuigkeiten von Olivia“, flüsterte sie.

„Danke.“ Em drehte sich um. Das Letzte, was sie wollte, war Mitleid.

9. Kapitel

Neugierig beobachtete Cas, wie Mary sich von Iria entfernte und die Tanzfläche verließ. Die Kriegerin lächelte, als hätte Mary ihr die Nervosität genommen. Eine beachtliche Leistung.

Den Rest des Abends saßen Mary und Cas bei seinen Eltern. Als der König und die Königin aufstanden, um zu gehen, tat Cas es ihnen nach und hielt Mary seinen Arm hin. Zusammen gingen sie quer durch den Saal und durch die Eingangstür. Durch die geschlossenen Türen waren die Geräusche des Festes nur noch abgedämpft wahrzunehmen.

Casimirs Vater lächelte den beiden zu. „Ich nehme an, es ist endlich an der Zeit für die Hochzeitsnacht?“

Sofort verkrampfte Cas sich, während seine Mutter seinem Vater leicht zwischen die Rippen stieß. Der König lachte nur und schlug Cas auf die Schulter. Doch der hätte seinen Vater in diesem Moment am liebsten erwürgt.

Er sah kurz zu Mary, die mit roten Wangen und gesenktem Blick neben ihm stand. Er hatte keine Ahnung, was er sagen könnte, um die Situation zu entspannen, also sagte er gar nichts und ging wortlos in Richtung ihrer Zimmer. Mary folgte ihm stillschweigend.

Als sie bei ihrer Tür angekommen waren, öffnete er sie und ließ Mary zuerst hineingehen. Im Vorbeigehen streifte der Stoff ihres Kleides über seine Beine.

Cas folgte ihr und schloss die Tür hinter sich. Im Zimmer herrschte Totenstille, bis auf das Knarzen der Dielen unter Marys Schritten. Mit zitternden Händen strich sie ihr Kleid glatt. Sie war kurz vor einer Panikattacke, und ihr Herz brachte ihren gesamten Oberkörper zum Beben.

„Würdest du lieber noch warten?“, fragte er vorsichtig.

Kurz trafen sich ihre Blicke; Mary errötete noch mehr. „Ich … “

Er wartete, aber sie beendete den Satz nicht. Sie verlor direkt vor seinen Augen die Fassung. Ihre Hände zitterten immer stärker und sie schluckte, als wäre ihr übel.

„Ich würde dich niemals zu etwas zwingen, was du nicht möchtest“, sagte er letztendlich. „Wir haben uns gerade erst kennengelernt. Ich kann es verstehen, wenn du noch warten möchtest.“

Erleichterung durchfuhr sie, und sie nickte so enthusiastisch, dass er fast lachen musste. Er hatte selbst noch nie mit jemandem geschlafen, und das erste Mal mit einem Mädchen zu erleben, das aussah, als müsste es sich jeden Moment übergeben, kam ihm ziemlich erbärmlich vor.

„Aber kann ich dich um einen Gefallen bitten?“, fragte er. „Macht es dir etwas aus, wenn ich noch ein bisschen hierbleibe? Meine Eltern sollen denken, dass wir die Ehe vollzogen haben. Sonst müssen wir uns das noch ewig anhören.“ Er konnte sich die Kommentare von seinem Vater lebhaft vorstellen. Er würde es ihn niemals vergessen lassen.

„Natürlich“, erwiderte Mary. „Eigentlich ist das eine gute Idee.“ Sie zeigte auf den Sessel in der Ecke des Zimmers, und Cas zog seine Jacke aus und ging hinüber. Die Jacke hängte er über die Rückenlehne, bevor er sich setzte. Mary hockte sich auf die Bettkante und rieb mit ihren Daumen die Kette, die sie immer trug.

„Du hast dich offensichtlich gut mit der Kriegerin verstanden, mit Iria“, fing er an, woraufhin Mary nickte. „Worüber habt ihr geredet?“

„Über Vallos. Ihre Reise hierher. Sie ist nervös, was die Verhandlungen angeht.“

Er lachte. „Ich glaube nicht, dass Olso-Krieger jemals nervös sind.“

„Dann eben angespannt. Es sind nicht alle immer so stark, wie sie wirken, weißt du.“

„Und nicht jeder ist so schwach, wie er vorgibt zu sein.“ Er lehnte sich zurück und ließ seine Knöchel knacken.

„Meinst du damit mich?“, fragte sie rasch.

„Nein, eigentlich nicht. Meine Mutter sagt das immer.“

„Ach so.“

„Gaukelst du denn vor, schwach zu sein?“, hakte er nach. „Dann würde ich dich wirklich nicht gern sehen, wenn du alles gibst.“

Mary fing laut an zu lachen, ohne jegliche Unsicherheit. Wenn sie lachte, dann ließ sie tief in sich drinnen etwas los.

„Nein“, antwortete sie. „Ich hatte sicherlich niemals nötig, mich als schwächer darzustellen, als ich bin. Aber deine Mutter hat recht. Unterschätzt zu werden kann von Vorteil sein.“

„Wahrscheinlich, ja. Beim Bündniskampf hat mein Vater dich sicherlich unterschätzt. Er hat seine Überraschung nicht mal gut überspielt.“

„Dein Vater denkt, dass es niemand Besseren gibt als ihn selbst“, murmelte Mary. Erst dann wurde ihr klar, was sie gerade gesagt hatte. Sie atmete kurz ein, und ihr Blick fiel auf ihn. „Tut mir leid, ich meinte nicht … ich wollte nicht …“

Cas grinste. „Du magst meinen Vater nicht? Alle lieben ihn.“

„Ähm …“ Sie suchte offensichtlich nach einer guten Ausrede.

