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Die Saiten des Lebens

Als Buch hier erhältlich:

Manchmal braucht es eine zufällige Begegnung, um dem Leben eine neue Richtung zu geben.

Ellie, Hausfrau, leidenschaftliche Spaziergängerin und Hobbypoetin, stößt bei einem ihrer Streifzüge durch das Exmoor auf eine Scheune voller Harfen. Dort lebt und arbeitet Dan. Harfen zu bauen ist seine große Leidenschaft. Er liebt es, sich ganz dem Bau dieser Instrumente zu widmen und mit sich und der Welt alleine zu sein. Denn Menschen sind ihm oft ein Rätsel. Doch Ellie mag er auf Anhieb, weshalb er ihr spontan eine Harfe schenkt.
Kurze Zeit später steht sie wieder vor seiner Tür. Sie könne das Geschenk nicht annehmen. Doch geschenkt ist geschenkt, die Harfe wird immer Ellie und nie jemand anderem gehören, sagt Dan. Er schlägt ihr einen Kompromiss vor: Sie kann die Harfe bei ihm unterstellen, wenn sie lernt, darauf zu spielen ...

»Ein wahrlich fulminanter Erstling, ein Muss!« ekz Bibliotheksservice


  • Erscheinungstag: 17.12.2019
  • Seitenanzahl: 336
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959673426

Leseprobe

Meinen wundervollen Eltern,

die Musik, Natur und Spaß liebten

Ein Gedanke:

Manche Dinge sind leichter zu verstecken

als andere.

Eine Tatsache:

Harfen fallen in die zweite Kategorie.

Kleine Jungen auch.

Ein Shakespeare-Zitat:

Wenn Musik der Liebe Nahrung ist,

spielt weiter!

1.

Dan

Heute ist eine Frau in meine Scheune gekommen. Ihr Haar hatte die Farbe von Walnussholz, ihre Augen das Braun von Farnkraut im Oktober. Ihre Strümpfe waren kirschrot. Das fiel mir auf, weil der Rest ihrer Kleidung so farblos war. Über der Schulter trug sie eine große Tasche, aus Segeltuch, mit einer dicken viereckigen Schließe, die war offen. Auch der Mund der Frau stand offen. Sie blieb in der Tür stehen und trat von einem Fuß auf den anderen. Ich habe sie eingeladen, hereinzukommen. Meine Worte klangen leicht gedämpft, weil ich eine Maske aufhatte. Sie fragte, was ich gesagt hätte, also nahm ich Maske und Ohrenschützer ab und wiederholte meine Einladung. Die Frau kam herein. Ihre Strümpfe waren wirklich sehr rot. Ihr Gesicht auch.

»Entschuldigen Sie meine Aufdringlichkeit, aber ich bin echt überwältigt.« Das sah man ihr an. »Haben Sie … Sie haben doch nicht … Die haben Sie doch nicht alle selbst gemacht, oder?«

Ich sagte, doch, das hätte ich.

»Nein! Das ist ja unglaublich!« Die Frau schaute sich um.

Ich fragte, warum.

»Na, mit so was rechnet man doch nicht, so weit abseits! Ich bin schon oft den Weg da hinten entlanggegangen, ohne dass ich geahnt hätte, was sich hier alles verbirgt!«

Ich legte meine Ohrenschützer und die Atemschutzmaske auf die Werkbank und versicherte ihr, dass sich dies alles tatsächlich hier verberge. Vielleicht hätte ich sie darauf hinweisen sollen, dass es hier nicht weit abseits ist. Ganz im Gegenteil. Exmoor ist der diesseitigste Ort, den ich kenne, und meine Werkstatt ist ein besonders diesseitiger Teil davon. Aber das sagte ich nicht. Es wäre unhöflich gewesen, der Frau zu widersprechen.

Durch drei Fenster fiel das Morgenlicht zu uns herein. Es umriss die Konturen der schrägen Dachbalken und beschien die Holzlocken auf dem Boden. Es ließ die geschwungenen Formen um uns herum glänzen und die Saiten Schatten auf den Boden werfen.

Die Frau schüttelte den Kopf, ihre walnussbraunen Haare umtanzten ihr Gesicht. »Ist das toll! Sind die schön, unendlich schön! Ich komme mir vor wie im Märchen. Und seltsam, dass ich diese Scheune ausgerechnet heute entdeckt habe!«

Es war Samstag, der 9. September 2017. War das ein besonders seltsamer Tag, um eine Scheune voller Harfen zu entdecken? Ich lächelte höflich. Ich war mir nicht sicher, ob ich sie fragen sollte, warum das seltsam sei. Viele Menschen finden Dinge komisch, über die ich gar nicht staune, und für viele Menschen sind Dinge normal, die mir wirklich sehr sonderbar vorkommen.

Die Frau sah mich unverwandt an, schaute sich erneut in der Scheune um und richtete den Blick wieder auf mich. Sie zog am Riemen ihrer Segeltuchtasche, um das Gewicht auf ihrer Schulter zu verlagern, und sagte: »Sind Sie schon lange hier, wenn ich das fragen darf?«

Ich teilte ihr mit, dass ich seit einer Stunde und dreiundvierzig Minuten hier sei und davor meinen Spaziergang im Wald gemacht hätte. Sie lächelte und sagte: »Nein, ich meine, haben Sie diese Scheune schon länger? Als Werkstatt?«

Ich erzählte, dass ich mit zehn Jahren hergekommen und jetzt dreiunddreißig sei, womit ich (ich rechnete es ihr vor, falls sie nicht gut in Mathematik war) seit dreiundzwanzig Jahren hier sei.

»Wahnsinn! Das ist echt nicht zu glauben!«, wiederholte sie. Sie schien ein Problem damit zu haben, etwas zu glauben. Langsam schüttelte sie den Kopf. »Ich glaube, ich träume.«

Ich bot ihr an, sie zu kneifen.

Sie lachte. Es klang interessant: explosiv und ein klein wenig spöttisch.

Ich ging zu ihr und gab ihr die Hand, weil das so erwartet wird. Es wird nicht erwartet, dass man eine fremde Person kneift. Das hatte ich gelernt. »Ich bin Dan Hollis, der Harfenbauer von Exmoor«, sagte ich.

»Angenehm. Ich bin Ellie Jacobs, die … die Hausfrau von Exmoor.«

Hausfrau bedeutet nicht, dass man mit einem Haus verheiratet ist. Es bedeutet, dass eine Frau mit einem Mann verheiratet ist, der jeden Tag zur Arbeit geht, die Frau aber nicht. Sie erledigt das Staubwischen und Staubsaugen, das Bügeln, Waschen und alles andere, was in einem Haus an Arbeit anfällt. Eigentlich erwartet man von ihr, zu Hause zu bleiben, es sei denn, sie muss in den Supermarkt, wo sie einen Einkaufswagen durch die Gänge schiebt und traurig auf einen Einkaufszettel guckt. Wie viel doch in dem kleinen Wort »Hausfrau« steckt.

»Das ist komisch«, meinte sie, und wieder wanderte ihr Blick durch die Scheune. »Harfe spielen stand auf meiner Liste.«

Ich fragte, ob sie ihren Einkaufszettel meine.

Sie stutzte und sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Nein, meine Vor-40-Liste. Die führen viele Menschen. Das ist eine Auflistung von Dingen, die man vor seinem vierzigsten Geburtstag gemacht haben will. Zum Beispiel mit Delfinen schwimmen oder die Chinesische Mauer besichtigen.«

Ich fragte, ob sie schon mit Delfinen geschwommen sei, aber sie sagte Nein. Ich fragte, ob sie die Chinesische Mauer besucht habe, und sie sagte wieder Nein. Dann fügte sie hinzu, dass sie noch ein paar Jahre Zeit habe. Ich wollte wissen, wie viele, aber sie antwortete nicht. Vielleicht hätte ich das nicht fragen sollen. Es gibt vieles, was man nicht ansprechen soll, wahrscheinlich gehört das Alter dazu. Deshalb formulierte ich meine Frage um und erkundigte mich, was passieren würde, wenn sie es nicht schaffte, vor ihrem vierzigsten Geburtstag mit Delfinen zu schwimmen, die Chinesische Mauer zu besichtigen oder Harfe zu spielen. »Nichts«, sagte sie.

