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Die letzten Romantiker

Als Buch hier erhältlich:

Können wir die retten, die wir lieben?

Im Sommer 1981 verlieren die Geschwister Renee, Caroline, Joe und Fiona ihren Vater. Es folgen Jahre, die als "die Pause" bei den Geschwistern eingehen, da ihre Mutter sich in ihrer Trauer verliert: Diese Jahre, in denen sie einander umsorgen, tagelang durch die Wälder stromern und Fiona, der Jüngsten, das Schwimmen beibringen, stärken das Band zwischen ihnen – doch welche Verletzungen sie davongetragen haben, offenbart sich erst Jahrzehnte später in einer weiteren Tragödie, die die Familie trifft.

Die letzten Romantiker ist ein kluges, ergreifendes Familienepos, das die Frage danach ergründet, was uns aneinander bindet, welche Verantwortung wir tragen und wie wir diejenigen, die wir lieben, verlieren – und manchmal wiederfinden – können.

»Genau beobachtet, sowohl anspruchsvoll als auch warm.« Meg Wolitzer

»Die letzten Romantiker erzählt ganz neu und originell von dem, was uns allen vertraut ist: Familie.« Washington Post

»Die letzten Romantiker regt zum Weiterdenken an. Der Schreibstil ist detailreich und gefühlvoll, stellenweise fast poetisch.« Lea Hensen, Berliner Morgenpost, 29.08.2021

»Ein spannender Roman über Liebe, Selbstfindung und Verlust, der zeigt, dass alles, was wir tun, Folgen hat.« Katja Jührend, Brigitte Woman, 01.09.2021

»Klug und sprachlich gewandt dreht sich die Autorin mit oft pointierter Dringlichkeit um die Frage nach der gegenseitigen Verantwortung.« Heilbronner Stimme, 18.09.2021



  • Erscheinungstag: 25.10.2022
  • Seitenanzahl: 432
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365000847

Leseprobe

In Erinnerung an Luella Briody Conklin und Kenneth Conklin

Für meine Schwestern

Hinter den Fassaden verbirgt sich ein Muster, das uns – und damit meine ich alle Menschen – miteinander verbindet, die ganze Welt zu einem Kunstwerk macht und zu einem Teil dieses Kunstwerks. »Hamlet« oder ein Beethoven-Quartett sind die ganze Wahrheit über das gewaltige Durcheinander, das wir als die Welt bezeichnen. Aber es gibt keinen Shakespeare, keinen Beethoven und ganz gewiss keinen Gott; wir sind die Worte, wir sind die Musik, wir sind das Werk selbst.

Virginia Woolf, Augenblicke des Daseins

Wait! They don’t love you like I love you.

Yeah Yeah Yeahs

2079

Zuerst hielt ich das Mädchen für eine Erscheinung. Ein Gespenst. Es stand auf und ging durch die Zuhörerreihen aufs Mikrofon zu.

Ich verharrte ganz still. Seit eineinhalb Stunden saß ich auf der Bühne und sprach mit dem Publikum über mein Werk. Obwohl ich größere Menschenansammlungen verabscheue, war der Abend ein großer Erfolg. Die Zuhörer waren respektvoll, intelligent und wissbegierig. Ich hatte sie sogar zum Lachen gebracht. Nur einmal hörte man Sirenen, ein kurzes Aufheulen, und ich hatte meine Lesung einen Moment lang unterbrochen. Wir alle warteten ab – die tausend Menschen hier im Saal ebenso wie diejenigen, die die Veranstaltung über Satellit oder im Livestream verfolgten. Wir warteten ab, und als die Sirenen verstummten, trug ich weiter das Gedicht vor, um das es gerade ging.

Danach konnten die Menschen Fragen stellen. So viele Fragen! Natürlich war bei meinem ersten öffentlichen Auftritt seit fünfundzwanzig Jahren mit Fragen zu rechnen gewesen, aber dass die Menschen mein Werk so intensiv und gründlich gelesen hatten, hatte ich nicht erwartet. Immer noch überrascht mich, dass meine Worte im achtzigsten Jahr dieses literarischen Experiments irgendjemandem außer mir etwas bedeuten.

Ich bin hundertzwei Jahre alt und eine angesehene Dichterin. Mein Name ist Fiona Skinner.

Als das Mädchen ans Mikrofon trat, war ich in Gedanken ganz woanders. Meine Kraftreserven waren ziemlich aufgebraucht, und ich fragte mich gerade, welchen Imbiss Henry backstage für mich bereithielt. Ich hoffte auf einen Schokoriegel mit einer Füllung aus Erdnussbutter – mein Lieblingssnack. Aber ich dachte auch an andere Annehmlichkeiten: das große, weiche Bett in meinem Haus in den Bergen; den Fluss, in dem sich jede Menge Forellen tummelten; den tiefen kühlen Brunnen; den Generator mit seinem beruhigenden Brummen. Dort konnten wir die Sirenen nicht hören, denn die nächste Stadt lag zu weit entfernt. Es war ein sicherer Ort, unser Haus, außerhalb der Reichweite von Politik und steigenden Meeresspiegeln. Jedenfalls bildete ich mir das ein. Man kann mit allen möglichen Illusionen leben und so fest an unsichtbare Mächte wie Sicherheit, Gott oder Liebe glauben, dass man sie für real hält. Repräsentiert von einem Bett, einem Kreuz, einem Ehemann. Aber selbst Vorstellungen, die man für wirkmächtig hält, sind eben nur Vorstellungen und somit zerbrechlich.

Das Mädchen am Mikrofon war ein faszinierender Anblick: schlank und groß, ein kinnlanger, exakt geschnittener Bob. Es mochte vielleicht achtzehn oder zwanzig sein, also kein Mädchen mehr, fast schon eine Frau.

Die Zuhörer schwiegen erwartungsvoll. Die junge Frau räusperte sich. »Ms. Skinner«, begann sie dann. »Ich heiße Luna.«

»Luna?«, wiederholte ich und hielt den Atem an. Einen Moment lang reiste ich in Gedanken all die Jahre zurück an einen anderen Ort, in eine andere Zeit. Endlich, dachte ich. Luna ist zurückgekehrt.

»Ja. Meine Mutter hatte die letzte Zeile des Liebesgedichts im Sinn, als sie mir diesen Namen gab.«

»Ach so, verstehe.« Ich lächelte. Henry hatte mir erzählt, wie beliebt dieser Name geworden war. Auf manche Leser hatte das Liebesgedicht diese Wirkung gehabt. Sie wollten etwas davon in die Realität hinüberretten. Und hier stand nun eines der inzwischen groß gewordenen Babys vor mir. Eine andere Luna.

Das Gesicht der jungen Frau lag zum Teil im Schatten. Auf ihrer rechten Wange sah ich einen Leberfleck, fast so groß wie eine Eincentmünze. Ein Muttermal. Ein dunkler Kuss.

»Meine Mutter wollte Sie immer nach dem Namen fragen«, fuhr Luna fort. »Sie hat die letzten Seiten in der Schule auswendig gelernt. Als mein Bruder und ich klein waren, hat sie uns den Text beim Abendessen vorgesprochen, wenn es uns nicht gut ging.« Die Erinnerung ließ ihre Züge ganz weich werden. »Das Liebesgedicht hat ihr viel bedeutet. Jetzt frage ich stellvertretend für meine Mutter: Wer hat Sie inspiriert? Wer war Luna?«

Aus dem Zuschauerraum kam kein Laut. Auf der Bühne war es wegen der Scheinwerfer ziemlich heiß, aber plötzlich wurde mir so kalt, als flösse Eiswasser durch meine Adern. Ich zitterte. Schweiß bildete sich auf meiner Stirn. Ich hatte es immer abgelehnt, diese Frage öffentlich zu beantworten. Oder privat. Nicht einmal Henry kannte die Wahrheit. Dass sie heute Abend erneut gestellt würde, hätte mir klar sein müssen. War sie nicht der Grund, warum ich mich auf einen letzten Auftritt eingelassen hatte? Warum ich überhaupt hier war? Endlich wollte ich diese Geschichte erzählen.

Die alte Reue saß mir wie ein Kloß im Hals und blockierte meine Stimme. Ich räusperte mich.

»Luna ist natürlich das spanische Wort für Mond«, sagte ich dann. »Das Gedicht enthält viele Metaphern und Symbole, die Verschiedenes bedeuten. Ich habe es vor fünfundsiebzig Jahren geschrieben, musst du wissen. Deine Mutter, du, ihr alle hier …« – ich winkte den Zuhörern zu – »… wisst inzwischen besser als ich, was dieses Gedicht bedeutet.«

Die Luna, die vor mir stand, schüttelte enttäuscht den Kopf. Dabei fiel ihr eine Haarsträhne über die Augen, und sie strich sie zurück. »Nein, ich meine die Frau, für oder über die dieses Gedicht geschrieben wurde. Meine Mutter hat immer gesagt, dass es darin um eine Frau namens Luna geht.«

Ich richtete mich auf und hörte meine Wirbelsäule knirschen, ein kleiner innerer Aufruhr. Es passierte nicht oft, dass ich so in Verlegenheit gebracht wurde. Zu Hause hatte ich einen Gärtner, eine persönliche Assistentin, eine Haushälterin, eine Köchin. Ich lebte mit meinem zweiten Mann, Henry, zusammen, aber ich war diejenige, die bestimmte, was zu geschehen hatte. Manche hielten mich für dominant. Ich selbst bezeichnete mein Auftreten lieber als selbstsicher. Auch dieses Mädchen war selbstsicher, das sah ich allein schon daran, wie es die Schultern hielt und die Lippen schürzte.

Wie sollte ich die erste Luna beschreiben? Ich war Luna Hernandez ja nur einmal begegnet. An einem Abend, als der Wind Zweige und Äste von den Bäumen riss und Blätterhaufen in den Straßen vor sich her peitschte. Vor Jahrzehnten, seither war fast ein ganzes Leben vergangen. Diese Luna war in mir gewachsen und hatte mein Denken verändert, bis ich kaum noch sie sah. Waren ihre Augen braun oder grau? Ihr Leberfleck, saß er auf ihrer rechten oder linken Wange? War es Reue gewesen, die ich an jenem Abend in ihrem Gesicht gesehen hatte, oder Gleichgültigkeit?