„Du kannst ruhig ehrlich sein.“ Er stützte sich mit seinen Ellbogen auf den Beinen ab und beugte sich nach vorn. „Wir können ein paar Geheimnisse haben, nur unter uns.“

Mary zögerte noch, dann sagte sie: „Nein“, kaum lauter als ein Flüstern. „Ich mag ihn nicht besonders.“

„Wieso nicht?“

„Es ist, als würde er immer eine Rolle spielen.“

„Wie meinst du das?“

„Er lächelt permanent. Ist immer freundlich.“ Sie rümpfte ihre Nase, und ihre Mundwinkel zogen sich nach unten, was den lustigsten Gesichtsausdruck ergab, den er jemals gesehen hatte. Als wäre sie gleichzeitig angewidert und genervt.

Cas fand es sehr belustigend. Er legte das Kinn in seine Handflächen. „Ich hasse es, wenn Menschen freundlich sind, das ist das Schlimmste.“

„Nein, ich meine …“ Sie musste lachen. „Es wirkt nicht aufrichtig, eher wie gespielt. Es ist schwierig einzuschätzen, wer er wirklich ist.“

„Ah.“

„Ergibt das Sinn?“

„Vollkommen.“ Sie sahen sich weiter gegenseitig an, und in seiner Brust breitete sich ein wohliges Gefühl aus. Vielleicht war es falsch, sich darüber zu freuen, dass sie seinen Vater nicht verehrte wie der Rest der Welt, aber er konnte einfach nicht anders.

„Und deine Eltern?“, fragte er vorsichtig.

Ihre Mimik veränderte sich. „Was ist mit denen?“

„Wie waren sie so?“

Instinktiv griff sie nach ihrer Kette und dachte einen Moment nach, bevor sie darauf einging. „Mein Vater war eher ruhig. Alle hörten ihm zu, wenn er sprach, weil es nicht oft vorkam.“ Sie lächelte, aber das Lächeln erreichte nicht ganz ihre Augen. „Meine Mutter war das genaue Gegenteil. Mein Vater hat immer gesagt, dass sie ein Publikum braucht, weswegen sie ihn geheiratet hat. Er war ihr ständiges Publikum.“

„Hört sich an, als hätten deine Mutter und mein Vater sich hervorragend verstanden.“

Mary legte ihren Kopf schräg und presste ihre Lippen aufeinander. „Auf eine gewisse Art hätten sie das wohl. Aber meine Mutter … sie hatte auch diese düstere Seite an sich. Sie konnte innerhalb von Sekunden von glücklich zu außer sich vor Wut springen. Dein Vater schien seine Emotionen besser im Griff zu haben, als meine Mutter es hatte.“

Eine Zeit lang schwiegen sie beide. „Es tut mir leid“, durchbrach er die Stille. „Dass sie nicht mehr da sind.“

„Danke“, antwortete sie emotionslos, als hätte sie diese Antwort schon Tausende Male gegeben. Ein paar Sekunden war sie wieder still, starrte ihn nur an, als würde sie versuchen, den Mut aufzubringen, ihn etwas zu fragen. „Wieso wolltest du über die Ruined sprechen?“, fragte sie schließlich.

„Ich bin neugierig. Hier reden die Menschen kaum über sie.“

„Dein Vater führt Krieg gegen sie.“

„In Lera gibt es keine Ruined. Es ist einfach, so zu tun, als würden sie nicht existieren.“

„Nicht mal Olivia Flores?“, fragte Mary. „Sie ist eine Gefangene deines Vaters, oder?“

„Ich glaube nicht, dass sie in Lera ist. Wenn doch, dann ist sie weit weg von hier.“

„Aber du weißt nicht, wo?“

Er schüttelte den Kopf. „Sie wurde vor Kurzem woanders hingebracht.“

Mary verzog den Mund und starrte an ihm vorbei an die Wand.

„Du findest es falsch?“, fragte er. „Sie als Gefangene zu halten?“

Sie warf ihm einen scharfen Blick zu. „Das habe ich nicht gesagt.“

In ihrer Stimme war mehr Leidenschaft zu hören, als er erwartet hatte. „Also findest du es richtig?“

„Nein.“

Er wartete und lachte dann, als sie nichts mehr dazu sagte. „Gibt es denn noch weitere Möglichkeiten?“

„Er hätte sie gar nicht erst festhalten müssen.“

Cas runzelte die Stirn. „Mein Vater redet nicht viel darüber, aber ich hatte den Eindruck, dass sie eher ein Gast ist als eine Gefangene.“

Mary musste lachen. „Ein Gast!“

„Ich … so wirkte es auf mich. Sie hilft und heilt Menschen.“

„Eine Ruined hilft euch!“ Sie warf lachend ihren Kopf zurück, als wäre es das Witzigste, das sie jemals gehört hatte. „Nachdem ihr ihre Mutter getötet habt und den Krieg gegen ihr Volk ausgerufen habt!“

„Na ja … es klingt dumm, wenn du es so sagst.“

„Allerdings, Cas.“

In ihrem Tonfall spiegelte sich Herablassung, aber er lachte nur, obwohl es ihm unangenehm war. „Vielleicht habe ich das nicht so ganz durchdacht.“

„Wahrscheinlich nicht. Olivia Flores ist eine Gefangene, kein Gast.“ Das Vergnügen verschwand aus ihrem Gesicht, und sie sah ihm in die Augen. „Du solltest mal deinen Vater danach fragen. Finde die Wahrheit heraus.“

„Werde ich.“ Plötzlich war es ihm peinlich, dass er vorher noch nie auf die Idee gekommen war, nach Olivia zu fragen. Wie alt war sie? Vierzehn? Fünfzehn? Was genau hatte sein Vater mit ihr vor?

Danach schien es nicht mehr viel zu geben, worüber Mary und er reden konnten. Nach einigen Minuten des Anschweigens entschied er sich, dass er lange genug geblieben war. Er stand auf und ging zur Tür. „Ich sollte wieder gehen. Wir sehen uns morgen.“

„Cas.“

Mit der Hand schon auf der Klinke, blieb er stehen. Sein Herz blieb stehen. Hatte sie ihre Meinung geändert? Wollte sie doch, dass er blieb? Er drehte sich zu ihr.

