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Die Siegel des Todes

Als Buch hier erhältlich:

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Ein mysteriöses Medallion, eine mörderische Intrige und zwei Waisen, die sich durch das Leben kämpfen
Vom finsteren Schwarzwald über das mediterrane Salerno in die mächtige Reichsstadt Regensburg

1325 in den Tiefen des Schwarzwalds: Der Waisenjunge Elias hat keine Erinnerung an seine Kindheit. Lediglich ein kupfernes Medaillon mit einer seltsamen Inschrift ist ihm geblieben. Als er versucht, das Geheimnis des Schmuckstückes zu lüften, stellt er fest, dass seine Vergangenheit so manche Gefahr zu bergen scheint – dennoch begibt er sich auf die riskante Suche nach der Wahrheit. Viele Jahre später trifft er in Regensburg auf die salernitanische Ärztin Abellita Montini, und plötzlich offenbart sich ein weiteres Detail von damals. Aber hinter dem Geheimnis des Medaillons sind auch andere her, und sie sind Elias dicht auf den Fersen. Bestürzt muss Elias erkennen, dass seine Widersacher auch vor Gewalt nicht zurückschrecken ...


  • Erscheinungstag: 22.11.2022
  • Seitenanzahl: 608
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749904723
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Personenverzeichnis

Hauptpersonen der Handlung

RANGHILD – wird zur Waise, als eines Nachts der elterliche Hof von Mordbrennern überfallen wird

ELIAS – ein Junge, der durch ein traumatisches Erlebnis sein Gedächtnis verloren hat

Weitere handelnde Personen und solche, die im historischen Kontext genannt werden (bei den mit einem * versehenen Namen handelt es sich um historische Persönlichkeiten)

… im Prolog

ALBRECHT I.* – Graf von Habsburg und Herzog von Österreich und Steiermark. Seit 1289 als Albrecht I. römisch-deutscher König. Ermordet am 1. Mai 1308

JOHANN VON SCHWABEN* – Herzog von Österreich und Steyer Initiator des Mordes an Albrecht I., dessen Neffe er war

WALTER (IV.) VON ESCHENBACH* – Freiherr. Mitverschwörer Johanns. Beteiligter am Königsmord

RUDOLF VON BALM* – Freiherr. Mitverschwörer Johanns. Beteiligter am Königsmord

RUDOLF VON WART* – Freiherr. Mitverschwörer Johanns. Beteiligter am Königsmord

KONRAD VON TEGERFELDEN* – Ritter. Mitverschwörer Johanns. Beteiligter am Königsmord

… im Schwarzwald

ANSELM (Bruder Anselm) – Mönch aus dem Kloster Alpirsbach

FLORI und GISO – Wegelagerer. Spießgesellen von Heinrich, die dieser auf Elias ansetzt

GUMPP, WALDEMAR VON – Vogt (Untervogt) des Klosters zu Alpirsbach

HEINRICH – das »Narbengesicht«. Hat es auf Elias und sein Medaillon abgesehen. Bedient sich eine Zeit lang Gisos und Floris, die sich an seine Ferse heften

HERRLINGER, MARTIN – Vetter von Utz Herrlinger. Von Beruf Abdecker; betreibt eine Wasenmeisterei in der Nähe von Freiburg

HERRLINGER, UTZ – Vetter von Martin Herrlinger. Von Beruf Abdecker. Von den Städten Schiltach und Wolfach beauftragter Wasenmeister und Brotherr Elias’

HOLZER-BRÜDER: JACOB, KUNZ UND PAUL HOLZER – Betreiber einer Köhlerei in den tiefen Wäldern bei Baiersbronn. Zwingen Ranghild als Magd in ihren Dienst

ISIDOR – beim Wasenmeister Utz Herrlinger angestellter Knecht

KRÄUTERGRET – alte Kräuterfrau in der Nähe von Alpirsbach. Herstellerin diverser Kräuterarzneien und Heilerin. Ranghild wird ihre Gehilfin.

PETER – ein Waldbauer

SEBASTIAN (Bruder Sebastian) – Mönch, Cellerar des Kloster Alpirsbach

SACHS, ÄGIDIUS – Apotheker aus Rottweil

außerdem viel anderes Volk

… in und um Ingolstadt, Nördlingen und Augsburg

JÖRGELIN, JÖRG – ehemaliger Scholar. Prinzipal einer Gauklertruppe und seit vielen Jahren als Fahrender unterwegs. Zu seiner Truppe zählen:

HANS JÖRGELIN, sein Neffe

LUNA, Köchin der Truppe

RETO und ISA, ein Zwergenehepaar, sowie BRANCO, ihr Sohn

PAUL der Trommler

RUFUS, genannt »Der Riese«

BETTLIN und SIEBERT sowie ihre Tochter BRIDA

BODO der Feuerschlucker

KASIMIR, ein Tierdompteur

außerdem Amtsleute, Büttel und viel anderes Volk

… in und um Salerno

ABELLA* – Magistra Medicinae. Ärztin und Dozentin an der Schola in Salerno

AMBROSIANO (Signor Ambrosiano) – Beauftragter des Salernoer Rates. Mitglied des Gremiums für die Leprosenschau

ANJOU, ROBERT VON*, genannt »Robert der Weise«, König von Neapel

D’AQUINO, MARIA* – uneheliche Tochter König Roberts von Neapel und Geliebte Giovanni Boccaccios

BERNARDO (Pater Bernardo) – Benediktinerpater und Mitglied des Gremiums für die Leprosenschau

BOCCACCIO, GIOVANNI* – berühmter italienischer Dichter

BOSCO, URSULINA DEL – eine Freundin Ranghilds und ehemalige Studentin an der Schola

CHALID IBN ISHAQ AL-MUSTANSIR – Maghrebiner, Kaufherr aus Tunis und Freund Boccaccios

IL ROSSO (der Rote Corrado) – Bandit und Anführer einer Räuberbande um Salerno

LEONIDAS – Magister. Arzt und ehemaliger Dozent an der Schola

MAGGIORE, BASILIO – Hauptmann der königlichen Garde

MECHTHILD – Dienstmagd Abellas und Ranghilds

PIERO – Siechenmeister. Vorsteher des Siechenhauses und Mitglied des Gremiums für die Leprosenschau

ROCCA, GIROLAMO DE LA – Ehemann Ursulina del Boscos

SCOTTO, UMBERTO – Bedellus (Hausmeister) an der Schola

SILVATICUS, MAGISTER* – Dozent an der Schola

diverse Studenten an der Schola

verschiedene an Lepra erkrankte Personen

außerdem Amtspersonen, Soldaten (Büttel) und viel anderes Volk

… in und um Regensburg

ALBRECHT II.* (12981358– Herzog von Österreich, Herzog von Steiermark, Herzog von Kärnten und Herr der österreichischen Vorlande

ABENSBERG, ULRICH VON* – vom Bischof zu Regensburg eingesetzter Pfleger der Burg Donaustauf. Vollzugsbeamter Kaiser Ludwigs IV.

AUER ZU BRENNBERG, FRIEDRICH* – ehemaliger Bürgermeister zu Regensburg und Günstling Kaiser Ludwigs IV.

DÜRNSTETTER, KONRAD* – Hansgraf

ELMAU, HANS VON – Hauptmann einer bewaffneten Söldnerschar im Dienste Friedrich Auer zu Brennbergs

ESCHER, EBERHARD VON – Fernhandelskaufmann und dem Kaufmannspatriziat angehörendes Mitglied des inneren Rates der Stadt Regensburg

FRUMOLT, KONRAD* – reicher Patrizier, der es mit den Auern hält, Parteigänger Kaiser Ludwigs IV.

GANGKOFER, BODO – führt als Vertreter Eberhard von Eschers in dessen Haus die Geschäfte

HILTPRAND, LEUTWIN* – Stadtkämmerer

IBERG, HEINRICH VON – gehört zur Familie der Dienstmannen, die im Dienst derer zu Eschenbach-Schnabelburg* standen

LAABER, HADAMAR VON* – Bürgermeister der Stadt Regensburg

MIKUSCH, MILAN und JARO – Bergleute. Gehören zum Kreis der Verschwörer, die den Tunnel unter der Stadtmauer graben

NIKOLAUS VON YBBS* – Fürstbischof zu Regensburg

OTTINGER, OTTHEINRICH – Herbergswirt

OTTINGER, KRESZENZ – Ehefrau von Ottheinrich

OTTO VON WOLFSKEEL* – Fürstbischof zu Würzburg

PERTSCHACHER, ALBIN – Kaufmann aus Wien

PRÖLLER, HANS – Hauptmann. Besoldeter Stadtsoldat, dem der Wachdienst der Toranlage St. Jakob obliegt

SCHINDERTONI – Abdecker aus Regensburg

SITTAUER, PETER* – Wachtmeister der Donauwacht

VOGELMANN, PURKARDT – Archivar der Hanse

ZANDT, ALBRECHT* – Schultheiß

außerdem diverse Ratsherren, Stadtsoldaten und Büttel, Bürger, Wegelagerer, Amtsleute und viel anderes Volk

Prolog

1. Mai Anno Domini 1308

So mich der Himmel nicht hört, ruf ich die Hölle zur Hilfe!

Über das hohlwangige Gesicht des Mannes mit dem stechenden Blick und dem mächtigen Schnurrbart huschte ein zynisches Lächeln. Oft genug hatte Johann von Schwaben, Herzog von Österreich und Steyer, in den vergangenen Wochen Gott und die Heiligen auf Knien liegend angefleht, dass ihm Recht widerfahren möge. Umsonst. Der Himmel hatte ihn nicht erhört. Jetzt stand er ganz vorn am Bug der Fähre, die gleich beim Steg anlegen würde, dachte über den Satz des römischen Dichters Vergil nach, auf den er kürzlich in einer Klosterbibliothek gestoßen war, und musterte gedankenverloren das sanft ansteigende Gelände jenseits des Ufers: ein lieblicher Anblick.

Ein Tag, wie geschaffen zum Sterben, spann er seine zynischen Gedanken weiter.

Ein laues Lüftchen strich über das beim Fluss gelegene Kornfeld; sanft wogte das Meer grüner Halme, das sich fast bis zum Ufer der Reuss erstreckte, hin und her. Monate würden vergehen, bis die Ähren kornschwer und golden auf dem Feld standen und die Schnitter die Sichel schwangen.

Im heiteren Licht des Nachmittags glitzerte das silberne Band des Flusslaufs, Auen und Wiesen strahlten in frischen, wonnigen Farben, nicht ein einziges Wölkchen trübte den makellos blauen Himmel.

Dabei hatte sich der Frühling recht schwergetan in diesem Jahr. Noch bis vor wenigen Tagen hatte er mit dem Winter erbittert die Klingen gekreuzt: Kälte und Schnee, Sturm und Regen hatten einfach nicht weichen wollen. Heute nun sah es ganz danach aus, als hätte er sich endlich durchgesetzt. Die nächsten Wochen, blieb zu hoffen, würde ein sonniger Maien das Zepter schwingen, der das Land wärmte und die Menschen aufatmen ließ.

Ob auch er aufatmen würde, wenn das, was getan werden musste, endlich vollbracht war? Ein Anflug von Verzagtheit verschattete die Miene des Herzogs.

Ja, zum Teufel! Zur Hölle mit dem Zweifel!, maßregelte er sich gleich darauf. Der Schatten auf seinem Gesicht verschwand und wich einem grimmig entschlossenen Zug.

Träge klatschten die Wellen der Reuss gegen die Planken der Fähre, die soeben angelegt hatte, um ihre Fahrgäste zu entlassen. Gleich würde sie wieder zum anderen Ufer übersetzen, um neue aufzunehmen. Die, die gerade von Bord gingen – neben dem Herzog fünf weitere Männer in glänzenden Rüstungen –, vermittelten einen noblen Eindruck. Die Pferde, die sie am Zügel mit sich führten, wirkten nicht weniger edel: ein Schimmel, vier Rappen und ein Falbe. Vor allem der Falbe stach unter den Tieren hervor. Ein Prachtexemplar von Hengst, feurig, mit anmutig schlankem Körperbau und samtig sandfarbenem Fell. Er gehörte dem ältesten der Männer, die gerade an Land gingen: einem Mittfünfziger, dessen Körperhaltung und Kleidung ihn schon auf den ersten Blick als den Vornehmsten unter ihnen auswies. Was nicht verwunderte, handelte es sich doch um keinen Geringeren als Albrecht I., Spross des Hauses Habsburg und König des Heiligen Römischen Reiches. Bei Hof hinter vorgehaltener Hand auch respektlos »Einauge« oder »Monoculus« genannt, weil Ärzte ihm vor Jahren das rechte Auge entfernen mussten. Johann von Schwaben, sein Neffe – er führte den Trupp an –, sowie die Freiherren Walter von Eschenbach, Rudolf von Balm, Rudolf von Wart und Ritter Konrad von Tegerfelden hatten ihn in die Mitte genommen. Seine Majestät wirkte an diesem Nachmittag recht aufgeräumt und fröhlich und gab sich außerordentlich leutselig. Offenbar freute er sich darauf, bald seine Gemahlin zu begrüßen. Von den Gedanken, die in diesem Augenblick durch die Köpfe seiner Begleiter jagten, ahnte er nichts.

Soeben war Herzog Johann, den Schimmel am Zügel, an die Seite des Fährmanns getreten, um den Preis für die Überfahrt zu entrichten. Der König und die anderen schwangen sich in den Sattel, ritten die sanft ansteigende Uferböschung hinauf und nahmen gleich darauf den schmalen Pfad, der mitten durch das Kornfeld führte. Bald erreichten sie eine Straße, der sie nordwestlich in Richtung Brugg folgten. Albrecht schien weiter in vergnügter Stimmung, er lachte und scherzte in einem fort. Die ihn begleitende Entourage hatte sichtlich Mühe, seiner guten Laune etwas abzugewinnen. Krampfhaft, fast steinern wirkte das Lächeln, das die Männer in ihre Mienen zwangen. Zwingen mussten. Denn lächelten sie nicht, könnte er schnell Verdacht schöpfen. Noch ahnte er nichts. Und so sollte es auch bleiben. Nur dann würde es gelingen, den zweiten und schwierigsten Teil ihres Vorhabens in die Tat umzusetzen, was schnell und überraschend zu geschehen hatte. Den ersten hatten sie bereits erfolgreich hinter sich gebracht: Unter dem Vorwand, die Fähre nicht über Gebühr belasten zu wollen, war es ihnen gelungen, den König noch vor der Überfahrt über die Reuss vom Rest der Reisegesellschaft zu trennen, die am jenseitigen Ufer wartete. Also nickten sie devot, lachten pflichtschuldigst über die witzigen Bemerkungen, die Seine Majestät machte, und versuchten ihrerseits Witze zu reißen, obwohl ihnen nicht danach war. Noch mussten sie den Mittfünfziger bei Laune halten. Auch wenn es ihnen verdammt schwerfiel. Aber das, was sie mit ihm vorhatten, musste durchgezogen werden. Es gab kein Zurück mehr. Er hatte es verdient …

Sie näherten sich einer Wegbiegung, wo sie auf Johann treffen würden, der seitlich des Wegs im Gebüsch lauerte. Unbemerkt von den anderen hatte er eine Abkürzung gewählt, um rechtzeitig an Ort und Stelle zu sein, noch bevor seine Mitverschwörer mit dem Einäugigen dort anlangten. Kaum dass die fünf das Kornfeld hinter sich gelassen und die Straße nach Brugg eingeschlagen hatten, hatte er die Unterredung mit dem Fährmann beendet und sich in halsbrecherischer Eile auf den Weg gemacht. Allerdings nicht ohne zuvor dem Schiffer eine prall gefüllte Geldkatze überreicht zu haben. Als Lohn dafür, dass er den Rest der Eskorte, die am gegenüberliegenden Ufer der Reuss auf die Fähre wartete, noch eine Weile hinhielt.

