×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Die Schönheit des Kreisverkehrs«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Die Schönheit des Kreisverkehrs« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Die Schönheit des Kreisverkehrs

"Der Kreisverkehr ist das neue Wahrzeichen des Lebensgefühls in Frankreich." So lautet der Slogan der Firma, für die Joaquin arbeitet – als Spezialist für die Gestaltung der Kreismitte. Zu einem Kundentermin auf dem Land muss er die undurchsichtige Firmenberaterin Vivienne mitnehmen. Während der Fahrt stellt sich heraus, dass beide voreinander etwas verheimlichen: Vivienne ihren Auftrag, Joaquin seine Krankheit, Diabetes – und seine akute Unterzuckerung. Die simple Geschäftsreise verwandelt sich in einen irrwitzigen, ungewöhnlichen Roadtrip durch die französische Provinz, und bald bahnt sich zwischen dem unwahrscheinlichen, ungleichen Paar eine Liebesgeschichte an.
  • Erscheinungstag: 20.02.2017
  • Seitenanzahl: 176
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312010301
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Über das Buch

Joaquin Reyes hat Diabetes. Er hält es geheim, aus Angst, seinen Job zu verlieren, als nicht hundertprozentig einsatzfähig irgendwann auf die Abschussliste zu kommen. Nun muss er aufs Land, um vor einem Gemeinderat seinen Entwurf vorzustellen. Mit dabei: Vivienne Hennessy, Beraterin aus dem Hauptsitz in Paris. Was genau ihr Auftrag ist, wird ihm nicht klar. Die unterkühlte und elegante Vivienne lässt sich nichts entlocken. Ungerührt verzögert sie die Reise, nimmt die Landstraße, besichtigt den Kreisverkehr en route und legt Kaffeepausen ein. Joaquin versucht indessen verzweifelt, seinen Unterzucker zu verbergen und erfindet ständig Ausreden für die Bürgermeisterin, um die wachsende Verspätung zu erklären. Bald keimt zwischen Joaquin und Vivienne eine merkwürdige Anziehung.

Für meinen Bruder Olivier,
den einzigen, den besten.

Ich bin im Leben fürs Abhauen.

Arletty

1 Sie stehen reglos da und warten. Zwei Männer allein in einem Hof. Auguste Cheminot vermittelt mit seiner entschlossenen Miene den Eindruck, Herr der Lage zu sein, genau wie die griechischen Götter aus rotationsgeformtem Plastik, die am Eingang des Unternehmens darauf hinweisen, dass Savinco B.T.P. in seinen Erzeugnissen der Kunst einen hohen Stellenwert beimisst. Joaquin Reyes hingegen hat nicht mehr die Kraft, auf irgendetwas hinzuweisen. Die Angst sitzt ihm im Nacken. Eine gewisse Vivienne Hennessy, das Objekt des Wartens, hat angerufen, um zu sagen, sie habe soeben die Autobahn verlassen und werde im nächsten Moment da sein. Wie lange dauert ein Moment? Die Reglosigkeit macht ihn schwindelig, die Leere höhlt ihn aus, er fürchtet, gleich zusammenzubrechen. Um sich zu beruhigen, dreht er eine zaghafte Runde um ein ovales, von weißen Kieseln umrandetes Wasserbecken. Stimmt was nicht, Joaquin? Er reißt sich zusammen, kehrt hastig atmend auf den Platz zurück. Sie muss gleich da sein, sagt Cheminot. Die Zeit ein einziger Block des Wartens. Gleichmütig sondert sie die Sekunden ab, elf Uhr achtundzwanzig, neunundzwanzig, dreißig. Auf der Route de Vienne noch immer kein Wagen, der vom Verkehrsfluss ausschert, in die Kurve zum Privatgelände des Unternehmens einbiegt. Elf Uhr zweiunddreißig. Gestern hat der Hauptsitz von Paris mitgeteilt, Joaquin werde auf seiner Geschäftsreise von einer eigens dafür abgeordneten Marketingberaterin begleitet. Er hatte sofort eine Falle gewittert und Cheminot, den Projektleiter, vorsichtig darauf angesprochen, der nur mit den Schultern zuckte. Es geht bei Ihrem Projekt doch bloß um einen Kreisverkehr, Savinco hat schon Hunderte davon gebaut.

