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Die Schärenärztin

Eine dramatische Liebesgeschichte vor der malerischen Kulisse der schwedischen Schärenlandschaft:

Nie wollte Hanna in die Abgeschiedenheit der schwedischen Schären zurückkehren. Doch als ihr Vater vorübergehend Hilfe in seiner ländlichen Arztpraxis braucht, reist die junge Chirurgin zurück, um sich in der Idylle fernab von Stockholm zu erholen. Schon bald lernt sie die neue Aufgabe als Schärenärztin zu schätzen. Endlich kann sie sich wirklich um die Bedürfnisse ihrer Patienten kümmern! Doch als sie eines Tages die kleine Maja aus Seenot rettet, wird sie jäh von der Vergangenheit eingeholt. Denn Majas Vater ist Lennart Ekström der Mann, der sie an eine schreckliche Schuld erinnert - die sie am liebsten für immer vergessen hätte. Warum nur berührt ausgerechnet er ihr Herz wie schon lange niemand mehr?


  • Erscheinungstag: 01.07.2015
  • Seitenanzahl: 300
  • ISBN/Artikelnummer: 9783956494390
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Pia Engström

Die Schärenärztin

Roman

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MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright dieses eBooks © 2015 by MIRA Taschenbuch in der HarperCollins Germany GmbH

Originalausgabe

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Covergestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Daniela Peter

Titelabbildung: Thinkstock; Getty Images, München

ISBN eBook 978-3-95649-439-0

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

1. KAPITEL

Und du bist wirklich fest entschlossen, Göteborg zu verlassen?“, fragte Louisa Viggoson, und in ihrem Blick lag eine Mischung aus Besorgnis und Enttäuschung. „Von jetzt auf gleich?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich meine, ich verstehe ja, dass du deinem Vater helfen willst, aber wie soll das gehen? Du hast doch hier dein eigenes Leben, deinen Job und …“ Sie kniff die Augen zusammen. „Was sagt überhaupt dein Verlobter dazu?“

„Fast-Verlobter“, korrigierte Hanna Winterberg wie aus der Pistole geschossen und senkte den Blick, als ihr bewusst wurde, dass ihre Erwiderung eine Spur zu schnell gekommen war und dass dies mit Sicherheit weitere Fragen ihrer Kollegin und Freundin nach sich ziehen würde. „Aber ja, du hast natürlich recht. Im Grunde sind wir praktisch verlobt. Zwar hat Jan-Fredrik mir noch keinen richtigen Antrag gemacht, aber er redet oft über Hochzeit. Na, wie dem auch sei – er wird sich mit meinem Entschluss abfinden müssen, ebenso wie das Krankenhaus. Ich habe unbezahlten und unbefristeten Urlaub beantragt und kann gleich morgen früh los. Und wie schon gesagt: Ich werde ja nicht für ewig fort sein. Nur so lange, bis es meinem Vater besser geht.“

Zweifelnd schüttelte Louisa den Kopf. „Komm schon, da steckt doch mehr dahinter. Ist es wegen Jan-Fredrik? Ihr habt Probleme, oder?“

„Unsinn, es ist alles in Ordnung“, log sie, weil sie keine Lust hatte, mit ihrer Freundin über dieses Thema zu diskutieren. „Aber Pappa braucht mich nun mal. Ich habe dir doch erzählt, dass er sich vor ein paar Tagen das Bein gebrochen hat, als er auf eine Leiter gestiegen ist, um in der Küche eine Glühbirne auszuwechseln.“

„Ja, ich weiß.“ Louisa nickte. „Ist natürlich ziemlich ungünstig. Er als Schärenarzt ist schließlich immer unterwegs und trägt eine ziemlich große Verantwortung.“

„Eben“, stimmte Hanna zu, erleichtert darüber, dass sich das Gespräch nun um ihren Vater und nicht länger um Jan-Fredrik drehte. „Die Bewohner der Schäreninseln sind praktisch auf ihn angewiesen, bloß kann er im Moment so gut wie gar nicht aus dem Haus. Und deshalb werde ich nach Vaxholm fahren und ihn unterstützen. So lange, bis er wieder ganz auf dem Damm ist.“

Gedankenverloren nahm sie einen Schluck von ihrem Kaffee, der viel zu stark und inzwischen fast kalt war. Die zwei Frauen standen im Aufenthaltsraum von Station acht der Pilgatan-Klinik am Fenster. Wie so oft in den vergangenen zweieinhalb Jahren, seit Hanna hier arbeitete. Immer wenn sie ein paar Minuten Pause hatten, versuchten sie, sich hier zu treffen, um ein paar Worte miteinander zu wechseln. Während der Arbeit hatten sie beide ja kaum Gelegenheit dazu, so eingespannt, wie sie waren. In all der Zeit war Louisa, die schon ihre Lehre zur Krankenschwester hier gemacht hatte, zu einer Art Freundin für Hanna geworden, als sie nach dem Studium als Assistenzärztin in der Klinik angefangen hatte.

Ist das wirklich das richtige Wort dafür? Freundinnen erzählen sich doch schließlich alles, oder etwa nicht?

Hanna atmete tief durch. Ja, sie betrachtete Louisa durchaus als Freundin. Aber sie gehörte nun einmal nicht zu den Frauen, die in der Lage waren, sich jemandem wirklich anzuvertrauen. Vor allem dann nicht, wenn es um wirklich persönliche Dinge ging.

Sie blickte aus dem Fenster. Der Himmel über Göteborg war wolkenverhangen. Vermutlich würde es gleich anfangen zu regnen, so wie ständig in den vergangenen Tagen. Unten auf der Hauptstraße vor der Klinik schoben sich Wagenkolonnen in beide Richtungen. Es ging kaum vorwärts. Typischer Feierabendverkehr in der Großstadt.

„Weißt du, was das Verrückte an der Sache ist?“, fragte sie leise. „Ich bin irgendwie richtig froh, nach Hause zu kommen.“

Louisa goss sich Kaffee aus der großen Kanne nach. „Das wundert mich allerdings. Hast du nicht immer gesagt, dass du damals fort bist, weil du das Leben in der Einöde nicht mehr ausgehalten hast? Dass die Langeweile dich erdrückt hat?“

„Das stimmt auch“, erwiderte Hanna und sah ihre Freundin an. „Und trotzdem ist es genau das, wonach ich mich jetzt sehne: Ruhe und Abgeschiedenheit. Ich glaube, ich brauche wirklich ein bisschen Abstand von all dem hier.“

Besorgt sah Louisa sie an. „Bist du sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist? Ich meine, mir ist ja schon länger aufgefallen, dass du ein bisschen gestresst warst. Und das hast du ja auch zugegeben. Aber deshalb läuft man doch nicht gleich weg.“

„Ich laufe nicht weg!“, stellte Hanna erneut eine Spur zu hastig klar. Und der Gesichtsausdruck ihrer Freundin verdeutlichte, dass sie ihr noch immer kein Wort glaubte.