Wir schwiegen eine Weile.

»Es riecht herrlich hier drin«, bemerkte sie schließlich. »Ich liebe den Geruch von Holz.«

Ich freute mich, dass er ihr aufgefallen war, denn die meisten nehmen ihn nicht wahr, und ich war froh, dass sie den Geruch mochte, weil das die meisten nicht tun. Sie zeigte auf die Harfen. »Die sind wirklich etwas Besonderes«, sagte sie. »Können Sie mir etwas darüber erzählen?«

Ich bejahte. Ich erklärte, dass es sich um traditionelle keltische Harfen handele, die im Mittelalter in Britannien ziemlich weit verbreitet gewesen seien, besonders im Norden und Westen. Dass ich die Elfin nach eigenem Entwurf aus einer Sykomore gebaut hätte, die vor vier Jahren am Bach umgekippt war. Dass die Sylvan aus altem Buchenholz und die Linnet aus Palisander gearbeitet sei. Ich zeigte ihr die Schubladen mit den verschiedenen Saiten und erklärte, dass die roten für den Ton C seien, die blauen für F und die weißen Saiten für die Töne A, H, D, E und G. Dass alle Saiten unterschiedlich dick seien und unterschiedlich stark gespannt würden. Ich zeigte ihr die Löcher auf der Rückseite, durch die die Saiten eingefädelt werden. Ich erklärte, wie man einen Ton mithilfe der Klappe um einen Halbton erhöhen kann. Ich erzählte von den Kieselsteinen und legte ihr verschiedene Holzarten in die Hand, damit sie sie fühlen und das Gewicht vergleichen konnte. Ich sprach vom unterschiedlichen Klang der einzelnen Holzarten.

Dann fiel mir auf, dass ich mich gar nicht für die Frau interessiert hatte. Also unterbrach ich mich und stellte ihr die folgenden acht Fragen: Wie geht es Ihnen? Haben Sie Haustiere? Was ist in der großen Tasche? Was ist Ihre Lieblingsfarbe? Was ist Ihr Lieblingsbaum? Wo wohnen Sie? Sind Sie gerne die Hausfrau von Exmoor? Möchten Sie ein Sandwich?

Sie gab mir diese Antworten: Danke, gut. Nein. Eine große Kamera, ein Skizzenbuch und eine Thermoskanne mit Brühe. Rot. Birke. Ungefähr fünf Meilen südwestlich von hier. Hm. Das wäre sehr nett.

Ich machte zwölf Sandwiches aus sechs Scheiben Brot und einer beachtlichen Menge Frischkäse und schnitt sie in Dreiecke, weil ich annahm, sie sei eine Dame.

Ich habe festgestellt, dass der Vorgang des Schneidens beim Denken hilft. Ich kann auch gut nachdenken, wenn ich Holz für die Harfen zurechtschneide. Vielleicht war das der Grund, warum ich beim Zubereiten der dreieckigen Sandwiches einen Entschluss fasste.

2.

Ellie

»Er hat dir eine geschenkt

»Ja.«

»Einfach so?«

»Ja, eigentlich schon.«

Clive ließ seine Autozeitschrift sinken und richtete seine volle Aufmerksamkeit auf mich. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, zwischen ihnen bildeten sich zwei tiefe senkrechte Falten.

»Du nimmst mich doch auf den Arm.«

»Nein«, sagte ich und fügte bekräftigend hinzu: »Tue ich nicht.«

»Er hat sie dir also angeboten, und du hast sie einfach genommen?«

»Ja, es war … es war schwer, das Geschenk abzulehnen.«

Das würde kompliziert werden. Ich konnte es mir selbst kaum erklären, geschweige denn jemand anderem. Deshalb war ich, bevor ich mich schließlich nach Hause traute, die letzte halbe Stunde durch Exmoor gekurvt und hatte immer wieder angehalten, um hinten ins Auto zu gucken und mich zu überzeugen, dass dort tatsächlich eine Harfe lag.

Unsere liebe, aber neugierige Nachbarin Pauline war draußen im Garten, deshalb verschwand ich sofort im Haus. Ich platzte in die Küche, drückte einen knappen Kuss auf den zurückweichenden Haaransatz meines Mannes, nahm den Wasserkessel, füllte ihn bis zum Rand, bespritzte mich dabei mit Wasser und stellte den Kessel beiseite. Dann gab ich einen Wirrwarr von Sätzen von mir, die albern und nichtssagend klangen. Ich lief rot an, merkte es und wurde noch roter. Dann lehnte ich mich debil grinsend an den Kühlschrank.

Clive schlug seine Zeitschrift zu und zog am Halsausschnitt seines Sweatshirts. »Entschuldigung, El, aber da frage ich mich als Erstes: Seit wann bitte kennst du diesen Mann?«

In Gedanken kehrte ich zu der seltsamen Begegnung zurück: das große offene Scheunentor, das mich angelockt hatte, der warme Duft des Holzes, das Licht, das auf die zahllosen Harfen fiel, die einsame Gestalt in ihrer Mitte. Der Mann hatte ein Werkzeug in der Hand gehabt, doch meine Erinnerung spielte mir bereits Streiche, ich konnte nicht mehr sagen, was es gewesen war. Zuerst hatte ich gedacht, da stände ein Alien. Der untere Teil seines Gesichts wurde von einer blauen Maske verdeckt, dazu trug er Ohrenschützer, wahrscheinlich zum Schutz vor Staub und Lärm. Doch kaum hatte er beides abgenommen, war ich erstaunt, wie gut der Mann aussah. Er war groß gewachsen und sehnig, mit zerzaustem dunklen Haar. Seine Haut war wettergegerbt, hatte aber gleichzeitig einen seltsam durchscheinenden Schimmer. Seine klassischen Gesichtszüge waren wie gemeißelt, als sei jede einzelne Partie mit viel Überlegung entstanden. Doch wirklich neugierig machten mich seine großen dunklen Augen. Solche hatte ich noch nie gesehen.

»Ich habe ihn heute Vormittag kennengelernt.«

Clive war genauso perplex wie ich vor einer Stunde. Er beugte sich vor, sein Ausdruck schwankte zwischen Ungläubigkeit und Belustigung. »Das will mir nicht in den Kopf.«

Ich lachte wie von Sinnen. Erklärungen trieben mir durch den Kopf, doch ich konnte keine in Worte fassen.

Clive richtete sich offenbar darauf ein, mich in die nächste Anstalt zu bringen.

»Schau sie dir doch mal an!«, schlug ich vor. Wenn er die Harfe erst sähe, wäre er bestimmt ebenso begeistert wie ich.

Ich führte ihn nach draußen in die helle Kühle des Septembers. Nachbarin Pauline, stellte ich dankbar fest, war verschwunden. Der Wagen war nicht abgeschlossen. Ich öffnete die Heckklappe. Clive fielen fast die Augen aus dem Kopf.

»Ha!«, rief ich halb ironisch, halb erleichtert. »Ich hab’s mir also doch nicht eingebildet!«

Gut, dass wir einen Kombi haben, dessen Rückbank man umlegen kann. Ich trat zurück, damit mein Mann das Instrument gründlich in Augenschein nehmen konnte.

Die Harfe war aus goldrotem Holz (Kirsche, hatte Dan mir erklärt, passend zu meinen Strümpfen), das wunderschön glänzte. Der gewölbte Teil, den man an die Schulter lehnt, hatte eine wirbelartige Maserung. Ein angedeutetes keltisches Muster war in den geschwungenen Hals gearbeitet, im Harfenkopf prangte ein schimmernder schwarzblauer Kieselstein. Angeblich verzierte Dan all seine Harfen mit einem Exmoor-Kiesel. Er wählte den jeweiligen Stein sorgfältig aus, um Stil und Charakter des Instruments zu unterstreichen. Diese Harfe – meine Harfe – hatte eine angenehme Größe; sie reichte mir im Stehen gerade bis zur Taille. Sie lag im Kofferraum auf der Seite, an eine karierte Decke geschmiegt.