«Wozu schicken sie dann eine Beraterin?»

«Es war ihre Idee. Sie möchte aufs Terrain.»

Der Termin mit dem Gemeinderat von La Virote, einer Agglomeration im Département Drôme von zwölfhundert Seelen, sieben Kilometer von Montélimar, ist auf fünfzehn Uhr angesetzt. Falls Vivienne Hennessy in den nächsten Minuten da ist, wird der Tag seinen normalen Gang nehmen. Eineinhalb Stunden Autobahn, Mittagspause, Sitzung. Elf Uhr drei. Falls sie sich noch weiter verspätet, ist es gelaufen. Joaquin entfernt sich zwei Meter, atmet tief durch, kehrt zurück. Sie muss sich nach der Autobahn verfahren haben, sagt Cheminot versöhnlich. Warum hat die blöde Kuh nicht den Zug genommen? Der Tag wäre einer vollkommenen Partitur gefolgt. Elf Uhr dreiundvierzig. Eine Handvoll Arbeiter überquert den Parkplatz, steigt in einen blauen Kleinlaster. Der Motor springt an, die Räder drehen, das Fahrzeug bringt sie weit von der Warterei weg. Sie hat auf den AB gesprochen, sagt Cheminot.

Das Unternehmen Savinco hat vor einem Monat seinen Gründer Jean Bourdeilles verloren. Seine Tochter Theresa, die rechte Hand des Patriarchen und mutmaßliche Erbin, ist auf der Stelle in die Filiale von Feyzin gereist, um die erregten Gemüter zu beschwichtigen. Auf einer Versammlung, zu der sämtliche Angestellte des Unternehmens eingeladen waren, legte sie in groben Zügen das geplante Umstrukturierungsprojekt dar, das gleichzeitig die Eröffnung neuer Märkte und die Schließung mehrerer Filialen in der Provinz vorsah. Die von Feyzin gehörte nicht dazu, es waren nur ein paar Anpassungen vorgesehen, die keine großen Auswirkungen auf die Belegschaft haben sollten. Eine Rede, die mit einer Schweigeminute zum Gedenken an Jean Bourdeilles endete und die Sorgen des Personals nicht gerade gemindert hat. Erst recht, da in den folgenden Tagen ein Beraterteam aus Paris auftauchte, das überall beriet, in den Büros, den Gängen, Toiletten, rund um die Uhr, schwarz gekleidet und mit breitem Lächeln, ein Heer vergnügter Totengräber, denen Joaquin vorsichtig aus dem Weg ging. Die Gestaltung des Drômer Kreisverkehrs stellt für ihn eine außergewöhnliche Beförderungsmöglichkeit dar, und er hat nicht vor, sich durch Flurgerüchte aus dem Konzept bringen zu lassen.

Nur wenige wissen, welch gewaltigen Schritt nach vorn der Kreisverkehr für die Straßenverkehrsregulierung bedeutet hat. Er erlaubt es, die Funktionsstörungen durch die Kreuzungen zu vermeiden, Hindernisse, die die Automobilisten zwingen, die Geschwindigkeit zu reduzieren. So banal ist das. In Frankreich zählt man nicht weniger als vierzigtausend Kreisverkehre, absoluter Weltrekord. Das ist nicht weiter erstaunlich, wenn man weiß, dass es sich dabei um eine französische Erfindung handelt, die Eugène Hénard zu verdanken ist. Dieser Pariser Städteplaner hatte 1906 die Idee, die Place de l’Étoile in einen Kreisverkehrsplatz umzuwandeln, um das Aufeinandertreffen der zwölf darauf zulaufenden Straßen zu vereinfachen. Der Arc de Triomphe in der Mitte der Anlage wurde damit zur weltweit ersten Dekoration eines Kreisverkehrs. In der Zwischenzeit ist auf den Mittelinseln eine beeindruckende Anzahl weiterer Werke entstanden: Dinosaurier jeder Art, Rebstöcke, Gottesanbeterinnen, Riesennägel, fliegende Untertassen, Cromagnonmenschen, aufeinandergestapelte Stühle, Wasserhähne, Straßburger Würstchen und weiterer Küchenplunder mehr. Die Gestaltung eines Verkehrskreisels ist für die Existenz einer Gemeinde von wesentlicher Bedeutung, führt sie dem Besucher doch einen starken symbolischen Ausdruck ihrer tiefsten Seele vor Augen.