Womit sie auch recht hatte. Denn Hanna lief tatsächlich davon.

Vor ihrem Leben in Göteborg.

Vor ihrem Leben mit dem Mann, der sie heiraten wollte.

Und vor dem schrecklichen Fehler, der sie seit fast einem Jahr keine Nacht mehr ruhig schlafen ließ.

„Aber du weißt schon, dass dein Vater auch anderweitig Hilfe bekommen könnte? Es gibt Vertretungen, er müsste sie nur beantragen.“

„Schon klar.“ Hanna nickte. Als sie drei Tage zuvor den Anruf ihres Vaters erhielt und er sie bat, ihm in den kommenden Wochen zu helfen, war ihr erster Impuls gewesen, ihn genau darauf hinzuweisen. Doch dann hatte sie gezögert und sich gefragt, ob eine Reise nach Vaxholm nicht auch eine Chance für sie sein könnte.

Eine Chance, ihr Leben aus der emotionalen Sackgasse zu befreien, in der es momentan steckte.

„Du kennst meinen Vater nicht“, fuhr sie fort. „Er ist ein alter Sturkopf und lässt sich von niemandem außer der Familie helfen. Und da ich nun mal ebenfalls Ärztin bin, verlässt er sich natürlich auf mich. Außerdem …“

„Ja?“

Hanna seufzte. „Ich brauche wirklich mal ein bisschen Ruhe, weißt du? Ein bisschen Zeit zum Nachdenken und einen Tapetenwechsel.“

„Also ist bei dir und Jan-Fredrik doch der Wurm drin?“, hakte Louisa nach.

In dem Moment wurde die Tür aufgerissen, und zwei junge Kolleginnen stürmten aufgeregt in die Küche. Marit und Greta waren fleißig und engagiert, liebten es aber auch, über alles und jeden zu tratschen.

„Habt ihr schon das Neueste gehört?“, fragte Marit die beiden anderen Frauen. „Stellt euch vor, Dr. Svensson hat Schwester Annika für heute Abend ins Kino eingeladen.“ Sie kicherte. „Ich glaube, da geht was.“

„Und ob da was geht!“, stimmte Greta sofort zu. „Ich habe doch selbst gehört, wie …“

Den Rest bekam Hanna nicht mehr mit. Bei Klatsch dieser Art hatte sie immer schon abgeschaltet, und so hörte sie auch jetzt nicht mehr zu. Außerdem – von jetzt an ging sie das alles sowieso nichts mehr an.

Verwirrt über diesen Gedanken, rümpfte sie die Nase. Sie tat ja fast so, als sei ihr Fortgang ein Abschied für immer. Doch das war es nicht – oder?

Sie atmete tief durch. Nein, das war es auf keinen Fall. Sie wollte nur nach Vaxholm, um ihrem Vater zu helfen. Und vielleicht auch ein kleines bisschen, um den Kopf freizukommen. Aber ihr Zuhause war hier in Göteborg, und das schon seit vielen Jahren.

Und daran würde sich auch ganz bestimmt nichts ändern.

„Wenn man einfach so weggeht, kann man sich nicht blind darauf verlassen, dass der Partner auf einen wartet, bis man wiederkommt.“

Das hatte Jan-Fredrik am Vorabend zu ihr gesagt, als sie gemeinsam im Bett gelegen hatten. Abschiedsworte, die wie ein Schlag ins Gesicht für Hanna gewesen waren. Sie hatte versucht, noch einmal mit ihm zu reden, ihm zum x-ten Mal alles zu erklären, doch er hatte keinerlei Interesse an einem Gespräch gezeigt. Stattdessen hatte er sich umgedreht und war einfach eingeschlafen. Hanna war entsetzt und enttäuscht zugleich gewesen. Wieso verhält Jan-Fredrik sich so? Warum kann er nicht verstehen, dass ich meinem Vater helfen will?

Weil er genau weiß, dass es nicht nur darum geht, beantwortete Hanna sich ihre Frage selbst. Und weil es ihm nicht passt, dass diese Geschichte von vor einem Jahr noch immer ein Thema für dich ist.

Aber was sollte sie denn bitte schön machen? Sie war schließlich keine Maschine, bei der man einfach nur auf einen Knopf drücken musste, um den Datenspeicher zu löschen. Im Gegensatz zu ihr schien Jan-Fredrik keine Schwierigkeiten damit zu haben. Ebenso wenig wie es ihm Mühe bereitete, sie einfach so abzufertigen und dann seelenruhig einzuschlummern.

Noch eine ganze Weile hatte sie wach neben ihm gelegen und sich dann leise in den Schlaf geweint.

Als ihr Wecker dann früh um halb sieben an diesem Morgen geklingelt hatte, war sie allein und ihr Verlobter schon auf dem Weg in die Klinik gewesen.

Erst hatte sie gezögert. Sollte sie wirklich fahren? So konnte man doch unmöglich auseinandergehen! Doch dann hatte sich ein neues Gefühl eingestellt: Wut. Hanna war verärgert über Jan-Fredriks Verhalten. Immerhin war er es, der ohne ein weiteres Wort zur Arbeit gegangen war. Und was bildete er sich eigentlich ein, ihr solche Dinge an den Kopf zu werfen? Er war verletzt, dass sie ging, ja. Das konnte sie auch noch irgendwie verstehen oder zumindest nachvollziehen. Aber auch sie war enttäuscht. Traurig, dass er von Anfang an kein Verständnis gezeigt hatte. Nicht nur wegen der Sache mit ihrem Vater, sondern auch wegen des Vorfalls damals.

Wenn er doch nur versucht hätte, sie zu verstehen … Wenn er hinter ihr gestanden hätte und nicht auf der Seite ihres gemeinsamen Chefs …

Wie jedes Mal, wenn sie an den tragischen Vorfall von vor einem Jahr zurückdachte, war es, als würde sie mit einem Schlag in die Vergangenheit katapultiert, und sie sah alles wieder vor sich. Befand sich wieder im OP und durchlebte die schlimmsten Minuten ihres Lebens. Wieder und wieder …

Damals …

„Ich finde die verdammte Arterie nicht“, beschwerte sich Jan-Fredrik und wischte sich mit dem Ärmel seines Kittels zum x-ten Mal den Schweiß von der Stirn. „Würde wohl mal jemand die Freundlichkeit besitzen, das ganze Blut abzusaugen?“ Er klang jetzt ungehalten – ein eindeutiges Zeichen dafür, wie nervös er war. Die anderen Mitglieder des Teams, die sich bei ihnen im OP befanden, mochten davon nichts mitbekommen. Aber Hanna kannte ihn zu gut, um dieses Warnsignal nicht zu erkennen.