Sie war aufgestanden und zeigte auf ihr rosafarbenes Kleid. „Ich kann es nicht allein ausziehen. Ich müsste eines der Mädchen rufen lassen, damit sie es mir aufmacht, aber wenn sie denken sollen, dass wir die Ehe vollzogen haben …“ Sie verstummte, hielt sich nervös die Hände vor dem Bauch.

„Oh, natürlich.“ Daran hatte er gar nicht gedacht.

Als Mary sich umdrehte, fiel ihm die unglaublich lange Reihe an winzigen Knöpfen auf, die ihren Rücken hinunterverlief. Er ging zu ihr und griff nach dem obersten Knopf in ihrem Nacken.

„Sind all die Knöpfe wirklich notwendig?“

„Ich weiß es nicht. Deine Mutter hat mir das Kleid geschickt und meinte, ich solle es heute anziehen.“

„Selbstverständlich hat sie das.“ Er machte sich an den zweiten Knopf.

Mary spielte mit dem raschelnden Stoff des Kleides. „Es ist wunderschön. Deine Mutter hat einen hervorragenden Geschmack.“

„Ich gehe davon aus, dass sie dir das selbst gesagt hat.“

Mary kicherte leise, wobei Cas spürte, wie sich ihr Körper unter seinen Fingern mitbewegte. „Hat sie.“

Langsam arbeitete er sich an der Knopfreihe entlang. Unter dem Stoff kam immer mehr von ihrem nackten Rücken zum Vorschein, und es fiel ihm schwer, nicht hinzusehen. Ihre weiche, leicht gebräunte Haut schimmerte beinahe, sodass er fast dazu verleitet wurde, ihr mit den Fingern den Rücken entlangzufahren.

Das Kleid rutschte ihr über die linke Schulter, aber sie drückte sich schnell beide Arme gegen die Brust, um es oben zu halten.

Die Knopfleiste endete knapp unter der Hüfte. Bei dem letzten Knopf musste Cas etwas schlucken. Inzwischen waren seine Hände verschwitzt, und in ihm drinnen tanzte alles auf eine Art und Weise, die er nicht wirklich mochte.

„Danke“, sagte sie leise, ohne sich umzudrehen.

„Gern geschehen.“ Er zwang sich, nicht mehr auf den nackten Rücken der Frau zu starren, an die er vorher keinen weiteren Gedanken verschwendet hatte. Jetzt dachte er sich, dass er diesen Anblick gern jeden Tag genießen würde.

Er schnappte seine Jacke vom Stuhl und ging wieder zur Tür. Er drehte sich nicht noch mal zu ihr um, aus Angst, dass sein Gesicht einen Teil seiner Gefühle preisgeben könnte. „Gute Nacht.“

10. Kapitel

Am nächsten Morgen traf Em im Flur auf Aren und lockte ihn in ihr Zimmer. Zunächst schaute er sich angespannt um, als hätte er noch jemanden im Raum erwartet. Aber als er merkte, dass es leer war, ging er hinein.

„Alles … in Ordnung?“, fragte er vorsichtig.

„Ja. Bei dir?“

Schulterzucken.

„Ich habe Cas gestern Abend nach Olivia gefragt. Er weiß zwar nicht, wo sie ist, aber ich glaube, ich habe ihn dazu gebracht, dass er seinen Vater nach ihr fragt.“

„War er nicht misstrauisch?“, fragte Aren.

„Es wirkte nicht so.“

Es klopfte. Em öffnete, und Iria stand vor der Tür. Die Kriegerin war komplett schwarz gekleidet, und ihr offenes Haar fiel ihr über die Schultern.

„Aren.“ Sie nickte ihm zu. „Schön, dich wiederzusehen.“

Em schloss die Tür. „Beeilen wir uns. Wir haben nicht viel Zeit vor dem Treffen mit dem König.“

Iria steckte eine Hand in ihre Tasche, zog einen zerknitterten Umschlag heraus und hielt ihn Em hin. „Für dich.“

Auf dem Kuvert selbst stand nichts, aber Damian war auch nicht so dumm, ihren Namen auf eine Sendung zu schreiben und sie dann ins Schloss zu schicken. Em drehte sich von Aren und Iria weg und riss den provisorisch mit einem Klecks Kleber versiegelten Umschlag auf. Auch innen wurde ihr Name nicht erwähnt.

Ich bin heil angekommen, die „Mitreisenden“ sind weg. Alle hier sind furchtbar gespannt darauf, wie es weitergeht, und ich wünschte, ich könnte ihnen sagen, wo du bist und was du vorhast. Aber ich verstehe auch, warum es noch geheim bleiben muss. Danke, dass du mir vertraust, ich weiß, dass es dir wahrscheinlich nicht so leichtfällt, nach allem was passiert ist.

Ich bereite mich auf eine Reise vor, mehrere haben es schon geschafft.

Ich denke jeden Tag an dich und hoffe, dass alle nett zu dir sind.

Du schaffst das, ich weiß es. Ich hatte niemals Zweifel daran, nicht einen Augenblick.

Ein paar Tränen musste sie wegblinzeln, bevor sich Em wieder zu Iria und Aren umwandte. „Er ist die Leichen losgeworden. Er sagt, dass ein paar Ruined es schon sicher über die Grenze nach Olso geschafft haben.“

Iria stützte sich hinter ihrem Rücken mit den Händen an einer Stuhllehne ab. „Stimmt. Wir haben einige Krieger zur Grenze geschickt, um den Ruined rüberzuhelfen, wie versprochen. In Ruina sind eine Menge Jäger, aber die werden hoffentlich nicht zum Problem. Wenn ich etwas Neues erfahre, lasse ich es dich wissen.“

„Und dann treffen sie erst mal euren König?“, bohrte Em nach.

„Wieso das?“ Aren runzelte die Stirn.