Bisher hatte der Weg die fünf Reiter weitgehend durch freies Gelände geführt. Nach wie vor ritten sie gemächlich im Schritt.

»Wo bleibt er nur? Er müsste doch längst wieder bei uns sein«, wandte sich Albrecht stirnrunzelnd an Walter von Eschenbach und Rudolf von Balm, der eine ritt rechts, der andere links von ihm. Rudolf von Wart und Konrad von Tegerfelden folgten dicht hinter ihnen.

»Herzog Johann? Er … Er wird sicher bald kommen, Eure Majestät«, antwortete von Balm mit vor Anspannung heiserer Stimme.

»Vielleicht wurde er aufgehalten? Von einer Waldfee?«, witzelte von Wart; er ritt unmittelbar hinter dem König und bildete zusammen mit dem Tegerfeldener die Nachhut. Sollte der Einäugige wider Erwarten Verdacht schöpfen und fliehen wollen, würden sie es zu verhindern wissen.

Von Balm rollte die Augen, er fand den Witz reichlich bemüht. Auch die anderen schienen peinlich berührt.

»Er … Er wollte noch den Preis verhandeln, Eure Majestät. Es … Es seien schließlich zwei Fahrten, da müsse ihm der Fährmann schon entgegenkommen«, meldete sich schließlich von Eschenbach zu Wort.

Der König ließ ein dröhnendes Lachen hören, in das die anderen beflissen miteinstimmten.

»Er ist und bleibt eben ein Pfennigfuchser, mein heißblütiger Neffe. Er wird es einmal weit bringen«, meinte er und gluckste vergnügt. Der Vorfall gestern Abend auf der heimatlichen Burg, als ihn der Neffe vor den Augen einer ganzen Festgesellschaft brüskiert hatte, schien vergessen.

Der Weg beschrieb eine scharfe Kehre. Ab jetzt verengte er sich, bedingt durch dichtes Buschwerk und Gestrüpp, das weit in die Straße hineinwucherte. Etwa acht Pferdelängen trennten sie noch von der Stelle, an der die Entscheidung fallen würde.

Ein Rascheln im Gebüsch. Ein Eichelhäher stob ärgerlich krächzend in die Luft, ein Fuchs querte erschrocken den Weg. Unwillkürlich richtete sich der Einäugige im Sattel auf und hob die Brauen. Er sah nach rechts zu den Büschen hin, von wo das Geräusch gekommen war. Seine Begleiter zuckten zusammen, hielten den Atem an und warfen sich verstohlene Blicke zu, in denen gleichermaßen Entschlossenheit und Furcht lagen.

Ob er etwas bemerkt hatte?

Ein Zitronenfalter taumelte heran, ließ sich auf dem rechten Handrücken des Einäugigen nieder und flatterte davon. Monoculus lächelte versonnen und ließ sich wieder in seine bequeme Haltung zurückfallen.

Die Männer atmeten auf.

Noch sechs Pferdelängen bis zur Entscheidung.

Noch vier … noch zwei …

Ein schriller Pfiff!

Jäh fiel Walter von Eschenbach, der zur Linken des Königs ritt, diesem in den Zaum und riss daran. Der Falbe, erschrocken ob dieser unsanften Behandlung, wieherte empört, stieg leicht mit der Vorhand hoch, blieb jedoch sofort stehen. Auch sein Reiter hatte sich heftig erschrocken, fast wäre er aus dem Sattel gekippt. Er sah seinen Begleiter erbost an: ein übler Scherz?

Äste knackten, Laub raschelte, Johann von Schwaben, Herzog von Österreich und Steyer, brach aus dem Unterholz. Der Rest ging rasend schnell.

»Es ist genug, Oheim. Hier der Lohn für das geschehene Unrecht!«, rief er laut, sprang auf den König zu und stieß ihm von unten das Schwert in den Hals.

Das Signal für Eschenbach. Er ließ den Zügel des Falben fahren, riss sein Schwert aus der Scheide, holte aus und spaltete dem König den Schädel bis zur Nasenwurzel.

Rudolf von Balm führte den nächsten Hieb. Er ließ seinen Rappen einige Schritte nach vorne tänzeln, richtete sich im Sattel auf, neigte sich zum König und schlug ihm die Klinge mitten ins Antlitz.

Rudolf von Wart und Konrad von Tegerfelden, die die Nachhut bildeten, hatten ihre Pferde bereits zu Beginn der Attacke quer zum Weg gestellt. Als sie sahen, wie Albrecht blutüberströmt aus dem Sattel kippte, erstarrten sie.

»Tegerfelden! Wart! Verdammt, erfüllt eure Pflicht! Denkt an euren Schwur!«, schrie Johann ihnen wütend zu.

Von Wart sprang aus dem Sattel, eilte zu dem Sterbenden und rammte ihm die Klinge in den Leib.

Der Tegerfeldener hingegen stand immer noch wie betäubt.

»Verflucht, Tegerfelden, was ist mit dir?«, brüllte der Herzog und stampfte zornig mit dem Fuß auf.

»Ich … Ich kann nicht«, murmelte Konrad von Tegerfelden, seine Lippen bebten. Voller Entsetzen starrte er auf den in seinem Blut liegenden König. Dann gab er dem Pferd die Sporen und sprengte kopflos davon.

Verblüffung aufseiten der Verschwörer.

»Verräter! Erbärmlicher Feigling! Eidbrüchiger Hurensohn!«, schallte es hinter ihm her. Johann fluchte und stieß voller Wut sein blutbesudeltes Schwert in den Boden.

Doch so schnell, wie sein Zorn gekommen war, verrauchte er auch wieder.

»Sei’s drum. Zumindest wir haben Auftrag und Schwur erfüllt«, murmelte er schließlich. Obwohl er erst achtzehn Lenze zählte, wirkte er mit einem Mal um Jahre gealtert. Sein Gesicht war aschfahl und mit Blutspritzern übersät, kalter Schweiß rann ihm die Stirn hinunter.

Er schwang sich auf seinen Schimmel, der mittlerweile aus dem Gebüsch getreten war, und wandte sich an seine Mitverschworenen.

»Die anderen werden bald hier sein. Lasst uns verschwinden, Männer. Auf zur Frohburg!«

Ohne den Leichnam des Mannes, der ihn um sein Erbe betrogen hatte, eines weiteren Blickes zu würdigen, preschte er hastig davon. Die anderen folgten ihm.

Kapitel 1

Hochschwarzwald, Gegend um St. Peter

Juni Anno Domini 1323

An allen Gliedern zitternd und noch das Grauen vor Augen, das sie soeben durchlebt hatte, starrte Ranghild aus ihrem Versteck auf den rötlich zuckenden Schein. Sein Rand zerfloss in der Schwärze der Nacht. Die am Waldrand gelegene Bauernkate, die bis jetzt ihr Zuhause gewesen war, stand lichterloh in Flammen. Die Männer mussten sie angezündet haben. Der aufsteigende Qualm vermischte sich mit dem dichten Nebel, der vom Waldboden aufstieg, und ließ Ranghild das Brandgeschehen als diffusen Glutfleck wahrnehmen. Panische Angst beflügelte ihre Fantasie zusätzlich: Die zwischen den Stämmen gespenstisch wabernden Nebelschwaden glühten, auf das Mädchen wirkten sie wie betrunkene, dem Schlund der Hölle entstiegene Dämonen.

Mit beiden Händen presste Ranghild den Saum ihrer Cotte fest gegen Mund und Nase, um das Schluchzen zu unterdrücken, das ihren Körper schüttelte und das sie zu verraten drohte. Sie würden sicherlich nach ihr suchen.

Wie die Vollstrecker des Jüngsten Gerichts waren sie über das Anwesen, in dem sie mit ihrer Familie wohnte, hergefallen. Mitten in der Nacht waren sie gekommen, Pechfackeln in den Händen, tödliche Entschlossenheit in den Augen. Unter Johlen und Grölen hatten sie ihr Werk mit teuflischer Lust und apokalyptischer Gründlichkeit verrichtet. Hatten den Vater zu Boden gestreckt, ihm ein zusammengeknülltes Tuch in den Mund geschoben und ihn gefesselt. Hatten die Mutter vom Lager gezerrt und sich über sie hergemacht. Ihren Qualen und ihren gellenden Schreien vermochte der Vater nichts entgegenzusetzen als ein verzweifeltes Zerren an seinen Fesseln und ein ohnmächtiges gutturales Stöhnen, das dumpf und kaum vernehmbar hinter dem Knebel hervordrang. Als sie mit Mutter fertig waren, hatte einer von ihnen, ein baumlanger Kerl mit feuerrotem Haar und einer Fratze wie der Teufel, sein Messer gezückt und es ihr in den Leib gestoßen.

Paralysiert vor Furcht und Entsetzen hatte Ranghild, die sich im Rauchfang über dem Herd versteckt hatte, alles mit ansehen müssen, bevor es ihr endlich gelungen war zu fliehen. Die Männer, ganz auf ihr furchtbares Tun konzentriert, hatten sie erst wahrgenommen, als sie dabei war, durch die offen stehende Tür zu entwischen. Einer von ihnen hatte noch versucht, nach ihr zu greifen, aber sie hatte es geschafft, zwischen seinen Händen einfach hindurchzuschlüpfen und in den Wald zu rennen. Hier hatte sie in einer Erdkuhle unter dem freigelegten Wurzelstock einer vom Sturm gefällten Eiche Zuflucht gefunden.

Vorsichtig spähte Ranghild über den Rand der Kuhle. Mit verquollenen Augen im rußgeschwärzten Gesicht und einem nie gekannten Gefühl der Verlassenheit tief in ihrem Innern starrte sie auf das diffuse Leuchten, das von dem unvorstellbaren Grauen zeugte, das über die kleine Familie hereingebrochen war. Was war mit Vater geschehen? Wo er jetzt wohl sein mochte? Was war aus den kleinen Holzfigürchen geworden, die er geschnitzt hatte und die sie so sehr mochte? Ein Ritter mit Pferd, Schafe, ein Schäfer mit seiner Schäferin … Fast schämte sich Ranghild dieses Gedankens, der ob seiner platten Schlichtheit so gar nicht zu dem entsetzlichen Geschehen dieser Nacht passen wollte.

Da – was war das? Vor dem Hintergrund des durch die brennende Kate verursachten Lichtscheins bewegte sich ein unruhiges, gelblich rötliches Zucken auf sie zu. Eine Fackel. Gleich darauf nahm sie den Mann wahr, der sie trug: Es war der, der Mutter das Messer in den Leib gerammt hatte, sie erkannte ihn an seiner hünenhaften Statur sowie dem schwarzen Hut und dem feuerroten Haar, das darunter hervorquoll. Langsam kam er näher. Die anfängliche Panik Ranghilds drohte zurückzukehren. Hastig zog sie den Kopf ein und verkroch sich ganz tief hinter das Geflecht aus Wurzelwerk, Ranken und Spinnweben, das wie ein Vorhang in das Erdloch hinabhing. Das Schlagen ihres Herzens dröhnte ihr im Ohr, und unwillkürlich fragte sie sich, ob der verfluchte Mordbrenner, der sich näherte, es hören konnte …

Unmittelbar vor der Kuhle unter dem entblößten Wurzelstock, in dem sie, zusammengerollt wie ein Igel, kauerte, blieb der Hüne stehen. So nah, dass sie mit ausgestrecktem Arm seine Stiefelspitzen hätte berühren können: Im Schein der Fackel, der bis auf den Waldboden drang, waren sie deutlich zu erkennen. Noch fester presste Ranghild den Saum ihrer Cotte gegen Mund und Nase, versuchte den Atem anzuhalten, sich noch tiefer hinter das Gewirr aus Wurzelwerk und Erde zu drücken. Häufte sich panisch eine Handvoll Erde auf den Kopf, nicht dass ihr helles, weizenblondes Haar sie noch verriet.

»Verdammt! Wo steckst du, du Mistkröte?!«, hörte sie den Dreckskerl in die Nacht schreien.

Diese Stimme! Dieser Ton! Ein überlautes, hässliches Krächzen, das klang, als vibrierte eine zweite, dunklere Stimme im Hintergrund mit. Nie zuvor hatte Ranghild eine solch hässliche und zugleich mächtige Stimme vernommen. Die Stimme des Teufels? Ein eisiger Schauer jagte über ihren Rücken. Diese Stimme würde sie ihr Lebtag nicht vergessen.

»Warte, du verdammtes Luder«, ertönte die grässliche Stimme aufs Neue. »Solltest du mir je über den Weg laufen, dann gnade dir Gott. Und sei sicher, eines Tages wirst du mir über den Weg laufen.«

Ein ledernes Knarzen. Die Stiefel bewegten sich aus Ranghilds Blickfeld, wobei sie etwas Erde lostraten, die in die Kuhle rieselte. Der Schurke entfernte sich.

Eine Weile noch wartete sie, dann kroch sie unter dem Wurzelvorhang hervor und spähte erneut über den Rand des Erdlochs. Der rötliche Schein war schwächer geworden, die Nahrung, die die hölzerne Kate dem Feuer bot, ging offensichtlich zur Neige. Bald würde nur noch ein Haufen verkohlter Reste und aufsteigender Rauch davon zeugen, dass an dieser Stelle einst die Kate stand, in der der Bauer Hans Schwab und seine Familie gewohnt hatten.