„Soll ich Dr. Martensen zur Unterstützung hinzubitten?“, fragte sie, ohne die Anzeige für Herzschlag und Blutdruck aus den Augen zu lassen. Letzterer hatte inzwischen einen besorgniserregenden Tiefpunkt erreicht.

Es musste etwas passieren, und zwar schnell!

Doch Jan-Fredrik wollte nichts von ihrem Vorschlag wissen. „Ich brauche niemanden, der mir die ganze Zeit auf die Finger starrt“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und bedachte Hanna mit einem finsteren Blick, ehe er sich wieder an die OP-Schwester wandte. „Was ist das hier für eine Sauerei? Wenn Sie unfähig sind, Ihren Job zu machen, dann sollten Sie sich lieber ein anderes Betätigungsfeld suchen!“

Ein weiteres typisches Anzeichen – und langsam war Hanna wirklich beunruhigt. Jan-Fredrik war ein guter Chirurg. Einer der besten, den sie an der Klinik hatten. Das stand außer Frage, und auch sie hatte nie daran gezweifelt. Das Problem war bloß: Er konnte weder besonders gut mit Stress umgehen noch mit Kritik.

Und genau das war es, was Hanna Sorge bereitete.

Tief atmete sie ein. Der Blutdruck der Patientin sank weiter, hatte nun ein kritisches Maß erreicht …

Hanna schüttelte den Kopf und kehrte in die Gegenwart zurück. Es brachte nichts, immer und immer wieder daran zu denken. Sie quälte sich doch bloß selbst! Und auch die Gedanken, die sie sich über Jan-Fredrik machte, waren sinnlos. Es war nun mal so, wie es war, und damit musste sie leben. Oder etwas ändern.

Nach einer heißen Dusche und einem hastigen Frühstück hatte sie sich schließlich entschieden, zu fahren, ohne erneut mit Jan-Fredrik zu reden. Sie würde sich später bei ihm melden. Vielleicht war er dann eher bereit, ein vernünftiges Gespräch mit ihr zu führen.

Gegen Mittag hatte sie schließlich Stockholm erreicht und dort die Fähre nach Vaxholm bestiegen – ein kleiner Ort, der auf einer Insel namens Vaxön im Schärengarten lag, welcher sich vor den Toren der Stadt erstreckte.

Die Fahrt dauerte nicht lange. Hanna hatte ihren Wagen verlassen und stand jetzt an der Reling. Gedankenverloren schaute sie hinaus aufs Meer, das trügerisch ruhig und glatt dalag, während der Wind ihr das Haar zerzauste. Es war ein schöner, sonniger Tag, und alles wirkte idyllisch und friedlich. Doch wenn ein Sturm die See aufpeitschte, wenn Donner grollten und Blitze am Himmel zuckten, war es ihr als junges Mädchen oft angst und bange geworden. Damals …

Sie hätte auch mit dem Auto bis nach Vaxholm fahren können. Als eine der größeren Inseln, die nah beim Festland gelegen waren, gab es Straßenverbindungen und Brücken, die bis nach Vaxön führten. Doch sie wollte die Gelegenheit nutzen, sich einen klaren Kopf zu verschaffen, ehe sie an den Ort ihrer Kindheit zurückkehrte.

Den Ort, den sie mit Erreichen der Volljährigkeit nicht schnell genug hatte verlassen können. Der Ort, dessen Umrisse sich jetzt langsam aus dem Bleigrau der Ostsee herauszuschälen begannen.

Sie atmete tief durch. Natürlich war sie hin und wieder hier gewesen. Schon allein, um ihren Vater zu besuchen. Aber es waren stets nur kurze Besuche gewesen. Ein verlängertes Wochenende. Über die Feiertage. Auf keinen Fall länger als eine Woche. Rückblickend wusste sie jetzt selbst gar nicht mehr, warum sich stets alles in ihr gegen einen längeren Aufenthalt gesträubt hatte. Jetzt jedenfalls erschien ihr der Ort, von dem sie damals geflüchtet war, wie eine Art Rettungsanker.

Würde es ihr hier gelingen, endlich wieder zu sich selbst zu finden?

Sie wusste es nicht, denn gleichzeitig war ihr auch unbehaglich zumute. Waren ihre Erwartungen zu groß? Konnte ein Ortswechsel ihr wirklich dabei helfen, über das, was ihr Leben damals so sehr aus der Bahn geworfen hatte, hinwegzukommen? Und wie würde ihr Vater sie empfangen? Dankbar, weil sie kam, um ihm zu helfen? Oder würde er ihr wieder, wie so oft in der Vergangenheit, Vorhaltungen machen, weil sie damals fortgegangen war?

Nun, zumindest Letzteres würde sie schon bald erfahren.

Die Fähre legte an, und kurz darauf saß Hanna wieder in ihrem Wagen und lenkte ihn von der Fähre. Da diese am südlichsten Zipfel von Vaxön anlegte, musste Hanna praktisch einmal quer durch den Ort fahren, um das Haus ihres Vaters zu erreichen – angesichts der geringen Größe des Ortes war aber selbst das nicht viel mehr als ein Katzensprung. Unterwegs sah Hanna all das, was sie durch ihre gesamte Kindheit und Jugend begleitet hatte: ihre alte Schule, den Spielplatz, das Eiscafé, in dem sie und ihre Freundinnen im Sommer gesessen hatten …

Etwas Neues gab es nicht zu entdecken, aber das hatte sie auch nicht wirklich erwartet. Hier tickten die Uhren anders als in größeren Städten, alles ging langsamer voran. Früher war ihr das unerträglich langweilig und trostlos erschienen. Sie hatte sich nach dem Trubel und der Aufregung der Großstadt gesehnt. Hier war alles so furchtbar eng und klein. Jeder kannte jeden, wusste alles über den anderen. Es gab keine Geheimnisse, nichts, was man für sich behalten konnte. Damals fand sie diese Art von Dorfleben einfach nur erdrückend.

Heute dagegen …

Die Anonymität der Großstadt erschien ihr schon lange nicht mehr erstrebenswert. Sie kannte nicht einmal die eigenen Nachbarn in dem Apartmenthaus, in dem sie wohnte. Und sie vermisste die Sterne. Nachts, wenn die Sonne unterging, wurde es auf Vaxön so dunkel, dass der Himmel von Sternen übersät zu sein schien. Sie funkelten und glitzerten, und nicht selten hatte Hanna früher bis spät in die Nacht draußen auf dem Balkon ihres Zimmers gesessen und sie bewundert.

In Göteborg hingegen wurde es nie wirklich dunkel. Zumindest nicht so, wie sie es gewöhnt gewesen war. Und obwohl sie noch immer zum selben Himmel hinaufblickte, waren die Lichter der Stadt so allgegenwärtig, dass nur die hellsten Sterne mit ihnen konkurrieren konnten.