Iria riss ihre Hände in die Luft. „Ehrlich, ihr zwei! Immer so misstrauisch. Er möchte nur alle selbst kennenlernen. Sich ansehen, was sie für Kräfte haben. Wir holen sie nach Olso, damit sie der Armee beitreten, da müssen wir doch wissen, was wir zur Verfügung haben.“

„Zur Verfügung“, wiederholte Aren und verdrehte die Augen.

„Ruined haben sich noch nie anderen angeschlossen! Wir müssen doch irgendwie planen, wie wir euch in unsere Strategien einbringen können“, erklärte Iria. „Soll ich euch noch mal daran erinnern, dass wir diejenigen sind, die euch helfen?“

„Ja, bitte erinnere mich daran.“ Arens Tonfall wurde ernst. „Daran, wie ihr euch alle zurückgelehnt habt, während man uns zusammengepfercht und abgeschlachtet hat. Und daran, wie dankbar ich jetzt sein soll, weil ihr euch endlich entschieden habt einzugreifen, ohne Entschuldigung, ohne Erklärungen, ohne zu verstehen, wieso Em und ich vielleicht allen gegenüber misstrauisch sind. Erinnere mich daran, wieso ich das alles einfach vergessen sollte, weil ihr euch plötzlich entschieden habt, dass wir nützlich sind.“

Iria wurde rot. Em lächelte Aren mitfühlend zu. Er zuckte entschuldigend mit den Schultern, woraufhin sie ihm ebenfalls mit einem Achselzucken signalisierte, dass er sich nicht bei ihr zu entschuldigen brauchte. Sie konnten auch ohne Worte darüber kommunizieren, dass sie kein schlechtes Gewissen zu haben brauchten, wenn sie mal die Kontrolle verloren. Aren und Em waren schon länger Freunde gewesen, aber erst jetzt waren sie wirklich verbunden durch einen Hass, den selbst Damian nicht wirklich verstand. Er reagierte eher mit Trauer, aber Em und Aren hatten sich durch den Zorn hindurchgekämpft und waren zusammen auf der anderen Seite wieder herausgekommen.

„Und was passiert, wenn sie den König getroffen haben?“ Em widerstand der Versuchung, Iria noch etwas weiter zu triezen.

Iria räusperte sich. Arens Ausbruch war ihr immer noch unangenehm. „Sie werden zu einem Schiff gebracht, und ein paar von ihnen machen sich auf den Weg hierher, als Vorbereitung für einen Angriff.“ Sie drehte sich zu Em. „Ihr müsst herausfinden, wie gut die Küste in der Nähe des Schlosses gesichert ist. Sie haben dort bestimmt Wachen. Wenn du uns sagen könntest, wo die postiert sind, können wir einen Ruined auf jede ansetzen. Sie könnten in ihre Gedanken eindringen, damit die Wächter die Schiffe gar nicht erst bemerken, bis es zu spät ist.“

„Der Plan gefällt mir“, sagte Em. „Ich versuche, es herauszufinden.“

„Wenn wir zusammenarbeiten wollen, müssen wir auch über eure Schwächen Bescheid wissen. Wir haben von einer Pflanze gehört, Schwächelkraut? Anscheinend tragen ein paar der Jäger es bei sich.“

Em und Aren wechselten einen Blick. Schwächelkraut hatte seinen Namen daher, dass es half, die Ruined zu schwächen oder sogar zu töten, wenn sie dem Gewächs lange genug ausgesetzt waren. Die blaue Pflanze wuchs in Ruina. Einmal hatte Ems Mutter sie und ihre Schwester zu einer Stelle gebracht, an der sie blühte. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie enttäuscht ihre Mutter gewesen war, als Em sich die Blume direkt unter die Nase hielt, tief einatmete und nichts passierte. Zwar hatte sie ihr versichert, dass ihre Immunität gegen das Kraut eine Stärke wäre, aber das meinte sie nicht ernst. Ems Immunität bedeutete in Wahrheit nur, dass sie für immer dazu verdammt war, eine Unbegabte zu bleiben.

Ems Mutter hatte viel Zeit damit verbracht, alle Felder abzubrennen, auf denen das Schwächelkraut wuchs, genau wie jeder König und jede Königin vor ihr. Immer kam es zurück, wie ein Unkraut, das man niemals vollständig loswurde.

„Die Jäger sagen, dass die Ruined machtlos gegen sie sind, wenn sie die Pflanze bei sich tragen“, fuhr Iria fort. „Stimmt das?“

Aren kratzte sich im Nacken. „Teilweise. Das hängt davon ab, wie stark der oder die Ruined ist. Außerdem schützt es vielleicht nicht den gesamten Körper vor jemandem wie mir. Wenn du es zum Beispiel an der Brust trägst, kann ich vielleicht immer noch deine Beine kontrollieren.“

„Interessant“, murmelte Iria. „Und schadet es euch?“

„Die Luftröhre verschließt sich, wir können nicht mehr atmen. Wenn wir die Pflanze berühren, kann es sein, dass unsere Haut über den Ruined-Zeichen aufplatzt.“ Aren inspizierte seine Arme auf der Suche nach den Zeichen. Er hatte viele davon, sie waren der Beweis für die beeindruckenden Kräfte, die in ihm steckten.

Doch alles, was er sah, war verbrannte Haut, und bei diesem Anblick wichen jegliche Emotionen aus seinem Gesicht.

„Hätte es auch bei dir noch diesen Effekt?“, fragte Iria vorsichtig nach.

„Die Zeichen sind noch dort, man sieht sie nur nicht mehr. Irgendwann werden neue dazukommen. Hoffentlich nicht allzu bald.“ Sein Blick erkaltete. „Aber ich weiß auch, dass die Jäger Experimente mit Schwächelkraut an einzelnen Ruined durchgeführt haben, also gehe ich davon aus, dass du genauso gut Bescheid weißt wie ich.“

„Wir müssen es nur wissen, um euch beschützen zu können“, antwortete sie.