»Ich habe ein Gedicht über die Liebe geschrieben«, begann ich und wandte mich an die Zuhörer. »Aber es gibt Grenzen. Bestimmte Verfehlungen. Ich habe die Liebe immer mit Vorsicht betrachtet. Was sie verspricht, ist schwindelerregend, was ihr zugrunde liegt, ist vage, ihr Ursprung undurchsichtiger als Schlamm.«

Jemand im Publikum kicherte. »Ja, Schlamm!«, sagte ich laut in die Richtung, aus der das Gekicher gekommen war. »Als ich jung war, habe ich versucht, die Liebe zu sezieren, wie etwas, das man gut beleuchtet vor sich auf den Tisch legt, um dann darin herumzustochern und es in Stücke zu schneiden. Jahrelang hielt ich es für möglich, ihren Kern, ihr innerstes Wesen freizulegen, und ich glaubte, sobald dieses Grundelement gefunden wäre, könnte man es züchten und pflegen wie eine Rose und etwas Wunderschönes entstehen lassen. Damals war ich eine Romantikerin. Ich wusste noch nicht, dass es unmöglich ist, Betrug zu verhindern. Wenn man lange und gut genug lebt, um die Liebe kennenzulernen, ihre zahlreichen Erscheinungsformen und Spielarten, wird man schwach. Und bricht jemandem das Herz. Das verschweigen unsere Märchen. Genau wie die Lyrik.«

Ich hielt inne.

»Sie haben meine Frage nicht beantwortet«, sagte Luna, die Arme vor der Brust gekreuzt und das Kinn gesenkt.

»Ich will dir eine Geschichte erzählen«, sagte ich. »In diesen schwierigen Zeiten sind Geschichten wichtig. Auf gewisse Weise sind Geschichten das Einzige, was wir haben, um uns eine Vision von der Zukunft zu geben.«

Luna entfernte sich vom Mikrofon. Sie hörte aufmerksam zu, genau wie alle anderen, die Schultern leicht vorgebeugt, neugierig und hellwach.

»Vor langer Zeit«, begann ich, »lebten einmal ein Vater, eine Mutter und vier Kinder, drei Mädchen und ein Junge. Sie wohnten in einem ganz gewöhnlichen Haus, in einer ganz gewöhnlichen Stadt, und eine Zeit lang waren sie glücklich.« Ich unterbrach mich, und alle starrten mich an, Dutzende Augenpaare. »Und dann …« Wieder unterbrach ich mich, fühlte mich ganz schwach und trank einen Schluck Wasser. »Und dann begann die Große Pause. Damit fing alles an. Unsere Mutter wollte das nicht, ganz gewiss nicht, aber das hier ist die Geschichte einer gescheiterten Liebe, und die Große Pause war nur der Anfang.«

1. Teil

Bexley

1. Kapitel

Im Frühling des Jahres 1981 starb unser Vater. Er hieß Ellis Avery Skinner, und schon mit vierunddreißig kämmte er hoffnungsvoll jeden Morgen ein paar dünne Haarsträhnen über die rautenförmige kahle Stelle an seinem Hinterkopf. Wir wohnten in der mittelständischen Kleinstadt Bexley, Connecticut, wo unser Vater eine Zahnarztpraxis betrieb. In dem Moment, als sein Herz stillstand, zog er sich gerade ein Paar blaue Gummihandschuhe an, während seine Nachmittagspatientin, Ms. Lipton, vor ihm auf dem glatten Polster des Behandlungsstuhls lag und unter ihrer süßlichen Chloroformmaske tief und gleichmäßig atmete.

»Oh!«, sagte unser Vater und fiel seitwärts zu Boden.

»Dr. Skinner?« Ms. Lipton setzte sich auf. Sie wankte ein wenig in ihrer Betäubung und schaute erschrocken auf unseren am Boden liegenden Vater. Er zuckte noch einmal, zweimal, dann begann Ms. Lipton zu schreien.

Sein Gesichtsausdruck, berichtete sie später unserer Mutter, sei eine Mischung aus Kapitulation und vollkommener Überraschung gewesen.

Unsere Mutter war damals einunddreißig. Sie hatte nie in Vollzeit gearbeitet und am Colby College in ihrem Heimatstaat Maine Englische Literatur studiert; ihre Bachelorurkunde lag zusammengerollt in einem Kleiderschrank oben in unserem Haus. Dunkle Haare umrahmten ihr Gesicht wie gebügelte Vorhänge ein Fenster. Ihre Augen waren groß und braun, ihre Wimpern kurz und spärlich, und ihre schmalen Lider gaben ihr stets einen Anschein von Wachsamkeit und Ausgeliefertheit. Sie hieß Antonia, aber alle nannten sie Noni, und lange vor meiner Geburt hatte festgestanden, dass auch ihre Kinder sie Noni nennen sollten.

Es war ein nasskalter Tag, als mein Vater begraben wurde, Mitte März. Ronald Reagan war Präsident, der Kalte Krieg in vollem Gange, und Star Wars ließ uns alle an unsichtbare Mächte glauben. Bexley war eine Stadt, in der die Menschen einander im Postamt oder in der Bank mit Namen grüßten, und niemanden interessierte, ob jemand Geld hatte oder nicht. Der Arzt und der Arbeiter vom Sägewerk kamen zu meinem Vater, wenn sie eine Wurzelbehandlung brauchten, und beide tranken ihr Bier in derselben zugigen Kneipe. Der dunkle Punnel River mäanderte im Osten der Stadt dahin und bot uns im Sommer jede Menge Möglichkeiten, unsere Freizeit zu verbringen. Damals wäre es einem absurd vorgekommen, als Pendler die eineinhalbstündige Fahrt auf sich zu nehmen, um in New York City zu arbeiten. Wer in Bexley wohnte, arbeitete auch in Bexley.

Es war also keine Überraschung, dass die ganze Stadt dem Begräbnis unseres Vaters beiwohnte. Hunderte, wie es mir schien. Tausende. Noni führte uns mit eiserner Hand durch diesen schrecklichen Tag, indem sie ständig zwei von unseren acht Händen hielt. Abwechselnd, denn sie bevorzugte keinen. Sie hatte vier Kinder, und alle vier hatten es nötig, ihre warme Hand zu spüren.

Renee, die Älteste von uns, war elf. Sie war groß, dünn und feingliedrig und trug die kastanienbraunen Haare zu einem Zopf geflochten, der ihr lang über den Rücken hing. Schon als Kind war sie tüchtig und beherrscht, auch bei der Beerdigung. Sie weinte nicht und machte kein Theater, als ihre Strumpfhose eine Laufmasche bekam. Sie half Noni mit uns Jüngeren und versuchte, nicht auf den Sarg zu starren.

Die Zweitälteste war Caroline, acht, dann kam Joe, sieben. Caroline war die Hübscheste von uns, mit Wangen so rosa wie Kaugummi, und im Sommer wurden ihre Haare fast blond. Joe, der einzige Junge, hatte große Hände und Füße und widerspenstige Haare, die er ständig aus der rechten Gesichtshälfte strich. Joe und Caroline sahen sich sehr ähnlich und hatten das gleiche breite Grinsen, sodass sie oft für Zwillinge gehalten wurden und manchmal selbst vergaßen, dass sie ein Jahr auseinander waren.

Und dann kam ich, Fiona, die Jüngste, vier Jahre und acht Monate alt, als unser Vater starb. Ich war ein pummeliges Kleinkind mit weichen, runden Knien und störrischen roten Haaren, die mein sommersprossiges Gesicht umkringelten. Mein Aussehen unterschied sich von dem meiner schlanken, wohlgeformten Geschwister so sehr, dass unsere Nachbarn manchmal skeptisch die Augenbrauen hoben, reserviert das Kinn vorschoben oder uns so misstrauisch beäugten, dass man ihnen ansah, welche Verdächtigungen und Gerüchte sie über uns verbreiteten. So ging es zu in Bexley, Connecticut. Neu-Engländer der Arbeiterklasse in gestärkten puritanischen Ethikkorsetts. Ihre Fingernägel mochten schmutzig sein, aber ihre Seelen waren rein. Nach dem Tod unseres Vaters verebbten die Gerüchte. Witwenschaft ging über mutmaßliche Untreue. Ihre Trauer machte Noni unfehlbar, unantastbar.

Ich kann mich kaum an die Zeit erinnern, als mein Vater noch lebte, aber klar und sehr detailliert an den Tag, als wir ihn beerdigten. Auf dem Friedhof flog ein Schwarm Krähen über den Sarg. Unser Priester, Pater Johns, hielt seine Ansprache mit einer Stimme, die er wie einen Sturm an- und abschwellen ließ, mal laut, mal leise. Ich konnte kein Wort verstehen. Geschmolzener Schnee hatte den Boden aufgeweicht, aber unter Bäumen und entlang der schattigen Seite des marmornen Mausoleums auf einem kleinen Hügel hinter den Gräbern lag hier und da noch Schnee.

Das Mausoleum ähnelte einem Haus: ein paar Stufen vor dem Eingang, ein spitzes Dach, fensterartige Mauernischen. Es war viel größer und beeindruckender als der Grabstein, den Noni für das Grab unseres Vaters ausgesucht hatte. Dieses Mausoleum interessierte mich mehr als Pater Johns, deswegen entwischte ich der Trauergemeinde und lief den Hügel hinauf. Die Steine des Gebäudes waren dunkelgrau, gesprenkelt von Regentropfen und Altersflecken – sehr ernst und bedeutend. An seiner oberen Kante entzifferte ich den Schriftzug GARRISON H. CLARK. Und darunter:

GELIEBTER VATER, EHEMANN, SOHN, BRUDER, KOLLEGE, FREUND.