Clive klopfte mit den Fingerknöcheln auf das Holz der Resonanzdecke, als wollte er deren Stärke prüfen. »Das ist hochwertige Handarbeit!«

»Ich weiß«, sagte ich selbstgefällig, fast stolz auf Dan. »Er baut sie schon sein Leben lang.«

»Was kostet so was? Zweitausend Pfund? Dreitausend? Vielleicht sogar mehr, wenn das wirklich alles selbst gemacht ist. Guck dir mal die Schnitzereien da oben an.«

»Am Hals. Das ist der Hals. Hab ich mir sagen lassen.«

Clive musterte das Instrument so eingehend, wie nur er es kann. »Das ist … Also, ich muss schon sagen, die ist echt cool. Aber, Schatzi, die kannst du auf gar keinen Fall behalten. Das ist dir doch klar, oder?«

Die Stimme der Vernunft. Sie drang durch den Nebel rauschartiger Freude in meinem Kopf, und sie tat weh. »Ja, natürlich«, murmelte ich.

Clive richtete sich auf und schüttelte den Kopf. »Der Typ muss verrückt sein.«

Ich eilte zu Dans Verteidigung. »Er ist nicht verrückt. Nur ein bisschen … ungewöhnlich.«

»Das kann man wohl sagen! Was hat den Kerl geritten? Eine Frau, die er noch nie gesehen hat, kommt mir nichts, dir nichts in seine Werkstatt, und er beschließt aus einer Laune heraus, ihr eine Harfe zu schenken – einfach so! Eine selbst gebaute Harfe, für die er weiß Gott wie lange gebraucht hat. Verkaufen hätte ich ja verstanden, klar, aber schenken? Allein das Material muss eine Stange Geld gekostet haben. Hey, Schatzi, denk doch mal nach! Du hast da was missverstanden. Er muss Geld dafür erwartet haben.«

»Nein, hat er nicht. Das hat er mehrmals betont.«

Clive runzelte die Stirn, unfähig, das Geschehene zu begreifen. »Na, dann nehme ich an, dass er sie dir gegeben hat, damit du sie ausprobierst, weil er sie dir verkaufen will, und du hast es einfach nicht kapiert.«

»Hab ich wohl! Ich hab ihm ungefähr fünfzehn Mal gesagt, dass ich sie auf keinen Fall annehmen kann. Er hat es einfach nicht hören wollen. Er hat immer wieder gefragt, was dagegensprechen würde, und er war so … keine Ahnung, so arglos, so freundlich, dass ich mir total dumm vorkam und nicht mehr wusste, was ich sagen sollte. Irgendwann meinte er: ›Mögen Sie die Harfe etwa nicht?‹ Das schien ihn richtig zu verletzen.«

»Zu verletzen? El, jetzt übertreibst du aber.«

»Nein, das war so, ich schwöre es! Schließlich ist er durch die Scheune gelaufen, um eine andere, eine bessere Harfe für mich zu suchen! Da habe ich schnell gesagt, die Harfe sei wunderschön. Es blieb mir gar nichts anderes übrig. Stimmt ja auch. Sie ist einfach schön. Aber ich habe zig Mal gesagt, dass ich sie nie im Leben spielen könne und sie an mir verschwendet sei. Ich hab mich wirklich mit Händen und Füßen gewehrt.« Ich beugte mich vor und betrachtete das Instrument liebevoll. »Und während ich noch geredet habe, hat er sie zum Auto getragen und reingelegt.«

Wieder kehrten meine Gedanken zu dem Moment zurück. Die außergewöhnliche Geste des Mannes hatte mich unglaublich gerührt. Als die Harfe im Kofferraum lag, hatte ich es nicht lassen können und an den Saiten gezupft. Natürlich falsch, hab so was ja noch nie im Leben gemacht, aber der Klang war kräftig, ursprünglich und satt. Er hatte eine seltsame Wirkung auf mich. Als ginge ein goldener Funkenregen in mir nieder.

»Gut«, hatte Dan gesagt. »Dann können Sie den Punkt auf Ihrer Liste ja abhaken.« Damit war er schnurstracks zurück in die Scheune gegangen und hatte die Tür hinter sich geschlossen.

Lange hatte ich ihm hinterhergestarrt.

Ausgerechnet heute. Nach der ziellosen Wanderung, den Tränen und Erinnerungen.

Clives Stimme holte mich in die Gegenwart zurück. »El, es tut mir leid, aber du musst sie zurückbringen.«

Seine Worte lasteten mit dem Gewicht des gesunden Menschenverstands auf mir. Natürlich war Clive nicht klar, welcher Tag heute war und was er für mich bedeutete. Wahrscheinlich hätte ich ihn daran erinnern sollen, aber dafür war ich zu stur.

»Ich weiß. Du hast ja recht.« Ich tat so, als machte es mir nichts aus.

Clive rieb sich die Stirn. »Ich würde sie dir ja gerne kaufen, Schatzi, wirklich. Aber sie ist mit Sicherheit zu teuer. Und nach kurzer Zeit würdest du das Interesse daran verlieren. Du hast noch nie davon gesprochen, dass du ein Musikinstrument spielen willst.«

»Kann sein.«

»Wir können nicht in der Schuld dieses Mannes stehen. Dann würden wir ihn ausnutzen.«

Ich legte Clive die Hand auf den Arm. »Ich weiß. Ich hätte sie nicht annehmen dürfen. Tut mir leid, dass ich so dumm war. Hab mal wieder nicht richtig nachgedacht. Weiß nicht, was in mich gefahren ist.«

»Ich auch nicht.«

Ich zwang mich zu sagen: »Willst du mitkommen, wenn ich sie zurückbringe? Ich könnte mir vorstellen, dass du die Werkstatt interessant findest. Sie ist in einer umgebauten Scheune untergebracht, am Ende eines langen Feldwegs, mitten in der Pampa, und bis oben hin voll mit Harfen, bis unter die Decke – und Harfenteilen. In allen Phasen der Herstellung. Echt beeindruckend.«

Clive betrachtete mein Gesicht, als sehe er dort etwas, das er nicht kenne. »Wie hast du die Werkstatt überhaupt gefunden?«

»Durch reinen Zufall. Da stand kein Schild oder so, ich dachte einfach, ich geh den Weg ein bisschen weiter und gucke, wohin er führt. Da hätte ja ein schöner Aussichtspunkt sein können oder so. Hab im Leben nicht damit gerechnet, einen Harfenbauer zu entdecken. Und ganz bestimmt habe ich mir nicht träumen lassen, mit einer Harfe nach Hause zu kommen.«

»Der Typ spinnt doch!«, wiederholte Clive. »Oder er will dir an die Wäsche. So oder so ist es falsch, die Harfe zu behalten.«

Ich nahm die Hand von seinem Arm. Der letzte Rest von Verzauberung war dahin.

»Ich glaube nicht, dass das was mit meiner Wäsche zu tun hat!«, fuhr ich meinen Mann an. »Aber du hast recht, ich muss sie zurückbringen.« Ich schlug die Kofferraumklappe zu. Clive ist groß, es ist normal, dass er mich überragt, aber in dem Moment fühlte ich mich ganz besonders klein. »Ich bringe sie wieder hin. Ist ja sinnlos, sie noch auszuladen, oder?« Ich hatte Mühe, mir meine Verärgerung nicht anmerken zu lassen. »Kommst du nun mit?«

Clive schüttelte erneut den Kopf. Manchmal wundere ich mich über seine fehlende Neugier.

»Nein, das überlasse ich besser dir. Wenn ich mitfahre, macht es den Eindruck, als würde ich dich zwingen, die Harfe zurückzugeben. Dann bin ich der Buhmann. Fahr du, Schatz, und vergiss nicht, dem Mann zu sagen, dass es deine Entscheidung ist und du nichts mehr damit zu tun haben willst. Okay, Liebes?«

Das »Okay, Liebes?« machte es nicht besser. Ich war nicht in der Stimmung für »Okay, Liebes«. Dennoch stieg ich ins Auto und fuhr dahin zurück, wo ich hergekommen war: zur Harfenscheune.

3.