Iria hatte natürlich recht. Die Zahlen der Ruined waren so stark gesunken, dass ihre einzige verbleibende Chance war, sich mit den Kriegern zu verbünden. Die Ruined brauchten ihre Hilfe und ihren Schutz.

„Jedenfalls“, Iria räusperte sich, „findet heraus, wohin sich die königliche Familie bei einem Angriff zurückzieht. Wenn einer von ihnen entkommt, wollen wir wissen, wohin er flüchtet.“

„Das haben sie mir schon gesagt.“ Em ging zu einer Kommode und zog eine Schublade heraus. Sie schob einen Dolch zur Seite, nahm eine Karte und reichte sie Iria. „Die hat Jovita mir gegeben, am Tag nachdem Cas angegriffen wurde. Sie sagte, in den Vallos-Bergen sei eine kleine Burg – hier nennt man sie das südliche Gebirge – und im Falle eines Angriffs könnte ich immer dorthin. Die Burg heißt Fort Victorra.“

„Das kenne ich“, murmelte Iria, während sie sich die Karte einprägte und mit einer Haarsträhne spielte.

„Die Burg ist kein großes Geheimnis, glaube ich, aber mit der Karte sollte man dich trotzdem nicht erwischen.“ Em hielt ihr auffordernd die Hand hin. Iria warf noch einen letzten Blick darauf, bevor sie sie zurückgab und Em sie wieder zu dem Dolch in die Schublade legte.

„Meine Eltern waren dafür, sofort einzugreifen. Als sie hörten, dass der König Wenda umgebracht und Olivia entführt hatte, wollten sie sofort helfen.“ Sie senkte die Stimme. „Falls euch das was bedeutet.“

„Jetzt bedeutet es nicht mehr viel, da es nicht dazu gekommen ist und die meisten Ruined tot sind“, antwortete Aren und ging in Richtung Tür. „Ich muss zum Training. Nimm dich in Acht vor der einen Wache, Galo, er ist mit dem Prinzen befreundet, und es heißt, dass er alles an Cas weitergibt.“

„Ist er das Oberhaupt der Prinzengarde?“

„Nein, das ist Julio. Aber Galo ist derjenige, der alles weiß.“

„Gut zu wissen“, sagte Em.

„Bald kann ich dir die Zeiten sagen, wann die Wachen sich abwechseln, noch arbeite ich daran.“

„Danke“, sagte Iria. Aren ging aus dem Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Iria starrte auf den Fleck, wo er eben noch gestanden hatte.

„Er hat sich verändert“, bemerkte Em.

„Ich kannte ihn kaum. Wenn ich zu Besuch bei euch im Schloss war, hat er nur mit mir geredet, um mich zu ärgern.“

Wahrscheinlich hatte er mit ihr geflirtet, denn als er jünger war, flirtete Aren mit jeder, aber Em war nicht danach, das jetzt klarzustellen.

Sie ging zur Tür und bedeutete Iria, ihr zu folgen, dann traten sie auf den Flur. „Ich halte dich auf dem Laufenden“, flüsterte sie ihr zu.

Iria deutete mit dem Kopf nach hinten. „Eure Hoheit.“

Als sie sich umdrehte, sah Em, wie Cas den Flur entlangkam. Er trug eine schwarze Hose und ein graues Oberteil, an dem ein paar Knöpfe offen standen. Beim Näherkommen strich er sich das Haar aus dem Gesicht.

Em wünschte sich inbrünstig, er würde dieses Ding mit den Haaren lassen.

„Hallo Iria“, sagte Cas.

„Ich lasse euch zwei mal allein“, antwortete die Kriegerin, „und mache mich auf die Suche nach Koldo und Benito, bevor die Verhandlungen anfangen.“

Cas sah Iria nach, dann drehte er sich wieder zu Em. „Guten Morgen.“

Er lächelte. Damit sollte er bitte auch unbedingt aufhören. „Guten Morgen.“

„Ich dachte, wir gehen zusammen zu dem Treffen. Mein Vater kommt immer zu spät, also können wir die Krieger etwas unterhalten, bis er da ist.“ Er streckte auffordernd den Arm aus, und sie hakte sich unter.

„Ist dieses Outfit überhaupt angemessen?“, fragte sie, wobei sie auf ihr weites schwarzes Kleid zeigte. Es war kurzärmlig und schlicht, aber es reichte ihr immerhin bis zu den Knöcheln und schwang beim Gehen mit. „Ich wusste nicht, ob es bestimmte Regeln bei solchen Treffen gibt. Deine Mutter hat mir nichts dazu gesagt.“

„Nein, gibt es nicht. Die Verhandlungen sind eher locker.“ Er hielt inne, räusperte sich. „Du siehst sehr hübsch aus.“

„Danke.“ Em sah ihn kurz an. Sie war sich nicht sicher, wie sie den letzten Abend einschätzen sollte. Er hatte nicht mal wütend gewirkt, dass sie die Ehe nicht vollziehen wollte. Vielleicht wollte er ja auch gar nicht mit ihr schlafen.

Der Gedanke hätte irgendwie beruhigender sein sollen, als er es tatsächlich war.

Sie gingen in den Meeressaal, und als er ihr die Tür aufhielt, verstand sie sofort, wieso der König die Verhandlungen ausgerechnet hier führen wollte. Der Raum war riesig, sicherlich größer als all ihre Zimmer zusammen. Die durchgehenden Fenster an der Ostwand boten einen beeindruckenden Ausblick über das Wasser, weswegen man für diesen Anlass auch sämtliche dunkelblauen Vorhänge geöffnet hatte.

Um einen Kamin herum waren mehrere Sessel und Sofas aufgestellt worden, und der weiße Teppich, der sich durchs Zimmer zog, schien makellos. In der Mitte des Raumes stand ein langer Holztisch mit Stühlen, auf dem eine große Auswahl an Früchten und Gebäck stand.