Das Haus ihres Vaters lag direkt an der Küste. Es handelte sich um ein im typischen Falunrot getünchtes Gebäude mit zwei Etagen, einer Veranda und einem Balkonvorbau im Obergeschoss. Die Fenster- und Türrahmen waren, ebenso wie die Geländer, in Weiß gestrichen. Es sah hübsch aus. Fast wie ein großes Puppenhaus.

Und ähnlich wie ein Puppenhaus war es ihr auch früher schon vorgekommen. Damals aber hatte sie es nicht etwa hübsch gefunden, sondern klein und einengend, wie ihr ganzes Leben. Ja, sie hatte sich wie im berühmten goldenen Käfig gefühlt, der sie davon abhielt, die große weite Welt für sich zu entdecken.

Sie schüttelte den Kopf über sich selbst, als sie den Wagen neben dem Haus abstellte. Wenn sie erwartet hatte, dass ihr Vater sie freudestrahlend begrüßen würde, sobald sie aus dem Auto stieg, so wurde sie enttäuscht. Dabei war sie sicher, dass er sie gehört haben musste. Aber wahrscheinlich konnte er wegen seines kranken Beins einfach nicht so schnell zur Tür kommen.

Seufzend nahm sie ihre Reisetasche vom Rücksitz und schlug die Fahrertür hinter sich zu, ehe sie die drei Stufen zur Veranda hinaufstieg. Dabei wanderten ihre Gedanken wie automatisch zurück in die Vergangenheit, und sie sah Bilder aus längst vergangenen Zeiten vor ihrem geistigen Auge aufflackern. Sah sich selbst, wie sie als sechsjähriges Mädchen in hübschen Kleidern im Garten Blumen pflückte und sie stolz ihrer Mutter schenkte, die in der Küche herrlich duftenden Appelpej backte und strahlend das Geschenk ihrer kleinen Tochter entgegennahm. Und ihren Vater, wie er sich abends im Schaukelstuhl auf der Veranda beim Schmauchen einer Pfeife von seinem anstrengenden Arbeitstag erholte …

Zehn Jahre später endete diese Idylle abrupt, als Hannas Mutter im Alter von nur achtundvierzig Jahren an Krebs starb. Ein halbes Jahr hatte sie vergeblich gegen die Krankheit gekämpft.

Von diesem Tag an war alles anders, und auch Hanna begann, sich zu verändern. Neben der Trauer um ihre viel zu früh verstorbene Mutter war da noch die Wut auf die schlechte ärztliche Versorgung auf den Schären und die Tatsache, dass ihr Vater noch seltener zu Hause war als zuvor und, statt sich um seine Tochter zu kümmern, nur noch seine Arbeit im Kopf hatte.

In der Schule war Hanna seitdem immer schlechter geworden, und sie hatte es eigentlich nur Malin zu verdanken, dass sie in letzter Minute doch noch die Kurve gekriegt hatte.

Malin war die gute Seele im Hause der Winterbergs. Als Haushälterin und Kindermädchen war sie Hanna früh ans Herz gewachsen, und nach dem Tod von Ada Winterberg war sie die einzige Person, die wirklich und ohne Wenn und Aber für sie da gewesen war. Sie war es auch, die Hanna eines ganz deutlich vor Augen geführt hatte: dass sie niemals etwas ändern oder besser machen konnte, wenn sie sich in dieser wichtigen Zeit von ihrem Kummer und ihrem Trotz davon abhalten ließ, einen guten Schulabschluss zu machen.

Und es stimmte: Hanna wollte, sobald es möglich war, fort aus Vaxholm, um in der Stadt Ärztin zu werden. Sie wollte in einem Krankenhaus arbeiten, um Menschen wie ihrer Mutter helfen zu können.

Und Hanna war tatsächlich Ärztin geworden. Arbeitete im Krankenhaus und half Menschen, aber eben nicht so, wie sie es sich eigentlich vorgestellt hatte. Was wiederum vor allem daran lag, dass sie kaum Zeit hatte, die Patienten, mit denen sie tagtäglich zu tun hatte, kennenzulernen. Im Grunde war jeder ihrer Patienten nicht mehr als ein Name und eine Nummer, die auf der Krankenakte vermerkt waren. Das Krankenhauspersonal stand unter ständigem Zeitdruck, musste Quoten erfüllen und wirtschaftlich arbeiten. So hatte sie sich die Arbeit als Ärztin nicht vorgestellt. Dennoch war sie immer froh gewesen, diesen Weg eingeschlagen zu haben. Fortgegangen zu sein. Was zum einen daran lag, dass ihre letzten Jahre in Vaxholm so erdrückend gewesen waren, dass sie einfach nur froh war, ihre Heimat hinter sich gelassen zu haben, und zum anderen trug ihr Vater eine erhebliche Mitschuld daran. Die Tatsache, dass sie fortging, hatte ihm nie gefallen, und das hatte er sie auch stets deutlich spüren lassen.

Letztendlich aber gab es sicher auch noch andere Gründe. Der wichtigste von ihnen war wohl, dass sie sich in ihrer neuen Heimat verliebt hatte.

In Jan-Fredrik.

Sobald sie an ihn dachte, schnürte es ihr die Kehle zu. Die Kälte, mit der er ihr tags zuvor begegnet war, hüllte sie noch immer ein wie eine eisige Decke, und sie fragte sich, wie ihr Leben wohl weitergehen mochte und ob er wirklich noch der Mann war, in den sie sich damals verliebt hatte.

Doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber nachzudenken. Noch einmal atmete sie tief durch, dann trat sie ins Haus, das natürlich nicht abgeschlossen war. Die Türen hier standen immer offen. Besuch, der kam, klingelte nie, sondern spazierte einfach hinein in die gute Stube. Im Grunde waren alle Menschen hier eine einzige große Familie. Etwas, das Hanna früher ebenso gestört hatte wie viele andere Dinge hier. Heute hingegen waren es die Anonymität und Schnelllebigkeit des Stadtlebens, die ein Gefühl der Beklemmung in ihr hervorriefen.

„Pappa?“, rief sie. „Ich bin hier! Wo steckst du denn?“

Keine Antwort. Doch als sie die Küche betrat, die gleich von der Diele abging und immer den Mittelpunkt des kleinen Hauses dargestellt hatte, erblickte sie ihren Vater.

Er saß am Küchentisch, das rechte, eingegipste Bein hatte er auf einen Stuhl mit Kissen gelegt. Auf dem Tisch stand eine Tasse Kaffee, die längst nicht mehr dampfte, daneben lagen seine Lesebrille, ein Stift und ein Rätselheft. Die aufgeschlagene Seite war noch leer, den Kopf hielt Kristoffer Winterberg gesenkt, sodass sein Kinn den Hals berührte. Im ersten Moment glaubte Hanna, ihr Vater schliefe, doch dann sah sie, dass seine Augen geöffnet waren und starr auf seine auf dem Schoß gefalteten Hände blickten.