Mittag. Ein alter grüner Mercedes rollt, kraftvoll und verstaubt, in den Hof. Argwöhnisch sehen die beiden Männer ihm beim Parken zu. Eine Frau steigt aus, sehr groß, spindeldürr, die blonden Haare kurz und wirr, abgenutzte Leinenhose, T-Shirt aus weißer Baumwolle, grauer Schal um den Hals.

«Ich glaube, Sie warten auf mich.»

Sie streckt ihnen eine lange, kühle Hand entgegen, ohne die schwarze Brille abzunehmen. Cheminot findet in seinem Verhaltensrepertoire nicht das Passende, entscheidet sich für eine von Vorsicht durchsetzte Höflichkeit, die schlecht zu seiner ungehobelten Art passt. Vivienne Hennessy steckt sich mit einem goldenen Feuerzeug gleichgültig eine Zigarette an und verliert sich in der Betrachtung der Gebäude, den rechten Arm gebeugt, das linke Bein vorgestreckt. Eine große Hieroglyphe am Himmel, denkt Joaquin. Unentzifferbar.

«Ich würde gern die Firmenräumlichkeiten besichtigen.»

Cheminot führt die Besucherin ins Haus. Abfahrt verschoben, Essen verspätet, Sitzung vermasselt. Der Gang durch sämtliche Gebäude kostet sie eine ganze Stunde. Sie bleibt in jedem Stockwerk, auf jeder Türschwelle stehen und begrüßt jeden, der ihr über den Weg läuft, Architekten, Bauleiter, Erdarbeiter, mit nervenaufreibender Freundlichkeit und bekundet ein geradezu manisches Interesse für den Getränkeautomaten im zweiten Stock, die Lampen des Planungsbüros und die in Schuppen drei aufgereihten Maschinen. Joaquins Angst ist zu einem Panzer geworden, er bewegt sich mit steifen Beinen und verspanntem Nacken.

Als die Inspektionstour zu Ende ist, setzt sich Vivienne Hennessy bei den Lagerhallen auf das Mäuerchen am Rasenrand, legt das linke Bein auf das rechte und steckt sich eine weitere Zigarette an. Diese Frau besitzt eine eisige, mineralische Grazie. Cheminot und er stehen da und warten, eine groteske Wiederholung der vorangegangenen Situation. Sie raucht ihre dicke, filterlose Zigarette zu Ende und geht dann auf den Mercedes zu. Joaquin und sie nehmen nebeneinander Platz, die Profile parallel. Als der Wagen sich in Gang setzt, macht Cheminot ein kleines Handzeichen, das Joaquin nicht erwidert.

«Ich habe die Nase voll von der Autobahn, wir bleiben auf der Nationalstraße.»

Eine freundlich distanzierte Stimme. Er weist höflich darauf hin, dass der Termin mit dem Gemeinderat von La Virote auf fünfzehn Uhr angesetzt sei. Und dass sie, da die N 7 oft überfüllt sei, über drei Stunden bis dahin bräuchten und keine Zeit zum Essen hätten. Sie fährt durch das Tor, beugt sich nach links vor, um die Straße zu sehen, und reiht sich in den Fluss der Fahrzeuge ein. Wenn sie die Nationalstraße nehmen, werden sie keine Zeit zum Essen haben, bevor die Sitzung beginnt. Sie antwortet nicht, hält den linken Arm aus dem Fenster und lässt die Hand hinunterbaumeln. Sie fährt ruhig, wie hinter einer Lasur, als bestünde ihr Leben seit je darin, Straßen herunterzuspulen, Stunden abzuhaspeln. Sie werden keine Zeit zum Essen haben. Schon spürt er ein vages Unwohlsein, ein leichtes Stocken seines inneren Mechanismus. Er könnte sich ein Stück Zucker aus seiner Jackentasche in den Mund stecken, aber die blonde Beraterin aus Paris mit den großen Füßen würde ihn unweigerlich über diese zumindest seltsame Geste ausfragen, ihm dann nach und nach sein Geheimnis entreißen und es an maßgeblicher Stelle weiterverbreiten: Der Landschaftsarchitekt Joaquin Reyes ist ein falscher Fuffziger, er hat in seinem Lebenslauf seine Diabetes verheimlicht, seine chronische Krankheit verschwiegen, die ihn arbeitsunfähig macht und mit einer Karriere bei Savinco inkompatibel ist. Er schätzt seine Widerstandskraft auf eine halbe Stunde ein, bevor die Unterzuckerung sich durch schleppendes Sprechen und eine komplette logische Inkohärenz bemerkbar machen wird. Eine halbe Stunde vor dem Untergang.