Dan

Sie brachte sie zurück. Ich war traurig. Eine Harfe zu verschenken gehört wahrscheinlich zu den unzähligen Dingen, die man nicht tut.

Warum darf ich der Frau keine Harfe schenken? Sie mag sie doch. Sie will sie haben. Es ist meine Harfe, ich kann mit ihr tun, was ich will. Ich habe sie gebaut, mit meinen eigenen Händen, meinem eigenen Holz, mit meinen eigenen Sägen, meinem Kleber, meinem Hobel und meiner Schleifmaschine. Ich möchte sie der Frau schenken. Sie scheint zu glauben, dass ich Geld dafür will, sie sagte, es tue ihr furchtbar leid, aber so gerne sie die Harfe auch nehmen würde, sie sei wirklich nicht in der Lage, sie zu bezahlen. Dabei will ich kein Geld dafür. Nichts. Wenn sie dafür zahlen würde, wäre es kein Geschenk mehr, oder? Dann würde sie die Harfe nicht so zu schätzen wissen. Ich möchte nämlich, dass sie geschätzt wird. Die Hausfrau von Exmoor soll sich über mein Geschenk freuen, weil Harfespielen auf ihrer Liste steht, und wozu schreibt man sich auf, was man bis vierzig gemacht haben will, wenn man es dann nicht tut? Es ist eine gute Harfe, aus Kirschholz. Kirsche ist nicht ihr Lieblingsbaum, sondern Birke, aber aus dem Holz habe ich keine Harfe. Trotzdem glaube ich, dass ihr das Kirschholz gefällt. Es hat eine warme, freundliche Farbe. Und sie hatte wieder die kirschroten Strümpfe an.

»Vielen Dank, Dan, für Ihre unglaubliche Großzügigkeit! Es tut mir wirklich leid. Ich war so dumm, so unvernünftig.«

Wenn sie doch aufgehört hätte, von einem Bein aufs andere zu treten!

»Es tut mir leid, dass ich es mir anders überlegt habe und Ihnen jetzt Umstände mache. Dass ich die Harfe überhaupt mitgenommen habe.«

Wenn sie doch aufgehört hätte, sich zu entschuldigen!

»Das war ein großer Fehler.«

Nein. War es nicht. Es war kein Fehler.

Aber was sollte ich tun?

Ich holte die Harfe aus ihrem Kofferraum und trug sie zurück in die Scheune. Die Frau folgte mir. Ich setzte die Harfe auf dem Boden ab, im mittleren der drei Lichtflecke, die durch die Fenster auf den Boden fielen, in der Mitte des Raums. Die Hausfrau stellte sich daneben, schniefte und trat wieder von einem Bein aufs andere. Die übrigen Harfen standen um uns herum, blass und stumm.

»Ich hab sie nur angenommen, weil mein Kopf heute nicht richtig funktioniert«, sagte die Frau.

Ich schielte zu ihrem Kopf hinüber. Er sah ganz normal aus.

»Heute ist nämlich ein wichtiger Jahrestag.«

Ich gratulierte ihr zum Hochzeitstag.

»Nein, nicht mein Hochzeitstag, sondern … Mein Vater ist heute vor einem Jahr gestorben.«

Ich sagte, das tue mir leid. Es sei traurig, wenn der Vater sterbe. Wisse ich selbst.

Die Frau räusperte sich. »Er fehlt mir immer noch so sehr.«

Ich fragte, ob sie ein Sandwich wolle.

Sie schüttelte den Kopf. »Wir standen uns sehr nahe«, sagte sie. »Als er krank wurde, wurde das Verhältnis sogar noch enger. Irgendwann kam er nicht mehr aus dem Bett heraus, da habe ich immer bei ihm gesessen und ihm vorgelesen, und ich weiß noch, wie er da lag, mich ansah und zuhörte. Gegen Ende hat er etwas gesagt, über das ich ständig nachdenken muss.«

Es fiel mir schwer, der Frau ins Gesicht zu sehen, deshalb konzentrierte ich mich auf ihre Strümpfe. Doch aus dem Augenwinkel nahm ich ihre linke Hand wahr. Sie glitt am Harfenhals entlang nach oben, strich ganz leicht darüber. Dann löste sich die Hand vom Instrument und verharrte in der Luft. Die Finger schwebten neben den Saiten wie nervöse Schmetterlinge.

Was ihr Vater gesagt hat, muss sehr wichtig gewesen sein, sonst würde sie sich nicht so seltsam benehmen. Ich musste gar nicht danach fragen, sie erzählte es mir von selbst.

»Er hat gesagt, er hätte manchmal den Eindruck, dass ich mich treiben lassen würde, ziellos herumtreiben. Aber das würde ihn nicht wundern, denn er hätte auch viel geträumt und sich treiben lassen. Es wäre aber vielleicht nicht schlecht, mal zu überlegen, was ich wirklich will. Ich solle mir einen Traum vornehmen, einen von den Hunderten, und einfach ausprobieren, ob ich ihn wahr machen kann. Nur einen einzigen. Realistisch gesehen, wäre das möglich, wenn ich mich sehr anstrenge. Er wollte nämlich nicht, dass ich am Ende meines Lebens alles bereute. Und ich sollte es nicht auf die lange Bank schieben, weil man ja nie wüsste, wann … Eigentlich redete er über sich, verstehen Sie … Aber danach habe ich meine Vor-40-Liste erstellt. Ich hatte so viele Träume und wollte sie ein bisschen ordnen. Das ist mir heute Morgen durch den Kopf gegangen, deshalb habe ich über meine Träume nachgedacht, und als ich gerade dachte, dass ich bisher nichts von der Liste gemacht habe, ausgerechnet in dem Moment stolpere ich über Ihre Scheune.«

Ihre Stimme klang seltsam, als hätte sie Watte im Hals. »Ich denke, ich komme nicht wieder«, sagte sie.

Manchmal tue ich Dinge, die man nicht tun soll. Manchmal sage ich Dinge, die man nicht sagen soll, obwohl ich es besser weiß.

Ich wies auf die Harfe: »Spielen Sie mal!«

»Kann ich nicht«, murmelte die Frau. Doch ihre Hand schwebte immer noch neben den Saiten.

Jede Harfe hat ihre eigene, unverwechselbare Stimme. Ich wusste, dass dieses Instrument eine sehr kräftige hat, die begeistern und locken, flehen und gebieten kann. Man sagt, manche Klänge könnten ein Herz aus Stein zum Schmelzen bringen. Falls es so ein Herz gibt, was ich bezweifele (soweit mir bekannt ist, besteht ein Herz aus Fasern, mit Flüssigkeit gefüllten Beuteln und einer Art Pumpe), falls also irgendjemand tatsächlich ein Herz aus Granit oder Feuerstein in der Brust haben sollte, das von Natur aus nicht zum Schmelzen neigt, sondern höchstens kaum wahrnehmbar antaut, wenn es schönen Klängen ausgesetzt ist, dann würden es die Töne meiner Kirschholzharfe bestimmt schaffen, da bin ich mir sicher. Ich hatte allerdings das Gefühl, das Herz der Exmoor-Hausfrau Ellie bestehe aus allem anderen als Stein. Es wirkte, als sei es aus einem deutlich weicheren Material.

»Spielen Sie!«, wiederholte ich. Es gelang mir, ihr kurz ins Gesicht zu sehen. Ihre Augen waren weich und feucht. Sie streckte den Zeigefinger aus und ließ ihn über die Saiten gleiten. Sie ertönten arglos und kraftvoll, wie schon beim ersten Mal, im Kofferraum.

Ich wartete. Das Echo des Klangs schillerte zwischen uns. Doch die Exmoor-Hausfrau Ellie schien noch nicht überzeugt. Normalerweise versuche ich nicht, andere zu überreden, aber diesmal nahm ich die Herausforderung an.