Die Vorstellung, dass sie die einzige Überlebende war, schlug mit der Wucht eines vom Blitz gefällten Baums in Ranghilds Gedanken. Ohne ihn zurückhalten zu können, brach ein lang anhaltender Schrei aus ihrer Kehle, dem erneut ein nicht enden wollendes Schluchzen folgte. Diesmal unterdrückte sie es nicht …

Es endete, noch bevor der Morgen graute und die Stimmen des Waldes erwachten. Als die ersten Sonnenstahlen durch die Wipfel brachen und der Nebel allmählich wich, machte sich Ranghild, noch völlig betäubt von den Ereignissen der Nacht und ohne ein klares Ziel vor Augen, auf den Weg.

Auf die Reise nach Nirgendwo.

Kapitel 2

Mittlerer Schwarzwald, Tal der Kinzig, Gegend um Wolfach

Juli Anno Domini 1325

Meist jagten sie ihn zwischen Mitternacht und Morgengrauen.

Dann drang höhnisches Gelächter an sein Ohr, das von den Felswänden des Hohlwegs widerhallte, den zu queren er im Begriff stand, während Horden gesichtsloser Schattenwesen, schwarz wie die Nacht und umwabert von blutroten Dunstschleiern, auf ihn zustürmten. Er versuchte zu fliehen, doch ihnen entkommen zu wollen, war, als wollte er vor einer Meute hungriger Wölfe davonrennen. Er lief und lief und lief, ohne auch nur eine einzige Handbreit Boden zu gewinnen. Verzweifelt trat er auf der Stelle, spürte, wie das Treten immer mühsamer und schwerer wurde. Merkte, wie die Schatten unaufhaltsam näher kamen, während das höhnische Lachen immer lauter in seinen Ohren gellte und jemand verzweifelt einen Namen rief. Seinen Namen: »Elias!« Gleich würde er, vor Anstrengung keuchend, innehalten, und, von den bleischweren Füßen aufsteigend, würde sich das Grauen wie ein lähmendes Gift in seinem Körper ausbreiten. Hatten ihn die Schatten erst einmal eingeholt, würden sie sich auf ihn werfen, ihm das Gesicht zu Boden und die Luft aus den Lungen pressen, würden ihre knöchernen, krallenbewehrten Hände um seinen Hals legen und ihm den Stachel der Angst in den Rücken rammen.

Angst, der er nie würde entrinnen können. Denn sie war unsterblich.

Unsterblich wie die Nacht.

Und unsterblich wie das Böse.

»Neiiiin!«

Mit einem Schreckenslaut fuhr der Junge hoch, kalter Schweiß perlte auf seiner Stirn. Irritiert sah er sich um. Diesmal waren die Schattenwesen am helllichten Tag gekommen. Er benötigte einige Atemzüge, um zu erfassen, wo er war, und um die Umgebung wahrzunehmen, die ihm auf hässliche Weise vertraut vorkam. Wie fast jeden Tag um diese Zeit saß er neben dem Abdecker und Wasenmeister Utz Herrlinger auf dem Kutschbock, in den Ohren das Ächzen und Knarzen des Karrens und das schürfende Geräusch der beiden Räder. Ruckelnd holperten sie über den steinigen Weg, der zu der abgelegenen Wasenmeisterei des Utz Herrlinger führte.

»Na, mal wieder schlecht geträumt, kleiner Bastard?«, spottete der Wasenmeister höhnisch. Utz sprach ihn immer mit »Bastard« an, manchmal mit »kleiner Bastard«, manchmal mit »verdammter Bastard«, aber nie mit seinem Vornamen Elias. Der Junge hatte sich längst daran gewöhnt.

»Ich will, dass du heute noch das Gestänge reparierst, an dem die Häute getrocknet werden. Du weißt schon, welches ich meine. Nicht das neben der Scheune, sondern das kleinere, hinten auf dem Grundstück bei den Gruben. Ein Balken ist morsch, er muss endlich ersetzt werden. Sonst bricht uns irgendwann die ganze verdammte Konstruktion zusammen. Hast du verstanden?«

Elias antwortete nicht. Noch war sein Innerstes aufgewühlt. Er war froh, dass ihn das Rütteln der Räder und das Knarren und Quietschen des Karrens aus einem jener wirren Albträume gerissen hatte, die ihn regelmäßig heimsuchten und ihn völlig verstörten. Die Augen stur geradeaus gerichtet, saß er da und versuchte sich zu sammeln, in der Hoffnung, dass sich sein rasendes Herz endlich beruhigte. Seit der Schinder ihn damals zu sich genommen hatte und er ihm zur Hand gehen musste, peinigten ihn diese verdammten Träume. Elias hatte nicht die geringste Ahnung, was es mit ihnen auf sich hatte. Wie sollte er auch, wenn er nicht einmal wusste, wer er war. Wie alt er war. Woher er kam. Wie sein kompletter Name lautete. Seinen Vornamen hatte er sich auch nur merken können, weil diese verdammten, immer wiederkehrenden Träume ihn regelrecht in sein Gehirn gebrannt hatten. Ansonsten reichten seine Erinnerungen gerade bis zu dem Tag zurück, als er mitten im Wald, halb betäubt und aus einer Wunde an der Stirn blutend, zu dem Schinder auf den Karren gestiegen war. Das war vor zwei Jahren gewesen. Das Leben davor hatte sich gänzlich aus seinem Kopf verabschiedet, so, als hätte es dieses Leben nie gegeben.

Das Einzige, das er aus seiner tief im Dunkel der Wälder liegenden Vergangenheit gerettet zu haben schien, war ein aufklappbares Medaillon, gefertigt aus Kupferblech, das er an einem Lederband um den Hals trug und das von einer seltsamen Gravur geziert wurde: einem gekrönten Totenschädel und einem in Latein gehaltenen Spruch: »VIVAT IUSTITIA. PRETIUM MORTIS ET ESTO Vor Monaten war er einem Mönch über den Weg gelaufen, den er nach der Bedeutung der Inschrift gefragt hatte. »ES LEBE DIE GERECHTIGKEIT. UND SEI DER TOD DER PREIS DAFÜR«, laute der Spruch übersetzt, hatte der ihm beschieden. Doch weder mit dem Spruch noch mit dem zusammengerollten Pergamentstreifen, den das Medaillon enthielt, wusste Elias etwas anzufangen. Und schon gar nicht mit der Skizze auf dem Pergament. Da er fast immer ein hochgeschlossenes Hemd am Leibe trug, blieb den meisten, denen er begegnete, die Existenz des Medaillons verborgen. Und dafür, dass Utz Herrlinger, bei dem er in Lohn und Brot stand, sich dafür interessiert hätte, wirkte es zu wertlos.

Was das Rätsel seiner Herkunft noch vergrößerte, war die Tatsache, dass er lesen und schreiben konnte. Und das sehr gut. Ein Umstand, der ihm eigentlich die Achtung des Utz Herrlinger hätte einbringen müssen, der von den beiden nicht weit voneinander entfernten Städten Schiltach und Wolfach als Wasenmeister eingesetzt worden war. Allein, das Gegenteil war der Fall. Utz neidete ihm sowohl diese Fähigkeiten, die er selbst nur sehr unvollkommen beherrschte, als auch den wachen Geist, den der Junge besaß.

Elias starrte auf seine rechte Hand, mit der er sich noch immer krampfhaft am Sitzbrett des Kutschbocks festhielt. Auf das Feuermal, das sich großflächig und sternenförmig auf dem Handrücken ausbreitete. Die Knöchel waren weiß vor Anstrengung, noch hallte der Albtraum in ihm nach. Immer wenn die Schatten ihn überfielen, krampften nicht nur die Hände, sondern sein ganzer Körper sich zusammen.

»Hörst du schlecht, ich hatte dich etwas gefragt, verdammter Bastard. Antworte gefälligst!«, fuhr Utz den Jungen an und stieß ihm seinen Ellenbogen in die Seite.

Elias, der noch immer geistesabwesend auf seinen rechten Handrücken starrte, zuckte schmerzhaft zusammen.

»Verzeiht, Wasenmeister, ich … ich …«, stotterte er.

»Was ›ich‹, ›ich?!‹«, äffte Herrlinger ihn nach.

»Ich habe Eure Frage nicht gehört. Würdet Ihr …«

»Oh, sieh an, er hat meine Frage nicht gehört! Der junge Herr beliebt manchmal wegzuhören. Er kann zwar lesen und schreiben, aber zuhören kann er nicht, hä?« Herrlinger ballte die Rechte und schlug mit den Fingerknöcheln gegen Elias’ Schläfe.

Erneut zuckte der Junge zusammen, es tat verdammt weh, wenn der Alte ihn mit den Knöcheln traktierte. Doch er verkniff sich den Schmerzenslaut, der über seine Lippen wollte. Auch wenn er in Augenblicken wie diesen den Schinder in die tiefsten Abgründe der Hölle wünschte, er hatte gelernt, ruhig zu bleiben. Eines Tages, hatte er sich geschworen, würde er ihm alles heimzahlen. Vielleicht hätte er es jetzt schon zu tun vermocht; immerhin war er groß und kräftig gebaut. Doch ihm fehlte nicht nur die Courage, sich dem Wasenmeister zu widersetzen, sondern auch jegliche Möglichkeit, woanders unterzukommen. Auch wenn er nichts mehr hasste als das Schuften auf der Wasenmeisterei, auf der es nach Fäkalien, Fäulnis und Tod stank – ihm blieb nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Immerhin hatte der Alte ihn damals aufgelesen, seine Wunden versorgt und ihm angeboten, sich bei ihm gegen Kost und Logis zu verdingen. Doch schon nach einem Monat hatte er beschlossen wegzulaufen. Das Häuten, Ausschlachten und Zerteilen stinkender Kadaver, das Schaben von Fellen und Entfleischen von Knochen, das Sieden von Fett, die scharfen Dämpfe, die von den Gruben aufstiegen, in denen die Kadaver verbrannt wurden, das Vergraben der blutigen Reste – all das würde nie seine Sache sein, hatte er an jenem Tag beschlossen.

Aber er hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Der Schinder hatte ihn erwischt, noch bevor es ihm gelungen war, das Anwesen zu verlassen. An das, was folgte, erinnerte er sich mit Grausen.

»Ist das der Dank dafür, dass ich dich in Lohn und Brot nahm?«, hatte Herrlinger gebrüllt und ihn halb totgeschlagen. Hatte ihn gefesselt, ihn mit einem frischen Hundekadaver zusammengebunden und ihn in eine viereckige Grube geworfen, zu den Überresten anderer Kadaver. Werde er die nächsten Stunden überleben, werde er sich wohl an die Arbeit gewöhnt haben, die ihn künftig erwarte, hatte der Wasenmeister gemeint und war lachend davongegangen.

Aber das, was ihm in jener Nacht widerfuhr, war noch nicht das Schlimmste gewesen. Zwei Tage später hatte der Schinder ihn aus dem Schlaf gerissen und war mit ihm in die Scheune gegangen, wo der Wagen stand. Dort hatte er ihm befohlen, sich vor eines der Räder zu stellen, das Gesicht dem Wagen zugewandt, und seine Hände daran festgebunden. Was folgte, war schlimmer als alles, was er bis dahin erlebt hatte. Nachdem Herrlinger keuchend mit ihm zu Ende gekommen war, hatte er ihn losgebunden und war in sein Haus zurückgegangen, während Elias heftig schluchzend neben dem Rad zusammengebrochen war. Diesmal war es nicht so sehr der Körper, der schmerzte, sondern die vor Scham gepeinigte Seele. Und das Empfinden, das etwas in ihm für alle Zeiten zerbrochen war.

Auch wenn Elias seitdem nie wieder einen Fluchtversuch gewagt hatte: Darüber nachgedacht hatte er sehr wohl. Doch mittlerweile war ihm klar, dass er nicht einfach ziellos davonlaufen konnte. Die Ketten der Abhängigkeit zu sprengen, die Herrlinger ihm angelegt hatte, bedurfte einer sorgfältigen Vorbereitung, und vor allem: Er brauchte ein klares Ziel vor Augen. Dass ihm dies irgendwann gelingen würde, davon war er fest überzeugt. Und auch, dass er eines Tages das Geheimnis seiner Identität lüften würde.

Bis jetzt hatte sie der Weg durch einen breiten Waldgürtel geführt. Zu ihrer Linken, ein gutes Stück weit entfernt, kletterten die dicht an dicht stehenden Bäume einen steilen, mit Felsgestein durchsetzten Hang hinauf, der etwa eine halbe Meile weiter nördlich in eine schroffe Felsbarriere überging. Sie wuchs fast senkrecht in die Höhe und schob sich bedrohlich nah an den Weg heran. Rechts stürzte der Hang jäh in den Abgrund. Sah man hinunter, öffneten sich dem Blick weite, bewaldete Täler, die sich im Osten bis zum Horizont erstreckten. Ein schwarzgrünes Meer aus Wipfeln und Kronen wogte im aufkommenden Nachmittagswind sanft hin und her.

»Brrr, langsamer, Rosa, alte Schindmähre.«

Herrlinger betätigte kurz den Bremshebel und zog die Zügel an, um das Pferd zu einer langsameren Gangart zu veranlassen. Obwohl es dessen nicht bedurft hätte. Rosa, wie Herrlinger seine Stute nannte, hatte den Weg schon tausendfach zurückgelegt und wusste, dass sie ab jetzt besonders vorsichtig einen Huf vor den anderen setzen musste. Auf den nächsten Meilen, hinunter ins Tal, würde die Strecke abschüssiger und gefährlicher werden, zudem galt es, einige scharfe Kehren zu passieren. So manches Fuhrwerk war hier schon verunglückt. In den Kehren verengte sich der Weg. Gab ein Fuhrmann nicht acht, geschah es schnell, dass sein Karren, insbesondere wenn er schwer beladen war, an den unbefestigten, brüchigen Rand des Weges geriet, Übergewicht bekam und in Richtung Abgrund kippte. Dann war es um Pferd und Wagen und in der Regel auch um den Fuhrmann geschehen. Es sei denn, es gelang ihm, rechtzeitig abzuspringen.

Heute hatte Utz Herrlinger nicht schwer geladen: Gerade mal zwei Hunde- und ein Fohlenkadaver bedeckten die Ladefläche seines Karrens. Die beiden Hunde, streunende Straßenköter, waren von einem Schiltacher Stadtknecht erschlagen worden, als sie sich auf dessen Hündin stürzen wollten. Das Fohlen, es war kurz nach der Geburt verendet, hatte er auf einer Weide abgeholt.