Die N 7 ist zwischen Feyzin und Vienne von Wiesen gesäumt. In der Ferne zeichnen ein paar Bäume den Verlauf eines Hügelkamms nach. Eine wahre, authentische Landschaft vor den Toren der Industriezone. Unmöglich jedoch, sich dem Geruch des Grases und dem zarten Septemberlicht zu überlassen. Sie fahren zu einem Arbeitstermin. Alles ist abgezählt, die Zeit zurechtgestutzt, der Sommer vorbei, Ende und aus.

Der Verkehr ist flüssig, worüber er sich wundert. Er schnappt einen Namen am Straßenrand auf. Notre-Dame-du-Limon. Und fängt augenblicklich von Feen an zu träumen, die sich in der Tiefe von Teichen verbergen, von den Mysterien des Urschlamms. Der Name Seyssuel hingegen erinnert ihn an die Grundbedürfnisse, wer weiß, warum. Bis in einer halben Stunde muss er Vivienne Hennessy zum Anhalten überredet haben, um etwas zu trinken, damit er seinen Zuckerspiegel anheben kann.

«Schöner Wagen. Ein Modell aus den Achtzigern, nicht?»

«Ja.»

«Sie müssen ihn gut gepflegt haben.»

Sie hat ihre Sandalen zum Fahren abgestreift. Ein Zeh des rechten Fußes scheint gebrochen zu sein, ist gekrümmt wie die Schere eines Skorpions. Eine lange feine Nase, unsichtbare Augen hinter der großen Brille. Sie antwortet, ohne ihn anzublicken.

«Überhaupt nicht. Ich kann Maschinen nicht ausstehen, all diese Schläuche, diese Getriebe, dieses Geschmiere. Ich kann diese Dinge nicht ausstehen. Im Grunde kann ich Dinge nicht ausstehen.»

Dieses brutale Statement setzt sich über sämtliche Kommunikationsregeln hinweg. Er antwortet nicht. Die Straße schlägt ihm ins Gesicht, vorbeipeitschende Autos, kreischende Hupen, Richtungsschilder, die durch ihre hohe Anzahl den Raum bei jeder Kreuzung zerstückeln. Das Leben eines Diabetikers ist das eines Seiltänzers. Alle anderen gehen auf einem stabilen Boden, nur er geht über ein Seil. Sein Gleichgewicht ist ständig bedroht, durch eine unerwartete Anstrengung, eine zu leichte oder zu schwere Mahlzeit, eine Emotion. Im Augenblick ist der Zuckerspiegel in seinem Blut wegen des verspäteten Essens im Sinken begriffen, wenn er nicht bald ein süßes Getränk zu sich nimmt, wird er bald zu nichts mehr zu gebrauchen sein.

Der Mercedes reißt mit ruhiger Gier die Kilometer herunter. Ein verlassenes Gebäude mit zerschlagenen Scheiben zieht vorbei, ein Café mit geschlossenen Holzfensterläden. Eine lange, leere, rot versiegelte Fläche, von einem Drahtzaun beschützt, ein verlassener Tenniscourt, die letzten Überreste einer eingegangenen Firma, der Parkplatz eines einst blühenden Hotels auf dem Weg in den Urlaub: Die Straße ist von einer unlesbar gewordenen Geschichte gesäumt. Vivienne Hennessy sagt nichts, sie transportiert wie ein exzentrischer Taxichauffeur ihren Mitfahrer, die nackten Füße auf den Pedalen, Zigarette im Mund. Sie hat ihm keine einzige Frage zu dem Projekt gestellt, das er dem Gemeinderat von La Virote präsentieren will. Er selbst hat das Thema nicht anzusprechen gewagt. Vienne, zehn Kilometer. Der Verkehr wird auf einmal dichter.