Zögernd sprach ich zu ihren Strümpfen. Ich sagte, dass ich nichts dagegen hätte, wenn sie ginge und irgendwann wiederkäme, weil man für manche Entscheidungen einfach Zeit bräuchte. Auch wenn sie nicht zurückkäme, die Harfe gehöre ihr, der Exmoor-Hausfrau Ellie Jacobs. Sie sei ihre und werde es immer bleiben. Ich nähme ein Geschenk nicht zurück. Die Harfe könne in meiner Scheune stehen. Sie würde dort stehen und bis in alle Ewigkeit warten. Das hörte sich nicht lang genug an, deshalb formulierte ich es um und sagte, die Harfe würde warten, bis das Meer austrocknet (was irgendwann passieren wird, wenn genug Zeit vergangen ist) und die Sterne vom Himmel fallen (was irgendwann passieren wird, wenn man nur lange genug wartet). Was auch geschehe, die Harfe würde nie und nimmer jemand anderem gehören. Ich würde nicht mal zulassen, dass jemand anders darauf spielt. Wenn die Frau also nicht zurückkäme, würde die Harfe dort ungespielt stehen bis ans Ende der Zeit (was irgendwann kommen wird, auch wenn man darauf nicht mehr so lange warten muss). Was ich traurig fände. Wenn sie zurückkäme und auf der Harfe spielte, wäre das weitaus weniger traurig. Ich bot der Frau an, sie könne die Harfe sogar hier spielen, wenn sie das wolle und es besser für sie sei, weil sie das Instrument nicht mit nach Hause nehme wolle. Vielleicht, überlegte ich laut, passe eine Harfe ja gar nicht in das Haus einer Hausfrau von Exmoor; vielleicht stände sie beim Staubwischen und Saugen im Weg. Das haben Harfen nämlich manchmal an sich.

Ich habe ein kleines Zimmer im ersten Stock, das ist recht gemütlich und wärmer als der Rest der Scheune. Ich schlug der Hausfrau vor, in dem kleinen Raum Harfe zu spielen, wann immer sie Lust habe, während ich unten neue Harfen baue. Ich würde sie da oben gar nicht hören. Ich hätte einige Lehrbücher übers Harfenspiel, die ich ihr ausleihen könne. Ich würde eine Harfenlehrerin kennen, die ich ihr ebenfalls ausleihen könne. Alle wichtigen Zutaten seien vorhanden. Ich hätte mich nun mal entschieden, ihr die Harfe zu schenken. Sie müsse jetzt nur beschließen, sie anzunehmen. Ich würde mich freuen, wenn sie es sich noch mal überlegte. Ich wäre so glücklich, wenn sie zustimmte. Nachdem ich gesagt hatte, was ich loswerden wollte, hielt ich den Mund.

Die Strümpfe waren sehr schweigsam. In der Ferne hörte ich einen Traktor rattern, Schwalben flogen schwatzend übers Scheunendach. Die Sonne schien etwas heller als zuvor durchs mittlere Fenster. Ihr Licht fiel auf die Harfe und brachte das Kirschholz zum Glühen.

Schließlich sagte Ellie Jacobs Folgendes: »Wenn die Harfe hier stehen würde und ich hin und wieder vorbeikäme, um auf ihr zu spielen … das wäre doch nicht schlimm, oder?« Es klang, als rede sie mit sich selbst, nicht mit mir. Dann sah ich ihr doch ins Gesicht, in die Augen, um herauszufinden, ob sie eine Antwort erwartete. An ihren Augenwimpern hingen kleine Wassertröpfchen. Ich kam zu dem Schluss, dass eine Antwort notwendig und vielleicht sogar hilfreich sei. Ich entschied mich dafür, ihr eine Frage zu stellen, deren Antwort so offensichtlich war, dass man sie nicht aussprechen musste. Eigentlich hatte die Frau das schon selbst getan, deshalb musste ich nur ein paar Worte wiederholen, damit sie es begriff.

»Schlimm?«, sagte ich. »Harfe spielen?«

Da lächelte sie, wandte sich ab und ging ohne ein weiteres Wort zu ihrem Wagen. Sie stieg ein und fuhr davon.

Ich hatte so ein Gefühl, dass sie wiederkommen würde.

4.

Ellie

Der Wagen hoppelt über den Feldweg. Alles dreht sich. Ich bin völlig von der Rolle – eben noch liefen mir Tränen über die Wangen, jetzt breche ich in verrücktes Gelächter aus. Ich fahre komplett auf Autopilot. Wahrscheinlich dürfte ich gar nicht am Steuer sitzen.

So etwas passiert mir normalerweise nicht. Ich muss durch eine Art Zaubertür in das Leben eines anderen Menschen gefallen sein. Mein Leben hat sich in einen leichten, farbenfrohen Tanz verwandelt. Als ich heute Morgen aufgewacht bin, sah es noch ganz anders aus.

Auf gar keinen Fall kann ich jetzt nach Hause fahren und Clive gegenübertreten. Ich brauche einen Spaziergang im Grünen. Weit oben. Hoch gelegene Orte helfen mir beim Denken, und genau das ist jetzt nötig. Ich trete das Gaspedal durch und biege auf die Straße ab, die zum Dunkery Beacon hinaufführt, der höchsten Erhebung in Somerset. Ich stelle den Wagen in einer Haltebucht ab und marschiere einen felsigen Weg zum Steinhaufen am Gipfel empor. Der Wind peitscht mir durch die Haare und fegt über die violette Heide. Ich atme die kühle Seeluft und den frischen torfigen Moorgeruch ein.

Wenn ich gerade wirklich das beschlossen habe, was ich glaube, wie soll ich das nur Clive erklären? Ich liebe ihn natürlich, und Clive liebt mich auch, aber vieles am anderen verstehen wir nicht. Ich verstehe beispielsweise nicht, wie er sich für Fußball oder Finanzen begeistern kann. Er begreift nicht, warum ich mich mit meinem Skizzenblock ins Exmoor verdrücke und Gedichte schreibe – Gedichte über Borken und Wolken, Spinnennetze und plätscherndes Wasser, die niemals jemand lesen wird.

Clive mag es unkompliziert. Es kommt ihm entgegen, wenn alles nach gewissen Regeln verläuft. Meine lyrischen Ergüsse passen nicht so recht in dieses Raster. Mein aktuelles Problem – eine Harfe von jemandem geschenkt zu bekommen, den ich gerade erst kennengelernt habe – ist nicht mal ansatzweise mit diesen Regeln zu greifen.

Ich gehe immer schneller, lasse die Arme mitschwingen. In Rekordzeit erreiche ich den Gipfel. Der Panoramablick mit seiner rauen Schönheit ist überwältigend: abwechselnd grüne Weiden und Streifen lohbraunen Moors, gedrungene Weißdornbüsche, in der Ferne Hügel, die mit dem Himmel verschmelzen, eine ansteigende und abfallende zerklüftete Küstenlinie, die dem Meer entgegendrängt. Heute tanzen Tausende blausilberner Punkte auf dem schiefergrauen Wasser. Ein Sinnbild des berauschenden Gefühls in mir, dass in dieser Welt doch wunderbare Dinge geschehen können.

Meine Gedanken springen von Clive zu Dan und zurück. Ich versuche zu verstehen, was passiert ist. Dan wirkt so unbedarft, doch irgendwas an seiner Werkstatt mahnt mich, auf der Hut zu sein.

Ich spreche seinen Namen aus, lasse ihn mir auf der Zunge zergehen. »Dan.«

Ich lausche dem Klang, der zum Meer getragen wird.

»Dan, der Harfenbauer von Exmoor!«, rufe ich ein wenig lauter. Leicht zögernd hallen die Worte in meinem Kopf wider. Während ich ihnen nachhorche, merke ich, dass sie sich verändert haben: Dan, der Herzensbrecher von Exmoor.

Clive empfängt mich an der Tür mit einem besorgten Kuss. »Du hast dir aber Zeit gelassen. Alles in Ordnung?«

»Ja«, erwidere ich. »Ich bin noch den Dunkery hochgegangen, ein bisschen frische Luft schnappen.«

»Deshalb siehst du so zerzaust aus.«

Ich betaste meine Haare.

»Also hast du die Harfe zurückgegeben?«, fragt er.

»Jep.« Ich sehe ihm eindringlich in die Augen. Das ist nicht gelogen.

Er klopft mir auf den Rücken. »Braves Mädchen! Ich weiß ja, dass sie dir gefallen hat, aber es wäre falsch gewesen, sie zu behalten – hast du selbst gesagt!«

Ich gehe an ihm vorbei in die Küche. Er folgt mir.