Vom Fuße des kleinen Hügels hörte ich Pater Johns’ dumpfe, tiefe Stimme. Aus der Ferne vernahm ich die Worte:

»Zu früh …«

»Große Last …«

»Fragt nicht …«

Noni stand mit gesenktem Kopf da; meine Abwesenheit hatte sie noch nicht bemerkt. Sie war katholisch und spürte ihre Religion vom vielen Beten in den schmerzenden Knien, aber nicht – wie sie an diesem Tag feststellte – im Herzen. Es sollte das letzte Mal sein, dass sie an den Ritualen einer Religionsgemeinschaft teilnahm, der letzte Tag, an dem sie angesichts der Worte eines Mannes im Priestergewand den Kopf senkte.

Von meinem Hügel aus gesehen ähnelten die Trauernden den Krähen, nur dass sie größer und stiller waren, aber genau wie die Krähen hockten sie auf dem hellgrünen Frühlingsgras, das neben dem Sarg einen starken Kontrast zu der dunklen Erde bildete. Ich sah, dass auf dem Grabstein unseres Vaters nicht viel Platz war. Wie unscheinbar er war, wie dürftig – kein Vergleich zu Garrison H. Clarks prächtigem marmornen Mausoleum. Ich stand da, unter dem Namenszug eines Fremden, und blickte auf die Beerdigung meines Vaters hinab, und zum ersten Mal an diesem Tag musste ich weinen.

***

Unser Haus war gelb und zweistöckig, im Kolonialstil erbaut, und große Ahornbäume und Eichen säumten unsere Straße. Im Frühling war sie mit Eicheln übersät, im Herbst mit roten und orangefarbenen Blättern. Eine steile, knarrende Treppe führte zu den Zimmern im Obergeschoss, und der Keller roch nach Moder und angesengten Laken. Im Hinterhof hatten wir eine metallene Schaukel, eine Sandkiste, die von den Nachbarskatzen benutzt wurde, und Blumenbeete mit Kapuzinerkresse, Lavendel, Gardenien und Klematis, die von Noni hingebungsvoll gepflegt wurden.

Nach der Beerdigung kamen immer mehr Trauergäste in das gelbe Haus. Alle, die mit in der Kirche gewesen waren, aber auch Leute, die ich noch nie gesehen hatte, die aber meinen Namen kannten, sich zu mir herabbeugten und Dinge sagten wie: »Fiona, Schätzchen! Fi!«

Unsere Nachbarin, Ms. Granger, nahm Teller in Frischhaltefolie und bonbonfarbene Tupperware entgegen und beeilte sich, alles auf den Tisch im Esszimmer zu stellen. Ich fand es merkwürdig, Ms. Granger in dieser Rolle zu sehen, denn es sollte doch eigentlich Nonis sein. Aber die saß auf der orangefarbenen Couch und führte sich ein weißes Taschentuch vom Schoß an die Augen und wieder zurück, während Fremde vor ihr knieten und die Köpfe senkten, als erteilte Noni ihnen einen Segen. Noch nie hatte sie so wenig wie unsere Mutter ausgesehen.

Das Schwarz ihres Kleids, das Orange der Couch, das Weiß ihres Taschentuchs erinnerten mich an Halloween, und ich war auf eine seltsam sinnlose Art aufgeregt. Der Hysterie nahe. Und dann das viele Essen. Überall! Schüsseln mit grünen Weintrauben und Keksen und Karamellbonbons und Kartoffelchips. Platten mit Dreiecken von Schinken-Käse-Sandwiches, gewürfelte Wassermelonen, die tropften und unser weißes Tischtuch rosa färbten. Ich schnappte mir, so viel ich konnte, und verputzte es schnell, weil ich nicht wusste, was hier erlaubt war.

Schon bald stellte sich heraus, dass alles erlaubt war, wenn der Vater gestorben war. Ich entdeckte Joe mit einer Schüssel Bonbons und drei Dosen Cola unter dem Tisch. Caroline zog die Strumpfhose aus, räkelte sich auf dem Fußboden und sang; Renee saß im Schaukelstuhl und pulte ausgiebig an einer Borke auf ihrem Ellenbogen, ohne auf den Erwachsenen zu achten, der vor ihr stand und wieder und wieder mitleidsvoll ihren Namen sagte.

Ich tobte durchs Zimmer, klatschte Leuten auf den Po, ohne mich zu entschuldigen, popelte in der Nase und wischte mir die Finger am Couchtisch ab. Niemand griff ein, sagte etwas oder nahm überhaupt Notiz von mir. Diese Freiheit war ermüdend. Mit wackligen Beinen kletterte ich auf Renees Schoß. Sie trug ein steifes schwarzes Kleid und eine schwarze Strumpfhose, die sie hochzog, als ich es mir auf ihr bequem machte. Mit einem unbeschuhten Fuß versetzte sie den Schaukelstuhl in Schwingung, vor und zurück, vor und zurück. Die Bewegung war so beruhigend, als befände ich mich auf einem Schiff auf hoher See oder in einem Auto auf einer holprigen Straße. So sollte mein Bild von Renee immer bleiben: ein Ruhepol inmitten turbulenter Zeiten.

Als ich auf Renees Schoß saß, fing es an. Ich weiß nicht, was Joe so wütend gemacht hatte. Ich weiß nur, dass er sich einen Schürhaken vom Kamin schnappte, ganz rußig an der Spitze, gusseisern und schwer, etwa so lang wie ein Baseballschläger.

Im Esszimmer fing Joe an, und dann arbeitete er sich systematisch durchs ganze Haus. Er schlug nicht nach Menschen, nur nach Dingen. Man hörte Holz und Glas splittern, dumpfe Schläge und ein Furcht einflößendes Krachen, wenn er den Schürhaken wieder und wieder auf einen Tisch, einen Stuhl und die vielen Schüsseln und Platten mit Essen niedersausen ließ. Die Geräusche erschreckten mich, aber ich weinte nicht. Ich hörte zu. Wir alle hörten zu. Leise Gespräche und Tränen wichen einem nervösen, feigen Schweigen.

Wamm. Er stürmte ins Wohnzimmer. Die Kristallschüssel mit Bonbons, die Porzellanlampe auf dem Couchtisch, Nonis Sammlung mundgeblasener Katzen – alles krachte zu Boden. Vor dem Klavier hielt Joe kurz inne, dann zielte er auf die gerahmten Fotos, die darauf standen, Fotos, die uns, die Familie Skinner, so zeigten, wie wir bis zu diesem Tag gewesen waren. Alle sechs. Ellis und Antonia, Renee und Caroline, Joe und die kleine Fiona. Wamm. Alle sechs an windigen Stränden Neuenglands und vor lamettabehangenen Christbäumen, grinsend und Grimassen schneidend, Arme über Schultern, Hände haltend. Wamm. Kinder mit Zahnlücken, Allerweltsbabys, pausbäckig und in Windeln. Unsere Eltern waren stolz und erschöpft, fröhlich, unbescholten und wunderschön, trotz ihrer kleinkarierten Polyesterkleidung. Wamm. Alles nur noch ein Scherbenhaufen.

Ich erwartete, dass jemand Joe stoppen würde, aber keiner tat es. Die Zerstörung schien durchs ganze Zimmer zu hallen, Aufstöhnen, erschrockenes Einatmen, aber sonst war alles still. Niemand sagte etwas. Niemand versuchte Joe aufzuhalten. Sogar Noni blieb auf der Couch sitzen, blass und erschüttert. Damals fragte ich mich, und ich würde es mich mein Leben lang fragen: Warum nahm unsere Mutter Joe den Schürhaken nicht weg? Warum nahm sie ihn nicht in die Arme und sagte ihm, alles käme mit der Zeit wieder in Ordnung?

Irgendwann hörte er auf. Mit seinen erst sieben Jahren war er bereits über einen Meter zwanzig groß. Aus seinem geliehenen schwarzen Anzug lugten seine blassen Fuß- und Handgelenke hervor. Auf seine Haare und Anzugschultern war Gipsstaub gerieselt, und seine Haut war gespenstisch bleich. Mit der freien Hand wischte er sich den Schweiß von der Stirn.

Dann ertönte eine laute Männerstimme. Bis heute weiß ich nicht, wer es war, aber man kann wohl sagen, dass dieser Mann Joes und unser aller Leben eine Wendung gab. »Antonia«, sagte er, »dein Junge hat starke Arme. Es wäre schade, wenn er die nicht zum Baseballspielen benutzen würde.«

Jemand kicherte. Ein Kind fing an zu weinen. Mit einem dumpfen Aufprall ließ Joe den Schürhaken zu Boden fallen. Renee schob mich von ihrem Schoß und ging zu ihm. »Joe«, sagte sie. Seine Hände zitterten, und sie nahm eine davon in ihre. Caroline lief barfuß auf die beiden zu und umarmte Joe. Ich folgte ihr und torkelte dabei wie eine Betrunkene, weil ich ebenso übermüdet wie aufgeregt war, und umschlang Joes Waden und Füße.

Ich glaube, in diesem Moment wurden wir uns alle der Verantwortung gegenüber unserem Bruder Joe bewusst. Eine lebenslange Verpflichtung, der wir aus verschiedenen Gründen alle nicht gerecht werden sollten. Aber wir versuchten es: Renee auf ihre besonnene, besorgte Art; Caroline unüberlegt und mit großen Gefühlsausbrüchen, um sich dann wieder anderen Dingen zuzuwenden; ich still und zaghaft, weil ich annahm, dass Joe mich nicht brauchte, jedenfalls nicht so wie ich ihn. Jahre darauf entpuppte sich diese Annahme als falsch. Aber da war es schon zu spät.

***

Das Erste, was Noni tat, als all das Beerdigungsessen verspeist war und wir Kinder wieder zur Schule gingen, war, Joe bei der Little League für eine Baseballmannschaft anzumelden. Sie glaubte immer nur eine Sache zurzeit regeln zu können. Sie fürchtete zu versagen, umzufallen und nie wieder aufstehen zu können, wenn sie versuchen sollte, uns allen gleichzeitig gerecht zu werden. Es sei wichtig, kleine Schritte zu machen, sagte unsere Nachbarin, Ms. Cooperton, eine Sozialarbeiterin, schon bei der Beerdigung zu ihr. Einen Tag nach dem anderen zu meistern. Nach und nach die Aufgaben von der To-do-Liste zu streichen.