Abgesehen von zwei Bediensteten waren Cas und Em die Ersten und setzten sich nebeneinander. Ein Diener schenkte ihnen Tee ein und füllte ihre Teller mit Essen. Em griff nach einem mit Zucker bestreuten Gebäckstück und stellte dann fest, dass auf dem Tisch keine Messer lagen. Allerdings war ihr Stuhl aus Holz, ließe sich also ganz leicht zertrümmern. Der König nahm wahrscheinlich am Kopf des Tisches Platz. Sie könnte einem der Berater mit ihrem Stuhl den Kopf einschlagen und dann mit einer scharfen Kante des Holzes dem König den Hals aufschlitzen oder es in seine Brust rammen.

„Du kannst dich ruhig einbringen während der Verhandlungen“, sagte Cas. „Als ich anfing teilzunehmen, habe ich nicht genug nachgefragt und mitgeredet, also dachten alle, dass ich gelangweilt war und es mich nicht interessierte.“

Em wischte sich mit einer Serviette den Mund ab. „Stimmte das denn nicht?“

„Nein. Ich dachte nur, dass ich am Anfang mehr zuhören sollte. Alle Fakten sammeln, bevor ich eine fundierte Entscheidung treffe.“ Er musste lachen. „Mein Vater ist eher der Typ, der erst eine Entscheidung trifft und dann alle Fakten ignoriert, deswegen hat er meine Haltung wahrscheinlich nicht ganz verstanden.“

Em konnte sich das Augenrollen beim Erwähnen seines Vaters gerade noch so verkneifen. Sie stopfte sich lieber den Rest des Gebäcks in den Mund.

Dann kamen die Krieger und setzten sich Em und Cas gegenüber. Auch sie bekamen Tee und Essen, aber sie saßen einfach nur da und schauten misstrauisch auf ihre Teller.

Durch seine roten Wangen machte Koldo einen jüngeren Eindruck als die anderen beiden. Er sah auch immer wieder verstohlen zu ihnen rüber, als fragte er um Erlaubnis zuzulangen. Benito zog die Augenbrauen zusammen.

„Es ist nicht vergiftet“, beteuerte Cas, lachte und nahm einen Schluck von seinem Tee. „Wenn wir euch töten wollten, würden wir uns etwas Besseres einfallen lassen, als euch zu vergiften.“

Die Krieger lachten leise. „Vielleicht schmeckt uns das Essen hier einfach nicht, Eure Hoheit“, sagte Iria.

„Klar.“ Cas grinste sie an. Er nahm einen großen Bissen von einer Pastete, die auf seinem Teller lag. Keiner konnte bestreiten, dass die Leute in Lera es raushatten, köstliches Essen zuzubereiten.

„Normalerweise essen wir bei Verhandlungen nichts“, erklärte Benito, der währenddessen aber nach seinem Tee gegriffen hatte. Die Tasse verschwand in seinen enormen Händen. Koldos Augen leuchteten auf, und er bediente sich am Gebäck.

Dann betraten die Königin und Jovita den Saal, gefolgt von vier Beratern des Königs. Jovita nahm den Platz neben Iria ein. Die Berater setzten sich alle gegenüber von den Kriegern hin, neben Em.

Em beugte sich zu Cas und flüsterte ihm zu: „Ist Jovita immer bei solchen Treffen dabei?“

Er nickte. „Sie wird darauf vorbereitet, die Position ihrer verstorbenen Mutter, also als Beraterin, zu übernehmen. Seit letztem Jahr oder so kommt sie zu den Verhandlungen.“

Gemächlich kam letztendlich der König ins Zimmer spaziert, wie immer breit lächelnd. Die Krieger standen auf, und auch Em erhob sich widerwillig mit Cas.

„Guten Morgen.“ Der König zog seinen Stuhl zurück und setzte sich. Die Stuhlbeine schabten über den Boden, als die anderen ebenfalls wieder Platz nahmen. „Wie war euer erster Abend hier im Schloss?“

„Sehr angenehm, Eure Majestät“, antwortete Benito.

„Ihr solltet euch die Küste anschauen, solange ihr hier seid“, fuhr der König fort und zeigte dabei noch mal den atemberaubenden Ausblick, für den Fall, dass er den Gästen möglicherweise entgangen war. „Sie ist schön, wisst ihr?!“

Die Krieger nickten nur. Em hatte den leisen Verdacht, dass sie sich alle lieber ein Auge ausstechen würden, als Leras Strände zu bewundern. Sie konnte es ihnen nicht verübeln.

„Dann lasst uns gleich zur Sache kommen“, sagte der König. „Ihr seid hier, weil eure Handelsverträge mit Vallos nicht mehr gültig sind, da wir das Land jetzt unter Kontrolle haben. Also, was wollt ihr?“

Iria schob ihm über den Tisch ein Stück Papier zu. „Das waren unsere Bedingungen bei Vallos. Die gleichen erwarten wir jetzt von Euch.“

Der König runzelte die Stirn und studierte das Papier einen Moment lang. Cas zog es vorsichtig ein Stück zu sich, und Em merkte, wie er einen Blick darauf warf. Höchstwahrscheinlich waren die Konditionen absichtlich unakzeptabel, da die Krieger kein Interesse daran hatten, ein neues Handelsabkommen zu unterschreiben. Es war alles nur Ablenkung, damit sie in Lera bleiben und den Angriff planen konnten.

„Nein“, entschied der König.

„Was schlagt Ihr vor, Eure Majestät?“, fragte Koldo.

„Das ist eure Aufgabe. Macht ein besseres Angebot.“

„Wir werden unseren König informieren und neue Konditionen ansetzen“, erklärte Iria. „Sollen wir weitermachen? Wir würden gern über den Hafen in Olso sprechen.“

Der König lehnte sich zurück und legte seine zusammengefalteten Hände auf den Bauch. „Ja?“

„Die Klausel des Friedensabkommens, nach der Euch der Hafen zusteht, ist vor fünf Jahren abgelaufen“, erklärte Iria. „Und dennoch liegen dort Schiffe aus Lera.“

„Der Vertrag läuft erst dann aus, wenn Lera sich sicher sein kann, dass von Olso keine Gefahr für die anderen Königreiche ausgeht“, gab der König zurück.