»Und besonders praktisch war sie auch nicht, Schatzi, oder?«

»Nein, stimmt.«

»Ich kann mir vorstellen, dass der Typ ganz froh war, sie zurückzuhaben. Ihm ist wahrscheinlich klar geworden, dass er eine Dummheit begangen hat. Jetzt kann er sie verkaufen.«

»Hm.«

»Er bekommt sicher von jemandem, der sie zu schätzen weiß, einen guten Preis dafür. Jemand, der sie richtig nutzen kann, der sie auch spielen kann. Zum Beispiel eine professionell ausgebildete Musikerin.«

Ich bin nicht gerade begeistert von den letzten drei Worten.

Kann ich mir wirklich vorstellen, Harfe zu spielen? Wenn ich ehrlich bin, stand der Punkt nur auf meiner Vor-40-Liste, weil es eine ausgefallene Idee war, eine schmeichelhafte Vorstellung. Ein Traum, der verschwommen und vage blieb, weil ich eh nicht annahm, dass er je wahr werden würde. Aber wenn ich nicht aufpasse, könnte dieser Traum nun in die Realität purzeln. Und ich muss gestehen, dass ich wirklich keine Lust mehr habe, auf irgendwas aufzupassen. Ich habe es satt, vorsichtig zu sein.

»Du solltest vorsichtiger sein, hörst du?«, fährt Clive fort. »So allein durchs Moor zu laufen. Sonderbare Männer mit seltsamen Vorschlägen kennenzulernen …«

»Ja, ich weiß, ich bin ein bisschen verrückt. Aber wenn ich normal wäre, würdest du mich nicht lieben, oder?«

Dieses Thema hatten wir schon. Und ich weiß genau, was als Nächstes kommt.

»Ich lieb dich, El, egal wie.«

»Ich dich auch, Schatz«, erwidere ich schnell.

Clive holt sich ein Bier aus dem Kühlschrank und öffnet es andächtig und voller Vorfreude, es zu den Highlights des letzten Spiels von Bristol City zu trinken. Ich betrachte sein Profil: die lange Adlernase, den markanten Kiefer, das schüttere rotbraune Haar. Clive hat breite Schultern und muskulöse Arme. Sein blaues Sweatshirt spannt leicht über der Brust. Er sieht jünger aus als einundvierzig. Ein attraktiver Mann. Clive strahlt eine Entschlossenheit und Stärke aus, die mich immer angezogen hat. Er ist mein Fels, und ich bin … vielleicht bin ich die Napfschnecke, die sich an den Fels klammert …

Ich muss ihm das mit der Harfe erzählen. Warum ist das bloß so schwer? Warum war ich draußen im offenen Moor vor Freude ganz außer mir und bin hier zu Hause so belastet von der Geschichte? Es müsste doch einfach sein, das Gespräch auf das Thema zu lenken: »Schatz, ich hab mir überlegt, dass ich hin und wieder zu dieser Scheune fahre und da ein bisschen Harfe spiele. Der Harfenbauer ist damit einverstanden, genauer gesagt hat er das sogar selbst vorgeschlagen.«

Aber die Worte wollen einfach nicht heraus.

Der Telegraph liegt auf dem Stuhl am Fenster. Im Leitartikel geht es wieder mal um terroristische Angriffe. Lustlos greife ich zur heutigen Post auf dem Tisch. Es sind Rechnungen – die überlasse ich Clive – und der Bettelbrief einer Hilfsorganisation. Das Anschreiben ist mit Fotos blasser Kinder hinter Gittern illustriert und erzählt Horrorgeschichten von Menschenhandel. Ich halte Clive den Brief hin.

»Nein, El, tut mir leid. Wir können es uns nicht leisten, noch mehr zu spenden.«

Ich stopfe den Brief ins Altpapier, werde aber die furchtbaren Bilder nicht los. Plötzlich bin ich müde. Zur Ablenkung stelle ich das Radio an. Nur um mir eine Geschichte über weibliche Genitalverstümmelung anhören zu müssen. Clive verzieht das Gesicht. Ich schalte das Radio wieder aus.

So viel Leid in der Welt. Und ich sitze hier und zerbreche mir den Kopf über ein allzu großzügiges Geschenk.

Ich denke an die Harfe, die schöne Harfe. Meine Harfe. Dan war so beharrlich. Er hat gesagt, sie würde sonst ewig ungespielt bleiben.

Wenn ich nicht vorbeikäme und auf ihr spielte.

Entscheidungen treffen zu müssen bereitet mir Stress. Ich finde es deutlich einfacher, mich dem Wunsch eines anderen anzuschließen. Ich bin zwischen Clives und Dans Erwartungen hin- und hergerissen.

Ich denke an meine Eltern, deren Strenge und Unerbittlichkeit mein Leben so viele Jahre dominiert haben. Meine Mutter hätte mein Verhalten in den Zeiten, als sie so was noch begriff, mit Sicherheit missbilligt. Sie missbilligte so gut wie alles, was ich tat. Und mein Vater, der heute vor einem Jahr starb? Wie wäre er mit dem Harfen-Dilemma umgegangen? In meiner Jugend wäre er unnachgiebig und streng gewesen, aber später, als er nachdenklicher und liebenswerter wurde – als er sagte, ich solle mir einen Traum erfüllen? Ich bin mir nicht so sicher, wie er da reagiert hätte.

Vielleicht ist das Problem weniger die Harfe als Dan.

Weil er ein Mann ist. Nur was für einer, frage ich mich. Auf jeden Fall ein sehr gut aussehender – das ist mir sofort ins Auge gefallen. Aber was ist er für ein Mensch? Bestimmt keiner von der Sorte, die ich kenne.

Während er die Sandwiches zubereitet hat, habe ich die Gelegenheit wahrgenommen, mich in der Scheune umzusehen. Überall war Sägemehl, nicht nur auf den Harfen, sondern in kleinen Häufchen auf dem Boden, als Staub in der Luft. Und überall lagen Flechten, Tannenzapfen und Federn herum. Glänzende Pennys bildeten lange geschwungene Linien auf den Fensterbänken. Daneben standen Glasschalen mit kleinen Steinchen. Auf der Werkbank stapelten sich Werkzeuge und Bleistiftskizzen. Über der Bank fiel mir ein großes Korkbrett voller Fotos ins Auge. Fotos von Frauen. Hübsch und überwiegend jung. Einige hielten eine Harfe im Arm, alle hatten sich in Pose geworfen. In der Mitte war das Bild einer Blondine mit eindrucksvollen blauen Augen und tiefem Ausschnitt.

»Hallo, Ellie, merkst du gar nichts? Du bist ganz woanders! Träumst du immer noch davon, Harfenistin zu werden?«

»So ein Blödsinn!« Ich laufe rot an und setze mich in Bewegung. Ziehe Schranktüren auf, suche Zutaten zusammen. »Ich fang mal besser mit dem Abendessen an, oder? Was hältst du von einer scharfen Bolognese?«

»Lecker! Ja, super!«

Ich hole eine Zwiebel heraus, die ich durchschneide und pelle.

Könnte es sein, dass Dan ein sehr guter Schauspieler ist, der verletzliche Frauen verführt, indem er ihnen eine Harfe schenkt? Klingt absurd, aber vielleicht hat Clive doch recht und ich sollte vorsichtiger sein.

»Aah, schon besser«, seufzt Clive. Nach einem tiefen Schluck aus der Bierflasche breitet sich ein Lächeln über sein Gesicht aus. »Sag Bescheid, wenn du Hilfe brauchst, El. Ich bin im Wohnzimmer.«

Er verschwindet. Der Fernseher wird eingeschaltet, ich höre die Fans jubeln. Bristol City muss ein Tor geschossen haben. Wenn Clive damit durch ist, guckt er sich eine Wiederholung von Doctor Who an. Dann serviert ihm seine Frau Nudeln mit Bologneser Soße. Ich hoffe, sie sind genießbar. Seiner Frau fällt es heute nämlich extrem schwer, sich zu konzentrieren.

5.