Dass Joe nun eine starke männliche Bezugsperson fehlte, war Nonis größte Sorge. Bei dem Gespräch mit der Little League nannte man ihr den Namen eines Baseballtrainers, Marty Roach, der in Bexley einige Berühmtheit erlangt hatte. Seit dreiundzwanzig Jahren hatte er kleinen Jungen Teamgeist und die Freude an einem gut geworfenen Ball nahegebracht. Sein Büro, hatte man Noni gesagt, sei voll von Geburtstagskarten, die ihm ehemalige Spieler geschickt hatten, inzwischen alles erwachsene Männer, die in anderen Städten wohnten und berufstätig waren, aber immer noch an Marty, ihrem alten Trainer, hingen. Genau so etwas hatte Noni gesucht. Jemanden, der Joe nachhaltig beeindrucken würde.

»Eigentlich ist die Mannschaft bereits vollzählig«, hatte der Mann von der Little League am Telefon gesagt. »Aber für Sie, Ms. Skinner, machen wir noch einen Platz frei.«

Zum ersten Training nahm Noni uns alle mit. Die Mannschaft traf sich auf dem Spielfeld der Bexley High School, ein holpriger Platz mit einem überstrapazierten Rasen entlang des Maschendrahtzauns im Norden des Geländes. Hinter dem Zaun wucherten Büsche, Brombeergestrüpp und spindeldürre Kiefern, die in der Ferne immer dichter wurden und schließlich dem Wald am Packensatt Peak zuwuchsen, dem bergähnlichsten Gebilde, über das Bexley verfügte. Schüler der Highschool sprangen gern über den Zaun und entwischten in die Wildnis, um zu rauchen, Alkohol zu trinken, Feuer zu machen und sich unbeholfenem, unvergesslichem Sex hinzugeben. Noni blickte in Richtung auf das Gebüsch, das sich gegen das zunehmende Durcheinander auf dem Spielfeld zu einer geordneten Verteidigungslinie zu formieren schien.

Auf dem Platz stellten sich ein Dutzend Jungen in einer Reihe auf, in lockerer Formation von ihren Vätern umringt. Die Luft roch nach nassen Blättern und süßlichem Mulch, der den Platz in großen Haufen nach Süden hin begrenzte – Vorboten der in Kürze vorgesehenen Frühjahrsbepflanzung. Etwas abseits stand Marty Roach. Bei seinem Anblick musste ich an ein Insekt denken. Er war klein und kräftig, hatte massige Schultern, einen großen dunklen Schnurrbart und Hände wie Baggerschaufeln. Vereinzelte dunkle Haare bildeten auf seinem weißen Schädel ein Streifenmuster, und ich dachte, jeden Moment könnte ein Paar lange Fühler aus seiner Stirn schnellen. Er schien gegen alle Widrigkeiten des Daseins gewappnet zu sein und wäre wahrscheinlich sogar in der Lage, in einer leeren Küche überlebenswichtige Essensreste aufzuspüren. Noni schüttelte ihm nervös die Hand.

»Hiya, Joe«, sagte er und beugte sich so weit zu meinem Bruder hinunter, dass er ihm direkt in die Augen schauen konnte. »Bist du bereit?« Dann machte er eine Kopfbewegung in Richtung der anderen Jungen.

Joe nickte kurz, entfernte sich von Noni und stellte sich in die Reihe.

»Okay, Jungs«, sagte Marty und breitete die Arme aus. »Heute ist unser erster Tag als Team. Wir alle müssen lernen, unsere Rolle darin zu spielen. In einem Team muss sich jeder auf den anderen verlassen können. Ihr werdet euch so gut kennenlernen, als wäret ihr Brüder.« Trainer Marty machte eine kurze Pause. »Aber heute wollen wir einfach nur Spaß haben.«

Wir setzten uns mit Noni auf die Zuschauerbänke und schauten zu, wie die Jungen ihren Vätern schlaff und unbeholfen Bälle zuwarfen. Währenddessen zeigte Marty Joe, wie er einen Schläger halten, ihn schön gleichmäßig in Höhe der Taille schwingen und einen Ball mit dem geriffelten Teil seines Handschuhs fangen sollte. Nach einer Weile teilten sich die Jungen in zwei Mannschaften und begannen ein Trainingsspiel. Joe positionierte sich im Center Field, gleich hinter der zweiten Base, wo er einerseits mitten im Getümmel und andererseits vollkommen allein zu sein schien. Armer Joe, dachte ich. Er trat von einem Fuß auf den anderen, rieb sich die Nase, setzte die Kappe ab und wieder auf. Die anderen Spieler lachten, redeten viel oder winkten ihren Vätern zu. Armer, armer Joe!

Die Batter wechselten sich an der Home Plate ab. Oft verfehlten sie den Ball, ließen die Schläger fallen und brachen schließlich in Tränen aus. Bis ein blonder Junge mit kugelrundem Bauch an die Reihe kam. Er war nicht groß, aber stark, und ganz offensichtlich hatte er Erfahrung mit dem Spiel. Ein Vater warf ihm einen harmlosen Ball zu, der Junge schwang kraftvoll den Schläger und – klack – flog der Ball in hohem Bogen übers Spielfeld. Im nächsten Moment schnellte Joe in die Höhe, als hätte er Sprungfedern, um den Ball zu fangen. Der traf – wump – mit solcher Wucht auf Joes Handschuh, dass ich staunte.

Der blonde Junge hielt mitten im Lauf inne und machte ein ebenso schockiertes wie entsetztes Gesicht.

»Wow! Super gefangen!«, rief Marty Joe zu.

Meine Schwestern, Noni und ich applaudierten wie verrückt. Joe winkte uns kurz zu und grinste. Neben mir auf der Sitzbank schien Noni sich zu weiten wie eine Lunge, die sich nach längerer Zeit wieder mit Luft füllt. Sie winkte Joe zu.

***

Als Joe mit dem Baseballspielen begann, hatten wir eine Sorge weniger, der aber schnell andere folgten.

Nach dem Abendessen hörte ich Noni manchmal murmeln: »Eine Sache zurzeit. Eine Sache. Nur eine.«

Vor unserer Haustür wurden jetzt keine Schüsseln voller Essen mehr abgestellt. Unsere Lehrer fragten uns nicht mehr, wie wir zurechtkämen, und sahen uns nicht mehr mitleidsvoll an. Ich konnte wieder gut schlafen. Genau wie Joe und Renee. Nur Caroline hatte noch Albträume, ganz schrecklich düstere, in denen oft ein Kind mit einem bösartigen Blick vorkam. Nach einer Weile gewöhnten wir uns aber an ihre schlechten Träume, und so schienen wir langsam wieder zur Normalität zurückzukehren.

Eine Sache zurzeit. Nur eine.

Manchmal schimpfte Noni laut und warf Dinge an die Wand – Bleistifte, Bücher, Hefter. Überall auf dem Küchentisch, im Arbeitszimmer und in Nonis Schlafzimmer lagen Papiere herum. Abends plagte sich Noni mit einer großen grauen Rechenmaschine ab. Wenn wir zu ihr gingen, ihr einen Kuss gaben und sie baten, uns zu Bett zu bringen, sagte sie: »Gleich. Ich komme gleich.« Also gingen wir allein zu Bett. Manchmal schliefen wir schon ein, wenn wir noch gar nicht zugedeckt waren, während die Rechenmaschine ratterte, die Noni mit einem schwieligen Zeigefinger bediente, energisch und beharrlich.

Drei Monate nach dem Tod unseres Vaters zogen wir von dem gelben Haus in ein zehn Kilometer entferntes ebenerdiges graues Farmgebäude. Ohne Treppen, Schaukel oder nennenswerten Hinterhof, nur ein Stück Kiesboden und ein kleiner vergilbter Rasen vor einem hohen Holzzaun. Im Vorgarten stand ein Baum, eine riesige Robinie, neben der man sich ganz klein fühlte und die einen rauen Schatten auf das Haus warf. Wir liebten unser gelbes Haus und beweinten seinen Verlust mehr als den unseres Vaters.

»Wir haben kein Geld«, sagte Noni. »Es tut mir leid. Euer Daddy hat mir nicht gesagt, dass wir kein Geld mehr haben.«

Es war Juni, als wir umzogen. Das Schuljahr war gerade zu Ende. Meine Beine waren von Mückenstichen übersät, gerötet und juckten, und weil ich andauernd daran herumkratzte, bluteten sie. An jenem schwülheißen Tag saßen wir alle bei Noni auf dem breiten Vordersitz des Umzugswagens. Joe saß am Fenster und verrenkte sich beinahe den Hals, als er dem gelben Haus nachschaute, das in immer weiterer Ferne verschwand.

Wir halfen Noni, Handtücher und Bettwäsche auszupacken, Geschirr und Besteck, unsere Sommerkleidung und Bücher. Renee und Caroline sollten sich jetzt ein Zimmer teilen. Joes Zimmer lag unten, nahe dem Badezimmer. Ich sollte in einer kleinen, versteckten Kammer mit niedriger Decke und ohne Fenster schlafen. Unsere alten Sachen wirkten in den neuen Zimmern fehl am Platz. Ich erwartete, dass jeden Moment jemand eine Tür aufreißen und Überraschung! oder Ist das nicht komisch? rufen würde – unser Vater vielleicht. So etwas hatte er nämlich manchmal getan.

Am ersten Abend setzten wir uns zum Essen auf die Couch und aßen Spaghetti mit Soße aus der Dose. Zufällig hatten wir nach unserem Alter Platz genommen: Renee neben Caroline neben Joe neben mir. Ich hatte schon mein Nachthemd an, ein kurzes, und das genoppte orangefarbene Couchpolster ließ meine Schenkel noch mehr jucken. Unsere Münder waren von der Tomatensoße rot umrandet.

»Kinder«, sagte Noni. Sie stand vor der Couch. Unausgepackte Kisten säumten die Wände. In der Küche stapelte sich schmutziges Geschirr im Spülbecken.