„Das ist auch nicht der Fall“, beteuerte Koldo.

„Nicht? Ich habe gerade erst von meinen Jägern die Nachricht erhalten, dass Ruined dabei gesehen wurden, wie sie versuchen, nach Olso zu gelangen.“

Em hielt den Atem an, tat alles dafür, sich nichts anmerken zu lassen und sah zu Iria rüber. Die wirkte wirklich überrascht, so wie Koldo und Benito.

„Wann habt Ihr davon gehört, Eure Majestät?“

„Gestern erst.“

„Davon weiß ich nichts, aber wir haben keinen Einfluss darauf, wohin die Ruined versuchen zu kommen, Eure Majestät“, antwortete sie.

„Ich habe auch gehört, dass eure Krieger in Vallos gesichtet wurden. Was haben sie dort zu suchen?“

„Die Landschaft genießen?“, vermutete Iria und wickelte eine Haarsträhne um ihren Finger. Em musste sich das Lachen verkneifen.

Der König sah Iria misstrauisch an. „In Vallos halten sich momentan auch viele Ruined auf.“

„Genau wie sämtliche Vallosi. Es ist auch uns gestattet, Vallos zu besuchen, Eure Majestät“, fuhr Iria fort. „Deren Einreisebedingungen sind sehr viel lockerer als Eure.“

„Das wird sich ändern.“

„Da bin ich mir sicher“, erwiderte Iria.

„Sich mit den Ruined zu verbünden ist eine Kriegshandlung“, betonte der König.

„Verstanden. Aber wie gesagt, darüber ist mir nichts bekannt. Dennoch ist die Klausel seit fünf Jahren ungültig. Wir waren sehr geduldig und erwarten nun, dass Ihr die Vereinbarung respektiert.“

„Das wird nicht passieren.“

„Wieso nicht?“, ging Cas dazwischen.

Alle Köpfe drehten sich zu ihm, die Berater allesamt schockiert. Die Königin sah ihn nur mit großen Augen an und legte Jovita eine Hand auf den Arm, als hätte sie Angst, dass sie als Nächste mit ihren Fragen anfing. Jovita selbst hob lediglich eine Augenbraue.

„Casimir!“, stieß sein Vater empört hervor.

„Ich habe ihnen nicht zugestimmt, sondern nur eine Frage gestellt“, rechtfertigte Cas sich. „Wieso kontrollieren wir den Hafen noch?“

„Wegen der Klausel im Abkommen“, antwortete der König.

„Stimmt es denn, dass wir laut Vertrag den Hafen vor fünf Jahren hätten verlassen sollen, falls die Krieger keinerlei Gefahr für andere Königreiche mehr darstellen?“

Einen Moment lang schwieg der König. „Um sicher zu sein, müsste ich eine Kopie davon sehen.“

Em konnte sich ein lautes Schnauben gerade so verkneifen, aber es war schlau von ihm, nichts zuzugeben, obwohl es stimmte.

„Es wäre mir lieber, wenn wir uns an unser Wort halten“, fügte Cas noch hinzu.

Plötzlich stand sein Vater auf und warf Cas einen derart bösen Blick zu, dass selbst Em sich unter dem Tisch verkriechen wollte. Cas hielt dem Blick seines Vaters stand, was ihm hoch anzurechnen war.

„Wir werden die Verhandlungen ein anderes Mal fortführen“, verkündete der König und funkelte die Krieger an. „Ich habe angeordnet, dass jeder Ruined, der versucht, nach Olso zu gelangen, gefangen genommen und zur Befragung zu mir gebracht wird. Solltet ihr lügen und den Ruined in irgendeiner Weise helfen, werde ich es herausfinden.“

Em schloss eine Hand so fest um ihre andere, dass es wehtat. Es war nicht wirklich verwunderlich, dass Jäger mitbekommen hatten, wie Ruined versuchten, nach Olso zu gelangen, dennoch hatte sie auf mehr Zeit gehofft, bevor König Salomir anfing, einen Verdacht zu hegen. Aber das war alles, was er hatte. Einen Verdacht.

Der König schritt aus dem Saal, gefolgt von seinen Beratern. Die Königin blieb mit Jovita hinter Cas’ Stuhl stehen, bis er es endlich bemerkte und sich auch erhob.

Als Em ihnen aus dem Raum folgte, flüsterte die Königin Cas noch etwas zu. Er zuckte nur mit den Achseln, was offensichtlich nicht die gewünschte Antwort war. Die Königin marschierte davon.

Jovita blieb allerdings noch, und Cas bedeutete Em, dass sie mitkommen sollte. Gehorsam folgte sie ihnen den Flur entlang in die Bibliothek. Jovita schloss die Tür hinter ihnen.

„Was sollte das?“ Jovita hatte diese gewisse Art zu sprechen, gleichzeitig rasend vor Wut und auch irgendwie ruhig.

„Was meinst du?“ Cas ließ sich in einen Stuhl fallen und streckte seine Beine vor sich aus.

Jovita drehte sich kurz zu Em, die noch bei der Tür stand, als hätte sie jetzt erst bemerkt, dass Em noch bei ihnen war. Sie zögerte, aber Cas sah sie weiter erwartungsvoll an.

„Sich vor den Kriegern deinem Vater zu widersetzen war unangebracht und nicht gerade hilfreich!“

„Ich habe mich ihm nicht widersetzt, ich habe nur eine Frage gestellt.“

„Eine unangebrachte Frage.“ Jovita stemmte ihre Hände in die Hüften. Em schlich sich an ihr vorbei und setzte sich Cas gegenüber auf einen Stuhl.