„Pappa?“, fragte sie irritiert. „Ist alles in Ordnung mit dir? Warum sagst du denn nichts?“ Sie trat näher, und als sie vor ihm stand, blickte er auf. Hanna hatte keineswegs erwartet, dass er ihr vor Freude um den Hals fallen würde, wenn sie kam. Dazu war ihr Verhältnis seit ihrem Fortgang zu angespannt gewesen. Zwar waren sie damals nicht wirklich im Streit auseinandergegangen, und wenn sie ihn in den letzten Jahren besucht hatte, waren sie immer in der Lage gewesen, vernünftig miteinander zu sprechen. Dass er sie jetzt jedoch nicht einmal anständig begrüßte, geschweige denn seiner Tochter ein Lächeln schenkte – damit hatte sie wirklich nicht gerechnet, auch wenn sie ihrer Ankunft durchaus ein wenig ängstlich entgegengeblickt hatte.

Und als sie ihren Vater jetzt genauer musterte, stellte sie fest, dass etwas in seinem Blick lag, das sie erst nicht genau einordnen konnte. Dann aber wurde ihr klar, dass er sie vorwurfsvoll ansah.

Sie schluckte. „Freust du dich denn gar nicht, mich zu sehen?“

Er verzog keine Miene. „Ich hätte mich gefreut, wenn du nie weggegangen wärst“, erwiderte er knapp.

Aha, da lag also der Hase im Pfeffer. Wieder einmal. Hanna unterdrückte ein Seufzen. Das Thema war seit ihrem Fortgang damals immer wieder aufgekommen. Sei es bei ihren kurzen Telefonaten oder ihren ebenfalls kurzen Besuchen hier. Der Unterschied war bloß, dass er sie dennoch immer warmherzig empfangen hatte. Meistens war erst nach einer Weile die Sprache auf dieses Thema gekommen.

„Also bedeutet es dir gar nichts, dass ich deiner Bitte, dir zu helfen, sofort gefolgt bin? Ich habe in Göteborg immerhin alles stehen und liegen lassen, um dir hier zur Hand zu gehen!“

„Es ist deine Entscheidung. Wenn du nicht bleiben willst, musst du eben wieder gehen. Ich finde schon einen anderen Ersatz.“ Mit diesen Worten und einem unwirschen Kopfschütteln griff er zu seinen Krücken, stand mühsam auf und machte sich daran, die Küche zu verlassen. „Wenn du doch bleiben willst, steh bitte morgen zeitig auf. Es gibt einiges zu tun.“

Fassungslos starrte sie ihrem Vater hinterher, wie er aus der Küche humpelte.

Das war alles? Mehr hatte er ihr nicht zu sagen?

Sie trat ans Fenster und blickte regungslos nach draußen, ohne jedoch wirklich etwas von dem Ausblick, der sich ihr bot, wahrzunehmen. Sie fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen. Was war bloß mit ihrem Vater los? Sie war seiner Bitte in dem festen Glauben gefolgt, dass er ihren Einsatz zu würdigen wusste. Die Tatsache, dass er jetzt derart mit ihr umsprang, machte sie wütend. Ja, am liebsten hätte sie jetzt einfach auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre wieder nach Hause gefahren! Andererseits war sie nicht nur wegen ihres Vaters hergekommen, sondern auch ihretwegen. Um sich darüber klar zu werden, wie es mit ihrem Leben weitergehen sollte.

Dennoch – so würde sie auf keinen Fall mit sich umspringen lassen!

„Nimm es ihm nicht übel, Hanna. Dein Vater weiß offenbar im Moment nicht, was er sagt und tut.“

Erschrocken fuhr Hanna herum, als sie die weibliche Stimme hinter sich vernahm. Sie hatte niemanden in die Küche kommen hören und war auch nicht davon ausgegangen, noch jemand anderen als ihren Vater im Haus anzutreffen. Jetzt blickte sie in das freundliche Gesicht einer älteren Frau. Das ehemals blonde, nun stark ergraute Haar war wie beinah immer zu einem lockeren Zopf im Nacken zusammengebunden. In den eisblauen Augen spiegelte sich neben unverkennbarer Wiedersehensfreude auch tiefe Besorgnis wider.

„Malin? Bist du es wirklich? Du meine Güte, was freue ich mich, dich zu sehen!“ Strahlend trat Hanna auf die ältere Schwedin zu und schloss sie herzlich in die Arme. Einen Augenblick verharrten die beiden Frauen so, und wieder einmal wanderten Hannas Gedanken zurück in die Vergangenheit. Sie musste daran denken, wie oft sie zusammen mit Malin hier in der Küche gestanden hatte. Nach dem Tod ihrer Mutter war die Haushälterin immer für sie da gewesen. Anders als ihr Vater, der sich in seine Arbeit vergraben und sich damit aus der Affäre gezogen hatte.

Schließlich löste sie sich von Malin und sah sie fragend an. „Nun sag schon – was machst du hier? Ich dachte, du lebst schon seit ein paar Jahren bei deinem Sohn in Uppsala.“

„Das stimmt eigentlich auch – aber als der Anruf von deinem Vater kam …“

„Er hat dich auch um Hilfe gebeten?“

Die ältere Schwedin nickte. „Als ich hörte, was passiert ist und dass er Hilfe im Haushalt benötigt, habe ich mich sofort auf den Weg gemacht.“

„Aber er hat dich hoffentlich nicht so empfangen wie mich gerade, oder? Ich …“

„Nimm es ihm nicht übel, min älskling. Dein Vater ist im Moment nicht er selbst. Es … Es nimmt ihn sehr mit, weißt du?“ Ihre Miene hellte sich auf. „Aber jetzt setz dich erst mal! Ich koche uns einen schönen Kräutertee, und dann sprechen wir über alles, was meinst du?“ Hanna überlegte kurz, dann nickte sie. Die Aussicht darauf, wie früher mit Malin am Küchentisch zu sitzen, ließ zum ersten Mal so etwas wie ein heimeliges Gefühl in ihr aufkeimen.