»Ja?«, sagte Renee.

»Kinder«, wiederholte Noni. »Ich bin sehr müde.« Die Haare hingen ihr schlaff am Gesicht herunter, und ihr Blick schien aus einer unergründlichen Tiefe zu kommen. Ihre Schlüsselbeinknochen zeichneten sich scharf unter der Haut ab. Es sah aus, als könnten sie ganz leicht brechen.

»Ich brauche Ruhe«, sagte Noni. »Okay?« Sie schaute einen nach dem anderen an und hob die Augenbrauen.

Caroline, Joe und ich drehten uns nach Renee um: Sie war die Älteste, sie wusste, was zu sagen war.

»Keine Sorge, Noni«, sagte sie. »Ich kümmere mich um alles.«

Noni nickte kurz, als sei damit alles geregelt. Dann beugte sie sich zu jedem von uns herunter und küsste uns auf die Stirn. Ihre Haare kitzelten meine Wange, dann verschwand sie durch den langen dunklen Flur in ihr Zimmer.

Drei Tage lang verließ sie es nicht. Dann sechs. Dann vier. Dann wieder sechs. So ging es immer weiter. Manchmal tauchte sie auf und kochte etwas zu essen. Oder fragte uns, wie es uns ginge. Oder verarztete ein aufgeschlagenes Knie, einen Sonnenbrand auf der Schulter oder eine Schnupfennase. Aber hauptsächlich war sie in ihrem Zimmer, die Tür geschlossen, die Vorhänge zugezogen, das Licht gelöscht. Eine stille, dunkle Höhle, in die wir nicht einzudringen wagten. Wie lange ging das so? Renee behauptete später, es seien drei Jahre gewesen. Joe meinte, es seien eher nur zwei gewesen. Als wir älter waren, sprachen wir von dieser Zeit als der »Großen Pause«, aber damals hatten wir keine Worte dafür. Wir taten so, als sei alles in Ordnung, und versicherten einander, es werde schnell vorübergehen. Wir mussten einfach abwarten, bis Noni sich genug ausgeruht hatte. Wir mussten uns gedulden, bis sie zurückkehrte.

2. Kapitel

In jenem ersten Sommer verwilderten wir, vor allem Joe und ich. Zweige in den Haaren, die Haut braun gebrannt, schmutzig und zerkratzt. Renee und Caroline versuchten, respektabel zu bleiben und sich als reifer zu erweisen, aber auch ihnen waren Vernachlässigung und Abenteuer anzusehen. Das Haus war nie sauber. Was wir gerade brauchten, holten wir aus den Umzugskisten, aber wir packten sie nie richtig aus. Wir spielten, bauten Forts und Schlösser, die tagelang stehen blieben und erst zusammenbrachen, wenn wir im Haus Fangen spielten, Ringkämpfe veranstalteten oder uns stritten. Wir schliefen in den Sachen, die wir tagsüber anhatten, putzten unsere Zähne nicht. Wir badeten erst, wenn wir unseren eigenen Gestank nicht mehr ertrugen oder Renee uns auszog, in die Dusche schubste und den Wasserhahn aufdrehte. Wir aßen mit den Fingern, direkt aus dem Kühlschrank oder der Lebensmittelkiste, die jeden Freitag von Jimmy, dem Botenjungen vom Eckladen in Bexley, gebracht wurde. Es waren merkwürdige Lebensmittel, manche nahe am Verfallsdatum. Irgendwann fanden wir heraus, dass es Reste und Abfallprodukte waren, die nicht verkauft werden konnten. Milde Gaben. Oft waren wir hungrig. Und immer barfuß.

Joe und ich erkundeten unsere neue Umgebung. Wir wohnten jetzt zwar nur zehn Kilometer von unserem alten Haus entfernt, aber wir fühlten uns vollkommen fremd. Wie in einem anderen Bundesstaat oder im Ausland. Hier gab es braunhäutige Menschen mit Wickelhüten und Tattoos. Die Häuser waren klein, und das Familienleben quoll auf eine Weise aus Fenstern und Türen, die in unserer alten Nachbarschaft unvorstellbar gewesen wäre. In den Vorgärten saßen Männer auf Liegestühlen und tranken aus braunen Flaschen. Frauen schrien ihre Kinder an, die nackt durch den Schauer einer zuckenden Sprinkleranlage hüpften. Ein Mädchen im Teenageralter blies routiniert Rauchringe in den Sommerhimmel.

In zwanzig Jahren würde aus Bexley eine Trabantenstadt geworden sein, mit neuen teuren Häusern und Einkaufszentren, aber 1981 war es ein kleiner, vergessener Ort, von Inflation und Arbeitslosigkeit gezeichnet. Im Osten Bexleys gab es eine stillgelegte Möbelfabrik, die für Colleges und Krankenhäuser produziert hatte. Jahrzehnte zuvor hatte das Werk Arbeiter aus der Stadt herbeigelockt und sie in billigen Häusern mit den billigsten werkseigenen Möbeln untergebracht. Jetzt standen die Hallen leer und hockten da wie eine melancholische Riesenkrake mit von Graffiti übersäten Tentakeln aus Backstein, zerbrochenen Fenstern und einem hohen verrußten Schornstein als Kopf. Überall auf dem Gelände verteilt lagen Holzbretter, Stühle, aus denen das Polster hervorquoll, Tische mit zersplitterten Stumpen anstelle von Beinen.

Vor der Großen Pause war Noni dort manchmal vorbeigefahren, und ich hatte mir mit einer Mischung aus Angst und feiger Schaulust alles angesehen. Während der Pause fuhr Noni nicht Auto, sodass wir keine Gelegenheit mehr hatten, das Werk zu bestaunen. Aber manchmal stellte ich mir nachts im Bett vor, wie das Mondlicht auf die gebrochenen Fensterrahmen traf, auf Ratten, Katzen und Waschbären, die sich durch das Gelände schnüffelten, einander bissen und bekämpften, an den Möbeln kratzten und in den leeren Hallen ihre Exkremente hinterließen. Ich stellte mir vor, wie es dort in der Dunkelheit vor Aktivität nur so wimmelte und eine Zerstörungswut herrschte, die man nur im Schutze der Nacht auszuleben wagte. Für mich war diese Fabrik fast so geheimnisvoll wie Noni. In beiden waren dunkle Mächte am Werk, voll unterdrückter Wut.

In diesem Sommer zogen sich unsere Freunde von uns zurück. Zu Fuß war der Weg in unsere alte Nachbarschaft zu weit, und das Telefon durften wir nur im Notfall benutzen, hatte Noni uns eingeschärft. Uns wurde auch bald klar, dass unsere Freunde ihr gewohntes Leben weiterführten, ein Leben, in dem man Lebensmittel einkaufte, Essen kochte und sich Fernsehshows ansah, ein Leben mit nervigen Angehörigen, ein ganz normales Leben. Wir dagegen hielten ihnen vor Augen, dass man jederzeit abstürzen konnte. Wie schnell alles zusammenbrechen konnte.

***

Am Morgen meines fünften Geburtstags kam Noni aus ihrem Zimmer, um einen Kuchen für mich zu backen. Wir schauten zu, wie sie die Zutaten auf der Arbeitsplatte in der Küche bereitlegte: eine uralte Dose mit Backpulver, ein eingewickelter Würfel steinharten braunen Zuckers. Wir boten ihr nicht unsere Hilfe an. Das schien uns zu riskant. Unsere Mutter kam uns wie ein exotisches Tier vor, eine Gazelle vielleicht, die aufschrecken könnte, wenn wir uns zu schnell bewegten oder zu laut sprachen.

Wir sahen das gesiebte Mehl sanft in eine Schüssel rieseln, hörten das Krachen der aufgeschlagenen Eier, das gleichmäßige Surren des Mixers, und dann – ping – kam der Kuchen aus dem Ofen, goldgelb, dick und rund, wie meine ganz eigene Sonne. Alle aßen ein großes Stück, auch Noni, dann küsste sie mich und ging durch den Flur in ihr Zimmer zurück, wobei der Saum ihres abgewetzten Morgenmantels über den Fußboden schleifte.

Sie schloss die Tür.

Ich brach in Tränen aus.

Renee, Caroline und Joe warfen einander Blicke zu. Caroline verbarg ein Grinsen hinter vorgehaltener Hand.

»Fiona«, sagte Renee. »Joe hat eine Überraschung für dich.«

Joe ging aus der Haustür, und als er zurückkam, hielt er ein kleines Kaninchen in den Armen. Es trat um sich und wollte fliehen, aber Joe drückte es fest an seine Brust.

»Herzlichen Glückwunsch, Fi«, sagte er.

Als Joe mir das Kaninchen gab, klopfte mir mein Herz vor Aufregung bis zum Hals. Vorsichtig legte er es in meine Arme. Ich streichelte über sein weiches Fell und spürte seinen schnellen Herzschlag an meiner Hand. Schwarzgraues Fell, ein weißer Bauch, weiß umrandete Augen. Es war ein Weibchen und sah sehr verängstigt aus, aber Joe redete leise auf die Kleine ein, und ich berührte sie, so sanft ich konnte.

»Wo hast du sie her?«, fragte ich.

Joe flüsterte: »Das ist geheim.«

Draußen im Hinterhof half Joe mir eine Art Gehege anzulegen, indem wir einen Zaun aus kaputten Pappschachteln bauten, eine Holzkiste hochkant als Schutzhöhle aufstellten, eine Müslischüssel für Wasser und eine weitere für Futter hineinstellten. Ich nannte das Kaninchen Celeste, wie die Elefantenkönigin in den Babar-Büchern.

Jeden Morgen fütterte ich mein Kaninchen mit Karotten, verwelktem Salat und den kleinen grünen Äpfeln, die von den Bäumen im Park gefallen waren. Celeste war nicht wählerisch. Mund und Nase bewegte sie gleichzeitig aufs Futter zu, und was immer man ihr hinhielt, verputzte sie im Nu. Ich liebte das schnelle Hin und Her ihrer Augen. Ich liebte ihre langen Beine und die schnellen, kreisförmigen Bewegungen, die sie damit machte, fast so, als führe sie Fahrrad. Ich liebte ihren Geruch – eine Mischung aus Moschus und frischem Gras, und ich liebte sogar die trockenen, perfekt geformten Kötel, die in ordentlichen Häufchen in ihrem Gehege herumlagen.

