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Die Nachtmalerin

Als Buch hier erhältlich:

Haarlem, 1633, das Goldene Zeitalter der Niederlande. Längst haben sich Maler wie Rembrandt und Frans Hals einen Namen gemacht. Sie organisieren sich in Gilden, die strikt den Männern vorbehalten sind. Doch eine junge Frau will das nicht akzeptieren: Judith Leyster, eine Malerin mit Leidenschaft und großem Talent. Eine Frau, die für eine Aufnahme in die Gilde alles geben würde. Um ihr Ziel zu erreichen, schert sie sich weder um gesellschaftliche Normen noch um die Gerüchte, die bald in der Stadt über die aufmüpfige Judith kursieren.
Doch schon bald muss sie erkennen, dass die mächtigsten Männer der Gilde vor nichts zurückschrecken und eine finstere Intrige spinnen, um sie von ihrem Traum fernzuhalten …

»Ein fesselndes Debüt und ein beeindruckender historischer Roman.«
Publisher’s Weekly

»Perfekt recherchiert und lebendig erzählt. Carrie Callaghan erschafft in ihrem Debüt ein Porträt, das einer Judith Leyster würdig ist.«
Chloe Benjamin, Autorin von »Die Unsterblichen«


  • Erscheinungstag: 31.01.2020
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959679084
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Patrick, meinen Liebsten

Kapitel 1

FEBRUAR 1633

Judith lehnte sich an den schmalen Fenstersims und spähte durch das Glas. Die eisige Abendluft durchdrang die vielen Schichten ihrer Unterkleider und des abgetragenen Mieders. Der gestrichene Sims unter ihren tauben Fingerspitzen war zum Grau eines bewölkten Himmels verblasst. Hinter dem Glas lockte sie das goldene Licht der Schankwirtschaft, und obwohl es noch nicht einmal Abendessenzeit war, saßen bereits in unterschiedliche Brauntöne gekleidete Trinker an den kleinen Tischen. Vor Kälte und Nervosität klapperten Judiths Zähne. Sie musterte die Gäste, suchte nach einem verräterischen Detail, konnte aber leider nichts Ungewöhnliches entdecken.

Zu gern wäre sie zurück durch den Garten, um die Hausecke und durch die Tür der Wirtschaft nach drinnen gegangen, doch das wäre zu gefährlich gewesen. Obwohl es eine normale Schänke war, hätte jeder erkannt, dass sie nicht zum Biertrinken gekommen war. Ehrbare Frauen besuchten keine Schänken oder Gasthäuser. Doch eine Malerin, die zu einer geheimen Auktion hier erschien? Womöglich erkannte sie jemand und meldete sie der Gilde. Deren Meister wären entzückt ob eines Vorwands, sie zu bannen. Kein Künstler, vor allem kein Lehrling wie sie, durfte über andere als von der Gilde abgesegnete Wege verkaufen. In der Kälte stampfte Judith mit den Füßen auf und wartete.

Drinnen im Schankraum, der sich im hinteren Teil des Hauses befand, spielte ein Musikantentrio in einer Ecke auf. Judith trommelte aufgeregt mit den Fingern auf dem Fenstersims den Takt mit, bis ihr so kalt war, dass sie die Arme lieber um ihren Oberkörper schlang.

Nichts deutete auf eine Auktion hin, weder illegaler noch anderer Art. Keine Kunst, keine Leinwände, die herumgereicht wurden, keine Staffeleien. Bloß Krüge und wenige Teller wanderten von Hand zu Hand, während bärtige Männer Bier oder, seltener, Wein ihre Kehlen hinabrinnen ließen. Sie spürte, wie sich ein Knoten in ihrem Bauch bildete. Der Mann mit der krummen Nase hatte sie getäuscht. Einen Moment lang presste Judith ihre Fingerspitzen, die noch nach Leinöl und Ocker rochen, auf die Augenlider. Wenn er sie betrogen und ihr Bild gestohlen hatte, würde sie das vier wertvolle Monate kosten. Oder mehr. Sie war dreiundzwanzig und immer noch ein Lehrling.

Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie an der einen Seite des Raums einen dünnen Mann in einem azurblauen Wams von einer Bank aufstehen. Sie kannte ihn nicht, doch seine auffällige Kleidung lenkte ihren Blick auf ihn. Er schien etwas zu sagen, beugte sich nach unten, richtete sich wieder auf und zog dabei einen Leinenüberwurf an sich, der ein Gemälde verhüllt hatte. Judith atmete leise aus.

Sie fragte sich, welcher Künstler dieses lebensechte Gemälde von einem Laute spielenden Schafhirten geschaffen hatte. Diese Erdtöne mit Akzenten von weichem Grün. Wer außer ihr musste noch auf illegale Auktionen zurückgreifen? Selbstverständlich keiner von Haarlems berühmtesten Meistern, wie etwa die Brüder Frans und Dirck Hals. Sie verkauften unter dem Schutz der Lukasgilde. Vielleicht war es ein Lehrling, der kurz vor Vollendung der Ausbildung stand, so wie sie selbst. Jemand, der eben erst eine gewisse Anerkennung erlangte. Sie hoffte, der hier gezeigte Künstler war angesehen oder zumindest nahe daran, es zu werden. Wenn andere Gemälde hohe Gebote einbrachten, könnte es ihres auch. Zwanzig Gulden wären genug. Vielleicht bekam sie sogar dreißig. Noch nie hatte sie so viel Geld verdient, in ihrem ganzen Leben nicht. Wobei fraglich blieb, ob der Auktionator ihr einen gerechten Anteil geben würde.

Der Mann mit der Leinwand trug das Gemälde zu einem anderen Tisch, an dem vier Kartenspieler stirnrunzelnd auf ihre Hände blickten. Judith rief sich jedes Detail ihres eigenen Gemäldes in Erinnerung: Ihre Frau mit dem erhobenen Weinglas hatte genau die richtige Kopfneigung. Doch der Schimmer des Rotweins im geschliffenen Glas war heikel gewesen. Sie hatte mit der Lichtbrechung gekämpft und ihre Schwierigkeiten ein wenig umgangen, indem die Finger der Frau den Blick des Betrachters teilweise versperrten. Judith liebte es, welchen Freiraum ihr die Farbe gab, welche Macht, die Welt auf die schönstmögliche Weise neu zu gestalten, doch sie hoffte, dass keiner der hier Versammelten ihre Korrektur bemerken würde. Die Leute waren Händler und kleine Kaufleute, die gerne ein wenig Luxus neben ihren Waren in den Läden zur Schau stellen wollten. Diesen Händlern war es gleich, ob es sich um die mittelmäßige Darstellung eines Bauernhauses an einem gewundenen Weg oder um ein Werk handelte, in das der Künstler Fragmente seiner Seele gelegt hatte. So schnell wie möglich brauchte Judith ihre eigene Werkstatt. Nur dann würde sie eine Chance haben, sich als ernst zu nehmende Malerin zu etablieren, bevor die öffentliche Begeisterung der Bevölkerung für Gemälde als Dekoration im Hause nachließ. So viele junge Männer hatten Frans de Grebbers Malerwerkstatt verlassen, um sich selbstständig zu machen. Nur Judith war noch immer dort in der Lehre. Obwohl sie ebenso gut war wie die anderen.

Von ihrem Atem beschlug das Glas, deshalb trat sie einen Schritt zurück. Sie biss sich auf die Unterlippe und rieb an ihren rauen Wollärmeln, um sich zu wärmen. Das Licht von drinnen erhellte die Farbe, die noch auf ihrem geschrubbten Handrücken haftete, und Zweifel stiegen einem kühlen Nebel gleich in ihr auf. Sie hätte dem groben Mann ein anderes Werk geben sollen, wie das von den beiden Kartenspielern mit dem Jungen, der einem Hund nachjagte. Drei Personen machten das Gemälde viel wertvoller, und die leise Kritik am Spielen – die durch das närrische Treiben des Jungen angedeutete Warnung – würde die Käufer ansprechen. Aber der Mann hatte sie misstrauisch gemacht. Er hatte sich an sie herangeschlichen, als sie an einem Sonntagmorgen aus der vom Glockenhall erfüllten Kathedrale gekommen war. Geld im Voraus hatte er ihr nicht angeboten. Und bei der Übergabe hatte er ihr nur eine beinahe unleserliche Quittung gegeben, als würde er nicht davon ausgehen, dass sie lesen und schreiben konnte. Erst nachdem sie ihm das Gemälde gegeben hatte, war Judith aufgegangen, dass er ihr nicht gesagt hatte, wann – und ob – sie bezahlt werden würde. An jenem Abend hatte sie stumm in ihre verschlissene Bettdecke geweint.