Dan

Ich habe über dieses Lied nachgedacht. In dem es um Geld geht. Da heißt es, in der Welt von reichen Menschen müsse Geld komisch sein. Ich bin kein reicher Mann, muss aber gestehen, dass ich Geld trotzdem komisch finde. Das sage ich auch Thomas, als er am Montagmorgen auf seiner Runde bei mir vorbeikommt. Thomas ist mein walisischer Postbote, groß und schlaksig, und mein Freund.

Er verschränkt seine langen Arme. »Meinst du komisch wie seltsam oder komisch haha?«

»Beides«, sage ich.

Er lehnt sich gegen sein Postauto. Thomas trägt eine kurze blaue Hose (er hat immer kurze Hosen an, egal bei welchem Wetter. Er hat behaarte Beine, sehr stark behaart) und einen Kapuzenpulli in Neongrün mit gelb abgesetzten Rändern.

Es ist ein heller, klarer Tag. Thomas hat es nicht eilig, die Post auszuliefern.

»Warum?«, fragt er.

Ich sage, dass Geld meiner Meinung nach falsch herum funktioniert.

»Verstehe ich nicht, Kumpel«, sagt er. »Was meinst du mit ›falsch herum‹?«

Ich fange noch mal von vorne an und erkläre es ihm in kleinen Schritten. Eine Ein-Penny-Münze sei doch wirklich wunderschön, ob er das nicht finde. Thomas wirkt unsicher, also versuche ich es anders. Ein Penny sei ein höchst sympathischer Gegenstand. Er habe eine angenehme Größe, sei zierlich, einfach perfekt. Seine Farbe gleiche der der untergehenden Sonne: strahlende Bronze. Er besitze einen erhabenen Rand, das sei attraktiv. Auf der Rückseite sei ein Fallgatter eingraviert, spannend. Es könne auch der obere Teil einer Harfe sein, noch spannender. Ich werde nie müde, Pennys anzuschauen. Ich behalte alle Pennymünzen, poliere sie mit Essig und lege sie auf die Fensterbank in der Scheune, wo sie im Licht blitzen. Jeder Penny ist ein Kunstwerk. Kein anderes Geldstück ist so schön.

Thomas verzieht den Mund.

Die Zwei-Penny-Münze, fahre ich fort, sei aus demselben strahlenden Kupfer wie der Penny, aber von der Größe her nicht perfekt. Alle anderen Geldstücke kämen von der Farbe einfach nicht mit. (Das sähe er doch bestimmt genauso?) Ein- und Zwei-Pfund-Münzen seien protzig, wirkten aber nur billig. Pennys überstrahlten alles. Sie seien bei Weitem die besten. Dennoch scheine sie niemand entsprechend zu würdigen.

Thomas sieht auf die Uhr. Ich rede weiter.

Die Banknoten zu fünf, zehn und zwanzig Pfund seien lächerlich. Wie soll so was mehrere Hundert Mal mehr wert sein als Münzen? Ich mag Papier, klar – Papier ist toll, es wird aus Bäumen gemacht, und die sind wirklich großartig. Aber Papiergeld ist sehr dünn und von schlechter Qualität. Und die neuen Banknoten sind aus einem hässlichen glatten Material. Warum um alles in der Welt findet man sie wichtiger als die harten, glänzenden Münzen?

Thomas öffnet die Tür seines Postautos und steigt ein. Seine Hunde, zwei sehr große, sabbernde Deutsche Schäferhunde, fangen hinten an zu bellen. Durch das geöffnete Fenster rede ich weiter auf Thomas ein.

Noch lächerlicher als Papiergeld seien die kleinen Karten aus dem hässlichsten Material, das es überhaupt gibt: Plastik. Doch den Menschen gefalle es offenbar besser als alles andere.

Jetzt schüttelt Thomas im Postauto den Kopf. »Die Kreditkarte«, sagt er, »ist doch eine super Erfindung!«

Ich frage ihn, warum.

»Ist doch klar, Junge«, sagt er. »Weil man damit super Sachen kaufen kann.«

Ich frage, welche super Sachen er meine.

»Zum Beispiel tolle große Häuser und, ähm, tolle Ferien im Ausland.«

Aber warum sollte ich ein großes Haus wollen, frage ich. Große Häuser seien schwierig sauber zu halten, zu heizen und zu überschauen. Wenn ich ein großes Haus hätte, würde ich viel zu viel Lebenszeit damit verbringen, von einem Ende zum anderen zu laufen. Ich wolle nicht drinnen herumlaufen, das täte ich lieber draußen. Und warum sollte ich im Ausland Urlaub machen? Davon bekomme man Stress, Jetlag, Sonnenbrand und Durchfall. Es bringe deutlich mehr Spaß, zu Hause in der Scheune zu bleiben, Harfen zu bauen und Pennys zu polieren.

»Gut, wenn dir das Spaß macht, Kumpel«, erwidert Thomas, wendet den Wagen und fährt über den Feldweg davon.

Meine Schwester Jo meint, ich solle mir mehr Gedanken ums Geld machen. Alle machten sich Gedanken ums Geld, besonders die Leute, die keins hätten. Angeblich hätte sie wegen mir Schreianfälle und würde sich die Haare ausreißen, auch wenn ich ihr das nicht glaube; ihre Haare sehen völlig normal aus. Jo hat großartige Pläne, was ich tun (und nicht tun) soll. Sie macht da weiter, wo meine Mutter aufgehört hat.

Trotzdem, Jo ist lieb. Sie hat für mich eine Website im Internet gemacht. Ich hab sie mal gesehen, als Jo ihren Laptop mitgebracht hat. Die Website heißt »Der Harfenbauer von Exmoor« und beginnt mit dem Satz: »Willkommen in der Harfenscheune!« Darunter sind fünfundzwanzig Fotos von meinen Harfen, die Jo mit ihrer sehr guten, sehr großen Kamera gemacht hat, und neben jedem Foto steht ein Preis. Es gibt auch ein Bild von mir im Profil, auf dem ich an der Drehbank stehe und mich über eine halbfertige Harfe beuge. Dann gibt es noch eins, auf dem ich total dämlich gucke. Das wollte Jo unbedingt reintun, weil sie meinte, ich sähe darauf supergut aus, das würde Frauen verleiten, meine Harfen zu kaufen. Frauen mögen anscheinend Harfen, die von einem dämlich guckenden Harfenbauer gebaut wurden.

Am Anfang meinte Jo, ich solle ein Holzschild basteln, das an den Anfang des Wegs käme, mit der Aufschrift: »Die Harfenscheune. Der Harfenbauer von Exmoor. Hochwertige Einzelstücke, vor Ort gefertigt.« Das habe ich gemacht. Ich habe das Schild aus Kiefernholz gesägt und die Schrift in schmalen, gekringelten Buchstaben hineingeschnitzt.

Am nächsten Tag kamen sechs Personen in die Scheune. Sie kauften mir vier Harfen ab. Ich dachte, das wäre gut. Jo meinte später, zwei der Harfen würden bei eBay zum Verkauf angeboten. Sie sagte, wenn ich nicht wüsste, wie viel Geld man dafür verlangt, wäre es besser, wenn mich keiner kennt. Ich musste das Schild wieder wegnehmen. Das habe ich getan. Es ist sinnlos, mit Jo zu streiten.

Ich weiß nicht mehr, wie viel Geld ich für die vier Harfen bekommen habe. Es hat mich nicht interessiert. Ich baue Harfen, weil es mir Spaß macht, nicht weil ich gerne Geld verdiene. Jo versteht das nicht. Sie hat ihre E-Mail-Adresse auf meine Website gestellt, damit Leute, die eine Harfe kaufen wollen, sich an sie wenden. Mir ist das egal. Völlig egal. Solange ich Harfen bauen kann.

Ich habe meiner Schwester Jo nicht erzählt, dass ich einer Frau mit kirschfarbenen Strümpfen, die ich kurz zuvor kennengelernt hatte, eine Harfe geschenkt habe. Ich habe das Gefühl, meine Schwester Jo würde nichts davon halten.