»Brrr«, ermahnte Herrlinger die Stute ein weiteres Mal. Rosa schnaubte. Sie waren an der gefährlichsten Stelle der Strecke angekommen. Zur Linken ragte eine Felsnase aus dem Massiv, die den ohnehin schon schmalen Weg weiter verengte, rechts gähnte der bewaldete Abgrund.

»Langsam, meine Beste, langsam und schön vorsichtig«, redete Utz auf sein Pferd ein. Er erhob sich vom Kutschbock und warf einen prüfenden Blick nach rechts und links. Es galt, die Stute mittels der langen Leine geschickt an der Felsnase vorbeizumanövrieren.

»Gottverdammich! Verfluchte Strecke! Heiliger Christophorus, behüte mich und mein Fuhrwerk«, murmelte er dabei und schlug ein Kreuzzeichen. Immer wenn er diese Stelle passierte, fluchte und betete er in einem. Anscheinend half es auch diesmal. Nicht mal eine Handbreit passte zwischen den Karren und den Fels zu seiner Linken, während das rechte der beiden mannshohen Räder haarscharf an der brüchigen Wegkante entlangschürfte. Trotzdem kamen sie auch jetzt wieder heil durch die Passage.

»Danke, Alter«, murmelte Utz erleichtert und setzte sich wieder. Auch das ein Satz, den Elias immer dann hörte, wenn sie an dieser Stelle den Weg sicher passiert hatten. Offenbar mochte ihn der Schutzpatron der Fuhrleute gut leiden, bis jetzt hatte es ihm der heilige Christophorus immer nachgesehen, wenn er ihn respektlos »Alter« genannt hatte.

Sie bogen vom Hauptweg ab. Von hier aus war es nicht mehr weit bis zur Wasenmeisterei, die, von Hügeln und Wald umgeben, in einem weiten grasigen Tal lag. Noch bevor das Anwesen in Sichtweite kam, konnte man es riechen. Ein eigenartiger Gestank lag in der Luft: das Odeur der Verwesung. Kein Wunder, dass die Wasenmeistereien aus den Städten hinaus aufs Land verbannt waren und die Abdecker möglichst weit von den Mauern entfernt ihrem infernalisch stinkenden Handwerk nachgehen mussten. Keine Stadt konnte es sich leisten, Berge verwesenden Aases, die die Luft verpesteten und Legionen von Schmeißfliegen sowie Horden von Ratten anzogen, innerhalb ihrer Mauern zu haben. Schließlich hatte man auch so schon genug damit zu tun, des stinkenden Unrats in der Stadt Herr zu werden. Brachten doch die Miasmen, die von allerhand Exkrementen sowie von faulendem Fleisch und verwesenden Kadavern ausgingen, nichts als Krankheit und Tod, sogar die Pest war darauf zurückzuführen. Der Schindacker Utz Herrlingers lag allerdings schon sehr weit jenseits der Mauern, fast eine Stunde brauchte man, um dorthin zu gelangen. Aber das war Utz nur recht. Hatte er doch allen Grund, nicht nur die Auswirkungen seines Handwerks vor anderen zu verbergen …

Sie hatten das Anwesen erreicht, an dessen nördlichem Rand ein Bach floss, der einen kleinen Teich speiste. Das Grundstück war sehr weitläufig, und das musste es auch sein. Das Handwerk eines Schinders benötigte Platz. Viel Platz.

Einen beträchtlichen Teil nahm der Teil des Schindackers ein, auf dem man Kadaver, die nicht für die weitere Verarbeitung gebraucht wurden, nach vorherigem Abhäuten vergrub. Eine große Scheune bot Raum für zwei Pferde- und einen Handkarren, die Herrlinger sein Eigen nannte, sowie für die Werkzeuge, die benötigt wurden. In zwei weiteren Gebäuden, sie waren aus Holz errichtet, fand Platz, was aus den Kadavern produziert wurde. Hier lagerten die rohen Häute, die von den Gerbern gekauft wurden, sowie Unschlitt, das Herrlinger durch Sieden von Fettstücken in einem großen Kupferkessel gewann und das in kleine Fässer und andere Behälter abgefüllt wurde, wo es härten konnte. Herrlinger verkaufte es an Lichterzieher und Seifensieder. Sehnige Teile hingen zum Trocknen über Balken, die auf Böcken ruhten. Als Leimleder an Leimsieder verkauft, brachten die harten Fettstücke ebenfalls guten Gewinn. Ebenso Klauen, Horn und Rosshaar, das, in Kisten sortiert, gelagert wurde.

Zwei Ställe – einer für das Pferd, in dem anderen hielt Herrlinger zwei Schweine – sowie ein Heuschober vervollständigten die Anzahl der Betriebsgebäude, die noch von zwei Wohngebäuden ergänzt wurden. Ein aus Stein gebautes, in ihm wohnte der Wasenmeister, und ein kleines, das eher einer Hütte ähnelte und ausschließlich aus Holz errichtet war. Was sich beide Gebäude teilten, war ein sorgfältig mit Schindeln gedecktes Dach. Und den aus Steinen gemauerten Backofen, der im Hof stand.

Herrlinger lenkte das Pferd an den Gebäuden vorbei zu einer der vier Gruben, die auf dem hinteren Teil des Grundstücks ausgehoben worden waren. Sie nahmen Kadaver auf und waren jeweils von einer hüfthohen Mauer umgeben. Im Gegensatz zu den drei anderen, die ungefähr zur Hälfte gefüllt waren, war sie leer und der Boden mit einer dicken Ascheschicht bedeckt.

»Brrr!« Das Pferd blieb stehen. Herrlinger und der Junge stiegen vom Kutschbock. Einige Hühner stoben gackernd zur Seite.

Der Wasenmeister sah sich um und fluchte. Sein Gesicht war puterrot angelaufen. Was, wie der Junge wusste, nicht von ungefähr kam. Schon als der Karren auf das Anwesen eingebogen war, hatte er bemerkt, wie der Ausdruck in seiner Miene immer finsterer wurde.

»Isidor? Verdammt, wo steckst du? Was ist mit der Hölle? Die müsste doch brennen«, brüllte Herrlinger.

Die »Hölle« war die Grube, vor der sie gerade standen. In ihr wurden Kadaverreste, die nicht verwertet werden konnten, verbrannt. Isidor, ein Knecht, der, wie Elias, bei Herrlinger in Lohn und Brot stand, war dafür verantwortlich, dass sie stets brannte. Im Gegensatz zu Elias hielt er es schon seit mehr als zehn Jahren im Dienst des Wasenmeisters aus. Wenngleich nicht gerade mit umfassenden Geistesgaben ausgestattet, verfügte Isidor über einen anderen Vorzug: Er glich einer Eiche; groß und überaus kräftig gebaut, konnte er ordentlich zupacken. Allerdings besaß er, zumindest aus Sicht des Wasenmeisters, wie Elias wusste, einen gravierenden Fehler: Er trank mehr Most, als er vertragen konnte. In dem Verschlag, in dem er hauste, hatte er ein Loch in den Lehmboden gestemmt, in dem er stets zwei Krüge vorrätig hielt. Mit einer Falltür abgedeckt, bildete es einen idealen Aufbewahrungsplatz, an dem sich das Getränk schön kühl halten ließ. Hin und wieder hatte auch Elias davon genossen. In den Augen des Jüngeren bildete die Schwäche Isidors nicht unbedingt einen Makel. Zählte der Knecht doch zu der Kategorie von Menschen, die im nüchternen Zustand mürrisch und gelegentlich auch recht raubauzig sein konnten. Tat der Alkohol seine Wirkung, konnte er allerdings sehr umgänglich und der hilfsbereiteste Mensch auf Erden sein.

»Isidor!«, brüllte Herrlinger erneut. »Du verfluchter Hurensohn, komm, verdammt noch mal, her, oder sollen dir Papst und Kaiser höchstpersönlich eine Einladung schicken?!«

»Komm ja schon«, ertönte eine mürrische Stimme. Sie kam aus Richtung des Heustadels.

Widerwillig und schlecht gelaunt schlurfte Isidor heran, Strohreste an dem schmierigen Wams und der zerlöcherten Hose. Auch sein verwirbelter brauner Haarschopf war voller Stroh. Offenbar hatte er sich im Heuschober ein Nickerchen gegönnt. Seine unter buschigen Brauen tief in den Höhlen liegenden schwarzen Augen blickten missmutig. An seiner Miene war abzulesen, dass er an diesem Tag nicht einen einzigen Schluck Most getrunken hatte.

»Was habe ich dir aufgetragen, bevor ich heute morgen weggefahren bin?«, bellte Herrlinger den Mann an.

»Was ist denn los? Ich hab doch alles gemacht!«

»Was hast du gemacht?«

»Na, ich hab die Sehnen zum Trocknen aufgehängt, Unschlitt gekocht und abgefüllt und die Fässer fein säuberlich ins Lager gestellt. Das Rosshaar hab ich in Schweife gebunden und gebürstet. Hab jeden einzelnen Schweif sorgfältig in die Kiste gelegt. Hab den Schweinestall ausgemistet, den Schweinen zu fressen gegeben und die Asche aus dem Backofen geholt.«

»Und warum, zum Teufel, brennt die Hölle nicht? Hatte ich dir nicht aufgetragen, den verfluchten Schweinekadaver zu verbrennen, den wir gestern abgeholt haben?«

Isidor kratzte sich den Kopf.

»Ich … Ich dachte, dem Schwein könnte man noch die Haut abziehen. Hans Böckler, der Gerber, hat doch neulich gefragt, ob wir ihm eine Schweinshaut liefern könnten.«

»Bist du des Teufels? Du hast wohl Scheiße im Hirn! Hast du dir die Haut mal angesehen, die Vorderläufe, den Schwanz, von dem die Spitze abgefallen ist? Voller Gangrän war die arme Sau, sie ist am Antoniusfeuer verreckt. Da gibt’s nichts mehr zu verwerten. Der Kadaver muss verbrannt werden, verdammt! Warum kannst du nicht einfach das tun, was man dich heißt?«

Isidor schwieg betreten. Er tat Elias leid. Den Kopf ein-, die Schultern hochgezogen, stand er vor Herrlinger, trotz der geduckten Haltung noch um einen halben Kopf größer als der Wasenmeister. Das Antoniusfeuer war eine gefürchtete Krankheit, die nicht nur Tiere, sondern auch Menschen befiel. Wen das Leiden ereilte, der machte schon im Diesseits sämtliche Qualen der Hölle durch, bis der Tod ihn erlöste und ins Jenseits holte.

»Und jetzt mach endlich voran. Hol den verfluchten Kadaver aus der Grube! Ich will das Feuer brennen sehen, und zwar schnell! – Und du hilf ihm! Aber zuerst schirre Rosa ab und lass sie grasen. Den Karren kannst du vorerst stehen lassen.« Die letzte Aufforderung hatte Elias gegolten.

»Aber Wasenmeister, sagtet Ihr nicht, ich soll das Gestänge …«

Mit einem Knöchelhieb seiner Rechten unterbrach Herrlinger den Jungen.

»Du sollst machen, was ich sage, und nicht lange fragen, verflucht noch mal. Das Gestänge kannst du danach noch reparieren.«

Er versetzte Elias einen weiteren Knöchelhieb und trat mit dem Schuh nach Isidor. »Los jetzt, an die Arbeit! Und haltet keine Maulaffen feil.«

Noch während er seine Anweisungen gab, trat die alte Erwina aus dem Wohnhaus und watschelte auf die Gruppe zu.

Sie führte Utz den Haushalt. Elias wusste, dass sie die Frau eines Scharfrichters gewesen war und damit demselben Stand angehörte wie Utz. Vor über zehn Jahren war sie zu ihm gekommen, nachdem ihr Mann gestorben war und sie kein Dach mehr über dem Kopf gehabt hatte. Erwina war stumm, man hatte ihr einst die Zunge herausgeschnitten. Utz hatte sich ihrer erbarmt und sie als Haushälterin zu sich genommen. Gestenreich bedeutete sie Utz, dass das Vesper auf dem Tisch stehe und er doch bitte kommen möge.

Zornig brummend ging der Wasenmeister ins Haus.

Kapitel 3

Mittlerer Schwarzwald, Tal der Kinzig, Gegend um Wolfach

August Anno Domini 1325

Noch dämmerte es. Doch am östlichen Horizont kündete ein leuchtend rotes Band davon, das ein herrlich sonniger Tag bevorstand.

Elias hatte sein Morgenmahl beendet. Es wurde stets im Haus des Wasenmeisters eingenommen. Immer schweigend und erst nachdem Herrlinger das Tischgebet gesprochen und sich bekreuzigt hatte. Gott, segne unser täglich Brot. Und schütze uns vor aller Not. Amen. Zu viert saßen sie um den Tisch herum, Herrlinger an der Stirnseite, Erwina, Isidor und Elias an einer der Längsseiten. Für Elias und Isidor bestand das Mahl aus einer Schale Hirsebrei, Meister und Haushälterin speisten opulent mit Schinken oder Wurst, Schwarzbrot und Gesälz, das Erwina aus den Früchten, die im Garten oder an den Bäumen wuchsen, eingekocht hatte. Ein üppiges Frühstück, bei dessen Anblick Elias Morgen für Morgen das Wasser im Mund zusammenlief, und ein Hinweis darauf, zu welchem Wohlstand es der Wasenmeister im Laufe der Jahre gebracht hatte.

Herrlinger erhob sich zum Zeichen, dass auch die anderen aufzustehen hatten.

»Du wirst nachher die beiden Ziegen häuten«, wandte er sich an Elias. »Du weißt schon, die, die wir gestern auf dem Hof vom Peter, dem Waldbauern, abgeholt haben. Die Häute lieferst du ihm noch heute Abend, er will sie selbst gerben. Du wirst den Leiterwagen nehmen. Er gibt dir als Bezahlung ein Fass Most und eine Speckseite mit. Verstanden?«

»Ja, Wasenmeister«, murmelte Elias.

»Ob du mich verstanden hast, habe ich dich gefragt?«

»Ja, Wasenmeister«, sagte Elias, deutlich lauter und mit einer Spur Verdruss in der Stimme.

Was ihm vonseiten Herrlingers eine Kopfnuss und eine entsprechende Bemerkung einbrachte.

»Nicht aufmüpfig werden, Bastard, sonst setzt es Hiebe.«

Mit einem spektakulären letzten Aufglühen hatte sich die Sonne am Horizont verabschiedet, fast schlagartig war die Dämmerung hereingebrochen. Ein bleicher Vollmond war dabei, sich seinen Platz am Himmel zu erobern, noch allerdings wirkte er fragil und durchsichtig. Soeben war Elias mit dem Enthäuten der Ziegen fertig geworden. Er hatte die blutige Unterseite im Bach gereinigt, ein Sackleinen daraufgelegt und sie zusammengerollt. Jetzt lagen beide Rollen auf einem Leiterwagen, bereit, an den Waldbauern ausgeliefert zu werden.