Die erste Leinwand, die der Auktionator zeigte, verschwand im Nebel des Raums. Judith trat von einem Bein aufs andere. Die untergehende Sonne verwandelte das Glas für einen Moment in einen Spiegel, und es ärgerte sie, ihr kleines Gesicht und die schmalen Lippen zu sehen anstelle des Schankraumes. Judith wusste, dass sie keine Schönheit war. Wieder bewegte sie sich und versuchte, an ihrem Spiegelbild vorbeizuschauen. Bei ihrer Größe musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen, um mehr als die Köpfe der Trinker im höher gelegenen Raum zu erkennen, und dies war das einzige Fenster. Der Auktionator saß mit zwei älteren Männern an einem Tisch, deren Rücken sein Gesicht verdeckten. Doch die ungewöhnliche Farbe seines Wamses leuchtete – ein Grund für Optimismus. Wenn der Mann Kleider dieses exklusiven Farbtons trug, konnte das nur heißen, dass er viel Geld verdiente. Vielleicht war er vom belebten Amsterdam nach Haarlem gereist, und bestimmt würde er wissen, wie er einen hohen Preis für ihr Gemälde erzielte. Erneut trat sie auf und ab. In ihren abgewetzten Schuhen wurden ihre Zehen vor Kälte schon taub.

»Du bist zwar sehr unscheinbar für eine Dirne, aber ich versuche es mal mit dir«, sagte eine Stimme hinter ihr. Sie wirbelte herum, und eine Alkoholwolke schlug ihr entgegen. Ein Mann stand zwischen ihr und der schmalen Gasse neben der Gastwirtschaft. Sein fettiges braunes Haar klebte ihm unter der breiten Hutkrempe an der Stirn. Er neigte sich zu ihr hinab, wollte einen Arm an die Mauer lehnen, verfehlte sie jedoch und stolperte.

»Ich bin keine Hure, du Narr.« Judith trat von dem Fenster weg und weiter in den Schatten des Küchengartens. Sie blickte zur Straße hinter dem Mann, wo nichts außer Dunst auszumachen war. Ihr Herz pochte so schnell, als wolle es ohne sie davonlaufen.

»Jetzt sei nicht so schüchtern. Das bringt dir keinen Gulden mehr ein. Komm schon, wo soll es sein? Nicht hier, hoffe ich. Obwohl«, er musterte sie von oben bis unten, »ich würde es hinbekommen.«

»Ich bin nicht käuflich«, sagte sie. »Lass mich oder ich rufe den Wachmann.« Sie hatte keine Ahnung, wo gerade ein Nachtwächter sein mochte, betete aber, dass ihrer Stimme die Unsicherheit nicht anzuhören war. Ihr Puls rauschte in den Ohren. »Scher dich fort oder du wirst es bereuen.«

Der Mann begutachtete sie abermals und spuckte auf die schmutzigen Steine des Gartenwegs.

Plötzlich griff er nach ihr. Wieder wich sie zurück, weiter in die Dunkelheit, und riss die Augen weit auf. Sie hätte vorwärtsgehen sollen, zur Straße und möglichen Passanten. Grinsend kam er näher.

Sie holte tief Luft und stieß ihn weg.

Verwundert schüttelte der Mann den Kopf. Dann verzog er spöttisch das Gesicht, und sie hielt die Hände in die Höhe, bereit, ihn erneut wegzustoßen. Er spuckte wieder aus und verschwand dann, während er wütend vor sich hin murmelte. Die Bänder unten an seinen Kniebundhosen waren orange, und für einen Augenblick flutete die Farbe Judiths Denken. Sie lehnte ihre Schulter an die eisige Mauer der Schänke, kniff kurz die Augen zusammen und versuchte, ruhig zu atmen. Die kalte Luft brannte in ihrer Lunge.

Judith spähte aufs Neue durch das Fenster, doch jedes Mal wenn sie sich von der Straße abwandte, fühlte sie den klaffenden, ungewissen Abend hinter sich lauern. Die Auktion drinnen ging weiter, und flüchtig erblickte sie Finger an einem schimmernden Weinglas. Oder glaubte, sie zu sehen, doch die Menge verschluckte das Bild. Sie hätte ihren jüngeren Bruder Abraham mitbringen sollen. Bei Tage konnten Frauen ohne Weiteres allein in Haarlem umherwandern, doch mit dem abnehmenden Licht schwand auch die Sicherheit. Judith blickte sich zum Garten und der angrenzenden Seitenstraße um. Mit zwanzig Jahren war Abraham alt genug, sie zu beschützen. Außerdem war er schlau und hätte keine Fragen über die Auktion gestellt.

Sie schaute zurück in die Wirtschaft, doch nun konnte sie den Auktionator nicht mehr entdecken. Die Tische waren nach wie vor voller halb leerer Krüge, Stapeln von Spielsteinen, und es waren sogar einige Frauen dort. Aber nirgends eine Spur von dem Mann in dem azurblauen Wams.

Sie bohrte die Fingernägel in den Fenstersims, und ihr Blick huschte nervös zur Straße und dann zurück, um weiter nach dem Auktionator Ausschau zu halten. Die Scham hielt sie an Ort und Stelle, während sich Panik in ihr regte. Die Materialien für dieses Gemälde waren teuer gewesen, und jede Woche, die sie in der Lehre bei Frans de Grebber festsaß, war eine, in der ein anderer junger Maler seine Werkstatt aufmachte. Bald würden an den Schmiede- und Bäckerwänden alle moralisierenden Gemälde und Bibelszenen hängen, die dorthin passten. Dann würde sich niemand mehr auf das Wagnis einlassen, eine unbekannte Malerin anzubieten. Das Zwielicht ging in Dunkelheit über. Sie hatte keine Laterne bei sich und musste weg, bevor das winterlich frühe Abendläuten alle gesetzestreuen Bürger an den sicheren heimischen Herd schickte. Eine Kirchenglocke erklang, doch Judith zählte nicht richtig mit, weil sie immer wieder zwischen Straße und Fenster hin und her sah. Männerstimmen ertönten in der Nähe, und sie erstarrte. Nachdem sie fort waren, zählte Judith bis zwanzig, raffte all ihren Mut zusammen und ging zur Vorderseite des Gasthauses. Dann trat sie durch die Tür.

Drinnen wurde sie von einem Durcheinander aus Stimmen und Musik empfangen. Sie flehte lautlos, dass niemand sie bemerken würde, dass keiner sie erkannte. Dennoch drehten sich einige Köpfe zu ihr um, gewiss überrascht von dem strengen braunen Kleid und der einfachen weißen Batisthaube auf ihrem kastanienbraunen Haar. Ihre Kleidung stand in starkem Kontrast zu den bunten Gewändern der anderen Frauen, die hier im Raum auffielen wie gepflückte Blumen. Und der Narr hatte sie für eine Dirne gehalten!

Blinzelnd blieb sie stehen, war für einen Moment überwältigt. Sie packte den Ellbogen einer vorbeigehenden Bedienung.

»Verzeihung, ist der Mann in dem azurnen Wams hier? Mit den Bildern? Weißt du, wo er ist?«

Dem Mädchen baumelten vier leere Krüge von den Fingern wie ungezogene Kätzchen, die man im Nacken gepackt hatte. Sie reckte den Kopf, sah über Judith hinweg und erwog offenbar, ob sie höflich sein oder sich ihrer drängenden Arbeit widmen sollte.

»Ich habe keine Bilder gesehen«, antwortete sie schließlich und sah Judith an. »Hier ist viel zu tun, und wir bekommen solche Dinge nicht immer mit. Weißt du einen Namen? Vielleicht kenne ich ihn.« Lächelnd machte sie einen halben Schritt von Judith weg.