«Die Sitzung ist um fünfzehn Uhr?»

«Ja.»

«Wir werden uns verspäten. Wollen Sie sie anrufen?»

Er greift gereizt zum Telefon, sucht nach Worten, um Charlène Pégatelle, der Bürgermeisterin von La Virote, beizubringen, dass sie nicht vor sechzehn Uhr da sein werden. Diese wundert sich freundlich, dass sie die Nationalstraße genommen haben, er weiß nicht, was er darauf antworten soll, ein Schweigen breitet sich in ihm aus, der Zuckermangel hat einen kritischen Punkt erreicht, seine kognitiven Fähigkeiten beginnen zu schwinden. Die Autobahn ist gesperrt. Ein Erdrutsch. Ein Erdrutsch? Ja, Madame Pégatelle, ein Erdrutsch, es ist nicht unsere Schuld. Vivienne Hennessy wirft ihm einen erstaunten Blick zu, er legt auf.

In ausholenden Schlaufen windet sich die tief eingeschnittene Straße nach Vienne hinab. Ein Rotlicht am Stadteingang zwingt sie zum Anhalten. Links das Gebäude der nationalen Gendarmerie, geschlossen. Rechts die hohe Mauer eines glyzinienüberwachsenen Anwesens, Gittertor zu. Sobald die Ampel auf Grün schaltet, rasen die Wagen hangabwärts, prallen auf einen Stau und sind gefangen. Vivienne steckt sich eine Zigarette an, dreht sich zu ihm. Weißes, schwarzgestreiftes Gesicht, feine Lippen, tiefe Stimme.

«Ich war noch nie in Vienne, und Sie?»

Diesmal hat ihn der Treibsand der Hypoglykämie verschlungen, er denkt wirr Vienne, Vivienne, will sagen: Komm nach Vienne, Vivienne. Eine atemlose Joggerin läuft vorbei. Er braucht Zucker. Schnell. Was hat Vivienne ihn gefragt? Er lächelt auf gut Glück. Haltung bewahren. Er lächelt, so breit er kann. Ja, sagt er. Sie scheint etwas überrascht, wirft die Zigarette aus dem Fenster, wendet sich wieder der Straße zu. Wo wollen bloß all diese Leute hin?, fragt sie. Er unternimmt eine übermäßige Anstrengung, versucht, einen der vielen vorbeizuckenden Gedanken zu packen, schafft es nicht, schweigt. Nach und nach lösen sich die Wagen voneinander, der Verkehr kommt wieder ins Rollen und schiebt sie der Rhone zu. Trotz der Unterzuckerung spürt er Erleichterung. Die Straße muss irgendwohin führen, da sie den Fluss getroffen hat. Das grüne Wasser schwemmt in seiner weiten Flut die Hügel, Gärten, Fußgänger fort. Ein Kind in einem Auto drückt sein Gesicht an die Scheibe, ein runder Fisch, den die Bewegung verformt, mitgerissen. Einige hundert Meter später verlassen sie Vienne, verlassen auch den Fluss, Joaquin schließt kurz die Augen, driftet heimlich ab, von der Hypoglykämie überwältigt. Gleich wird er anfangen zu stottern, verloren sein, nur noch den Wunsch haben, sich hinzulegen, zu verschwinden. Rechtskurve, abrupter Stopp. Auf einem großen, zum Parkplatz umfunktionierten, mit Bäumen bepflanzten Gelände schlägt er die Augen auf.

«Wo sind wir?»

«An der Mautstelle von Roussillon. Ich brauche einen Kaffee.»

Sie schlüpft in ihre Sandalen, richtet sich auf. Unter großer Anstrengung kämpft er sich aus dem Auto und stellt fest, dass Vivienne ihn um einen halben Kopf überragt.

«Ich mag diese Niemandsländer», ruft sie ihm zu, während sie mit raschen Schritten die Straße hochgeht. «Sie tauchen auf, wenn man kommt, und verschwinden wieder, wenn man geht.»