In den Gürtel eine Rohhautlampe eingehängt, in der eine Unschlittkerze brannte, zog Elias los. Am Rand des Tals angekommen, dort, wo der sanfte Anstieg zum Wald begann, hielt er kurz inne und sah sich um. Obwohl es noch nicht richtig dunkel war, brannte im Haus des Wasenmeisters bereits Licht. Eine Talglampe sandte einen milchig gelben Schimmer durch die pergamentenen Fenster der Wohnstube in die graublaue Dämmerung hinaus. Es hatte Herrlinger eine Stange Geld gekostet, die Fenster mit nahezu winddichten pergamentbespannten Rahmen auszustatten, wie sie nicht einmal jedes Ratsmitglied Schiltachs oder Wolfachs sein Eigen nannte. Auch wenn die meisten von ihnen in Häusern wohnten, gegen die das des Utz Herrlinger wie ein Stall daherkam. Doch obwohl er einem jener Berufe nachging, die man als »unehrbar« ansah, war er nicht arm. Im Gegenteil. Er verdiente mit seinem Gewerbe gutes Geld, sogar so viel, dass er sich zweimal im Monat im Gasthaus Zum Wilden Bären in Schiltach – es galt als das beste der Stadt – ein Essen nebst zwei ordentlich gefüllten Krügen Bier leisten konnte.

Elias erinnerte sich, wie ihn der Wasenmeister einmal in einem Anflug von Großmütigkeit – er war damals noch keine zwei Wochen bei ihm gewesen – in den Bären mitgenommen hatte.

»Nicht hier! Dieser Eingang ist für uns gesperrt«, hatte er Elias angefahren, als er das Gasthaus durch den Eingang betreten wollte, der zum Marktplatz hin lag. Er ging mit ihm zur Rückseite des Hauses, zu einer neben dem Abtritt gelegenen Hintertür.

»Siehst du, hier ist unser Platz.« Herrlinger trat in einen winzigen Bretterverschlag, in dem ein Tisch und zwei Stühle standen. An einem Nagel an der Wand, direkt neben dem Tisch, hingen zwei irdene Krüge sowie zwei hölzerne Teller an langen kleingliedrigen Ketten. Das Kabuff war ausschließlich für Herrlinger reserviert.

Er ließ sich auf einem der beiden Stühle nieder.

»Setz dich!«, wies er den Jungen an und deutete auf den anderen.

»Warum hier und nicht im Schankraum?«, hatte Elias gefragt.

»Da dürfen nur die Bürger speisen, die einem angesehenen Handwerk oder einer anderen ehrbaren Beschäftigung nachgehen. Unsereiner hat da nichts zu suchen. Wir sind gehrende Leute, wir gelten als unehrbar, hast du das vergessen?«

»Aber ist denn unser Handwerk nicht ebenso ehrbar, Wasenmeister? Die feinen Leute müssten dankbar sein, dass es uns gibt, wer würde denn sonst den Dreck wegmachen?«

Worauf Utz Elias nur wortlos angesehen und grimmig den Kopf geschüttelt hatte. »Die feinen Pinkel? Dieses verfluchte Pack glaubt, dass eine gottgewollte Ordnung es so wolle«, hatte er gemurmelt.

Johanna, ein etwa achtzehnjähriges Mädchen, das die Gäste bediente, trat an den Tisch, allerdings mit gebührendem Abstand. Herrlinger musterte sie mit unverhohlen lüsternem Blick. Die unreine Haut und ein fehlender Schneidezahn konnten über die körperlichen Vorzüge und die damit verbundenen Qualitäten, die sie in den Augen der meisten Männer besaß, nicht hinwegtäuschen. Zumal sie das, was sie hatte, selbstbewusst und kokett zur Schau trug.

»Ein Schmalzbrot und einen halben Humpen für den Bastard hier, für mich den besten Braten, den du hast, gewürztes, geschmortes Kraut und einen halben Laib Brot, aber von dem frischen weißen, wie du es den Ratsherren auftischst, mein Täubchen. Und natürlich einen vollen Humpen.«

»Ich bin nicht dein Täubchen, Wasenmeister. Und hör auf, mich anzustarren.«

»Warum nur muss ich immer an Äpfel denken, wenn ich dich sehe?«, feixte Herrlinger. »Äpfel sind mein Lieblingsobst, musst du wissen. Am liebsten pflück ich sie mir, wenn sie frisch und knackig sind.«

»Dann such dir einen Obstgarten, der zu dir passt, stinkender Bock. Zu meinem ist dir der Zutritt verwehrt.«

Johanna warf den Kopf in den Nacken, drehte sich um und ging erhobenen Hauptes und mit betont schwingenden Hüften davon.

Elias hatte damals noch lange über den Makel nachgedacht, der den unehrlichen Berufen anhaftete. Gedanken, die ihm auch jetzt wieder durch den Kopf gingen. Nicht nur Abdecker und Schinder zählten zu den Verfemten. Auch Scharfrichter, Büttel, Kesselflicker, Müller, Totengräber und Türmer sowie fahrendes Volk und Gaukler gehörten zu ihnen. Und dass Angehörige dieser Handwerke im Wirtshaus nicht zusammen mit ehrbaren Leuten an einem Tisch sitzen durften, war noch nicht einmal das Schlimmste. Sie waren noch ganz anderen Einschränkungen unterworfen, die ihnen die »gottgewollte Ordnung« auferlegte. Beispielsweise durften sie keinen Grund und Boden besitzen. Auch das Grundstück, auf dem die Wasenmeisterei lag, gehörte nicht Utz Herrlinger, sondern der Stadt, ebenso wie sämtliche Gebäude darauf. Allerdings – und bei diesem Gedanken huschte ein wissendes Lächeln über Elias’ Gesicht – auch wenn Utz keinen Zugang zu den Zünften oder städtischen Ämtern besaß, auch wenn er niemals Richter, Urteilender oder Zeuge sein konnte, keinen eigenen Grund und Boden besitzen und keine Waffen tragen durfte und eine Frau nur hätte heiraten können, wenn sie gleichen Standes gewesen wäre wie er, kurz: Auch wenn man ihn mied wie der Teufel das Weihwasser, es gab etwas, was Utz Herrlinger heimlich wichtige Türen öffnete, und das war sein Geld. Und vor dem Geld, auch das wusste Elias inzwischen, war jeder gleich. Besser gesagt: Es machte alle gleich. Ob frei oder unfrei, ob ehrenhaften oder unehrenhaften Standes, ob Ratsherr oder Bettler, Pfaffe oder Burgherr, Papst oder König – die Gier nach Geld einte die Menschen mehr als alles andere. Utz Herrlinger bildete da keine Ausnahme. Und dass er sein Geld nicht nur mit der Wasenmeisterei verdiente, glaubte Elias an verschiedenen Beobachtungen festmachen zu können, die er in den vergangenen Monaten gemacht hatte. Zum einen war ihm aufgefallen, dass Herrlinger schon mehrfach, kurz bevor der Morgen graute, das Anwesen mit Pferd und Wagen verlassen hatte, um erst am nächsten Tag vor Einbruch der Dämmerung heimzukehren. Und das, ohne etwas geladen zu haben. Aufgebrochen war er immer mit zwei Spaten, einer Hacke, einer Axt sowie einer Säge und einem großen Weidenkorb.

Als Elias mit Isidor darüber sprechen wollte, hatte der nur mit der Schulter gezuckt. Es ginge sie beide wohl nichts an, was der Wasenmeister an den beiden Tagen treibe, hatte er gemeint. Er genieße jedenfalls die Abwesenheit des Alten, da müsse man wenigstens nicht seine Launen fürchten. Womit er völlig recht hatte. Aber Elias konnte sich nicht des Eindrucks erwehren, dass Isidor mehr wusste, als er zugeben wollte.

Eine weitere mysteriöse Beobachtung hatte er an einem jener Sonntage gemacht, an denen er schon in aller Frühe durch die Wälder streifte.

Elias liebte es, um diese Stunde im Wald zu sein, wenn Nebelschleppen über den feuchten Boden schleiften und, als zöge das Licht der aufgehenden Sonne sie an, nach oben schwebten, um sich hoch über den Wipfeln zu verflüchtigen.

Plötzlich waren Stimmen durch den Dunst gedrungen. Hastig sprang Elias hinter ein Felsstück, das aus dem Waldboden ragte, und spähte in ihre Richtung. Keine fünfzig Fuß von ihm entfernt schritten zwei Männer den Pfad entlang. Einer von ihnen führte einen Fuchs mit rötlich schimmerndem Fell neben sich her, der andere war unverkennbar der Wasenmeister.

Sie blieben stehen. Elias hielt den Atem an. Obwohl die Schwaden mal mehr, mal weniger durchsichtig über den Waldboden hinwegwaberten, sah er sofort, dass der Rappe von edlem Geblüt und sein Besitzer alles andere als von gewöhnlichem Stand war; seine Kleidung war die eines vornehmen Städters. Was besonders ins Auge fiel, war der leuchtend gelbe Federbusch, den er am Hut trug. Sein Gesicht war hinter einem Tuch verborgen und ließ nur die Augen frei. Was sie miteinander besprachen, vermochte Elias nicht zu hören, dem an- und abschwellenden Murmeln nach führten sie eine lebhafte Unterhaltung. Das Treffen endete jedenfalls damit, dass der Fremde dem Wasenmeister etwas übergab, was einem prall gefüllten Beutel ähnelte …

Elias wandte sich um und schritt, den Leiterwagen mit den Ziegenhäuten hinter sich herziehend, weiter. Bald umfing ihn die Dunkelheit des Waldes, dicht belaubte Kronen schlossen sich über ihm zu einem fast undurchdringlichen Dach. Die Lampe an seinem Gürtel und der Mondschein, der sich hie und da durch das Gewirr der Äste Bahn brach und bizarre Lichtflecken auf den Weg malte, leuchteten ihm.

Keine halbe Stunde später trat er aus dem Walddunkel auf eine ausgedehnte grasbewachsene Lichtung. Er hatte den Hof von Peter erreicht. Peter war ein Bauer, den der Wald ernährte. Denn statt Getreide erntete er Holz, das er schlug und an die Floßgemeinschaften und Holzkaufleute verkaufte, die es auf der Kinzig, dann weiter auf dem Rhein bis hin nach Straßburg und Kehl und sogar bis Holland flößten. Schon auf dem Weg hierher war Elias an einer Riesbahn vorbeigekommen, einer rutschbahnartigen, aus Holz gefertigten Rinne, auf denen die geschlagenen Stämme ins Tal donnerten.

»Ah, meine Häute«, brummte Peter, der Elias auf dessen Klopfen hin geöffnet hatte. »Warte hier!«, knurrte er und verschwand kurz aus dem Blickfeld des Jungen.

Elias blickte durch die geöffnete Haustür in eine von mehreren Talgkerzen spärlich erleuchtete Stube, in der die fünf Kinder und die Ehefrau Peters an einem roh zugehauenen Tisch saßen und aus dampfenden Holzschüsseln löffelten. Einige Hühner spazierten gackernd über den festgetretenen Lehmboden, der voller Kot und Dreck war.

Elias’ Augen hefteten sich auf den leeren Platz am Tisch, an dem bis gerade eben noch der Bauer gesessen hatte. Auf den großen hölzernen Teller, auf dem ein dickes Stück Schinken nebst einer großen Scheibe dunklen Brotes lag. Daneben ein irdener Krug. Elias schätzte, dass er mit Most gefüllt war. Der Schinken dampfte, er war wohl frisch gegart worden, ein himmlischer Duft drang aus der Stube. Tief sog Elias ihn ein, während ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Von solcherlei Köstlichkeiten konnte er nur träumen. Hin und wieder, wenn Utz Herrlinger einen seiner guten Tage hatte, was äußerst selten vorkam, fielen mal ein kleines Stück Schinken oder Braten, den Erwina gesurt oder gebraten hatte, für ihn und Isidor ab. Doch was dies anging, wusste sich Elias inzwischen zu helfen. Manchmal ging er an den Sonntagen, an denen er frei hatte, in den Wald und stellte Vögeln und Kleingetier nach. Die Fallen dazu baute er sich selbst. Wenn er etwas fing, schlachtete er es an Ort und Stelle, um es auszunehmen und an einem Feuer zu braten. Es waren diese seltenen Augenblicke in seinem jungen Leben, die ihm für kurze Zeit ein Gefühl der Freiheit vermittelten. Das aber war so flüchtig wie ein Schmetterling im Wald, der sich für die Dauer eines Lidschlags auf einer Brombeerblüte niederließ, ihren Nektar genoss, sich taumelnd erhob und, einem verirrten Sonnenstrahl folgend, der den Weg durch die Baumwipfel gefunden hatte, wieder entschwand.

Der Bauer erschien. »Komm mit!«, sagte er zu Elias.

Da stand eines der Kinder, ein etwa vierjähriger Blondschopf, plötzlich vom Tisch auf und lief auf die geöffnete Haustür zu.

»Vater, wer ist der Junge? Kann er mit uns spielen?«, krähte er.

Elias lächelte ihm zu.

»Geh zurück zum Tisch, Meinrad, und iss deinen Hirsebrei. Der Junge ist nicht zum Spielen gekommen«, merkte sein Vater streng an.

»Aber Vater, ich möchte ihm gern meinen Kreisel zeigen und …«

»Ich sagte doch, der Junge wird nicht mit dir spielen, hast du nicht gehört?«

Hatte Meinrad offenbar nicht. Die Ermahnung seines Vaters ignorierend, lief er einfach weiter. Anscheinend verstand er Elias’ Lächeln als Aufforderung, ihn am Ärmel zu packen und ihn weiter in die Stube zu ziehen. Völlig überrascht von der Reaktion des Jungen ließ Elias ihn gewähren.

»Zum Teufel mit dir! Bist du des Wahnsinns? Wie kannst du es wagen, dich anfassen zu lassen?«, brüllte Peter ihn auf einmal an. Er riss seinen Sohn mit der Linken in die Stube zurück, während seine Rechte Elias vor die Brust stieß, dass er nach hinten taumelte.

Elias war zu Tode erschrocken. Erst jetzt bemerkte er, dass er soeben eine große Dummheit begangen hatte. Ein Anruchtiger, ein Verfemter, einer, der dem Wasenmeister als Knecht zur Hand ging, hatte sich nicht anfassen zu lassen, noch hatte er jemanden anzufassen, der gemäß der gottgewollten Ordnung über ihm stand.