»Ein azurfarbenes Wams. Blau, meine ich, mit einem Grünstich. Er trug ein blaues Wams. Er war hier.« Judith streckte eine Hand nach der Frau aus, wagte aber nicht, sie erneut zu packen.

Die Bedienung zuckte mit den Schultern. »Bedaure.« Sie ging weg.

Judith blickte sich um und bemühte sich, ihre Verzweiflung im Zaum zu halten. Braune Wämser und moosgrüne Mieder allenthalben, aber sie sah keinen Auktionator. Es war dumm gewesen zu glauben, sie könnte den Verkauf überwachen.

Die Stimmen der Trinkenden ließen den Raum um sie herum dröhnen. Sie musste sich irren. Er war hier, ganz bestimmt. Sie suchte mit Blicken die lebhafte Menge ab. Ein Gesicht erregte ihre Aufmerksamkeit, doch es handelte sich um einen jungen Mann, der in Dirck Hals’ Werkstatt malte. Einer von jenen Männern, die Fragen stellen und Märchen über ihre Anwesenheit in der Gastwirtschaft erzählen würden. Judith machte auf dem Absatz kehrt und rannte hinaus.

Sie rieb sich die Arme und wünschte, ihre Sicherheit hinge nicht davon ab, dass sie dem Abendläuten gehorchte. Der Auktionator konnte nicht weit sein. Sie hätte ihn suchen können. Dann ging ein Fremder an ihr vorbei und warf ihr einen unheimlichen Blick zu. Im gedämpften Licht begab sie sich zum Haus ihres Meisters.

Ihr blieb keine andere Wahl. Sie musste zu schlafen versuchen und hoffen, dass es bald Morgen würde. Leise stieg Judith die Treppe zu dem Zimmer in Frans de Grebbers Dachgeschoss hinauf, das sie sich mit seiner Tochter Maria teilte. Ohne eine Kerze anzuzünden, zog sie ihr Nachthemd an. Marias Bett war nur wenige Schritte entfernt, und sie hörte den ruhigen Atem ihrer friedlich schlafenden Freundin. Barfuß huschte Judith über die kühlen Dielenbretter. Im Dunkeln konnte sie nur die Umrisse ihrer Freundin erkennen. Sie hielt eine Hand über Marias Kopf, sodass deren krauses Haar ihre Handfläche streifte. Maria atmete aus, rührte sich, wurde aber nicht wach. Judith drehte sich um und stieg auf ihre eigene strohgefüllte Matratze. Dann zog sie sich die Decke bis zum Kinn nach oben. Ihre einzige wahre Freundin musste sich nicht sorgen, wie sie genügend Münzen für die Gebühr der Lukasgilde zusammenkratzen sollte. Marias Vater war ein erfolgreicher Maler. Obwohl bisher noch keine Frau als Meisterin in die Gilde aufgenommen worden war, vermutete Judith, dass Maria, sollte sie sich hinreichend anstrengen, die Zustimmung der anderen Mitglieder gewinnen würde. Doch soweit Judith wusste, reizte Maria ein Leben als Malerin nicht. Judith indes interessierte wenig anderes. Natürlich könnte sie versuchen, einen Ehemann zu finden. Sie war schlicht, aber fleißig genug, um als Gemahlin eines Webers oder Schusters in Betracht zu kommen, irgendeines bescheidenen Mannes. Nur hoffte sie auf etwas weit Besseres als einen Gemahl: ein Leben voller Farben und Öl, mit denen sie Wunder bewirkte. Sie blickte hinauf zum Giebel, der in der Dunkelheit unsichtbar war. Zwar besaß sie ihr Talent und ihre Träume, doch nun hatte sie dieses Gemälde verloren. Es war fort. Der Schmerz um jene vergeblichen Stunden und Münzen lastete schwer auf ihr, und sie atmete beinahe knurrend aus, was zur Folge hatte, dass Maria im Schlaf murmelte. Judith biss die Zähne zusammen und starrte in die Finsternis.

Kapitel 2

Das Morgenlicht war noch schwach, und Maria blinzelte vor Konzentration. Sie tupfte die Farbe mit ihrem winzigen Pinsel auf, hinterließ mehr Luft als Pigment auf der kleinen Flamme, die sie malte. Ein wenig heller. Sie hatte vergessen, ihr zweites Hemd und die neuen Wollstrümpfe anzuziehen, sodass sich nun eine kribbelnde Gänsehaut unter ihren zwei Tuniken breitmachte. Es war zu kalt, um in aller Frühe hier im Haus zu malen, dennoch musste sie. Es blieb nur noch wenig Arbeitszeit. Schon war zu hören, wie ihr Vater und die Lehrlinge ihrer morgendlichen Routine nachgingen und sich zum Frühstück einfanden. Bald würden sie in die Werkstatt kommen, und Marias kurze Zeit des Alleinseins wäre vorbei.

Im Haushalt wusste man mittlerweile, womit sie ihre Morgen verbrachte, wenn sie früh aufstand, um das erste Licht zu nutzen, während sich alle anderen ankleideten und frühstückten. Trotzdem verhängte sie ihr Bild weiterhin, sobald die anderen kamen. Das Porträt war nur für ihre Augen, nur für ihre Zwecke bestimmt. Maria konnte ihr Projekt niemandem erklären, nicht einmal Judith. Sie atmete tief ein und betrachtete die nass glänzende Farbe auf ihrer Holztafel. Könnte sie sich doch gestatten, sie Judith zu zeigen. Aber nein, die Augen einer anderen Person würden ihre Arbeit beflecken. Jeden Abend vergegenwärtigte Maria sich stumm ihren Plan, während ihre Finger über den Rosenkranz wanderten und sie betete, dass nichts geschehen möge, bevor sie sich mit diesem Gemälde von ihren Sünden reingewaschen hatte. Sie konnte Samuel Ampzing nicht heiraten. Der Dichter war fast zwanzig Jahre älter als sie und, schlimmer noch, ein Pfarrer der Reformierten. Seine Zuneigung war eine Strafe für ihre endlosen Verfehlungen. Dennoch hoffte sie, sich einen Ausweg zu verdienen.

Sie intensivierte das Schwarz hinter der Flamme, um den Kontrast schärfer zu machen. Während sie den Pinsel in die Luft reckte, nagte sie an ihrer Unterlippe und prüfte das Gesamtbild. Vielleicht hatte sie ihre Inspiration für heute aufgebraucht. Dabei hätte sie am liebsten immer weiter und weiter gearbeitet. Die Muskeln in ihrer Hand verkrampften sich, so sehr bemühte sie sich um Genauigkeit. Und doch würde das Gemälde vielleicht nie gut genug sein. Nicht einmal mehr zwei Wochen, bis Samuel nach Haarlem kam; ihr lief die Zeit davon.

Die Augen der Frau waren ebenholzschwarze Tiefen, umgeben von sanftem Grau. Das Bild stellte Marias volle Lippen, die dichten Augenbrauen und das längliche Gesicht dar. Sie hatte einen Spiegel benutzt, um dieses Porträt zu malen, obgleich sie die Frau auf dem Gemälde nicht als sich selbst sah. Anfangs hatte sie Judith bitten wollen, ihr Modell zu sitzen, auch wenn sie bezweifelte, dass ihre Freundin den eigenen Pinsel lange genug ablegen konnte. Eines Morgens, als sich beide in der kühlen Dämmerung angekleidet hatten, hatte Maria den Mund geöffnet, um zu fragen. Dann jedoch hatte sie Judiths sichere Finger ihr Mieder schnüren sehen, ehe sie zu ihrem neuesten Bild geeilt war und dabei eine Liste von Malaufgaben für den Vormittag vor sich hingemurmelt hatte, wie sie es täglich tat. Die Frage war Maria im Halse stecken geblieben.

Nun knarzten die Dielen am anderen Ende des Raumes. Judith stand an der Tür, eine Scheibe Brot in der Hand und einen Krümel auf dem dunklen Mieder. Der Duft des frischen Brots wehte Maria entgegen, und sie konnte das Raunen der jungen Stimmen aus der Küche hinten im Haus hören. Sie drapierte ein Tuch über der Holztafel, behielt die Hände aber noch an den Holzkanten.