Auch Joe liebte Celeste. Wochenlang beobachteten wir sie ganz genau. Dabei lernten wir, was sie am liebsten fraß, wo sie am liebsten gekrault wurde, wann sie zum Kuscheln bereit war und wann sie am liebsten spielte. Joe gab ihr gern lange Grashalme, die langsam in ihrem Mund verschwanden und uns an jemanden erinnerten, der Spaghetti einsog.

Einen Monat lang umsorgten wir sie hingebungsvoll, vielleicht zwei, und dann verschwand sie. Als ich eines Morgens zu ihrem Gehege ging, um sie zu füttern, so wie immer, war es leer. Es war August, der Tag erwachte gerade erst, und die Feuchtigkeit in der Luft war zäh wie Karamell. Joe half mir, das Gebüsch im Hinterhof abzusuchen, und ging mit mir die Straße hinunter. »Celeste! Celeste!« Bis der Morgentau verdunstet war und wir beide schwitzten und ganz rot im Gesicht waren – immer noch in unseren Pyjamas.

Ich weinte, und Joe trug mich heim.

»Hör mal, Fiona«, sagte er. »Celeste ist zu ihren Kaninchenbrüdern und – schwestern zurückgegangen.« In unserem Vorgarten setzte er mich ab. Meine Tränen hatten sein Pyjamaoberteil durchnässt. Schnodderspuren glitzerten auf seiner Schulter.

»Wirklich?«, fragte ich. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht.

»Hast du schon mal den Ausdruck ›sich wie die Kaninchen vermehren‹ gehört?«, fragte Joe. »Kaninchen haben viele Brüder und Schwestern. Mehr als alle anderen Spezies.« Joe war mittlerweile acht und wusste alles.

Ich hörte auf zu weinen und glaubte meinem Bruder. Plötzlich bekam ich sogar ein schlechtes Gewissen, weil ich Celeste wochenlang eingesperrt hatte. Ich war froh, dass sie nach Hause zurückgekehrt war. Es muss schrecklich sein, dachte ich, von seinen Geschwistern getrennt zu werden.

***

Ich trauerte genau fünf Tage um Celeste. Dann ging Joe mit mir zum See.

Wieder war es ein schwülheißer Morgen. Ich lag auf der Couch, las Krieg der Welten und überlegte, wo ich mich vor einer Invasion von Aliens verstecken würde. Ich hatte sehr früh lesen gelernt und konnte gar nicht genug davon bekommen. Oft holte ich mir heimlich Renees Bücher oder kramte welche aus den Umzugskisten, die immer noch nicht ausgepackt waren. Meist lebte ich lieber in ihren Fantasiewelten als in der Realität, die mich umgab.

»Komm mit«, sagte Joe von der Haustür her. »Ich will dir was zeigen.«

Ich kniff die Augen zusammen und versuchte, in seinem Gesicht zu lesen, dann legte ich das Buch beiseite.

Er führte mich einen schmalen Weg entlang, durch den Hinterhof eines Nachbarn, über einen niedrigen Zaun und dann einen steilen bewaldeten Hügel hinab. Das Terrain war uneben, es gab keinen richtigen Weg durch das dichte Gestrüpp, und umgefallene Bäume lagen herum. Einzelne Sonnenstrahlen fielen durchs Blätterdach, und der ständige Wechsel von Hell und Dunkel machte es schwer, etwas zu erkennen, sodass ich andauernd stolperte und dann sogar hinfiel. Joe half mir wieder auf, dann nahm er mich auf seine Schultern und trug mich den Hügel hinab. Ich musste mich unter Zweigen und Ästen ducken und umklammerte Joe mit Armen und Beinen.

Schließlich wurde der Wald lichter, und Joe setzte mich ab. Vor uns wand sich ein flacher, in der Sonne glitzernder Bach durch die Bäume.

»Ta-da!«, machte Joe, als sei er ein Zauberer, der gerade seinen größten Trick vorgeführt hatte. Hier war es kühl und ruhig, nur das Wasser plätscherte vor sich hin, Libellen sausten durch die Luft, und Mücken sirrten.

»Lass uns hierbleiben«, bat ich.

Während der nächsten paar Stunden spielten wir auf den Felsen des Bachufers. Keiner sagte etwas. Wir warfen Steine. Wir hockten uns hin und beobachteten Wasserläufer, die mit spindeldürren Beinen auf der Wasseroberfläche umhereilten. Wir bastelten Angeln aus Zweigen und banden lange Grashalme an die Spitze, aber wir hatten keine Köder, und die Fischchen ignorierten unser Bemühen. Stattdessen schossen sie silbernen Blitzen gleich zwischen den Steinen hin und her, um herauszufinden, an welchem die schmackhaftesten Algen wuchsen, wie Hausfrauen, die im Obstladen prüften, welche die beste Melone war. Wir gingen den Bach entlang, der immer breiter wurde. Der Klang rauschenden Wassers kam immer näher, dann war der Wald zu Ende, und vor uns schimmerte ein kleiner grüner See. Wie ein Edelstein, den jemand zwischen Bäumen und hohem Schilfrohr hatte fallen lassen. Am anderen Ende befand sich ein Wehr, über das das Wasser abfloss und in wildem, freiem Fall in die Tiefe stürzte.

Überall wuchsen Laichkraut und Gelbweiderich, auch Seerosen mit tellergroßen Blättern und Blüten, die so steif waren wie Wünschelruten. Auf einer grasbewachsenen Kante konnte man sich gut hinsetzen, und ein kurzer Uferabschnitt hatte sogar einen Streifen Strand aus grauem Sand und Kies. Außer uns war niemand hier, aber ich sah die Hinterlassenschaften von Menschen: ein kleines, ziemlich kaputtes Ruderboot lag umgedreht auf dem Gras, eine zerdrückte Limonadendose, ein paar orangefarbene Zigarettenstummel, einer mit dunkelrotem Lippenstift. Noch nie hatte ich einen schöneren Ort gesehen.

»Joe!«, rief ich. »Können wir da rein?«

Statt zu antworten, riss er sich das Shirt vom Leib und sprang ins Wasser. Schnell zog ich mein Sommerkleid aus und ging auf Zehenspitzen über den Strand. Füße, Knöchel, Knie, Schenkel tauchten ins Wasser, und die Kälte erfasste mich erbarmungslos, wunderbar und schmerzhaft zugleich. Vor dem schmalen Strandstreifen war der Seegrund schlammig und schleimig. Er spritzte zwischen meinen Zehen in die Höhe, und mit jedem Schritt versanken meine Füße tiefer im Matsch. Die Kälte erfasste meine Hüften, meinen Bauch, meine nackte Brust, und erst dann fiel mir ein, dass ich nicht schwimmen konnte.

Meine Füße verloren den Halt in dem schlüpfrigen Boden. Zügig und leise sank mein Kopf unter Wasser. Meine einzige Reaktion war: Erstaunen. Über die Kälte, die Stille und die Lichtverhältnisse – grüne und goldene Streifen –, die filigranen Algen, die wie moosige Schneeflocken im Wasser umherwogten. Ich schwenkte die Arme, die Algen begannen taumelnd zu tanzen, und grüne Teilchen wirbelten explosionsartig auf, als gäbe es plötzlich keine Schwerkraft mehr. In der Ferne sah ich die Glubschaugen und den langen, stacheligen Bart eines Welses.

Hier wollte ich gern bleiben. Es war wunderschön und fremdartig und ganz anders als unser graues Haus und unser neues Leben. Das Leben dort war auch fremdartig, aber gewöhnlich und schmutzig. Unter Wasser in diesem See fühlte ich mich zum ersten Mal wie verzaubert – ich erlebte ein Wunder.

Dann packte Joes starke Hand meine Schulter, und er zog mich aus der goldenen Wunderwelt. Ich holte Luft, und das kalte Wasser drang in mich ein. Es kam mir vor, als hätte ich ein Fischchen eingeatmet, eine ganze Schule von Fischchen, und ihre scharfkantigen silbernen Körper schnitten mir tief in Nase und Brust.

»Fiona!«, schrie Joe. Ich hustete und keuchte, während Joe mich an Land zog. Ich lag am grasigen Ufer, würgte und erbrach mich schließlich in einem einzigen erlösenden Schwall.

Joes Gesicht war von Angst verzerrt. »Fi, geht’s dir gut? Es tut mir leid. Wie konnte ich so blöd sein? Noni hat dir nie beigebracht zu schwimmen, oder?« Er schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn.

»Alles in Ordnung«, krächzte ich. Ich räusperte mich und sagte noch einmal mit normaler Stimme: »Alles in Ordnung, Joe.« Es war ein komisches Gefühl, Joe zu beruhigen, war er doch sonst derjenige, der mich beruhigte. Der Schmerz in meiner Brust verstärkte sich noch, als ich sah, wie aufgelöst Joe war. »Du hast mich gerettet.«

Joe hatte sich in letzter Zeit enorm entwickelt. In einer einzigen Spielzeit war er in seiner Little-League-Mannschaft zum Starspieler geworden. Seine Hände waren riesig, genau wie seine Füße, seine Schultern knochig und jungenhaft, aber breit, seine Taille war schmal. Als er so über mir stand, sah er aus wie ein Drachen, von dem das Seewasser herabströmte. Er sah mich mit seinen tiefblauen Augen an, die nassen Haare aus der Stirn gestrichen, und seine Züge entspannten sich sichtlich.

»Dich gerettet?«, sagte er. »Ja, wahrscheinlich.« Er lächelte.