»Ver…verzeiht, aber … Ich … Der Kleine … Ich wollte nicht …«, stotterte er hilflos.

»Schon gut«, brummte Peter, der sich sofort wieder im Griff hatte. »Du wirst das nie wieder machen. Vergessen wir’s. Und jetzt komm. Nimm den Karren mit!«

Er ging voraus zu einem Schuppen, Elias folgte ihm mit dem Handkarren.

»Hier, nimm die!« Der Bauer hieß ihn eine Speckseite, die im Schuppen an einem Haken hing, auf seinen Handkarren wuchten. Er selbst schleppte ein kleines Fass herbei, das er auf die Ladefläche stellte. »Der Most«, knurrte er.

»Für dich«, sagte Peter und legte einen großen, roten Apfel auf das Fass, den er aus einer Kiste im Schuppen genommen hatte. »Als Wegzehrung. Das vorhin … Das war nicht so gemeint. Ich meine … Du kannst ja nichts dafür, dass du … Aber merke es dir für die Zukunft. Dann ersparst du dir ’ne Menge Ärger. Klar?«

Elias nickte und bedankte sich. Der Apfel würde ihm den Heimweg versüßen.

Der Leiterwagen quietschte, als er sich wieder auf den Rückweg machte. Was wahrscheinlich an dem Fass Most und der Speckseite lag, die zusammen deutlich schwerer wogen als die beiden Ziegenhäute, die er abgeliefert hatte.

Etwa eine halbe Meile war er gegangen, den Apfel hatte er schon verzehrt, als ihn ein eigenartiges Geräusch innehalten ließ. Elias blieb stehen und hielt den Atem an, das monotone Quietschen des Handkarrens verstummte augenblicklich. Er kannte den Wald und wusste seine Zeichen zu deuten. Schließlich führte der Weg zum Anwesen des Wasenmeisters durch ausgedehntes Waldgebiet, hinzu kam, dass er jede freie Minute in den Wäldern verbrachte. Er verfügte über ein scharfes Gehör und hatte gelernt, die natürlichen Laute, die der Forst hervorbrachte, von jenen zu unterscheiden, die nicht natürlichen Ursprungs waren.

Was er soeben wahrgenommen hatte, gehörte eindeutig zur zweiten Kategorie.

Furchtsam sah er sich um. Lauschte in den Wald hinein. Inzwischen war er auf einer Schneise angekommen, die schon vor Längerem in den Wald geschlagen worden war. Der Weg zurück zum Anwesen des Wasenmeisters führte mitten hindurch und war übersät mit Spänen, Splittern und Totgehölz sowie aus dem Boden ragenden Baumstümpfen, zwischen denen sich niedriges Strauchwerk sowie Gräser und Farne behaupteten. Der Ort war ihm vertraut, er war schon oft hier gewesen. Allerdings immer am Tag. Jetzt, nachts, sah alles anders aus. Das silbrige Licht des Vollmonds ergoss sich in den Kahlschlag, der Himmel war klar, die nächtliche Bläue um ihn herum atmete Ruhe und Frieden.

Oder etwa doch nicht?

Erneut drang das Geräusch an sein Ohr. Stimmen? Ein verhaltenes Rufen, ein leises Lachen? Er vermochte es nicht zu sagen; ihm schien, als ob die Dunkelheit nicht nur das Licht, sondern auch den Schall schluckte. Eine Gänsehaut breitete sich auf seinem Rücken aus, während sein Herz wild zu galoppieren begann. Die eigenartigen Laute schienen vom rechten Rand des Kahlschlags gekommen zu sein, dort, wo die Schneise endete und in den Wald überging, der wie eine tiefschwarze Mauer dastand. Eine Mauer aus Bäumen, schoss es Elias durch den Kopf. Er spähte hinüber. Versuchte mit seinen Augen die Mauer zu durchdringen. Doch die dunkle Wand hielt seinem Blick stand, als wehrte sie sich, ihr Geheimnis preiszugeben.

Da! Ein Schatten war unvermittelt aus der Wand gehuscht und blieb, umflort vom Silberlicht des Mondes, bewegungslos stehen.

Unfähig, sich zu bewegen, verharrte Elias und starrte zu ihm hinüber. Plötzlich, wie von einem Dämon hingehaucht, stand noch ein zweiter Schatten vor der Baummauer.

In die Schatten kam Leben. Langsam zuerst, dann immer schneller bewegten sie sich durch das Unterholz auf Elias zu: in dunklen Kutten steckende Gestalten, die Kapuzen tief in die Stirn gezogen, Wesen ohne Antlitz wie aus seinen Träumen. Hatten sie die Grenze zur Wirklichkeit überschritten? Jetzt hörte er auch ihre Stimmen. Höhnisches Lachen. Rufe.

Panische Angst befiel ihn. Er wirbelte herum und rannte um sein Leben. Doch im Gegensatz zu seinen Träumen trat er diesmal nicht auf der Stelle. Im Nu hatte er die Grenze der Schneise erreicht, tauchte in das Walddunkel ein und lief wie von Furien gehetzt auf dem schmalen Pfad weiter. Aber dann wurde ihm die Lampe zum Verhängnis, die an seinem Gürtel baumelte und gegen seinen Schenkel schlug. Sie geriet ihm zwischen die Beine, ließ ihn stolpern und auf den Waldboden aufschlagen.

»Herr im Himmel, all ihr Heiligen helft mir!«, stieß er inbrünstig hervor. Zwar rappelte er sich wieder auf und lief weiter, doch der Sturz hatte ihn wertvolle Zeit gekostet.

Schritte, die in schneller Folge dumpf auf den weichen Waldboden schlugen, sowie ein rhythmisches Keuchen in seinem Rücken verrieten ihm, dass einer der beiden Schatten die Verfolgung aufgenommen hatte und ihm nah auf den Fersen war. Die Frage war, wie nah. Elias wagte nicht, sich umzusehen. Dann knallte etwas mit Wucht gegen seine Beine, sein Verfolger hatte einen Knüppel nach ihm geworfen, er wankte, stolperte, dann stürzte er der Länge nach erneut zu Boden. Im Nu war der Schatten über ihm, stieß ihm das Knie in den Rücken und presste mit beiden Händen seine Schultern zu Boden.

»Warum so eilig, Bursche?«, keuchte er. Der Zungenschlag war der eines Mannes aus dem Freiburgischen. Elias kannte den Dialekt; Herrlinger erhielt hin und wieder Besuch von Leuten, die aus jener Gegend stammten. Plötzlich begriff er: Das war keine der übermächtigen dämonenhaften Schattengestalten aus seinen Träumen, das war ein ganz gewöhnlicher Wegelagerer. Trotz seiner misslichen Lage spürte er eine gewisse Erleichterung.

»Lass mich los, was willst du von mir? Ich besitze nichts. Außerdem bin ich anruchtig, ich bin Gehilfe des Wasenmeisters. Du verunreinigst dich, wenn du mich berührst.«

»Tatsächlich?« In der Stimme des Mannes schwang Spott mit. »Sorge dich nicht um mich. Ich war einst Gehilfe eines Scharfrichters. Du siehst, Gott hat uns aus dem gleichen Holz geschnitzt. Und ob du etwas besitzt oder nicht, das werden wir gleich feststellen. Du wirst jetzt aufstehen. Wir gehen zurück zu deinem Karren! Du gehst voraus!«

Er lockerte seinen Griff und erhob sich. Elias stand auf. Der Mann packte ihn am Arm und ging mit ihm zurück zur Lichtung. Der andere stand neben dem Karren und erwartete sie bereits.

»Ein Fässchen Most und eine Speckseite. Die hat uns der Himmel geschickt, Balduin. Lass uns den Wanst vollschlagen und von hier verschwinden«, wandte er sich lachend an seinen Komplizen, der Elias am Schlafittchen hatte. Hätte es für den Jungen noch einer zusätzlichen Bestätigung bedurft, dass er es mit zwei ganz gewöhnlichen Halunken zu tun hatte, dann war es diese Bemerkung. Wesen aus der Schattenwelt lachten nicht, noch erfreuten sie sich an irdischen Genüssen wie Speck und Most.

»Sieh an, sieh an. Aber vielleicht hat uns der Himmel ja noch etwas anderes geschickt. Ich würde sagen, wir sehen mal nach, bevor wir uns den Wanst vollschlagen, was meinst du?«, schlug Balduin seinem Spießgesellen vor.

»Einen Versuch wär’s wert«, meinte der lachend.

»Zieh dein Hemd aus!«, befahl Balduin Elias und nahm die Hand von ihm.

»Weshalb sollte ich?«

»Weil ich sehe, dass du was darunter trägst. Zeig es uns.«

Elias sah an sich hinunter und erschrak. Tatsächlich zeichnete sich auf dem Hemd, das er eng am Leib trug, klar und deutlich eine Kontur ab.

Sein Medaillon. Das er hütete wie einen Schatz. Das Einzige, das ihn mit seiner tief im Dunkeln liegenden Vergangenheit verband. Ein Gegenstand, der ihm so innig vertraut und zugleich so unendlich fremd war. Und der dennoch mit ihm verwachsen schien.

Sein Medaillon in den Händen dieses erbärmlichen Packs? Niemals. Aber hatte er denn die geringste Chance gegen sie?

Elias spürte, wie seine Augen feucht wurden und zu brennen anfingen. Der Gedanke, sein geliebtes Medaillon zu verlieren, schnürte ihm die Brust zu, er zitterte, seine Gedanken rasten. Aus den Augenwinkeln sah er sich gehetzt um. Balduin, der ihn gejagt hatte, stand dicht neben ihm. Der andere, dessen Namen er nicht kannte, stand etwa fünf Schritte von ihm entfernt neben dem Karren, den er mitsamt dem Most und dem Schinken ohnehin abschreiben konnte.

»Wird’s bald? Oder sollen wir hier noch bis Sonnenaufgang stehen?«, fuhr Balduin ihn an.

Panisch musterte Elias die Umgebung in der Hoffnung, irgendetwas zu finden, womit er sich wehren könnte. Und wurde fündig. Zu seinen Füßen, gerade mal einen Schritt weit entfernt, entdeckte er neben einem dichten Brennnesselbusch einen Ameisenhaufen. Tränen der Verzweiflung ließen ihn das, was er da vor sich sah, zwar nur verschwommen wahrnehmen, dafür rückte die Idee, die Angst und Wut soeben in seiner Vorstellung erschaffen hatten, um so schärfer in sein Bewusstsein.

Kaum dass sie in seinem Kopf aufgeschienen war, ließ er sich blitzschnell in die Hocke fallen, griff mit der linken Hand in den Ameisenhaufen, während er mit der Rechten, ungeachtet des höllischen Schmerzes, ein dickes Büschel Brennnesseln ausriss. Dann schnellte er hoch, fuhr dem neben ihm stehenden Balduin mit beiden Händen unter die Kapuze und rieb ihm mit aller Kraft die Ameisenerde und die Brennnesseln ins Gesicht.

Balduin brüllte auf vor Schmerz. Er hielt sich mit beiden Händen den Kopf und brach in die Knie. Elias wirbelte sofort wieder herum und rannte, das Überraschungsmoment nutzend und ohne einen Blick auf den Komplizen Balduins zu werfen, auf den Wald zu. Die Lampe hatte er noch auf der Lichtung von sich geworfen, damit ihr Schein ihn nicht verriet.

Der Mond leuchtete ihm, während er mit weiten Sprüngen in den Wald hineinhetzte. Haken schlagend stürzte er kreuz und quer zwischen den Bäumen hindurch. Schrammte an Stämmen entlang, während Äste sein Gesicht peitschten und ihm die Arme ritzten, die er hochgerissen hatte, um seine Augen zu schützen. Brach durchs Unterholz, riss sich die Beine blutig, schlitzte sich an einer spitzen Wurzel eine Wade auf und unterdrückte den Schmerzensschrei, der ihm über die Lippen wollte. Stolperte, wankte, torkelte von Stamm zu Stamm immer weiter, immer tiefer in das bergende Dunkel des Waldes hinein. Die rechte Seite stach ihm höllisch, die Lunge schmerzte; obwohl die Nacht kühl war, schwitzte er.

Nach Luft ringend ließ er sich neben dem Stamm einer riesigen Weißtanne nieder. Das bisschen Mondlicht, das den Waldboden erreichte, verlieh der Rinde, gegen die er lehnte, einen silbrigen Glanz. Wie ein gehetztes Wild blickte er um sich und versuchte seinen keuchenden Atem unter Kontrolle zu bekommen. In der Richtung, aus der er gekommen war, ließ ein schwacher Schimmer ahnen, wo die mondbeschienene Schneise lag, der Ausgangspunkt seiner Flucht. Jetzt erst machte sich der Schmerz in der rechten Hand intensiv bemerkbar; die Brennnesseln hatten sie anschwellen lassen, sie tat höllisch weh. Wie auch sein ganzer malträtierter Körper.

Und doch krümmte ein grimmiges Lächeln seine Mundwinkel. Seltsamerweise tat der Schmerz gut, eine Erfahrung, die er später noch öfter in seinem Leben machen sollte: dass der Euphorie des Sieges nicht selten der Schmerz anhaftete, wie auch immer beides geartet sein mochte. Darüber hinaus hatte er zum ersten Mal in seinem jungen Leben begriffen, dass im Falle eines Angriffs bloße Körperkraft allein nicht über Sieg oder Niederlage entschied. Sondern auch die Fähigkeit, dem Gegner mit den Mitteln des Verstandes zu begegnen. War es letztlich nicht eine List gewesen, mittels derer er sich gegenüber seinem Angreifer behaupten konnte?

Und dann war da noch etwas. Etwas, was für die Dauer einiger Herzschläge eine dunkle Seite in seiner Seele aufscheinen ließ, die ihm bisher verborgen geblieben war und die ihn irritierte. Etwas, was ihn einerseits auf angenehme Weise erschauern ließ, vor dem ihm aber andererseits graute: das Gefühl der Befriedigung, das man verspürte, wenn man jemandem Schmerz zufügte, der einem schaden wollte. Er erinnerte sich an die Schreie Balduins, als er ihm die Brennnesseln und die Handvoll Erde ins Gesicht gerieben hatte. Und unwillkürlich fragte er sich, worin der Unterschied zu den Schreien bestand, die ihn in seinen Träumen verfolgten. Noch konnte er nicht wissen, wie sehr die Erfahrung dieser Nacht sein künftiges Leben prägen sollte und wie zwiespältig er damit umgehen würde.