»Ich werde es mir nicht heimlich ansehen«, sagte Judith. Sie kam näher und hielt Maria das Brot hin. »Du bist so beschäftigt, deshalb bringe ich dir dies hier. Und es ist noch ein wenig Käse übrig, falls du welchen möchtest.«

Maria wollte ihr entgegengehen, erstarrte aber abrupt. »Sehr freundlich von dir, doch ich faste heute.« Sie lächelte zur Entschuldigung. »Vielen Dank.«

Judith sah zur Seite und steckte das Brot in ihren Rockbund. »Ist heute der Tag eines Heiligen?«, fragte sie, ohne Maria anzusehen.

Maria schüttelte den Kopf. »Nein.« Sie wusste nicht, wie sie erklären sollte, welches Wohlgefühl ihr Hunger bereitete, wenn er einem Messer gleich durch ihren Leib fuhr. »Fängst du jetzt an?«

Judith schob eine kastanienbraune Haarsträhne zurück unter ihre weiße Haube, rieb sich die Hände, um sie zu wärmen, und ging hinüber zu dem langen Tisch mit den Malunterlagen. Dort lagen sechs Holztafeln zum Trocknen aus, nachdem die erste Schicht Kalk und Leimgrundierung aufgetragen worden war. Jetzt waren sie bereit für die zweite Schicht – Bleiweiß und Ocker. Über dem Tisch leuchtete das beinahe bis zur Decke reichende Fenster im fahlen Licht.

»Ja, ich muss die hier heute fertig machen.« Judith sagte es ohne jede Regung, dabei wusste Maria, wie sehr sie diese Arbeit hasste. Das mühsame Vorbereiten der Holzoberflächen missfiel ihrer Freundin zutiefst, und das nicht, weil sie es für unter ihrer Würde hielt, sondern weil diese Aufgabe ausnahmslos Judith zufiel, egal, wer sonst in der Werkstatt war. Selbst die jüngsten Lehrlinge, die hier im Laufe der Jahre gelernt hatten, waren meist um diese Arbeit herumgekommen. Jungen, allesamt. Judith beklagte sich nie, und dafür liebte Maria sie umso mehr.

»Wirst du mir das Bild zeigen, an dem du arbeitest?«, fragte Judith, als sie ihren langärmligen Kittel überzog. »Es ist dir offensichtlich sehr wichtig, und ich würde gern sehen, was es ist.«

Maria biss die Zähne zusammen und bohrte die Fingernägel in das Holz der Staffelei. Judith wartete.

Die beiden anderen Lehrlinge kamen in die Werkstatt gelaufen, füllten sie mit ihrem Gelächter und dem Krächzen ihrer noch neuen Männerstimmen. Judith sah Maria noch kurz fragend an, zuckte dann mit den Schultern und wandte sich ihrer Arbeit zu.

Marias Vater, Frans de Grebber, kam herein und setzte sich auf den Hocker vor seiner Staffelei. Er hatte lockiges graues Haar, das über den Ohren kurz geschnitten war, und einen Bart, der mehr silbern als braun war. Nachdem er ein wenig mit dem Pinsel auf seinem Porträt eines Gewürzhändlers herumgetupft hatte, schaute er auf.

»Judith, du musst dich heute Nachmittag zu Herold setzen und seine Skizze des neuen Kunden überwachen, für den wir ein Porträt fertigen. Der Weinhändler.«

Judith runzelte die Stirn, bejahte aber stumm. Der jüngere Lehrling Herold warf seinem Kollegen ein triumphierendes Lächeln zu. Die erste Skizze zu fertigen war eine hohe Auszeichnung.

»Und du, Maria, musst mir bald dieses Gemälde zeigen, damit ich mit möglichen Käufern darüber sprechen kann.« Frans strich sich mit dem Daumen über seinen silbrigen Bart, in dem das Braun so spärlich geworden war wie versehentlich verstreute Sägespäne auf einem Fliesenboden. »Bald.« Er verengte die Augen, wandte sich dann aber wieder seiner eigenen Arbeit zu.

Maria wollte widersprechen, wusste indes, dass es einfacher war, nichts zu sagen. Sie konnte ihm das Bild nicht zeigen, und erst recht konnte sie ihn nicht glauben lassen, er dürfe es verkaufen. Er würde es nicht verstehen. Kurz nach dem Tod ihrer Mutter hatte Maria ihren Vater einmal gefragt, ob sie in ein Kloster eintreten dürfte. Sie wollte für den Rest ihrer Tage durch uralte Laubengänge wandeln und im Gebet zur heiligen Dreifaltigkeit niederknien. Doch es gab keine Orden in den Vereinigten Provinzen, und ihr Vater hatte sie ausgelacht, als sie bat, in die Spanischen Niederlande gehen und sich dort eine Schwesternschaft suchen zu dürfen. Er brauche ihre Hilfe, hatte er gesagt und behauptet, ein solch isoliertes Leben würde sie bald langweilen. Er irrte, doch sie widersetzte sich ihm nicht.

Das Mittagsmahl führte den Haushalt am großen Tisch zusammen. Maria aß nichts, und niemand bemerkte etwas dazu. Auf der anderen Seite des groben Tischs stocherte Judith in ihrem Eintopf aus Ente und Gemüse herum, stand schließlich auf und bat Frans de Grebber um Entschuldigung, weil sie früher ging. Maria versuchte, eine Erklärung für dieses Verhalten an Judiths Miene abzulesen, nur war die wie eine Maske. Sie sagte, sie würde zur Nachmittagsarbeit zurück sein, ehe sie sich umdrehte und verschwand.

»Wo will sie hin?«, fragte der älteste Lehrling, Sohn eines Beamten der Niederländischen Ostindien-Kompanie. Letzterer nutzte seinen neuen Reichtum, indem er seinen Nachkommen losschickte, sich in der Malerei zu versuchen.

Maria wartete auf die Mutmaßungen der anderen, bis sie begriff, dass sie angesprochen war. Der Junge, der rund sechs Jahre jünger war als sie, hatte beide Ellbogen auf den Tisch gestützt und sich zu ihr geneigt; sein Mund mit den vollen Lippen war ein wenig geöffnet, während er wartete.

»Weiß ich nicht.«

Der andere Lehrling, Herold, lachte. Er strich mit den Fingern über die Leinenpaspeln am Saum seines Wamses. »Gewiss weißt du es. Uns ist bewusst, dass ihr Mädchen euch alle eure Geheimnisse verratet, wenn ihr da oben in dem Zimmer bis in die Nacht hinein flüstert.« Er war jung, hatte aber nie die geringste Furcht vor Maria gezeigt, obwohl sie mit fünfundzwanzig Jahren alt genug war, ihren eigenen Haushalt zu haben. Sie wollte scharf widersprechen, doch es war zu peinlich, die Wahrheit zuzugeben. Sie wusste es nicht, weil Judith und sie kaum noch miteinander redeten. Ihre müden Unterhaltungen waren schon lange nicht mehr wie am Anfang, als Judith in den Haushalt gekommen war. Damals war sie dreizehn und Maria fünfzehn gewesen, und sie hatten ununterbrochen miteinander gesprochen. Die junge, hagere Judith hatte ihr von dem Traum erzählt, eine unabhängige Malerin zu sein. So inbrünstig hatte sie sich das gewünscht, dass ihre Augen im Dunkeln jedes Mal zu glühen schienen, wenn sie darüber sprach. Und wenn der Schmerz um ihre verlorene Familie zu groß geworden war, war Judith zu Maria ins Bett gekrochen und hatte das ältere Mädchen gebeten, ihr Geschichten zu erzählen. Sie hatten ihre Hände miteinander verwoben, und Maria hatte ihr Geschichten aus der Bibel erzählt oder Tratsch, den sie von den Bediensteten gehört hatte. Manchmal, wenn es so spät geworden war, dass sie die einzigen Menschen in Haarlem zu sein schienen, hatte sie sich auch Geschichten über zwei Freundinnen ausgedacht, deren Liebe so stark war, dass jede ihr Leben für die andere gegeben hätte. Und jedes Mal hielt Judith ihre Hand und flüsterte: »Eine noch, Maria. Erzähl mir nur noch eine.«

Herold lachte wieder.