Das Café ist leer bis auf einen nordafrikanischen Großvater, der steif auf seinem Stuhl sitzt, und seinen Enkel, der auf den Fernsehbildschirm starrt, einen roten Strohhalm im Mund. Ihre Gesichter schweben wie Ballons an unsichtbaren Fäden.

«Zwei Kaffees.»

«Nein, einen Obstsaft bitte», stößt er mit Mühe hervor.

«Orange, Grapefruit, Apfel, Banane, Erdbeer, Heidelbeer», zählt die Kellnerin auf.

«Banane», sagt er.

Vivienne hat ihre schwarze Brille auf den Tisch gelegt und schaut ihn an. Strenges Gesicht, eiskalte Augen.

«Joaquin, haben Sie spanische Wurzeln?»

Er bringt keine Antwort mehr zustande. Sein Hirn ist in ein Loch gefallen und hat sich mit dem Weltenschlamm vermengt. Er versucht nur noch, sein Gesicht gerade zu halten, wie man einen Kerzenständer hält. Die Nase in der Mitte. Mund darunter. Ein Auge links und das andere rechts. Sie wiederholt ihre Frage. Die Kellnerin stellt ein Glas und eine Flasche vor ihn hin, zitternd leert er den Inhalt der Flasche ins Glas, dann das Glas in seinen Mund.

Das Kind mit dem roten Strohhalm ist aufgestanden und hat sich dem Bildschirm genähert. Schwarze Figuren bewegen sich vor einem gelben Hintergrund. Vier weiße Stühle. Ein Tisch. Er hat inzwischen ein starres Lächeln zuwege gebracht. Der Obstsaft fließt durch seinen Magen, der Zucker des Fruchtsafts fließt in sein Blut, das Blut versorgt Gehirn, Organe und Muskeln damit.

Er hofft, dass er alles richtig gemacht, das Menschengesetz respektiert, sein Gesicht nicht falsch herum aufgesetzt, den Tisch nicht auf den Kopf gestellt, Kellnerin und Fernseher nicht verwechselt, die Zeiten der Weltkonjugation nicht durcheinandergeworfen hat.

«Joaquin, haben Sie spanische Wurzeln?»

«Meine Eltern kommen aus Spanien, aber ich bin in Frankreich geboren.»

Er würde am liebsten zu ihr sagen: Da bin ich wieder, ich kehre gerade aus einer einsamen Welt zurück, kehre zu meinen Brüdern zurück, mein Körper vibriert vor Freude und Erschöpfung, das ist meine Reise, ich komme und gehe die ganze Zeit, das weißt du nicht, du kennst nicht diese Leere, die konstant in mir lauert. Sie sieht ihn an. Davor ist ihr Gesicht nur ein Profil in Bewegung, ohne Vergangenheit, ohne Alter gewesen. Jetzt hat die Bewegung aufgehört und das Gesicht sich ihm zugewandt, etwas Eigenartiges, so ein Gesicht, dieses Gesicht, blass und bröckelig, ganz große, silberhelle Augen. Sie fragt: Aus welcher Gegend in Spanien? Murcia. Wo genau? Abanilla. Sie schüttelt den Kopf, kennt sie nicht. Er auch nicht, oder kaum. Sie möchte mehr darüber wissen, bohrt nach, nun ist er es, der den Kopf schüttelt, er kriegt seine Gedanken noch nicht ganz zusammen, er braucht noch ein paar Minuten. Ungeduldig steht sie auf, bezahlt am Tresen die Getränke, sie gehen hinaus. Die Straße schwankt ein wenig, er schafft es aber bis zum Wagen, sie steigen ein, und die Gesichter sind wieder parallel.

Babou, Conforama, Kirby, Go Sport, Planète Mode, unter Schutzdächern lange Schlangen von Einkaufswagen, Tanksäulen, von weißen Streifen abgegrenzte Parkplätze, Quadratkilometer organisierter Trostlosigkeit, die es Joaquin erlaubt, zu Atem zu kommen, seine Stimme wiederzufinden.

«Was glauben Sie, was an diesen Orten nachts los ist, wenn alle weg sind?», fragt Vivienne.