***

In diesem Sommer brachte Joe mir das Schwimmen bei. Jeden Tag gingen wir zu dem See und nahmen Handtücher, Badeanzüge und Sandwiches mit. Wir fingen ganz vorsichtig an, mit Joes Hand an meinem Rücken, während ich mit den Armen ruderte, mit den Beinen strampelte und mich über Wasser zu halten versuchte. Nach einer Woche konnte ich ohne Hilfe rücklings auf dem Wasser treiben, mit ausgestreckten Armen, als bildeten meine Hände und Füße die Endpunkte eines Sterns, und meine Haare zogen wie ein Kometenschweif hinter mir her.

»Als Nächstes lernst du Hundekraulen«, verkündete Joe, und ich merkte ihm an, wie stolz er auf mich war. Ich lernte nicht schnell, körperliche Betätigung fiel mir nicht leicht, und so jammerte ich oft über einen verstauchten Knöchel oder Kurzatmigkeit.

Eins der vielen Wunder dieses Sees war, dass sich mein Körper aufzulösen schien. Ein großartiges Gefühl. Wenn ich den Kopf in den Nacken legte, um ihn über der Wasseroberfläche zu halten, rauschte es kalt in meinen Ohren, und ich wurde schwerelos. Zwanzig Jahre später, als ich endlich die Pfunde verlor, die mich seit meiner Kindheit wie ein schlafender Python umringelt hatten, erinnerte ich mich wieder daran. Unbelastet ist wohl das Wort, dass ich in einem Gedicht für dieses Gefühl verwenden würde. Oder ungebunden, ungehindert, befreit. Frei. Zum allerersten Mal in meinem Leben aber hatte ich dieses Gefühl in jenem See, mit Joe an meiner Seite.

Renee schöpfte bald Verdacht. »Wo geht ihr eigentlich andauernd hin?«, fragte sie eines Morgens. Dann ging sie auf Joe zu und roch an seinen Haaren. »Du riechst nach Fisch.«

Renee und Caroline blieben fast immer im Haus und kühlten sich vor dem Ventilator. Sie flochten einander Zöpfe, bastelten Schüsseln aus Pappmaché oder Perlen und Masken, indem sie Streifen von Zeitungspapier mit Klebe bestrichen und dann um Objekte wickelten, die sie nachbauen wollten. Wenn ihnen das zu langweilig wurde, sahen sie sich Wiederholungen von Drei Mädchen und drei Jungen oder Das A-Team an, und manchmal schauten sie eine Sendung, in der ein Mann zeigte, wie man Ölbilder malt, und so ruhig sprach, dass meine Schwestern wie benommen waren. Von diesem Mann lernten sie, dass man den ganzen Tag in einer Art Trance verbringen konnte, wie im Halbschlaf, sodass man abends ganz nervös und unruhig und zugleich vor lauter Hitze und Langeweile vollkommen erschöpft war. Malen lernten sie nicht.

Wieder roch Renee an Joes Haaren. »Nehmt uns mit.«

Joe und ich führten unsere Schwestern die Straße hinunter, dann den steilen Hügel hinab und am Bach entlang durch den Wald, bis wir den See erreichten. Es war ein besonders heißer Tag, und der bloße Anblick des dunklen Wassers brachte schon ein wenig Kühlung. Das Rauschen hatte eine beruhigende Wirkung auf uns alle. Ahorn und schlanke Birken bogen sich über den See, die Strömung war schwach und kaum wahrnehmbar. Das Wasser fiel wie ein silbernes Tuch, das durch eine Mangel geschoben wurde, über das Wehr.

Renee stieß einen Pfiff aus und sagte: »Wahnsinn!«

Mir war die Gegenwart meiner Schwestern gar nicht recht. Das hier war unser Ort, Joes und meiner, und ihr Eindringen veränderte alles ganz entscheidend. Caroline trug einen Bikini und breitete ihr Handtuch auf einem sonnigen Flecken aus. Renee begann das Ufer nach Fröschen abzusuchen. Gestern hatte ich einen großen gesehen, einen Ochsenfrosch, der Laute machte, als fiele ein Stein in einen tiefen Brunnen. Aber das erzählte ich Renee nicht. Ich ließ sie suchen.

»Fi, lass uns mit dem Schwimmunterricht weitermachen«, sagte Joe. Ich sah ihn widerwillig an, aber er hob die Augenbrauen, wie um mir wortlos zu sagen: Das ist immer noch unser Ort. Wir können ihn mit anderen teilen, aber es ändert nichts an dem, was wir entdeckt haben.

Also gab ich nach. Ich ließ mich von Joe in den See führen und auf den Bauch legen. Seine Hände hielten mich über Wasser. Ich schlug mit den Beinen aus und machte Schwimmbewegungen mit den Armen. An diesem Tag lernte ich das Brustschwimmen noch nicht, auch nicht am nächsten, aber es dauerte nicht mehr lange.

Und dann kam der perfekte Moment, als mein Körper gewichtslos und wie das Wasser selbst wurde: flüssig, fröhlich, mühelos. Das hatte ich Joe zu verdanken, Joe, der am lautesten klatschte, als ich quer durch den See von Ufer zu Ufer schwamm.

Im Laufe dieses Sommers erfanden Caroline und ich ein Spiel. Im grauen Haus spielten wir kaum miteinander, aber draußen am See herrschten andere Regeln und Erwartungen. Wir suchten den Bach nach bunten Glasscherben und anderen Schätzen ab. Der steinige Grund war voller merkwürdiger Ablagerungen, vielleicht Abfall des alten Möbelwerks oder Dinge, die sich von der städtischen Müllkippe hierher verirrt hatten. Einmal fanden wir einen großen silbernen Löffel, dann eine gerissene, rostige Fahrradkette, eine kleine grüne Flasche. Wir arrangierten unsere Schätze zu hübschen Ensembles und dachten uns ausschweifende Geschichten über ihre Herkunft aus und was ihre ursprünglichen Besitzer wohl alles dafür geben würden, sie zurückzubekommen. Vor der Großen Pause hatte Noni uns oft Märchen und fantastische Geschichten erzählt von Prinzessinnen und Königinnen, Müttern und Trollen, einem bildschönen Prinzen, spektakulären Rettungsaktionen und immerwährender Liebe. Der See bot die perfekte Kulisse für Magie aller Art.

Wochenlang sprachen Caroline und ich über die frühere Besitzerin des silbernen Löffels: die intrigante Königin eines fernen, eiskalten Landes, die den Löffel voller Wut auf ihre ungeliebte Tochter geworfen hatte. Die Tochter hatte sich geduckt, sodass der Löffel über ihren Kopf hinwegflog, ganze Nationen, Ozeane und Zeitalter durchquerte und schließlich in unserem Bach gelandet war.

»Und dann verschwindet die Tochter«, sagte Caroline ernst. »Die Königin glaubt, dass der Geist des Mädchens in den Löffel gefahren ist. Sie sucht und sucht, kann ihn aber nicht finden. Die Königin schwört, immer weiterzusuchen. Bis an ihr Lebensende.«

Verträumt betrachteten wir das angelaufene Silber des Löffels, aus dessen Wölbung uns ganz schwach und dumpf unsere Gesichter entgegenblickten.

***

Im zweiten Sommer der Großen Pause gaben wir das Spiel auf, und zwar als wir Nathan Duffy kennenlernten. Eines Morgens – wir stiegen gerade den steilen Hügel hinab – hörten wir Wasser spritzen, Gekicher und Gejohle. Als wir aus dem Wald traten, war da eine ganze Schar Kinder, alle sonnengebräunt und mit zerzausten Haaren, verschieden groß, Jungen und Mädchen, aber alle einander ähnlich. Nathan war eins von sechs Geschwistern, die im Sommer unter der Obhut ihrer Kinderfrau Angela standen. Als Kind hatte Angela selbst in diesem See gebadet, jetzt jedoch breitete sie eine geblümte Decke aus und setzte sich mit einem Kreuzworträtsel genau in die Mitte, während um sie herum die Duffy-Kinder schwammen, spielten, aßen oder miteinander stritten. Nathan war ein mittleres Kind – zwei ältere Brüder, drei jüngere Schwestern – und das stillste. Ich hatte ihn nicht einmal bemerkt, bis er eines Tages plötzlich neben unserer Decke stand.

Er hockte sich ins Gras und fragte Caroline nach dem Buch, das sie las.

»Ist das Nancy Drew?«, fragte er. »Liest du auch Die Hardy Boys? Mein Lieblingsband ist Der Schatz im Turm.« An diesem Tag verdeckten schwere Wolken den Himmel. Ein Gewitter kündigte sich an, auch Regen.

Caroline sah von ihrem Buch auf und betrachtete Nathan eingehend. Beide waren sie langbeinig und dünn, abwaschwasserblond, braun gebrannt, und beide blinzelten gegen die Sonne an. Nathan trug eine vergoldete Brille, die zu seinen Haaren passte. Sein Blick war schüchtern und ernst.

Während der Großen Pause war Caroline diejenige, die unsere Eltern am meisten vermisste. Sie weinte oft, ganz leise am Küchentisch, beim Frühstück und später im Wohnzimmer, wenn wir Monopoly spielten, sogar wenn sie gewann. Manchmal hatte sie nächtelang Albträume, ohne ersichtlichen Anlass. Dann wachte sie schreiend und weinend auf, und keiner von uns konnte sie beruhigen, nicht einmal Renee.

Jetzt aber erwiderte sie Nathans Blick vollkommen gelassen und zuckte mit den Schultern. »Die Hardy Boys sind ganz okay«, sagte sie. »Aber Nancy ist mutiger.«

Nachdenklich legte Nathan den Kopf schief. Mit seinen langen Fingern strich er vorsichtig über eine Ecke unseres Quilts und über meine Sammlung kleiner, warmer Kieselsteine, die ich auf ein Blatt gelegt hatte.

»Willst du schwimmen?«, fragte er plötzlich. So schnell wie einer der kleinen Fische hüpfte er von uns weg, am Ufer entlang von einer Seite des Sees zur anderen, manchmal auch ins Wasser und schließlich aufs Wehr (obwohl der Boden dort glatt war und Angela ihm zubrüllte, dass er herunterkommen solle), dann kletterte er auf einen Baum und wieder herunter. Schließlich kehrte er zu Caroline zurück und schüttelte seine nassen Haare in ihrer Richtung aus. Wütend knallte sie ihr Buch zu, ging an den Sandstrand und setzte sich dort hin. Aber sie schaute sich nach ihm um. Es war offensichtlich, dass dieser blasse, agile Junge sie interessierte.