»Ich weiß es nicht«, wiederholte sie und achtete darauf, dass ihre Stimme ruhig blieb.

Ihr Vater unterbrach mit einem Hüsteln. Während der Mahlzeiten herrschte gewöhnlich Ruhe, und er mischte sich selten in das Geplapper der Lehrlinge ein. Er saß am Ende der Tafel, wo er mit den Fingern das Entenfleisch von den Knochen zupfte. Nun sah er sie alle reihum an, hüstelte abermals und richtete den Blick wieder auf seinen Teller.

Da er sie gerade nicht im Blick hatte, tunkte Maria ihren Daumen in den Bierkrug und übertrug einen Tropfen des schwachen Gebräus auf ihre Lippen. Es galt nicht als Fastenbrechen und sorgte dafür, dass die anderen nicht auf sie aufmerksam wurden, während alle aßen. Sie liebte es, ihren Durst Tropfen für Tropfen zu stillen. Es war noch ein weiterer geheimer Genuss, und natürlich mehrte die Heimlichkeit das Vergnügen. Wie bei dem Gemälde. Oder bei den heimlichen Messen, die sie mit ihrem Vater besuchte, zusammen mit einer Handvoll anderer katholischer Familien, die sich weigerten, der Reformkirche beizutreten. Dieses Wochenende war wieder ein Priester in der Stadt, und wenn er die Messe in dem geheimen Haus abhielt, würde Maria die heilige Hostie kosten, den wahren Leib Christi. Sie schloss die Augen, um die Vorfreude zu verlängern. Als sie wieder aufblickte, war ihr Vater immer noch mit seiner Ente beschäftigt, und sie tunkte ihren Daumen noch einmal ein.

Nach wenigen Minuten wischte Maria sich die Hände an einer Serviette ab – deren Anschaffung eines der raren Zugeständnisse ihres Vaters an den französisch beeinflussten Geschmack ihrer verstorbenen Mutter gewesen war – und stand auf. Alle anderen saßen noch am Tisch, folglich blieb ihr Zeit, ihr Gemälde zu betrachten.

Allein in der Werkstatt, hob sie das Tuch von dem Porträt. Und seufzte. Zweidimensionale Abbildungen hatten nichts von dem Erhabenen, um das es ihr ging, nichts von der Tiefe und der physischen Freude, die sie einzufangen gehofft hatte, so wie ein Segel den salzigen Wind einfängt und ihn zähmt. Hier, auf ihrer bemalten Holztafel, blickten die Augen der Frau nicht in die Flamme der Kerze, die sie in ihren Händen hielt, sondern zu einem Punkt seitlich davon. Außerdem, dachte Maria, hatte sie bisher nur den Umriss des Kleids gemalt, das die Frau trug. Sie musste noch die sanft fallenden Falten über ihren Armen und der Hüfte ergänzen, um sowohl die Frau als auch das Licht festzuhalten. Vier Wochen hatte es Maria gekostet, in den wenigen ungestörten Momenten so weit zu kommen, und nun blieben nur noch zwei Wochen bis zur Fastenzeit, um das Bild zu vervollständigen. Sie durfte nicht versagen, denn das hier war ihre Chance, Buße zu tun. Buße dafür, wie sehr sie ihre Mutter enttäuscht, wie sehr sie sich von Judith entfernt und wie sie irrtümlich Samuel dazu verleitet hatte, Zuneigung zu ihr zu entwickeln. Sie hörte Schritte und warf das Tuch wieder über ihre Arbeit.

Kapitel 3

An diesem Nachmittag hatte Judith wenig Zeit für sich allein. Sie eilte die Korte Barteljorisstraat hinunter, die vom breiten Marktplatz abging und zu der dreigeschossigen Tuchhandlung zwischen der Bäckerei und dem Haus eines Schusters führte. Hier war die Straße breit genug, dass zwei kleine Karren aneinander vorbeipassten, und Judith beobachtete, wie die tief stehende Sonne auf die oberen Fenster traf, während hinter ihr das melodische Schlagen des Schusterhammers durch die Luft trieb. Bibbernd stand sie in der Kälte, halb unter dem hölzernen Vordach des Hauses, während sie darauf wartete, dass der Schuster sein Gespräch mit der Kundin beendete, die in seiner Tür stand. Es handelte sich um eine streng wirkende Frau in einem safrangelben Rock, dunklem Pelz und feiner Spitze, die unten aus den Ärmeln lugte. Das Schusterhämmern erinnerte Judith an Nägel, die in einen Sarg getrieben wurden, und sie erschauderte. Dieses Geschäft war ihre einzige Chance. Wenn sie Räumlichkeiten in diesem Teil der Stadt besaß – einer sicheren Gegend mit hübschen Backsteinfassaden –, konnte sie Käufer einladen. Solch eine Möglichkeit würde nicht so bald wiederkommen. Meist wurden derartige Räume unter Freunden und Bekannten vermittelt; Menschen, die sich bereits kannten und nie auf den Gedanken gekommen wären, öffentlich zu annoncieren. Doch Judith kannte niemanden. Sie war allein und, noch schlimmer, eine Frau. Nun richtete sie sich auf. Es war nicht von Belang, dass es ihr an Beziehungen mangelte oder der Familienname durch das Verhalten ihrer Eltern besudelt worden war. Deshalb war sie nicht wertlos. Sie ballte die Fäuste, lockerte sie und blickte wieder zu dem Fenster hinauf. An den schwarzen Läden blätterte die Farbe ab.

Sie trat näher. Leinen im Ton von Brachfeldern lag aufgetürmt unter dem Vordach; die besseren Waren hielt der Kaufmann im dunklen Eingang bereit. Dahinter befanden sich, wie üblich, seine Wohnräume. Der Tuchverkäufer hatte rabenschwarzes Haar, war dünn, humpelte und erinnerte Judith dennoch an ihren Vater: einen dicken, über sechzigjährigen Mann. Ihr Vater war einst bei einem Tuchhändler beschäftigt gewesen, hatte über Jahre die feinsten Stücke gefertigt, und etwas an diesem Handwerk schien die Ausübenden zu prägen. Es mochte die Art sein, wie sie ihre Handgelenke bewegten, als würden sie ein Schiffchen zwischen feinen Fäden durchschießen.

Die Kundin ging, und Judith legte das Tuch ab, das sie eben befühlt hatte, um sich die Zeit zu vertreiben und sich abzulenken. Nun holte sie tief Luft und reckte ihr Kinn.

»Ich will gleich über Mittag schließen, kann Ihnen aber helfen, wenn es schnell geht«, sagte der Inhaber.

»Ich bin Judith Leyster«, antwortete sie. Ihre Hände begannen zu zittern, weshalb sie sie lieber faltete. »Ich habe Ihnen eine Nachricht geschickt wegen der Werkstatt.«

»Judith?« Für einen Moment stand ihm der Mund offen, dann schloss er ihn, bevor man ihm vorhalten könnte, unhöflich zu sein. »Ich nahm an, dass J würde für Jan stehen. Oder so. Wie bei dem anderen Bewerber.«

»Es steht für Judith. Was nichts ändert, nehme ich an.« Sie stockte, und er sagte nichts. »Frauen können auch Räumlichkeiten mieten. Catharijne Cuijpers hat ihren Tuchwarenladen gleich eine Straße weiter.« Sie wusste, dass sie trotzig klang, konnte aber nichts dagegen tun.

»Ja, und sie bietet gute Arbeit an. Aber sie ist Witwe. Ich hatte nicht gedacht …«

»Ich bin keine Witwe, aber dennoch berechtigt, mich um diese Räumlichkeiten zu bewerben. Mein Meister, Frans de Grebber, wird es erfahren, sollten Sie mir eine faire Chance verweigern.« Sie wollte Frans nicht erzählen, dass sie hoffte, eine eigene Werkstatt zu mieten, aber der Maler war sehr bekannt. Eine leere Drohung, doch etwas Besseres fiel ihr nicht ein. Sie grub die Fingernägel tief in ihre Handflächen.