«Es ist vierzehn Uhr zweiundvierzig. Wir werden nicht um sechzehn Uhr in La Virote sein.»

Sie kommen an einem Schild vorbei mit der Ankündigung «Sie betreten die Drôme», dann an einem Verkehrskreisel mit ein paar Bäumen.

Mit siebzehn hatte Joaquin noch keine Verkehrskreisel im Kopf. Er hatte Mädchen im Kopf, Sex, die Nacht, das Geheimnis der Materie und den Tod, den sie zur Folge hat. Er besuchte das Gymnasium, las wenig, vögelte ein bisschen, nicht genug, träumte davon, mehr zu vögeln, schönere Mädchen zu besitzen, außergewöhnlichere als die, die sein Vorort zu bieten hat, wollte ein anderes, ein schöneres Leben, außergewöhnlicher als das, das für ein Immigrantenkind vorgesehen war, vielseitiger als das Berufsbeamtentum, von dem seine Eltern träumten. Joaquin fabrizierte kleine Maschinen, die zu nichts zu gebrauchen waren, komplizierte Radgetriebe, und sah sich bereits als Künstler. Während des Winters 1994 begann er plötzlich abzumagern. Eines Morgens verlor er im Bus auf dem Weg zum Gymnasium das Bewusstsein. Einweisung ins Krankenhaus, Untersuchungen. Der Arzt verkündete ihm, dass mit der Freiheit ein für alle Mal Schluss sei. Seine kranke Bauchspeicheldrüse gebe nicht mehr genug Insulin ab, um seine Nahrung zu verstoffwechseln. Er brauche von nun an täglich Spritzen und müsse seinen Blutzuckerspiegel regelmäßig kontrollieren. Bei dieser Gelegenheit lernte er, dass die Bauchspeicheldrüse eine körnige Masse ist, die zwischen Magen und Darm sitzt, in etwa vergleichbar mit einer ausgestreckten Zunge oder einem hängenden Penis.

Sobald er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, nahm er sein altes Leben wieder auf. Hielt sich an keine der Vorschriften. Ließ Mahlzeiten aus, spritzte sich, wenn es ihm einfiel, aß, was ihm schmeckte. Ein zweites Koma brachte ihn erneut ins Krankenhaus. Diesmal schlug der Arzt unmissverständliche Töne an. Er müsse die Krankheit annehmen, sie sich eingestehen. Es akzeptieren, einen neuen Körper zu bewohnen, ein unheimliches Mysterium aus Fibern und Blut. Sonst drohten ihm Blindheit, Amputation, Impotenz.

Er wurde zu einem wandelnden Taschenrechner.

Eine Stunde Gehen, zwei Einheiten Insulin weniger.

Eine verspätete Mahlzeit, ein Stück Zucker.

Ein süßes Häppchen, um das Essen abzuschließen, drei Einheiten Insulin mehr.

Die Angst ist seine einzige Leidenschaft geworden. Angst, zu viel zu essen, nicht genug zu essen, einen zu niedrigen oder zu hohen Blutzuckerspiegel zu haben, Angst vor einem Anfall, Angst davor, Angst zu haben.

Er entschied sich gegen das prekäre Leben eines Künstlers, schloss eine Fachausbildung zum Stadtplaner ab und bemühte sich seither nach Kräften, die urbane Landschaft mit einem Sammelsurium von Portikus und Bänken, Brunnen und Pissoirs zu bestücken. Seit zehn Jahren arbeitete er bei Savinco, wo niemand etwas von seiner Krankheit ahnte und wo niemand ahnte, dass er seine Arbeit nicht ausstehen konnte, bei der seine Kreativität ständig durch praktische Imperative erstickt wurde. Als Cheminot ihn mit der Gestaltung des Kreisverkehrs betraute, machte er sich sofort daran, ein Projekt zu skizzieren, das er schon lange mit sich herumgetragen hatte, eine Form, die endlich auf der Höhe seiner Wünsche wäre, obwohl Cheminot betont hatte, man müsse unbedingt das Treffen mit dem Gemeinderat abwarten, um für Vorschläge von Seiten des Kunden selbst offen zu bleiben.