Elias spürte, wie sein Atem ruhiger wurde und die innere Spannung ihn allmählich losließ. Was nicht hieß, dass er sich nicht der Schwierigkeiten bewusst gewesen wäre, die ihn erwarteten, wenn er ohne den Karren bei seinem Brotherrn auftauchte. Dass der verdammte Schinder ihn für den Verlust verantwortlich machen würde, war sonnenklar.

Der Gedanke daran verwandelte den Triumph, den er soeben noch verspürt hatte, in grelle Angst. Er versuchte, nicht an den Schinder zu denken.

Erneut blickte er angestrengt in Richtung des schwachen Scheins, der weit entfernt zwischen den Bäumen schimmerte. Fragte sich, was die beiden Schnapphähne mit dem Karren und der Ladung vorhaben mochten. »Lass uns den Wanst vollschlagen und von hier verschwinden«, hatte der Spießgeselle Balduins vorgeschlagen. Ob sie gerade mit Fressen und Saufen beschäftigt waren?

Elias sah an dem Stamm empor, an dem er lehnte. Eine riesige Weißtanne. Viel höher als ihre Schwestern. Das Astwerk begann unmittelbar über seinem Kopf und setzte sich bis in die schwindelnden Höhen des Wipfels fort, der weit über die der anderen Bäume emporragte. Da kam ihm ein Gedanke. Er schwang sich ins Geäst und kletterte, sich vorsichtig Ast um Ast vorantastend, die Tanne hoch. Weißtannen, so wusste er, waren die höchsten Bäume in diesen weiten, dunklen Wäldern. Ihre Nadeln, die aus der Ferne nicht grün, sondern schwarz wirkten, hatten vor vielen Jahrhunderten der Gegend ihren Namen gegeben. Silva nigra, schwarzer Wald, hatten die Römer, die vor über tausend Jahren hierhergekommen waren, das Universum aus Bäumen genannt, das sich vor ihnen aufgetan hatte. Das hatte Elias von jenem Mönch erfahren, dem er einmal zufällig begegnet und mit dem er ein Stück Weges zusammen gegangen war.

Der Aufstieg inmitten des dichten Astwerks war leichter zu bewältigen, als er zunächst angenommen hatte. Er ignorierte die Schmerzen, die ihm die Flucht in den Wald beschert hatte, und hatte bald die Höhe erreicht, die für die meisten anderen Bäume das Ende des Wachstums markierten, es wurde heller. Doch noch war die Krone ein gutes Stück entfernt, er kletterte weiter. Als er sie erklommen hatte, verschlug es ihm den Atem. Der Blick, der sich ihm von hier oben bot, war überwältigend. Unter ihm erstreckte sich das dunkle Meer der Wipfel und Kronen, glänzend, als habe der Mond sie mit seinem silbernen Atem angehaucht. Bis zum Horizont Wellen bewaldeter Höhen, mal steil aufsteigend, mal sanft abfallend, liebliche Täler, schroffe Schluchten.

Hoch über ihm ein Meer aus Sternen, funkelnd vor einem schwarzblauen Firmament, das poliertem, matt glänzendem Stahl glich. Der prachtvolle Anblick hätte ihn fast vergessen lassen, was der Grund seines Ausflugs in die Spitze des hoch aufstrebenden Baumes war – bis ihn ein Blick in östlicher Richtung wieder daran erinnerte.

Dort lag die Schneise. Gut einsehbar dank dem Mond, dessen Licht sich weiter gekräftigt hatte. Die Luft war glasklar. Elias kniff die Augen zusammen und versuchte seinen Blick an den unterschiedlichen Konturen zu schärfen, die dort aus dem Boden wuchsen. Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis sich aus ihnen die Silhouette des Karrens schälte. Von den beiden Gaunern war nichts zu sehen.

Wohin waren sie verschwunden? Hatten sie den Karren einfach stehen lassen und waren weitergezogen, nachdem sie sich an Speck und Most gütlich getan hatten? Wenn ja, könnte er dann nicht vielleicht …?

Nein! Auf keinen Fall! Mochte Utz Herrlinger ihn ob des Verlustes von Karren und Ladung auch noch so sehr in die Mangel nehmen – es ein weiteres Mal mit dem Gelichter zu tun zu bekommen, verspürte er nicht die geringste Lust. Allein, was sollte er jetzt tun? Etwa hier oben im Astwerk ausharren, bis die Sonne aufging? Darauf warten, dass Herrlinger sich auf die Suche nach ihm machte? Elias seufzte still in sich hinein und spürte mit einem Mal, wie das beklemmende Gefühl von vorhin in seine Brust zurückkehrte.

Nach einigem Überlegen entschloss er sich, bis zum Morgengrauen abzuwarten und dann, sobald der Tag erwachte, sich durch den Wald nach Hause durchzuschlagen. Er unterzog die Baumkrone, in die er sich hinaufgeschwungen hatte, einer genauen Prüfung. Die kräftige dreigeteilte Astgabel, in der er, mit dem Rücken an den Stamm gelehnt, saß, würde halten, kein Zweifel. Dennoch beschloss er, sich zusätzlich zu sichern. Er zog den Strick, der die Hose hielt, aus dem Hosenbund, schlang das eine Ende um Schulter und rechten Arm und machte das andere an einem weiteren kräftigen Ast fest, der aus dem Stamm ragte.

Elias blickte nach unten. Selbst wenn jemand unmittelbar an dem Baum vorbeiginge, würde ihn in das dunkle, dichte Gewirr der Äste und Zweige vor neugierigen Blicken verbergen.

Zufrieden schloss er die Augen und versuchte zu schlafen.

Kapitel 4

»Ich fasse es nicht, ich fasse es einfach nicht!«, brüllte Herrlinger und schlug abermals zu.

Elias schrie auf. Diesmal hatte der Schinder seine rechte Schulter getroffen. Viermal hatte er bis jetzt zugeschlagen. Jeder Hieb, den ihm der Alte mit der biegsamen Gerte verpasste, ließ die Haut aufplatzen und hinterließ blutige Striemen.

Zusammengekauert, das Gesicht mit den Armen geschützt, hockte Elias mit angezogenen Knien wimmernd vor der Schuppentür. Vor weniger als einer halben Stunde war er zerschunden von den Strapazen der vergangenen Nacht auf der Wasenmeisterei aufgetaucht. Die Gerte in der Rechten, hatte Herrlinger ihn schon erwartet, um Rechenschaft von ihm zu fordern. Kaum dass er mit seinem Bericht zu Ende gekommen war, hatte ihn der erste Hieb getroffen …

»Ich … Ich sagte doch schon, ich … Ich konnte nichts dafür, Wasenmeister. Ich konnte wirklich nichts dafür«, wimmerte er zum wiederholten Mal. »Sie waren auf einmal da und …«

Ein scharfes Fauchen, als die Gerte durch die Luft schnitt. Ein fünfter Hieb. Ein erneuter Aufschrei. Auf dem linken Arm des Jungen bildete sich eine blutige Spur.

»›Ich konnte nichts dafür. Ich konnte nichts dafür. Sie waren auf einmal da‹«, ahmte Herrlinger ihn nach. »Und du hast keinen anderen Ausweg gesehen, als wie ein Hasenfuß davonzurennen? Und meinen Most und meinen Schinken mitsamt dem Handkarren diesem Pack zu überlassen? Dass ich nicht lache! Ein kräftiger Bursche gegen zwei alternde Strolche. Du hättest dich wehren können.«

»Was ihr sagt, stimmt nicht, Wasenmeister«, begehrte Elias trotzig auf, während Tränen der Wut und des Schmerzes über sein Gesicht rannen. »Sie waren zwar älter, aber sie waren zu zweit, und sie waren kräftig, und außerdem habe ich mich sehr wohl …«

Fffft! Ein sechstes Mal fauchte die Gerte durch die Luft. Der Hieb traf Elias’ Handrücken.

»Wie war das? Was ich sage, stimmt nicht? Du bezichtigst mich der Lüge, du elender, undankbarer Lump?« Herrlingers Stimme überschlug sich vor Wut. Ein siebter und ein achter Hieb folgten.

Elias richtete sich aus seiner kauernden Stellung auf, warf sich bäuchlings auf den Boden, Herrlinger vor die Füße, und umklammerte seine Stiefel.

»Bitte, bitte, Herr, nicht mehr schlagen. Es tut mir leid, lasst mich alles wiedergutmachen. Bitte!«, wimmerte er.

Herrlinger ließ die Hand mit der Gerte, die er zu einem weiteren Schlag erhoben hatte, sinken. Er sah auf ihn hinunter wie ein Fürst auf einen zum Tod Verurteilten, der um Gnade winselt.

Es war nicht das erste Mal, dass Elias vor Utz Herrlinger im Dreck lag. Der Junge wusste, wie sehr sein Herr es genoss, ihn solcherart gedemütigt vor sich zu sehen. Bestärkte es ihn doch in der Annahme, er wäre mehr als ein versiffter Niemand, der einem unehrlichen Handwerk nachging und mit dem gottgewollten und unabwaschbaren Makel des Verfemten behaftet war. Elias hatte ihn längst durchschaut und wusste, dass Utz Herrlinger in Augenblicken wie diesen seine Macht weidlich auskostete. Und waren nicht Macht, Ansehen und Geld die wichtigsten Pfeiler eines für ihn erstrebenswerten Lebens? Geld besaß Herrlinger zwar mehr als genug, aber Macht und Ansehen waren ihm versagt geblieben. Dennoch, auch das meinte Elias an gelegentlichen Äußerungen des Wasenmeisters ablesen zu können, träumte er davon, eines nicht mehr fernen Tages die gottgewollte Ordnung zu durchbrechen. Denn letztlich waren auch Macht und Ansehen für ihn nur eine Ware. Und Waren, davon war der Wasenmeister überzeugt, konnte man kaufen.

»Du sagst also, du willst alles wiedergutmachen?«, knurrte Herrlinger. »Nun, du sollst die Gelegenheit dazu erhalten. Demnächst. Und jetzt steh auf. Erwina wird sich um deine Wunden kümmern. Später wirst du mit Isidor nach dem Karren sehen. Vielleicht steht er ja noch da, wo du ihn im Stich gelassen hast.«

Nachmittags, um die neunte Tagesstunde, brachen sie auf. Isidor hatte vorsorglich einen dicken Knüppel mitgenommen. Zuvor hatte Erwina Elias’ Wunden behandelt. Herrlinger hatte ihr eine von ihm selbst zubereitete Tinktur gegeben, mit der er sowohl Pferde als auch Menschen kurierte. Auf offene Wunden geträufelt, verhinderte sie, dass sie sich weiter entzündeten, und beschleunigte die Heilung. Auch einen schmerzstillenden Kräutertrunk hatte Erwina ihm auf Anweisung Herrlingers verabreicht.

Als Schinder kannte dieser sich nicht nur mit den eigentlichen Belangen seiner Tätigkeit aus; wie viele seiner Berufsgenossen verstand er sich auch auf die erfolgreiche Behandlung von Wunden und Knochenbrüchen. Aufgrund ihrer täglichen Praxis und der dadurch erworbenen anatomischen Kenntnisse hatten Angehörige seines Handwerks ein nicht zu unterschätzendes Wissen um das Wesen äußerlicher Verletzungen sowie deren Behandlung erlangt. Manchmal gingen Kranke lieber zu ihnen anstatt zu den Badern und Wundärzten, die geradezu neidisch auf die Fähigkeiten ihrer »Konkurrenten« blickten. Kamen Kranke zu einem Schinder, um sich behandeln zu lassen, galt die Regel, dass der Makel der Unehrlichkeit nicht auf dessen Kunden übersprang.

Oft ging Elias seinem Brotherrn bei der Wundbehandlung und dem Richten von Knochenbrüchen zur Hand und erwies sich als gelehriger und wissbegieriger Schüler. Es waren Sternstunden in seinem tristen Dasein, Augenblicke, in denen der Hass, den er gegenüber dem Schinder empfand, vorübergehend in den Hintergrund trat.

Auch die Salbe, die der Wasenmeister hergestellt und die Erwina auf Elias’ Wunden geschmiert hatte, zeigte vom Können Herrlingers. Sie hatte bald ihre schmerzstillende Wirkung entfaltet, und obwohl Elias anfangs noch gehörig humpelte, kamen sie immer besser voran.

Während sie gingen, redeten sie lange kein Wort miteinander. Erst als sie sich der Schneise näherten, brach Isidor das Schweigen.

»War nich in Ordnung, wie der Alte dich behandelt hat, war nich in Ordnung. Hast mir echt leidgetan«, meinte er und klopfte Elias auf die Schulter. Isidor hatte, bevor sie aufgebrochen waren, einen halben Krug Most geleert, was seine Empathie erklärte.

»Eines Tages werde ich es dem Sausack heimzahlen, glaub mir«, versicherte Elias ihm zähneknirschend. Tatsächlich wuchs mit jedem Mal, wenn der Wasenmeister ihm gegenüber ausrastete, der Hass auf ihn. Die Erinnerungen daran sammelten sich in ihm an, wie Exkremente in einer Kloake. Er schämte sich ihrer, sie demütigten ihn, er kam sich schmutzig und wertlos vor, sooft er an sie dachte. Sie einfach aus seinem Kopf zu verbannen, vermochte er nicht.

Der Karren stand tatsächlich noch da. Von der Speckseite fehlte jede Spur, im Gegensatz zu dem Fässchen. Es stand auf der Ladefläche, doch im Spundloch fehlte der Stöpsel. Isidor hob es an und schüttelte es. Ein leises Plätschern ließ ihn in erwartungsvoller Vorfreude kichern.

»Ein paar Schlucke dürften noch drin sein«, meinte der Knecht augenzwinkernd. »Wollen wir?«

»Ich nicht.« Elias schüttelte den Kopf.

Isidor hob das Fässchen an, legte den Kopf in den Nacken, setzte seine Lippen an das Spundloch – und spuckte die »paar Schlucke«, noch bevor sie seine Kehle erreicht hatten, mit einem Laut des Abscheus wieder aus.

»Pfui Teufel! Der Gehörnte soll dich holen, verdammtes Mistviech!«, fluchte er der riesigen Spinne hinterher, die er fast verschluckt hätte und die in offensichtlicher Panik ins Unterholz floh.

Unwillkürlich entfuhr Elias ein Lacher – der ihm gleich darauf im Halse stecken blieb. In einer Entfernung von etwa fünfzig Fuß hatten seine scharfen Augen etwas wahrgenommen, was ihm einen Schauer über den Rücken jagte.

Hinter den Überresten eines toten Baumstamms lugten die Füße eines Mannes hervor.

»Da, sieh! Verdammt!«, flüsterte er und packte Isidor am Ärmel.