Er presste die Lippen zusammen, und Widerstand verdunkelte seine Züge.

»Bitte?« Sie streckte ihm ihre offenen Hände hin und betete, dass die roten Halbmonde in den Handflächen nicht zu sehen waren. »Ich bin ehrbar, und ich möchte diese Räume mieten, um zu malen.«

Der Tuchhändler wischte sich die Hände an seiner Hose ab und überlegte eine Weile. Dann hüstelte er. »Es ist wohl nicht von Bedeutung. Mieter ist Mieter, und Sie haben recht, dass auch Frauen Geschäfte machen. Ich hatte nur nicht erwartet … Aber, nein, Sie haben recht. Möchten Sie sich den Raum ansehen?« Er ging zur Eingangstür und schloss sie.

»Ja, natürlich.« Judith versuchte, keine Miene zu verziehen und ihre Nervosität ob der Erwähnung eines anderen Interessenten zu verbergen. Mit weiteren Bewerbern würde es schwierig für sie werden, eine Mietminderung zu verhandeln. Und Jan … Jan wer? Sie gingen durch die Wohnräume des Tuchhändlers und eine knarrende Treppe hinauf. Der Kaufmann stellte sich als Chrispijn de Mildt vor. Von ihrer Warte aus, einige Stufen unter ihm, musterte Judith seine gut gearbeiteten, aber abgetragenen Lederstiefel und hoffte, dass er dringend einen Mieter brauchte. Aber welcher Jan? Welcher von den vielen ehrgeizigen jungen Künstlern – natürlich allesamt Männer – mochte das sein? Ein nervöses Flattern fuhr durch ihren Bauch.

Oben an der Treppe zog Chrispijn de Mildt ein Bund Messingschlüssel aus seiner Hüfttasche und schloss eine Tür auf. Die Angeln quietschten beim Öffnen, und ein Schwall abgestandener Luft schlug ihnen entgegen.

Sie betraten den Raum. Chrispijn blieb kurz nach der Tür stehen, die Hände nahe seiner Hüfte gefaltet. Judith schritt über die staubigen Dielen zu den zwei breiten Fenstern mit Blick auf die Straße. Unten war alles still, obwohl der Marktplatz nur einen halben Block entfernt war. Die Backsteinfassaden und weiß getünchten Eingänge der benachbarten Läden waren nicht so nahe, wie sie befürchtet hatte. Sie wandte sich zu der Wand links von ihr. Dort strich sie mit den Fingern über den elfenbeinfarbenen Putz.

»Darf ich hier Dinge an die Wand hängen? Materialien, Utensilien?« Sie ließ ihren Finger auf dem kühlen Putz an der Wand, wagte aber einen Blick über die Schulter. Der Mann legte nachdenklich einen Daumen an seine Nase.

»Womit würden Sie Sachen aufhängen?«

»Mit Nägeln.« Woran hatte er denn gedacht? Der Putz fühlte sich rau an, und sie schnupperte an ihren Fingerspitzen, konnte jedoch nur den beißenden Geruch von Leinöl und Pigment ausmachen, der sich in ihre Haut gegraben hatte.

»Nägel? Ich denke, Nägel gingen. Aber ich müsste Ihnen dafür wohl etwas berechnen.«

Sie drehte sich zu ihm um. »Wie viel?«

»Das besprechen wir noch. Unten, wenn Sie sich fertig umgesehen haben.«

Judith nickte, als wäre das Geld zweitrangig und sie hätte den abweisenden Tonfall nicht wahrgenommen. Sie griff in ihre Tasche und nahm eine Handvoll Knöpfe heraus. Es war eine Angewohnheit von ihr, Requisiten für ein Gemälde mit sich herumzutragen, um sie anzusehen, ihre Konturen und Geheimnisse zu ergründen, wann immer sich ein freier Moment bot. Nun bückte sie sich und legte die Knöpfe auf den Fußboden. Es war die beste Art, das Licht zu prüfen.

Ihre Röcke bauschten sich um sie, als sie vor der kleinen Sammlung kniete. Sonnenlicht fiel auf die Knöpfe, die prompt zu wachsen schienen, während ihre Randlinien im üppigen Farbglanz verschwammen. Ein Muschelknopf verwirbelte, als hätte das Licht einen Ozean in ihm freigesetzt. Perfekt, dachte Judith. Sie musste diesen Raum haben.

»Das Licht ist matt«, sagte sie stirnrunzelnd. So verhandelten Leute, glaubte sie zumindest, nachdem sie Frans de Grebber mit seinen Kunden beobachtet hatte. Sie sammelte die Knöpfe ein und steckte sie zurück in ihre Tasche. »Und der Lärm ist nicht ideal zum Arbeiten.«

Chrispijn de Mildt faltete seine Hände wieder. »Ich hätte gedacht, es wäre gut geeignet, aber der andere Bursche hat auch … Tja, das hat nicht viel zu sagen. Schauen Sie sich um. Es ist ein großartiger Raum. Wo sonst in Haarlem finden Sie ein ganzes Zimmer, das verfügbar ist?«

Judith zuckte mit den Schultern. »Das gibt es reichlich.« Natürlich stimmte es nicht. Sie wurde rot und berührte die Knöpfe durch den Taschenstoff. »Wie viel verlangen Sie?«

»Nein, nicht hier.« Er bedeutete ihr, ihm zu folgen. »Geschäftliches regeln wir unten, wo wir es bequem haben und uns setzen können. Ihr Künstler! Ich muss schon sagen.«

Judith verzog das Gesicht, als sie nach unten gingen. Dieser Jan war also auch so weit gediehen, die Miete zu bereden. Aber er konnte keine Vereinbarung unterschrieben haben, wenn Chrispijn den Raum noch anbot. Wobei es natürlich sein konnte, dass der Tuchhändler sie hinters Licht führen wollte, ihr vorgaukeln, sie hätte Mitbewerber. Dieser Gedanke machte ihr Hoffnung.

Zwanzig Minuten später verließ Judith das Tuchgeschäft und musste die Lippen fest zusammenpressen, um nicht strahlend zu lächeln. Die Miete war enorm, jenseits dessen, was sie in ihren optimistischsten Fantasien monatlich zu verdienen hoffte, doch er brauchte einen Mieter. Das war ihm anzumerken gewesen. Für einen Moment hatte er den Atem angehalten, nachdem er ihr den Preis genannt hatte. Als bräuchte er ihre Zusage. Und am Ende schien ihn nicht zu stören, dass sie eine Frau war. Draußen auf der kalten Straße wich sie einer überfrorenen Pfütze aus. Sie musste lediglich ein bisschen mehr sparen, einige Monatsmieten im Voraus zahlen und dann, nachdem sie unterschrieben hatte, neu mit ihm verhandeln. Der andere Künstler, der sich den Raum angesehen hatte, besaß offenbar nicht die Mittel, ihn sich zu leisten. Andererseits tat sie es auch nicht. Noch nicht.

Kapitel 4

Immer noch lächelnd ging Judith durch die Straßen, die sich in Richtung Süden schlängelten, zum Weberviertel. Sie überquerte eine Brücke, die über einen kleinen Kanal führte, und blieb auf der anderen Seite stehen.

Ein Trauerzug kam aus einer schmalen Gasse und ging zur Brücke. Die schweigenden Menschen trugen das übliche Schwarz, und der Sarg war in schwarzes Tuch gehüllt, verziert mit dem Hammer-Wappen der Maurergilde. Tränen benetzten die Wangen der Sargträger. Einige welke Narzissen oben auf dem Sarg zeigten an, dass der Verstorbene jung gewesen war. Judith stand still da und beobachtete alles. Wäre die Lukasgilde eines Tages für ihr Begräbnis zuständig? Einige der Trauernden, die hinter dem Sarg hergingen, hatten bleiche, ausgemergelte Gesichter – ob vor Kummer oder aufgrund von Krankheit, ließ sich nicht erkennen. Vielleicht beides. Judith faltete die Hände und wartete, bis die kleine Prozession vorbei war.