„Ich hatte keine Ahnung, dass es ihn so sehr mitgenommen hat“, sagte Hanna zehn Minuten später, als sie am Küchentisch saß und begann, sich langsam ein wenig zu entspannen. „Ich meine, am Telefon war er ganz sachlich und …“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ehrlich gesagt hätte ich mit einem ganz und gar anderen Empfang gerechnet.“

Malin, die gerade den Kessel vom Herd nahm und anfing, das heiße Wasser in zwei Tassen zu gießen, nickte. „Ich bin ja auch erst seit zwei Tagen hier, und ich war ebenfalls nicht darauf gefasst, was mich erwartet.“ Nachdem sie den Kessel abgestellt hatte, drehte sie sich zu Hanna um und nickte langsam. „Erst dachte ich, es liegt nur an diesem unsäglichen Unfall. Und daran, dass der Doktor eben fürs Erste nicht mehr so praktizieren kann, wie er es gewohnt ist. Doch schnell wurde mir klar, dass es eben nicht nur das ist.“

Überrascht runzelte Hanna die Stirn. „Sondern?“

„Na ja.“ Malin zuckte mit den Achseln, stellte die beiden Tassen mit dem dampfenden Tee auf den Tisch und setzte sich ebenfalls. „Dein Vater ist jetzt sechsundsechzig. Der Unfall neulich war ein dummes Missgeschick, aber darum geht es nicht allein. Auch generell hat der Doktor einige gesundheitliche Probleme. Er ist nicht mehr der Schnellste, ist rasch außer Atem, sein Rücken macht ihm zu schaffen … kurz: Er ist halt nicht mehr der Jüngste. Und das weiß er. Deshalb ist ihm auch klar, dass er seinem Beruf nicht mehr allzu lange wird nachgehen können. Zumindest nicht allein. Das erklärt auch seine Stimmung. Dein Vater fühlt sich alt, Hanna. Alt und nutzlos. Leider ein weitverbreitetes Phänomen, gerade bei Männern, die ihr Leben lang beruflich stark aktiv gewesen sind.“

„Das war mir überhaupt nicht klar.“ Hanna nickte langsam, nahm ihre Tasse auf und trank vorsichtig von dem heißen Tee, der ihr wohltuend die raue Kehle hinunterrann. Sofort spürte sie die belebende Wirkung der Kräuter – sie schmeckte Melisse und Thymian heraus. „Natürlich war mir bewusst, dass auch mein Vater älter wird und seinen Beruf nicht ewig wird ausführen können. Aber davon, dass er mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hat, hatte ich keine Ahnung.“

Malin lächelte milde. „Wie auch? So viel Kontakt habt ihr ja auch nicht gerade, oder?“

Hanna senkte den Blick, als sie spürte, wie sich ihr schlechtes Gewissen meldete. Es stimmte: Sie hatte sicher weitaus weniger Kontakt zu ihrem Vater, als es normal sein sollte. Zum einen lag das natürlich an der Entfernung, aber vor allem wohl daran, dass das Verhältnis zwischen ihnen keineswegs intakt war. Zum ersten Mal fragte sie sich, ob es damals egoistisch von ihr gewesen war, einfach fortzugehen. Aber konnte man es wirklich egoistisch nennen, wenn eine junge Frau ihren Heimatort verließ, um ihr Leben so zu leben, wie es ihr vorschwebte, auch wenn ihr Vater damit nicht einverstanden war? Sicher, auch er hatte es nach dem Tod ihrer Mutter nicht leicht gehabt, aber dennoch … jeder Mensch musste die Möglichkeit haben, sich seine Zukunft nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten.

„Versteh mich bitte nicht falsch, Hanna“, sprach Malin, die ihre Gedanken zu erraten schien, weiter, „ich wollte damit nicht sagen, dass du dir irgendwelche Vorwürfe machen musst oder dass du etwas falsch gemacht hast. Denn das hast du natürlich nicht. Du hast Entscheidungen gefällt, die dein Leben betreffen, und das ist dein gutes Recht. Es ist nur …“ Sie seufzte leise. „Dein Vater ist nie darüber hinweggekommen, dass du damals fortgegangen bist. Es war wohl immer sein Wunsch gewesen, dass du hierbleibst, wo du geboren und aufgewachsen bist, und wahrscheinlich …“ Sie stockte.

„Ja?“

„Nun, wahrscheinlich hat er auch immer gehofft, dass du eines Tages in seine Fußstapfen trittst.“

„In seine Fußstapfen? Ich?“ Erstaunt blickte Hanna auf. So etwas hatte er nie angedeutet. „Aber ich …“ Sie runzelte die Stirn. „Wie hätte er sich das denn vorgestellt? Ich meine, auch dann hätte ich studieren und Vaxholm erst mal verlassen müssen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Das hätte nie funktioniert. Ich wollte damals unbedingt fort von hier. Schon vor Mammas Tod hat mich die Einsamkeit und Einöde hier eingeengt, aber später … Ich musste einfach hier raus, hatte das Gefühl zu ersticken. Ich wollte Ärztin werden, ja. Und das bin ich auch geworden. Aber daran, eines Tages in seine Fußstapfen zu treten und Schärenärztin zu werden, habe ich nie gedacht.“

„Dein Vater aber sehr wohl. Deshalb hat er dich auch angerufen.“

Hanna hob eine Braue. „Du meinst, er …“ Sie schüttelte den Kopf. „Mir hat er gesagt, dass er für ein paar Wochen Hilfe braucht.“

„Das stimmt ja auch. Aber eine Vertretung hätte er problemlos auch anderweitig bekommen.“

„Soll das heißen, er spekuliert darauf, dass ich hierbleibe? Für immer?“

„So sehe ich das, ja. Und er scheint wohl gehofft zu haben, dass du das auch gleich von dir aus anbietest. Da du das aber nicht getan hast, hat sich seine Laune noch mehr verschlechtert.“

Hanna fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Darauf, dass ihr Vater denken könnte, sie würde für immer hierbleiben und seine Nachfolge antreten, wäre sie im Traum nicht gekommen. Welch ein Unsinn! Sie war schließlich nicht ohne Grund aus Vaxholm fortgegangen. Und selbst wenn es sie jetzt auch nicht nur wegen des Unfalls ihres Vaters hierher zurückgezogen hatte, so bedeutete das noch lange nicht, dass sie mit dem Gedanken spielte, endgültig zurückzukehren. Sie war davon überzeugt, nach wie vor nicht für das Inselleben geboren zu sein. Es gab Menschen, die sich hier wirklich wohlfühlten, so wie ihr Vater. Doch Hanna gehörte nicht dazu, und daran würde sich auch künftig nichts ändern.

Zwar konnte sie sich inzwischen durchaus vorstellen, eines Tages der Großstadt den Rücken zu kehren, auch wenn das bedeutete, dass sie in einem Provinzkrankenhaus würde arbeiten müssen. Aber auf den Schären zu leben? Das war wirklich keine Option für sie.

„Nein“, sagte sie, ohne sich wirklich bewusst zu sein, dass sie ihre Worte laut aussprach, „das kommt nicht infrage. Ich werde weder hierher zurückkehren noch wird aus mir eine Schärenärztin. Niemals!“

„Du machst dir große Sorgen um sie, nicht wahr?“

Lennart blickte auf, als Ulla, seine Schwiegermutter, hinaus auf die Veranda trat. Es war später Abend, und er saß jetzt schon seit über einer Stunde in der Hollywoodschaukel, in der er schon so manchen Abend damit verbracht hatte, einfach nur hinauf aufs Wasser zu schauen und die Sterne am Himmel zu beobachten.