Sie fahren in eine Agglomeration ein, deren Namen er nicht kennt, von der Straße in zwei Teile geschnitten, halbiert wie ein Apfel, und sie gleiten hinein ins urbane Fruchtfleisch. Beim Ausgang beschleunigt Vivienne, ein plötzlicher Ausreißversuch in die Landschaft, sie streifen die Obstplantagen, er jubelt, hat keinen Zuckermangel mehr, es mangelt ihm an gar nichts mehr, Euphorie, einfach am Leben zu sein. Hundert Meter weiter wird der Schwung von der Ampel und einer komplexen Kreuzung gebremst. Links ein grünes Schild: Valence, Romans.

Darunter, kleiner: Saint-Uze, Hauterives.

Rechts, auf weißem Schild: ZA Les Iles, ZI La Brassière.

«Meinen Sie nicht, wir könnten bei der nächsten Einfahrt die Autobahn bis Montélimar nehmen?», fragt Joaquin.

Sie raucht, den Ellbogen aufs Lenkrad gestützt. Es liegt etwas Besonderes und Beunruhigendes in ihrem Gesicht: kantige Züge, hohe Wangenknochen, perfekt gezeichnete Augenbrauenbögen, länglicher Kopf, abstehende Ohren. Sie blickt geradeaus, eine eigenartige, gedankenverlorene Fee. Die Ampel hat auf Grün geschaltet, die Straße entrollt Hügel, Obstplantagen, öde, nichtssagende Agglomerationen, Werbeschilder. Als Kind hatte er im August mit seiner Familie dieselbe Route genommen, um nach Spanien zu fahren. Sie brachen am frühen Morgen auf, die Kinder hinten in Decken gehüllt, der Hund Pedro unter dem Sitz. Nach der Grenze durchquerten sie endlose Weiten, leere Dörfer, und abgemagerte gelbe Hunde liefen hinter dem Wagen her. Er mochte die Ferien in Spanien nicht. Um Abanilla herum nichts als rauhe steinige Hügel, von weißen Straßen durchschnitten. Während der stickig heißen Nachmittage flüchteten sich alle in die Höhlenfrische der Küche zurück, um unablässig die belanglosen Familienereignisse durchzukauen. Joaquin langweilte sich, wartete auf das Ende der Zeiten.

Zu ihrer Rechten taucht ab und zu ein Zipfel der Rhone auf, die Straße folgt ihr eine Zeitlang, entfernt sich dann wieder. Auf seinem Anrufbeantworter ist eine Nachricht. Ich denk an dich, Marianne. Er hält es nicht für nötig zu antworten, Marianne ist eine Größe in seinem Leben, die weder Frage noch Antwort verlangt. Sie war es, die ihn erbeutet, den scheuen Mann gezähmt hatte, seine Angst vor Wolfsfallen, den kranken Mann und seine Angst, kein Mann mehr zu sein. Mit kleinen geduldigen Stichen hat Marianne sein Leben an ihres genäht. Sich davon loszureißen würde bedeuten, seine Haut abzureißen, auch wenn er oft Lust dazu verspürt. Er hatte von einer Wölfin geträumt, geträumt, verbotene Namen von ihr zu lernen, er wollte das Funkelnde, und die Angst hat ihn an Mariannes solide Seite gekittet.

Vivienne fährt mit niedriger Drehzahl, als suchte sie etwas. Die Fahrer hinter ihnen hupen ärgerlich, scheren abrupt aus und überholen mit quietschenden Reifen. Plötzlich reißt sie das Lenkrad herum und fährt auf einen von Lkws besetzten Parkplatz aus unbefestigtem Boden. Ich habe Hunger, sagt sie. Er hat auch Hunger, wenn er ein richtiges Essen zu sich nähme, würde sein Blutzuckerspiegel in Ordnung kommen, aber eine Mittagspause würde mindestens eine Stunde kosten und die Ankunft in La Virote genauso lang verzögern.

«Madame Pégatelle? Es tut mir furchtbar leid, aber wir haben eine Reifenpanne. Ja, in der Nähe von Saint-Rambert-d’Albon. Ich weiß es nicht. Ich rufe Sie zurück, sobald sie repariert ist. Es ist nicht unsere Schuld.»

Autor