Dann ging sie weiter durch schlammbedeckte Straßen mit kleineren Häusern. Vor der Gastwirtschaft, in der die illegale Auktion stattgefunden hatte, waren die Planken über den Abflussgräben seitlich der Straße verschmutzt und durchgebogen, sodass Judith zögerte, sie zu betreten. Im Dunkeln, zwei Abende zuvor, war ihr der miserable Zustand nicht aufgefallen. Sie lüpfte ihre Röcke, worauf kalte Luft ihre Beine umwehte, und trat über den kleinen Steg, um die zerkratzte Tür zu öffnen.

Drinnen war es warm und überraschend hell. Ein Feuer knisterte im Kamin rechts von ihr, und fünf Tische waren von Männern besetzt. Ein großer Kerl in einer Schürze trug eine Kiste auf seinem Kopf, die er scheppernd neben der Hintertür abstellte.

»Verzeihung, arbeiten Sie hier?« Judith zupfte an ihrem gestärkten Spitzenkragen, ermahnte sich jedoch gleich, dass es zu nervös wirkte, und nahm die Hand herunter.

»Ganz richtig. Ich führe diese Wirtschaft.« Er musterte sie von oben bis unten. »Sie wollen keine Arbeit, oder?«

»Nein.« Sie richtete sich auf und drückte den Rücken durch. »Ich suche nach jemandem. Nun, nach zwei Leuten, aber einer würde schon genügen.«

Er wischte sich die Hände an seiner Schürze ab, zog eine Augenbraue nach oben und wartete.

»Einer von ihnen war vor zwei Tagen abends hier und hat Gemälde verkauft. Er trug ein azurblaues Wams. Den Schnitt kann ich nicht genau beschreiben, aber die Farbe war von einem leuchtenden Blau. Wie das Meer am Horizont oder …« Sie schloss den Mund und stockte. »Der andere Mann arbeitete mit dem ersten zusammen. Er war groß, sogar größer als Sie, hatte blondes Haar, und seine Nase sah verbogen aus, eine Seite größer als die andere. Haben Sie einen von ihnen gesehen?«

Seine Augenwinkel hatten gezuckt, als sie die schiefe Nase erwähnt hatte. Judith sah Details in Gesichtern, die andere eher selten bemerkten. Es war eine Folge ihrer Lehre, des stundenlangen Studiums, um den exakten Winkel eines Lächelns zu ermitteln oder die Farbe einer in die Stirn hängenden Locke.

»Wie wäre es mit einem Stuiver, um die Zeit auszugleichen, die Sie mir an einem geschäftigen Tag schenken?« Sie hielt ihm eine Münze hin, und nach kurzem Zögern nahm er sie. Seine Fingerspitzen waren rau.

»Ich erinnere mich an den Mann in Blau, weiß aber nichts über ihn. Ist nicht aus Haarlem, wenn ich raten müsste. Aber diese Nase, die erinnert mich an einen Burschen, der in der Straße meines Bruders wohnt. Ein paar Ecken weiter von hier. Aber kein guter Ort für eine Dame.«

Sie zuckte mit den Schultern. Er sah sie einen Moment an, dann nannte er ihr die Straße.

»Der Mann, an den ich denke«, sagte er, »hat einen Akzent. Französisch oder so. Klingt das richtig?«

»Weiß ich nicht. Kann sein. Ich müsste ihn mir ansehen, dann kann ich es sagen.«

Der Wirt nickte. »Erwähnen Sie mich nicht. Ich kann keinen Ärger gebrauchen.«

»Ärger?«

»Kann man heutzutage nie wissen.« Er musterte sie abermals, bevor er quer durch die Schänke ging, um noch eine Kiste mit schmutzigem Geschirr hochzuheben. Das Gespräch war beendet.

Die Glocken zählten die Stunde. Es blieb keine Zeit, ihre Suche fortzusetzen, und Judith war beinahe spät dran für ihre Aufgabe, Herolds Skizze zu überwachen. Also machte sie sich auf den Rückweg zu de Grebbers Haus. Nach wenigen Straßen blieb sie an einer Kreuzung stehen, auf deren Ecke sich ein Küfer befand, wie das aufgemalte gelbe Fass über dem Türsturz verriet. Judiths Atem bildete eine frostige Wolke, als sie die enge Straße zu ihrer Rechten hinunter zu dem Heim und der Werkstatt von Frans Hals blickte, Haarlems berühmtestem Maler. Er malte Figuren, die so lebendig wirkten, dass man meinte, ihre Gefühle unter den Pigmentschichten pulsieren zu sehen. Judith gab es ungern zu, aber sie war eifersüchtig auf das Können des Mannes. Und auf seinen Erfolg.

»Judith, da bist du ja!«

Sie drehte sich um und sah ihren Bruder Abraham, der sie mit verschränkten Armen und diesem trägen Lächeln anschaute, das sie so sehr liebte. Er war groß und dünn, und seine Augen hatten die Form und den silbrigen Glanz von Elritzen.

»Hast du nach mir gesucht? Ich bin nicht so schwer zu finden wie du.« Sie tippte mit dem Zeigefinger an seine Wange, und für einen Augenblick wurde sein Grinsen breiter. Abraham hielt es in keiner Lehre lange aus, weshalb er von Stellung zu Stellung wechselte. Wie es schien, fürchtete er sich vor jeder Bindung, mit Ausnahme der zu ihr, und manchmal bekam Judith Angst, er würde auch ihr entgleiten.

Er blickte an ihr vorbei zur Werkstatt von Frans Hals. »Willst du da rein? Dann begleite ich dich lieber nicht.« Mit vor Kälte geröteten Händen zupfte er an seiner geflickten Kniebundhose herum.

Judith gab ihm einen flüchtigen Kuss und schubste ihn sanft in Richtung Marktplatz.

»Nein, für Frans habe ich heute keine Zeit. Ich war auf der Suche nach jemandem, doch jetzt muss ich zurück in die Werkstatt.«

»Wie geheimnisvoll. Dieser Jemand, meine ich.«

»Eigentlich nicht. Er ist ein Mann, mit dem ich geschäftlich zu tun habe.«

»Wie heißt er? Vielleicht kenne ich ihn.«

Judith tat, als wäre sie von einigen Schwalben abgelenkt, die tief über ihren Köpfen hinwegsegelten, dann lachte sie. Sie konnte Abraham nicht belügen, ganz gleich, wie peinlich ihr das eigene Verhalten war. »Ich weiß seinen Namen nicht«, gestand sie schließlich. »Aber ich kann auf mich aufpassen.«

Er nickte. »Sag mir Bescheid, wenn du es dir anders überlegst und Hilfe möchtest.« Nun blieb er stehen und hielt sie am Ellbogen fest, sodass auch sie innehalten musste. »Da wir gerade über Hilfe sprechen: Ich hatte gehofft, dass du mir einige Münzen leihen kannst. Nicht viel, vielleicht fünfzig Stuiver oder so. Ich konnte drei Tage nicht arbeiten, weil ich krank war, jetzt ist die Miete fällig, und …« Er verstummte.

»Fünfzig Stuiver? Verflucht, Abraham, das sind fast drei Gulden, eine Menge Geld.«

»Ich weiß.« Er starrte auf seine Füße. »Aber wenn ich die Miete diesen Monat nicht zahle, verliere ich mein Bett.«

Judith seufzte. »Nein, tut mir leid, ich kann nicht. Und du schuldest mir noch Geld vom letzten Mal.«

»Ja, weiß ich, und ich hätte es beinahe zurückzahlen können, aber dann …«

»Nicht, Abraham. Ich kann nicht.«

Wieder blickte er auf seine Füße hinab, und ihr Blick folgte seinem. Der linke Stiefel ihres Bruders, mit dem er über den Randstein schabte, war rissig und klaffte an einer Seite fast vollständig auf.

»Wenn ich die Miete nicht zahle, bringt mich der Vermieter vor den Amtsrichter. Es reicht, um eine Hand zu verlieren.«

Sie schüttelte den Kopf. »Es geht um mehr als die Miete, stimmt’s?«

Abraham zog seinen Arm weg. »Wenn ich ihn nicht bezahle, findet er einen Weg, sich sein Geld zu holen.«

Judith trat einen Schritt zurück. Sie versuchte, ihren Bruder streng anzusehen, doch der wich ihrem Blick aus.