Schon bald wussten wir alles über Nathan. Seine Mutter hieß Jeanette, sein Vater Cyrus, und seine fünf Geschwister nannten wir immer in einem Atemzug: DouglasTerryMaddyEmilyJen. Wir nannten sie die Ziegen, weil ihr Familienname Duffy war, und das erinnerte uns an die Ziegenfamilie Gruff aus dem Kinderbuch. Abgesehen davon hatten sie mit ihren langen, neugierigen Gesichtern und den zerzausten Haaren auch etwas Ziegenhaftes. Alle waren dickköpfig, selbstsicher und stritten sich lautstark mit den jeweils anderen über Waffelrezepte, Vulkanausbrüche und die Songtexte von Michael Jackson.

Einen Tag nachdem wir Nathan Duffy kennengelernt hatten, tauchte Ace McAllister auf. Ace polterte den Hügel herab, steckte von Kopf bis Fuß in Camouflageklamotten und fuchtelte mit einer Luftpistole herum.

»Bäng, bäng, bäng!«, brüllte er, und wir schreckten aus unseren Spielen und Büchern auf.

»Das ist Ace«, klärte Nathan uns unbeeindruckt auf, während Ace ihn wieder und wieder erschoss.

Ace war klein und hatte einen stämmigen Oberkörper mit kräftigen Gliedmaßen, sein Gesicht war vor allem breit. Ein glänzender schwarzer Haarschopf fiel ihm in die Augen. Er und Nathan waren keine Freunde, aber Nachbarn und nur ein Jahr auseinander, weshalb ihre Mütter sie schon als Kleinkinder zusammen auf den Spielplatz und zu Geburtagsfeiern geschickt hatten.

»Angela, ich hab dich abgeknallt!«, schrie Ace und sah die Kinderfrau an. Angela winkte ihm kurz zu, ohne den Blick von ihrer Zeitschrift zu heben. Früher war sie auch seine Kinderfrau gewesen und an Sommertagen mit ihm zum See gekommen, aber die Stelle hatte sie gekündigt, um bei den Duffys zu arbeiten. Jetzt überließen Aces Eltern ihren Sohn sich selbst, gaben ihm morgens zehn Dollar, den Hausschlüssel und die Anweisung, keinen Blödsinn zu machen.

Schon nach wenigen Tagen war klar, dass Ace der Wildeste von uns allen war. Er rollte Hals über Kopf das Wehr hinab in den See und juchzte so laut, dass sogar Nathans großer Bruder Terry ihn aufforderte, leise zu sein. Nathan ging in die sechste Klasse, Ace in die fünfte, und zwar an einer Privatschule in Greenwich, der Pierpont Academy. Wir anderen besuchten staatliche Schulen, und die Vorstellung von Pierpont – mit Uniformen und Lacrosse-Spielfeldern – fand ich ungeheuer beeindruckend. Ace besuchte diese Schule allerdings nur, weil seine Eltern Geld hatten und nicht wussten, was sie sonst mit ihm anstellen sollten. Er gab damit an, dass man ihn aus einem angesehenen Internat in New Hampshire rausgeworfen und einer staatlichen Schule verwiesen hatte und dass die Pierpont Academy die einzige Schule gewesen sei, an der er noch angenommen wurde. Er sprach von gewonnenen Kämpfen, vom Biertrinken und Rauchen. Wir glaubten ihm nicht recht, hörten uns seine Geschichten aber gern an. Sein Luftgewehr brachte er oft mit an den See, manchmal auch einen Ghettoblaster, den er angeblich geklaut hatte. Er fing Frösche und Grillen und einmal sogar eine grüne Strumpfbandnatter, und alle bewahrte er eine Zeit lang in einem Schuhkarton auf. Ich vermutete, dass er die Tiere am liebsten gequält hätte, es aber nicht wagte, solange wir dabei waren.

Als Ace herausfand, dass Joe Baseball spielte, nahm er mehr Notiz von ihm, wurde aber gleichzeitig aggressiv. Er sagte Dinge wie: »Oh, da kommt Joe DiMaaaaggio!« Er zog das a spöttisch in die Länge, aber es lag auch eine Spur Respekt darin, vielleicht sogar Bewunderung. Joe war ein Jahr jünger als Ace, aber größer und stärker, und er strahlte die Gelassenheit eines Athleten aus.

Joe betrachtete Ace mit Vorsicht. Sie waren freundlich zueinander, würden aber nie Freunde werden, da war ich mir sicher. Ace war ein ungewollter, aber unvermeidbarer Sommerbegleiter, und wir akzeptierten ihn so, wie wir die Luftfeuchtigkeit und die Mücken akzeptierten, und beklagten uns nur halbherzig über ihn.

Wir sechs – ich und Joe, Nathan und Ace, Caroline und Renee – wurden zu einer Art Clique. Wir waren nicht immer zusammen, nicht jeden Tag, aber meistens. Wir schwammen im See oder spielten im Gras Zwanzig Fragen oder sahen bei Nathan zu Hause fern, während die Ziegen umhertollten, mit den Türen knallten oder sehr laut und amüsiert telefonierten. Wenn gegen Abend die Sonne unterzugehen begann, spielten wir Baseball im Park. Für Joe galten besondere Regeln, damit wir anderen eine Chance gegen ihn hatten und die Spiele nicht gleich wieder vorbei waren. Du darfst nur die linke Hand benutzen! Kein Handschuh für dich! Spiel mit geschlossenen Augen! Außerdem wollten wir wissen, was Joe alles konnte, und drängten ihn, immer schwierigere Kunststücke zu vollbringen. Er nahm es sportlich, lachte und meisterte alles, was wir uns für ihn ausdachten. Manchmal saßen wir auf den Zuschauerbänken, wenn Ace einen Ball nach dem anderen warf und Joe jeden einzelnen hoch und weit ins Feld schlug, ein gelangweiltes Lächeln im Gesicht. Es wirkte so mühelos, als sei es nichts Besonderes, den Ball so gekonnt zu treffen.

»Dein Bruder wird mal berühmt«, sagte Nathan eines Nachmittags zu mir, so überlegt und zurückhaltend wie immer. »Er kommt mir jetzt schon wie ein Superstar vor.«

Ich weiß nicht, ob oder was ich geantwortet habe. Vielleicht sagte ich so etwas wie: Selbstverständlich. Oder ich zuckte nur mit den Schultern. Es schien klar zu sein, dass Nathans Bemerkung keiner Antwort bedurfte. Joe war bereits ein Superstar. Ob er damals wusste, was man von ihm erwartete? Auf dem Spielfeld sah er immer verträumt aus, bewegte sich ganz lässig, aber um so zu spielen, wie er es tat, musste auch er alles geben. Um uns das Spektakel zu bieten, nach dem wir uns sehnten.

***

Eines Tages gerieten Joe und Ace in Streit. Meinetwegen oder besser gesagt: wegen dem, was mir angetan wurde. Es ging ausgerechnet um Celeste, mein Kaninchen.

»Du wohnst in dem grauen Haus, oder?«, fragte Ace eines Nachmittags. Wir waren den ganzen Tag am See gewesen, meine Haut juckte und war ganz klebrig vom abwechselnden Schwimmen, dem Trocknen an der Sonne und wieder Schwimmen. Ich langweilte mich ein bisschen, war ziemlich hungrig und fragte mich, was Renee uns wohl zum Abendessen gekocht hatte und ob das Buch, das mir aus Versehen in den See gefallen war, schnell genug trocknen würde, um es am Abend zu Ende zu lesen. Ich war sechs, pummelig, rotwangig und hatte immer ein Buch in der Hand. Vor Kurzem hatte ich angefangen, Wortlisten in einem schwarz-weißen Heft anzulegen, das eigentlich Renee gehörte und das sie für die Schule brauchte. Noch waren es keine Gedichte, sondern Auflistungen meiner Gefühle und der aufregenden Dinge, die ich gesehen und erlebt hatte.

Grün, golden, Fische, Wasser, Sonne, Gras, Schwestern, Brüder, schwimmen, frei, warm, weich.

Ace sah mich herausfordernd an. »Das graue Haus?«, hakte er nach.

Ich schaute von dem Schulheft auf und nickte.

»Hast du ein Kaninchen?«

Ich legte den Bleistift beiseite und klappte das Heft zu. »Sie ist weggelaufen«, sagte ich. »Zurück zu ihren Schwestern und Brüdern.«

Ace fing an zu lachen, ja er schüttete sich vor Lachen geradezu aus. Theatralisch übertrieben hielt er sich den Bauch und ließ sich rücklings fallen.

»Weggelaufen?«, prustete er. »Sie ist nicht weggelaufen. Ich habe sie mir geholt.«

»Aber warum?« Noch war ich nicht wütend, nur irritiert.

»Sie war ein besonders gutes Kaninchen. Besonders gut.« Ace leckte sich die Lippen und rülpste künstlich.

»Hör auf, Ace!«, rief Nathan vom See her. »Lass Fiona zufrieden.«

»Ich tue ihr doch gar nichts. Ich sage nur die Wahrheit. ›Lass die Mädchen zufrieden, Ace! Lüg nicht! Sei ein guter Junge, wie ich!‹« Das Letzte sagte er mit einer hohen Stimme in spöttischem Tonfall. Nathan schwieg und tauchte den Kopf ins Wasser.

»Das hast du nicht getan«, sagte ich zu Ace. »Das hast du nicht getan.«

»Stimmt. Gegessen habe ich sie nicht. Das war nur Spaß. Nein, ich habe sie mit zu den Bahngleisen genommen, auf der anderen Seite des Hügels, und ein bisschen mit ihr gespielt. Dann hab ich sie dagelassen. Auf den Schienen, meine ich.«

Die Haut über seinen Wangenknochen war mit braunen Sommersprossen übersät, und als er sprach, schienen sie immer dunkler zu werden.

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