Die Schaukel, in der sie schon so manchen Abend verbracht hatten.

Lena und er.

Gemeinsam, dicht aneinandergeschmiegt, ihr Kopf an seiner Brust …

Er erinnerte sich daran, wie er oft noch sitzen geblieben war, als sie schließlich ins Bett ging. Nicht selten hatte er dann die Zeit vergessen und hätte wohl die ganze Nacht hier draußen verbracht, wenn Lena nicht irgendwann wieder aufgetaucht wäre.

„Komm doch auch ins Bett“, hatte sie dann gesagt. „Ich möchte nicht, dass du hier draußen schläfst. Allein, ohne mich …“

Rasch schüttelte er den Gedanken ab und blickte seine Schwiegermutter an, die sich ihm gegenüber auf eine schmale Holzbank am Geländer der Veranda setzte. Im Schein des Mondes konnte er ihr Gesicht gut erkennen, und wieder fiel ihm auf, wie ähnlich Lena ihrer Mutter gewesen war.

Ein Grund, weshalb er es für gewöhnlich vermied, Ulla direkt anzublicken. Die Erinnerungen, die dann jedes Mal auf ihn einstürzten, wollte er viel lieber verdrängen, was ihm allerdings ohnehin kaum gelang.

Dennoch senkte er auch jetzt gleich wieder den Blick und starrte stattdessen auf seine im Schoß gefalteten Hände.

„Du meinst Maja?“ Er schüttelte den Kopf. „Natürlich mache ich mir Sorgen um sie, was denkst du denn? Welcher Vater würde sich wohl keine Sorgen machen, wenn seine sechsjährige Tochter seit einem Jahr nicht mehr …“ Er stockte, und statt weiterzusprechen, seufzte er tief. „Ich habe wirklich alles versucht, Ulla. Ich war mit Maja bei verschiedenen Ärzten, Spezialisten, Psychologen …“

„Ich weiß ja, ich weiß“, versuchte seine Schwiegermutter ihn zu beruhigen, als ihm erneut die Stimme versagte. Sie beugte sich vor und legte ihre Hand auf seine. „Und ich mache dir beileibe keine Vorwürfe. Aber vielleicht haben die Ärzte tatsächlich recht, und wir müssen ihr einfach Zeit geben. Zeit, um mit dem schlimmsten Erlebnis, das einem Kind widerfahren kann, fertigzuwerden. Um es zu verarbeiten. Kinder trauern anders als Erwachsene“, sagte Ulla sanft. „Überhaupt trauert jeder Mensch anders.“

Er hob den Blick und sah seine Schwiegermutter mit einer Mischung aus Bewunderung und Irritation an. „Ich begreife nicht, wie du das kannst“, sagte er.

„Wie ich was kann?“

Er zuckte mit den Achseln. „So stark sein. Ich meine, für eine Frau, die gerade erst vor einem Jahr ihre einzige Tochter verloren hat …“ Er hob die Hand. „Bitte, versteh mich nicht falsch, das soll kein Vorwurf sein, es ist nur … Ich könnte das nicht. Ich kann es nicht. Jedes Mal, wenn ich an den Tag denke, an dem Lena …“ Wütend ballte er die rechte Hand zur Faust. „Es ist alles so ungerecht! Warum Lena? Warum nicht ich? Ein Kind braucht seine Mutter!“

„So darfst du nicht denken. Ich weiß, es fällt schwer. Glaub mir, auch ich hätte mein Leben für Lena gegeben. Aber es ist nun einmal so, wie es ist. Das ist es wohl, was man Schicksal nennt. Und jetzt werden wir alle lernen müssen, damit zu leben. Du und ich, Lennart, wir werden damit zurechtkommen müssen. Allein schon Maja zuliebe. Sie braucht uns jetzt, das dürfen wir nie vergessen.“ Sie atmete hörbar ein. „Und deshalb ist es auch gut, dass wir hergekommen sind. Du sagst doch selbst, dass sich Maja immer sehr wohlgefühlt hat, wenn ihr die Ferien hier verbracht habt. Und ich glaube, hier fühlt sie sich ihrer Mutter näher als zu Hause in Göteborg. Also lass uns abwarten und versuchen, ihr eine möglichst unbeschwerte Zeit zu ermöglichen, was meinst du?“

Lennart nickte. „Ja, das sollten wir tatsächlich“, pflichtete er ihr bei.

„Und du solltest jetzt auch schlafen gehen, Lennart“, sagte Ulla und erhob sich, um zurück ins Haus zu gehen. „Es ist schon spät. God natt.

„God natt“, rief Lennart ihr nach. Natürlich wusste er, dass seine Schwiegermutter recht hatte. Seine Tochter brauchte ihn jetzt mehr denn je, und er musste alles dafür tun, damit sie eine möglichst schöne Zeit hatte.

In einem Punkt musste er Ulla jedoch widersprechen: Das, was ein Jahr zuvor mit seiner Frau passiert war, hatte mit Schicksal nichts zu tun, sondern einzig und allein mit dem Versagen der Ärzte. Der Ärzte, die seiner kleinen Tochter die Mutter genommen hatten. Und die somit dafür verantwortlich waren, dass Maja in den vergangenen zwölf Monaten kein einziges Wort mehr gesprochen hatte.

2. KAPITEL

Als Hanna am nächsten Morgen erwachte, fiel goldenes Sonnenlicht durchs Fenster, kitzelte sie in der Nase und wärmte ihr das Gesicht. Leicht geblendet, schloss sie gleich wieder die Augen.

Im ersten Moment glaubte sie, sich wie immer in ihrem gemeinsamen Apartment mit Jan-Fredrik in Göteborg zu befinden, doch dann fiel ihr auf, wie ruhig es war. Kein Straßenlärm, keine Geräusche aus den Wohnungen nebenan waren zu hören, nur leises Vogelgezwitscher. Erneut öffnete sie die Augen, richtete sich auf, und ihr Blick fiel auf ihre alte Kinderzimmereinrichtung.

Ihr Vater hatte nach ihrem Fortgehen alles unverändert gelassen. Sie lag in demselben weißen Himmelbett, in dem sie schon als Mädchen geschlafen hatte. An der Wand hingen die Bilder ihrer Jugendidole, und im Schrank befanden sich sogar noch einige ihrer alten Kleider. Warum ihr Vater sie aufgehoben hatte, wusste sie nicht.

Erst jetzt erinnerte sie sich an die Ereignisse des vergangenen Tages. Ihre Ankunft auf der Schäreninsel, auf der sie geboren und aufgewachsen war, das Wiedersehen mit ihrem Vater und Malin …

Ihr Vater … Hanna seufzte, als sie daran zurückdachte, wie abweisend er sich ihr gegenüber verhalten hatte. Sie hätte sich den Empfang hier wirklich etwas herzlicher vorgestellt. Und auch dankbarer. Immerhin war sie hier, um ihrem Vater zu helfen. Auf seine Bitte hin. Zwar war er beim späteren Abendessen schon etwas gesprächiger gewesen, und es hatte auch keinen Streit gegeben, dennoch ließ er seine Tochter deutlich spüren, dass er alles andere als zufrieden war.