Wie sie nur zu gut wusste, bestand die Gefahr, dass er Haarlem einfach verließ. Genau wie ihre Eltern es getan hatten, vor fünf Jahren, als sie so viele Schulden angehäuft hatten, dass die Stadt sie für bankrott erklärt und die Reformkirche sie verstoßen hatte. Gott straft die Unschlüssigen und die Insolventen, hatte der Pfarrer erklärt. Und so hatten Jan und Trijn Leyster ihr weniges Habe in einen geliehenen Karren gepackt und waren aus der Stadt gefahren, kurz bevor die Sonne untergegangen war und die Stadttore sich geschlossen hatten. Von ihren beiden Kindern hatten sie sich nicht verabschiedet, hatten erst einige Wochen später einen Brief geschickt, den irgendein Fremder für sie gekritzelt hatte. Bis dahin war Judith schon krank vor Sorge gewesen. Sogar in der Zeit, die sie nicht bei Jan und Trijn gewohnt hatte, war sie jeden Sonntag mit ihnen in die Kirche gegangen. Ihre Eltern waren ihr einziger Halt gewesen, und dann waren sie einfach weg gewesen. Als sie Abraham den Brief gezeigt hatte, hatte er ihr das kleine Stück Papier aus der Hand gerissen, es zerknüllt und in den nächsten Kanal geworfen. Judith hatte einen stummen Schrei ausgestoßen, weil das kostbare Papier, dessen Rückseite sie noch zum Zeichnen hätte benutzen können, davongetrieben und halb untergegangen war. Ihre Eltern verdienten keine Antwort, hatte Abraham unter Tränen gesagt. Er hatte geschworen, niemals Kontakt zu ihnen aufzunehmen, und ihres Wissens hatte er es auch nicht getan.

Nein, sie würde nicht wie ihre Eltern sein. Geld war nicht wichtiger als die Familie. Sie atmete tief ein.

»Schon gut, Abraham. Ich kann dir das Geld leihen. Aber es kommt mich teuer, hast du verstanden? Ich bringe dir die Münzen in ein paar Tagen.«

»Danke dir.« Für einen Augenblick wurde sein Gesicht rosig. Er umarmte sie, hakte sie unter und ging weiter. »Ich zahle es dir bald zurück, versprochen.«

Gemeinsam gingen sie einige Straßen entlang, und Judith lenkte sie weg vom Haus des Tuchhändlers mit dem hellen Licht in der Korte Barteljorisstraat. Sie erzählte Abraham nichts von der Werkstatt, wie sie es unter anderen Umständen getan hätte. Jetzt konnte sie nicht über das Geld für die Miete nachdenken, das sie irgendwie aufbringen musste. Noch nicht. Denn es wäre ihre Miete. Sie würde eine Lösung finden.

Kapitel 5

MÄRZ

Es war Mittag, und Maria hatte die Werkstatt für sich. Alle anderen ruhten entweder oder waren fort, deshalb stahl sie sich zu ihrer Arbeit. Sie hob das Tuch von ihrem Porträt und runzelte die Stirn. Bei ihrer Palette hatte sie sich zumeist auf Ocker- und Grautöne beschränken müssen, die weniger teuren Pigmente, die ihr Vater ihr klaglos gab. Die düsteren Farben kamen ihr größtenteils gelegen, denn die Darstellung von Schmerz und Buße verlangte wenig nach üppigem Blau oder lebendigem Grün. Da eigneten sich die gedämpften Erd- und Hauttöne besser.

Zum ersten Mal in all den Jahren, die sie in der Werkstatt ihres Vaters arbeitete, versuchte sie, etwas von sich selbst einzufangen, überhaupt etwas Persönliches. Ihre Arbeit war stets Routine gewesen und hatte im Dienst ihres Vaters gestanden, womit sie zufrieden gewesen war. Sie mochte das erhebende Gefühl, wenn sie die feine Kunst anderer betrachtete, hatte keinen Bedarf, eigene zu fertigen.

Zumindest war das bisher so gewesen. Jetzt hatte sich das geändert.

Samuels letzter Brief war vor drei Samstagen gekommen. In den fünf Jahren seit er sich die Kunstgemeinschaft von Haarlem für sein Buch angesehen hatte, hatte er immer mal wieder geschrieben. Judith und sie waren ganz aufgeregt gewesen, in seinem Buch von sich selbst zu lesen. Nächtelang hatte Judith laut vorgelesen: »Noch mal: ›Und die Tochter muss ich rühmen. Wer sah je ein Gemälde von einer Tochter Hand gefertigt? Und noch eine‹ – das bin ich –, ›die mit solch gutem, feinem Sinn malt‹. Denkst du, dass ich einen guten, feinen Sinn habe, Maria?« Judith drückte das Buch an ihre Brust und sank lächelnd zurück auf die Matratze.

Maria hatte ihm eine kurze Dankesnote geschrieben. Zu ihrer Verwunderung war seine Antwort ein Schwall Zuneigungsbekundungen gewesen: Er hätte sie als Mädchen gesehen, gewiss, doch nun, da sie eine junge Frau war, überwältigte ihre Schönheit ihn, hatte er geschrieben. Und obwohl er sein Werben sehr respektvoll hielt, ihr sogar Briefe schrieb, wenn er in der Stadt war, war Maria verwirrt. Sie erwähnte es Judith gegenüber, die lachte. »Du könntest es fürwahr schlechter treffen«, sagte ihre Freundin. Zwar widersprach Maria, dass sie nichts mit dem Mann zu schaffen haben wolle, doch Judith neckte sie weiter damit. Schließlich waren keine Briefe mehr gekommen, und Judiths Scherze waren versiegt.

Bis zum letzten Sommer, als Maria zufällig Samuel auf dem Grote Markt gesehen hatte. Er lauschte einem Wanderprediger am Rande des Platzes vor einem reich verzierten Türeingang. Als er sie entdeckte, erstrahlte ein Lächeln auf seinem Gesicht.

»Es ist eine Freude, Sie wiederzusehen«, sagte er und näherte sich ihr, ehe sie in der Menge verschwinden konnte. »Verzeihen Sie, dass ich Sie mit meiner Korrespondenz vor langer Zeit in Sorge versetzte. Ich war verheiratet, wie Sie wissen, aber meine Gemahlin starb vor zwei Jahren.« Er machte eine Pause, um ihre Reaktion abzuwarten, und sie senkte mitfühlend den Kopf. »Ich hätte Ihnen erzählt, dass ich nun wieder dauerhaft in Haarlem bin, war mir jedoch nicht sicher, ob diese Nachricht willkommen ist.«

»Es freut mich, Sie zu sehen«, erwiderte sie, und es war nicht ganz unwahr. Er war ein auf ernste Weise charmanter Mann mit großen braunen Augen und einem hübsch gestutzten Bart. Wäre er doch nur kein unsteter Andersgläubiger!

Er hustete, dann noch einmal, und wurde von einem Krampf geschüttelt. Wieder senkte Maria den Blick.

»Entschuldigen Sie, ich scheine meine Gesundheit noch nicht vollständig zurückerlangt zu haben«, erklärte er, sobald er wieder bei Stimme war. »Darf ich Sie begleiten?«

Sie schlenderten über den Markt, und Maria erzählte Samuel, welche Neuigkeiten sie von den Malern in Haarlem gehört hatte – dass Frans Hals aufs Neue hoch verschuldet und Jacob de Gheyn gestorben war. Sie vermutete, er wusste all das bereits, doch Samuel hörte aufmerksam zu, bevor er sie nach ihrer Malerei fragte.

»Ich mache nur noch wenig«, sagte sie und schaute dabei zu einer Dachkante hinter seiner Schulter. »Meist helfe ich meinem Vater.«

»Ich bin sicher, dass Sie eine gute Gehilfin sind«, sagte er. Plötzlich streckte er eine Hand vor und strich mit dem Daumen über ihre Wange. Maria war wie versteinert. »Ich muss mich um einiges Geschäftliches kümmern, aber ich besuche Sie bald.«

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