Heute war ich im Wald und habe giftige Pilze gezählt. Ich war länger unterwegs, insgesamt waren es dreihundertsiebzehn. Sie waren weißlich, fleischfarben oder tintig. Manche sahen aus wie Untertassen, andere wie Puddingschälchen. Es war feucht draußen, aber das störte sie nicht und mich auch nicht. Als ich mit dem Zählen fertig war, hab ich mich auf einen vermoosten Baumstumpf gesetzt und eine Weile den Geräuschen des Exmoors gelauscht. Ich hörte Folgendes: ein raschelndes Eichhörnchen, einen hämmernden Specht, eine zu Boden fallende Eichel, eine gurrende Ringeltaube, einen schreienden Bussard, eine summende Biene, das ferne Blöken eines Schafs, das ferne Brummen eines Mähdreschers, das nicht so ferne Brummen meines Bauchs.

Als ich in die Scheune zurückkam, wartete die Frau mit den kirschfarbenen Strümpfen namens Ellie Jacobs, die Hausfrau von Exmoor, auf mich. Sie stand regungslos vor der Tür. Als sie sich umdrehte und mich sah, war ihr Gesichtsausdruck vielsagend, aber ihre Stimme sagte nur: »Ah, hallo, Mr. Hollis! Schön, Sie wiederzusehen. Ich wollte gerade nach Hause gehen. Tut mir leid, dass ich Sie störe. Ich war mir nicht sicher, ob Sie das ernst gemeint haben, was Sie gesagt haben … dass es in Ordnung wäre, wenn ich herkomme und auf der Harfe übe?«

Ich meine immer, was ich sage. Das erklärte ich ihr.

»Ah, gut! Das ist ja schön! Darf ich reinkommen? Aber nur, wenn es nicht ungelegen ist …«

Ich sagte, es sei nie ungelegen, holte meine Schlüssel heraus und schloss die Scheune auf. Man soll ein Gebäude immer abschließen, wenn darin siebenunddreißig wertvolle Harfen stehen und man ein oder zwei Stunden giftige Pilze zählen geht.

»Wie schön, wieder hier zu sein!«, rief die Frau. Ihre Strümpfe waren diesmal nicht kirschrot, sondern blau. Dazu trug sie ein passendes blaues Tuch, aus Baumwolle. Es flatterte, wenn sie herumlief. Ich beobachtete es, während die Frau von Harfe zu Harfe ging und schließlich vor der Pinnwand stehen blieb und sie gründlich betrachtete. Ich dachte, sie würde eine Frage stellen, aber das tat sie nicht. Ich wartete.

Schließlich drehte sie sich um und sagte: »Also, ähm … die Harfe, die ich letztens mitgenommen habe … ähm … wo ist die?«

Ich sagte, ich hätte die Harfe in den kleinen Raum nach oben gebracht, der jetzt ihr Übungszimmer sei. Ob ich sie nach oben begleiten solle?

Ich führte die Frau die Holztreppe hinauf zu ihrem neuen Übungszimmer (siebzehn Stufen), das früher mein Lagerraum war. Dahinter gelangt man in mein Schlafzimmer, daneben ist das Bad. Auf der anderen Seite ist die Küche, wo ich Sandwiches und andere Dinge zubereite. Zu all den Zimmern gelangt man über die siebzehn Stufen der Holztreppe. Ich fragte die Frau, ob es sie störe, die siebzehn Stufen hochzusteigen, und sie sagte Nein. Sie sagte, sie mache sich Gedanken, denn sie habe ja noch nie Harfe gespielt und wäre niemals in der Lage, so einem wunderschönen Instrument gerecht zu werden. Ich sagte, das sei Blödsinn, sie habe vor sechs Tagen auf der Harfe gespielt, als sie zum ersten Mal in der Scheune war. Ja, sagte sie, aber sie habe nur an ein paar Saiten herumgezupft und tatsächlich keine Ahnung, wie man es richtig macht. Ich weiß gut, wie es ist, keine Ahnung von etwas zu haben, deshalb hatte ich Verständnis. Das sagte ich ihr auch. Sie meinte, weil Harfespielen ja auf ihrer Liste gestanden hätte und ich so freundlich war, ihr die Möglichkeit zu bieten, sei es ja nur fair ihr selbst und mir gegenüber, es wenigstens zu versuchen. Ich gab ihr voll und ganz recht. Sie erwiderte, ich sei hoffentlich nicht enttäuscht, wenn sie keine vollendete Harfenistin werden sollte. Ich versicherte ihr, dass ich mit Sicherheit nicht enttäuscht wäre, solange sie hin und wieder vorbeikäme und an den Saiten zupfte. Inzwischen waren wir auf der siebzehnten Stufe angelangt.

»O Dan!«, stieß sie aus und fügte hinzu: »Ich darf Sie doch so nennen, oder?«

Ich bejahte, und sie rief noch einmal »O Dan!«, und dann: »Sie ist schöner als je zuvor!«

Sie meinte die Harfe. Ich hatte sie auf einen kleinen Harfenhocker aus Kirschholz ans Fenster gestellt, damit sie die richtige Höhe zum Spielen hatte.

Die Frau schaute sich um und entdeckte die Bücher, die ich auf den Tisch gelegt hatte. Sie nahm eins nach dem anderen in die Hand und las die Titel: »Wie man eine keltische Harfe spielt – eine Einführung«, »Leichte Melodien für Anfänger. Das Harfen-Handbuch« und schließlich »Zupf dir was«.

Danach wagte sie sich an die Harfe und berührte eine Saite so vorsichtig mit dem Finger, dass sie kaum einen Ton von sich gab.

Ich sagte, sie müsse jetzt üben, und fügte hinzu, ich meine das nicht wie ein Berufsmusiker, sondern wie ein Kind, zum Spaß. Sie nickte, und ihr blaues Tuch flatterte.

Dann ging ich nach unten und überließ die Frau sich selbst.

6.

Ellie

»Und? Noch mehr seltsame Männer kennengelernt, die dir eine Harfe schenken wollten?«

Ich bedenke Clive mit einem leichten Schmunzeln. Er hält Exmoor für ein Biotop von Exzentrikern, was mir vielleicht zugutekommt.

»Nee. Leider nicht.« Ich bin stolz auf meine Schauspielkunst. Genau die richtige Mischung aus Bedauern, Ironie und Coolness.

Kopfschüttelnd verdreht er die Augen. »So was kann echt nur in Exmoor passieren!«

Clive hat keine Ahnung. Keine Ahnung, dass ich mich jeden Tag, sobald er zur Arbeit fährt, zu meinem Geheimprojekt begebe.

Wenn ich zur Scheune komme, sitzt Dan meistens an seinem aktuellen Werkstück, momentan eine Harfe in mittelalterlichem Stil aus Sykomorenholz. Er begrüßt mich immer voller Begeisterung, aber wir tauschen nicht viele Worte, ich gehe schnell nach oben. Dort zupfe ich dann an den Saiten herum, eines der Lehrbücher vor mir an einen Holzblock gelehnt, und versuche stirnrunzelnd, die Noten zu entziffern. Manchmal werden meine zögerlichen Versuche von einem Hämmern oder dem Lärm einer Maschine von unten begleitet.

Um kurz vor zwölf bringt Dan Sandwiches herein. Immer zu Dreiecken geschnitten und geometrisch auf dem Teller angeordnet. Er bietet mir nie etwas Warmes zu trinken an, obwohl oft der Geruch von Kaffee aus der Küche herüberzieht. Dan scheint eingefahrene Verhaltensmuster zu haben, dennoch ist er mir ein Rätsel. Ich habe keine Ahnung, was in seinem Kopf vorgeht. Seine seltsamen Kommentare überraschen mich immer wieder. Aber mir ist klar geworden, dass mein anfänglicher Argwohn unbegründet war. Dan ist absolut arglos. Ich bin mir inzwischen sicher, dass die Fotos an der Pinnwand lediglich Bilder von Menschen sind, die eine Harfe bei ihm gekauft haben. Er hat sie aufgehängt, weil er sich wünscht, dass seine Instrumente gespielt werden. Dass es ausnahmslos Frauen sind, zumal gut aussehende Frauen (besonders die in der Mitte), ist wohl kaum seine Schuld.

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