„War es nicht“, widersprach Cas. „Was bringt es, Verträge aufzusetzen, wenn man sich nicht daran hält?“

Jovita seufzte, als hielte sie Cas für einen Idioten. „Das verstehst du nicht, Cas.“

„Du auch nicht, Jovita.“ Er ahmte ihr Seufzen nach.

Em unterdrückte ein Lachen und hielt sich kurz die Hand vor den Mund, aber Cas erwischte sie dabei, dass sie lächelte und musste auch lächeln.

Jovita rollte nur mit den Augen. „Ekelhaft. Eure neue Liebe könnt ihr gern für euch behalten.“

„Jovita“, warnte Cas.

„Dein Vater wird dich aus den Verhandlungen rausschmeißen, wenn du dich gegen ihn stellst.“

„Ich bin schon länger bei den Treffen dabei als du. Ich darf langsam mal anfangen, Fragen zu stellen.“

Jovita schritt zur Tür. „Du bist vielleicht schon länger dabei, aber ich weiß wenigstens, wann ich den Mund halten und gehorchen sollte.“

Cas drehte sich von ihr weg und ließ einen Knöchel knacken, während Jovita aus dem Zimmer schritt und die Tür ins Schloss fallen ließ.

Einen langen Moment beobachtete Em, wie Cas den Boden anstarrte. Beide schwiegen.

„Die Frage war gerechtfertigt“, fing Em schließlich an.

„Du musst nicht auf meiner Seite sein, nur weil wir verheiratet sind“, antwortete Cas, halb scherzhaft.

„Die Gefahr besteht nicht, glaub mir.“

Er legte den Kopf schräg und musterte sie kurz. „Was hältst du von einem kleinen Abenteuer?“

„Ich bin dabei.“

„Es ist etwas riskant, und meine Eltern wären außer sich vor Wut, wenn sie etwas davon mitbekommen.“

„Dann bin ich auf jeden Fall dabei.“

Er sprang auf. „Sehr schön. Zieh dich um, Hosen, irgendwas Unauffälliges.“

11. Kapitel

Em wartete vor dem Eingang der Bedienstetenküche, so wie Cas es ihr aufgetragen hatte. Sie hatte inzwischen eine schwarze Hose und ein grünes lockeres T-Shirt angezogen. Während sie wartete, krempelte sie sich die Ärmel nach oben.

Als Cas um die Ecke bog, war er nicht allein, sondern in Begleitung eines Wachsoldaten. Es war der junge dunkelhaarige Typ, der immer an Cas’ Seite war. Als er Em zulächelte, kam eine kleine Lücke zwischen seinen Schneidezähnen zum Vorschein. Überraschenderweise ergänzten sein markanter Unterkiefer, die breite Nase und die grünen Augen sich zu einem gut aussehenden Gesicht.

„Mary, kennst du Galo schon?“, fragte Cas.

„Ich glaube nicht. Schön, dich kennenzulernen, Galo.“

Er nickte ihr zu. „Ebenso, Eure Hoheit.“

Cas öffnete die Tür hinter Em und ging voraus in die Küche. Em und Galo folgten ihm. Als Erstes gelangten sie in das Zimmer, in dem die Angestellten aßen. Seitlich im Raum war noch eine Tür, die zur hektischen Küche führte. Im Raum selbst waren ein paar kleinere Tische verteilt, und an einem saß ein Junge, der gerade dabei war, einen Haufen Gabeln zu polieren.

Der Junge hatte eine kleine Narbe über seiner linken Augenbraue und konnte kaum älter als dreizehn oder vierzehn Jahre sein, obwohl er schon recht groß und breitschultrig wirkte. Ems Mutter hatte es immer verboten, dass Kinder unter sechzehn Jahren in der Küche arbeiteten, oder sonst irgendwo, wo es im Schloss ansatzweise gefährlich werden könnte.

Cas führte sie wieder raus in die Sonne. Sie gingen durch die Gärten, wobei Cas zurück zum Schloss sah, als wollte er sichergehen, dass ihnen auch niemand folgte. Em hatte fast das Gefühl, sich heimlich wegzuschleichen, und war gespannt, wie Cas das anstellen wollte. Denn sollte es eine Möglichkeit geben, sich unentdeckt fortzustehlen, gab es auch einen Weg hinein.

Als sie an der Mauer ankamen, ging Cas auf den Baum zu, den sich auch schon Em als möglichen Fluchtweg gemerkt hatte. Er griff nach einem dicken, unteren Ast, zog sich hoch und kletterte am Baum so weit nach oben, dass er auf die Mauer steigen konnte.

„Wenn du mal König bist, kannst du vielleicht sogar das Tor benutzen!“, rief Galo ihm zu, der noch zusammen mit Em auf dem Boden stand.

„Nicht, solange meine Mutter lebt“, gab Cas zurück. „Kommt ihr?“ Er sah zu ihnen nach unten.

„Ich kann dir gern helfen“, bot Galo an.

Em schnaubte nur. „Danke, aber das schaffe ich schon.“ Sie schnappte sich den Ast und kletterte hoch, wobei sie sich mit Leichtigkeit auf die Mauer zog. Em folgte Cas’ Blick zur anderen Seite. Einer der Wachposten hob die Hand.

„Hallo, Roberto“, sagte Cas.

Die Wache lächelte. „Hallo, Eure Hoheit.“ Er nahm das Seil, das neben ihm lag, und warf es Cas zu.

Cas reichte das Seil an Galo weiter, der inzwischen ebenfalls oben angekommen war. Galo knotete es um den Baumstamm und bedeutete dann mit einer Handbewegung, dass alles bereit war. Cas nahm das Seil in beide Hände.

Während des Abstiegs stieß er sich mit den Füßen an der Mauer ab. Dabei fiel Em auf, dass er zusammenzuckte und nur seine rechte Seite belastete. Offensichtlich tat seine linke Schulter immer noch weh von dem Angriff. Eine Tatsache, die sie sich für später merkte, denn es könnte ihr noch nützlich werden.

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