Ob es wirklich stimmte, was Malin dachte? Dass er Hanna in Wahrheit vor allem hier haben wollte, um sie dazu zu bringen, für immer in Vaxholm zu bleiben und seine Nachfolge anzutreten?

Sie schüttelte den Kopf. Das konnte er doch nicht ernsthaft in Betracht ziehen! Sie hatte ihm niemals auch nur den kleinsten Grund gegeben, auf so etwas zu hoffen. Schon allein deshalb nicht, weil sie selbst zu keinem Zeitpunkt ihres Lebens auch nur einen Gedanken daran verschwendet hatte, eines Tages ihr Geld als Schärenärztin zu verdienen.

Seufzend warf sie einen Blick auf den Wecker, der auf ihrem Nachttisch stand und anzeigte, dass es kurz vor sieben war. In wenigen Minuten hätte er losgeschrillt. Hanna war froh, eher und vor allem sanfter geweckt worden zu sein. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie sehr sie es gehasst hatte, von dem Wecker, der noch aus ihrer Jugendzeit stammte, aus dem Schlaf gerissen zu werden.

Rasch stellte sie ihn ab, blieb aber noch einen Moment sitzen. Kurz überlegte sie, Jan-Fredrik anzurufen, verwarf den Gedanken jedoch schnell wieder. Am Vortag nach dem Abendessen hatte sie mehrmals versucht, ihn zu erreichen, allerdings war zu Hause nur der Anrufbeantworter angesprungen, und ans Handy war er auch nicht gegangen. Schließlich hatte sie es aufgegeben und ihm eine kurze SMS geschickt, um ihm mitzuteilen, dass sie gut in Vaxholm angekommen war. Eine Antwort darauf bekam sie nicht.

Sie war dann recht spät ins Bett gegangen, hatte vorher noch ihr Gepäck aus dem Wagen geholt, sich in ihrem alten Zimmer eingerichtet und auch noch einen kleinen Abendspaziergang unternommen, um den Kopf freizubekommen. Doch wirklich funktioniert hatte es nicht; immer wieder hatte sie an Jan-Fredrik und ihren unschönen Abschied voneinander denken müssen. Dass er offenbar nicht mit ihr sprechen wollte, hatte ihre Stimmung noch mehr gedrückt. Sie sollte die Zeit hier auf der Schäreninsel wirklich nutzen, um ein wenig nachzudenken. Über Jan-Fredrik, sich selbst und ihre Beziehung.

Und vor allem auch über die Sache damals.

Dass sie dabei geholfen hatten, ein schreckliches Unrecht zu vertuschen.

Ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, blitzten wieder die Bilder vor ihrem geistigen Auge auf. Die Bilder aus der Vergangenheit …

Damals …

„Du musst die Blutung endlich in den Griff bekommen“, warnte sie den Chirurgen.

„Ja, verdammt! Glaubst du, das weiß ich nicht selbst? Sauger!“, herrschte er die Schwester an. „Wird’s bald?“

Hanna zuckte zusammen, als das Warnsignal erklang, das einen lebensbedrohlichen Status der Vitalwerte anzeigte.

„Sie schockt“, sagte Hanna. „Soll ich nicht doch Dr. Martensen rufen?“

„Ich sagte Nein!“ Jan-Fredrik arbeitete verbissen. Er hatte die durch den Unfall geschädigte Arterie jetzt endlich gefunden und versuchte, die Blutung zu stillen.

Jedoch ohne großen Erfolg.

„Sauerstoffsättigung des Blutes sinkt“, informierte ihn Hanna, die jetzt selbst anfing, nervös zu werden.

Was sollte sie tun? Sich über Jan-Fredriks eindeutige Anweisung hinwegsetzen und nach Dr. Martensen schicken?

Kurz schloss Hanna die Augen. Das Leben der Patientin war in Gefahr, und sie konnte nicht so tun, als ginge sie das nichts an. Wenn Jan-Fredrik hinterher wütend auf sie sein wollte – bitte sehr, das war sein Problem. Aber sie würde die junge Frau, deren Leben in ihren Händen lag, nicht einfach so sterben lassen, weil Jan-Fredrik zu stolz war, um Hilfe anzunehmen!

Kurz entschlossen zog sie den Mundschutz herunter. „Ich werde jetzt …“

Sie kam nicht mehr dazu, den Satz zu Ende zu bringen, denn in dem Moment ertönte der Laut, vor dem Hanna sich schon die ganze Zeit gefürchtet hatte.

Ein langer, schriller Ton.

Nulllinie.

Mit einem leisen Aufschrei kehrte Hanna ins Hier und Jetzt zurück. Sie hörte ein leises Klingeln, das sie erst gar nicht zuordnen konnte, bis sie es als den Rufton ihres Handys identifizierte, das auf ihrem Nachttisch lag.

Jan-Fredrik! schoss es ihr sofort durch den Kopf, und rasch nahm sie das Mobiltelefon auf. Doch ein Blick aufs Display genügte, um zu erkennen, dass sie sich geirrt hatte.

Bei dem Anrufer handelte es sich nicht um ihren Lebensgefährten, sondern um Louisa.

Hej, Süße“, meldete Hanna sich, sobald sie den Anruf angenommen hatte. „Hattest du Nachtschicht und kommst gerade von der Arbeit, oder wieso rufst du so früh an?“

„Hätte ich Nachtschicht gehabt, wäre ich jetzt wohl kaum ansprechbar“, scherzte Louisa. „Aber im Ernst: Ich war nicht auf der Arbeit, ich muss gleich erst los. Und deshalb wollte ich vorher meine beste Freundin anrufen und mich erkundigen, wie es ihr ergangen ist. Bist du gut angekommen in Vaxholm?“

„Mehr oder weniger.“ Hanna seufzte. „Eigentlich schon, es ist nur … Ach, mein Vater hat halt nicht gerade Luftsprünge gemacht, weil er sich so gefreut hat, mich wiederzusehen. Und das nicht nur wegen seines verletzten Beins“, fügte sie hinzu.

„Wie bitte? Aber er wollte doch, dass du kommst. Nur seinetwegen bist du doch überhaupt gefahren!“

„Sicher, und natürlich möchte er auch nach wie vor, dass ich ihm helfe, aber … Ach, Pappa ist halt so, was soll ich sagen? Aber hör mal, würde es dir was ausmachen, wenn ich dich die Tage wieder anrufe? Wir wollen nämlich gleich zu den Patienten raus, und …“

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