»Was ist?«

»Sieh doch, da vorne. Hinter dem Stamm.«

»Verflucht, du hast recht. Jetzt seh ich’s auch. Einer von denen?«

Elias schüttelte den Kopf. »Glaub ich nicht.«

»Lass uns nachsehen.«

Isidor umfasste seinen Knüppel derart fest, dass die Knöchel weiß hervortraten; gemeinsam stapften sie durchs Unterholz und standen gleich darauf vor dem Leichnam eines alten Mannes. Anscheinend ein Bettler, denn Kleidung konnte man das, was seinen ausgemergelten Körper bedeckte, nicht nennen, Lumpen war der geeignetere Ausdruck. An den Füßen trug er etwas, was einmal Schuhe gewesen sein mochten: abgewetzte Sohlen, die Ränder mit Löchern versehen und mit Schnüren durchzogen, die um die dürren Knöchel gewickelt und verknotet waren. Ein Hut, ebenfalls durchlöchert, die Krempe schmierig und halb abgerissen, lag neben dem völlig kahlen Kopf. Das wettergegerbte Gesicht war mit braunen Flecken übersät, ein entbehrungsreiches Leben hatte ungezählte Furchen hineingepflügt. Den zahnlosen Mund weit aufgerissen – lediglich ein Schneidezahn saß noch im Kiefer –, starrte er mit glanzlosen Augen unter weißen buschigen Brauen ins Leere.

»Arme Sau«, entfuhr es Isidor.

Elias ging in die Hocke und sah sich den Toten näher an. Er konnte nichts erkennen, was auf einen gewaltsamen Tod hingedeutet hätte. Um sicherzugehen, dass kein Leben mehr in ihm war, legte er seine Finger an den Hals des Mannes und nahm seinen Arm, der sich problemlos hin- und herbewegen ließ.

»Es hat ihn erwischt, kein Zweifel. Aber er ist noch warm, außerdem lassen sich seine Glieder bewegen, ich glaube, der Mann ist noch keine zwei Stunden tot.«

Isidor sah ihn bewundernd an. Im Gegensatz zu Elias hatte Herrlinger ihn nie hinzugezogen, wenn Leute zu ihm kamen, um sich kurieren zu lassen. Elias hingegen hatte jede Gelegenheit genutzt, um von dem Wissen, über das der Wasenmeister verfügte, zu profitieren.

»Haben die ihn auf dem Gewissen, was meinst du?«, fragte Isidor. Den Knüppel fest in der Rechten, sah er sich misstrauisch um.

»Du meinst die beiden Dreckshunde, die es auf mich abgesehen hatten? Nein, die sind nicht an seinem Tod schuld. Bis jetzt kann ich keine Wunden an ihm erkennen. Aber lass uns ihn umdrehen.«

»Auch hier keine frische Wunde«, konstatierte er nach einer erneuten Inaugenscheinnahme. »Wahrscheinlich das Alter.«

»Vielleicht hatte er ein Freischlein?«, mutmaßte Isidor.

Elias zuckte mit der Schulter. »Du meinst, ihn hat der Schlag getroffen? In seinem Alter gibt’s viele Möglichkeiten, Gevatter Tod auf die Schippe zu springen. Schau ihn dir doch an. Klapperdürr. Vielleicht hatte er einfach die Dörrsucht oder er litt an Ettich, weil ihn die Säfte verließen, was weiß ich.«

Im Laufe der Zeit hatte Elias vom Wasenmeister auch den einen oder anderen Ausdruck aufgeschnappt, mit denen die unterschiedlichsten Krankheiten belegt wurden.

»Wir müssen dem Alten sagen, dass wir ihn gefunden haben. Der wird den Leichenfund beim Rat anzeigen. Das Land hier ist dem Schiltacher Stadtfrieden unterworfen.«

Über die Miene Isidors huschte eine dunkle Wolke.

»Wird er nicht«, orakelte er murmelnd. »Stattdessen wird er …« Er unterbrach sich. Schlug sich erschrocken auf den Mund, als wäre ihm soeben etwas entschlüpft, was er besser für sich behalten hätte.

»Wieso nicht? Was wird er stattdessen, was wolltest du sagen?«

»Nichts. Gar nichts. Ich meinte … Ich wollte … Ach, lass mich in Ruhe, verdammt!«

Aber Elias’ Misstrauen war geweckt. Wieder eine dieser Gelegenheiten, die ahnen ließen, dass Isidor etwas wusste, von dem er glaubte, dass es besser verborgen blieb?

»Was ist? Sag schon! Was soll die Geheimniskrämerei? Ich merke schon seit Langem, dass du Dinge weißt, die du besser nicht wissen solltest. Oder nicht wissen wolltest. Stimmt’s?«

»Ich sagte, mach’s Maul zu.«

Ohne dass er hätte sagen können, weshalb, stieg eine Vermutung in Elias auf.

»Hängt es mit dem Fremden zusammen, dem mit dem gelben Federbusch am Hut?«

Isidor sah ihn entsetzt an und packte ihn am Ärmel.

»Was weißt du von ihm?«

»Nichts! Deswegen frag ich dich ja. Ich hab ihn nur einmal zufällig gesehen, als er sich mit dem Alten im Wald traf. An einem der Sonntage, an denen ich frei hatte. Die beiden unterhielten sich, und dann gab ihm der Fremde einen Beutel. Sah aus wie ’ne Geldkatze.«

Isidor schwieg und nagte aufgeregt an seiner Unterlippe. So, als ob zwei Seelen in seiner Brust einen Kampf ausfochten.

»Der Alte macht mit ihm Geschäfte, richtig?«, bohrte Elias nach. »Was sind das für Geschäfte? Und was hat das alles mit dem toten Bettler zu tun? Warum, glaubst du, wird er den Leichenfund nicht dem Rat melden?«

Da packte ihn Isidor mit beiden Händen am Hemdkragen. Eine der Seelen in seiner Brust hatte sich durchgesetzt.

»Das willst du nicht wissen, das willst du wirklich nicht wissen«, zischte er.

»Aber du weißt es, stimmt’s?«

»Ja, aber glaub mir, besser wär, ich wüsste es nicht. Kommt der Alte dahinter, dass ich’s weiß, ist mein Leben keinen Pfifferling mehr wert. Ich rate dir, vergiss den Fremden, vergiss, was du wissen willst, vergiss das Gespräch, das wir gerade führen. Du willst wissen, warum? Ganz einfach: Ich mag dich. Und ich will nicht, dass dieser Fremde oder der Alte oder wer auch immer dir eines Tages ein Messer zwischen die Rippen jagt. Und deswegen werden wir dem Alten nichts über den Bettler sagen. Wir haben ihn einfach nicht gesehen. Soll er hinter dem Baumstumpf verrotten, er spürt ohnehin nichts mehr. Haben wir uns klar verstanden?«

Erschrocken sah Elias den Kumpel an. Dann nickte er. Verstanden allerdings hatte er nichts. Gar nichts.

Kapitel 5

Nordschwarzwald, Gegend um Alpirsbach

Zwei Jahre zuvor

Juni Anno Domini 1323

Es war die siebte Nacht ihrer Odyssee durch die Wälder.

Am späten Abend hatten erste Vorboten ein Unwetter angekündigt und Ranghild von der Stelle, an der sie geglaubt hatte, Schlaf finden zu können, vertrieben. Und so beschloss sie, nach einem geeigneteren Unterschlupf Ausschau zu halten und dabei laut ein Vaterunser zu beten. Sie kannte die Vorzeichen solcher Unwetter zur Genüge, schließlich war sie in den Wäldern zu Hause. Den ganzen Tag über war es unerträglich heiß und schwül gewesen. Dann hatte ein unschuldig wirkendes Lüftchen zu wehen begonnen, dessen Unschuld sich jedoch – wie Ranghild wusste – als trügerisch erweisen würde. Schnell war ein handfester Sturm daraus geworden. Böen fegten über die Wipfel, pflügten durch das Blättermeer und ließen Äste knacken und Zweige brechen. Dicke Wolkenbänke waren heraufgezogen und hatten die Bläue des Nachthimmels im Nu in undurchdringliches Schwarz verwandelt. Schon die ersten Regentropfen, die gleich darauf prall und schwer auf das Blätterdach schlugen, ließen ahnen, welche Gewalt den Regenfluten innewohnte, die bald herniederprasseln sollten. Was dann folgte, vermittelte ihr den Eindruck, als zürnte der Himmel ihr persönlich.

Vielleicht weil sie all das, was ihr einst lieb und teuer gewesen war, von einer Stunde zur anderen im Stich gelassen hatte? Aber was hätte sie denn anderes tun sollen?

Ein grelles Leuchten, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Knall, eröffnete das Inferno.

»Vater unser, der du bist im Himmel … All ihr Heiligen, helft mir … Ihr Geister des Waldes, ich rufe euch an!«

Als wäre krachend ein Damm geborsten, stürzten die Fluten vom Himmel. Blitz und Donner folgten in Intervallen von nur wenigen Wimpernschlägen aufeinander. Mit dem Sturm und den Fluten war die Kälte gekommen. Der Stoßgebete waren viele geworden, und noch immer war Ranghild schluchzend auf der Suche nach einem geeigneten Unterschlupf. Längst schon hatte der Regen durch das dichte Laubdach zu schlagen begonnen, Wasser triefte von den Ästen und Zweigen, ganze Bäche liefen an den Stämmen entlang. Panisch bewegte sie sich durchs Unterholz, zwängte sich durch das Gewirr aus Sträuchern, Büschen, Gras und Farnen, rutschte über bemooste Steine und stolperte über Wurzeln, die sich wie erstarrte Schlangen über den Waldboden wanden.

»Heilige Mutter Gottes … Bitte für uns Sünder …«

Sie schrie auf, taumelte. Ein heftiger Schmerz durchzuckte sie. Etwas Spitzes hatte sich in ihre Wade gebohrt, sie fühlte, wie das Blut warm an ihrem Bein entlangrieselte.

Da bemerkte sie zwischen den Stämmen einen flackernden Schein. Zwar wurde er immer wieder vom grellen Aufscheinen der Blitze geschluckt, leuchtete aber in den dunklen Momenten dazwischen unverdrossen weiter. Dem Schimmer folgend, gelangte sie auf einen ausgetretenen Pfad, der zu einer Lichtung führte, auf der eine geräumige Hütte stand. In einem Windfang vor dem Hütteneingang, geschützt vor Regen und Wind, flackerte das Feuer einer Pechpfanne. Sie kämpfte sich durch das Wüten der Elemente, die hier auf der Lichtung mit ungehemmter Wucht tobten, und schlug schluchzend und schreiend gegen die Bohlentür.

»Bitte öffnet! Macht auf, bitte macht auf!«, schluchzte sie.

Nichts rührte sich.

»Ich bitte um Obdach!«, schrie sie und trommelte wild gegen die Tür. »Um der Barmherzigkeit Christi und der heiligen Mutter Gottes willen, gewährt mir Obdach. Nur eine Nacht.«

Es dünkte sie eine halbe Ewigkeit, bis endlich ein dumpfer Ruf an ihr Ohr drang.

»Wartet!«

Als ihr schließlich geöffnet wurde, hatte sie das Empfinden, als wäre eine weitere Ewigkeit vergangen. Eine betagte Frau stand vor ihr. Ein heftiger Windstoß fuhr heran, brachte die Alte kurz zum Taumeln und drohte ihr die Tür aus der Hand zu reißen. Ihren Anblick würde sie nie vergessen. Hoch aufgerichtet, einen flackernden Kienspan in der Rechten, stand sie im Türrahmen, bekleidet nur mit einem Hemd aus grobem Leinen, das bis zum Boden reichte. Trotz des gewellten schlohweißen Haares, das ihr weit über die Schultern bis auf die Hüften fiel, wirkte sie auf den ersten Blick auf seltsame Weise alterslos.

Ranghild brachte kein Wort heraus, bebend vor Kälte und fortwährend schluchzend starrte sie die alte Frau an, die sie ihrerseits mit wachen Augen musterte. Tränen und Blut rannen ihr übers Gesicht, das sie sich an unzähligen Ästen und Zweigen aufgerissen hatte. Klatschnass und schwer fiel das Haar auf ihre Schulter. Von ihrer Kleidung troff Wasser in kleinen Bächen und bildete zu ihren Füßen eine stetig größer werdende Pfütze. Sie musste einen furchtbaren Anblick bieten.

»Schnell, tritt ein, Mädchen!«, forderte die Alte sie auf; sie hatte sichtlich Mühe, sich gegen die Gewalt des Windes zu stemmen, um die Tür wieder zu schließen. Erst später sollte Ranghild von ihr erfahren, dass sich in jener Nacht nicht nur der Schrecken vor dem Unwetter in ihrem Blick spiegelte. Es sei noch etwas anderes gewesen, was sie in ihren Augen las, hatte die alte Frau zu ihr gesagt. Eine seltsame Starre, die sie zunächst davon abgehalten hätte zu fragen, wer sie sei und woher sie komme. Ein Ausdruck, der auf ein kurz zuvor erlebtes furchtbares Grauen habe schließen lassen. Ohne lange zu zögern, bereitete sie dem Mädchen in einer warmen Ecke neben dem Herd ein Lager. Nach einem Trank, den sie ihr noch spät in der Nacht gereicht hatte, war Ranghild weggedämmert. Stunden später aber war das Fieber über sie gekommen. Die ganze Nacht hindurch bis in den späten Morgen hinein hatte sie geglüht. Unruhig hatte sie sich auf dem Lager hin und her gewälzt, das die Alte für sie bereitet hatte, hatte im Traum vor sich hin fantasiert und sich fast die Seele aus dem Leib gehustet. Die Kälte, die Nässe, die Furcht – es war alles zu viel gewesen. Geschweige denn das, was sich unausgesprochen hinter ihrem Blick verbarg. Kurz vor Tagesanbruch hatte sie einen weiteren Kräutertrank gereicht bekommen, der sie erneut wegdämmern ließ.

»Es geht dir besser, wie ich sehe.«

Ranghild öffnete blinzelnd die Augen. Die alte Frau stand an ihrem Lager. Durch ein Fenster strömte helles Tageslicht, Sonnenstrahlen wärmten die Bettstatt, auf der sie lag.

»Wie … wie lange …?«, fragte Ranghild flüsternd.

»Eine Nacht und mehr als die Hälfte eines Tages, mein Kind«, entgegnete die Alte. Sie fühlte Ranghilds Puls und legte den rechten Handrücken auf ihre Stirn.

»Aber das Fieber ist gewichen. Gott und den Heiligen sei Dank.«

Ranghild lächelte. »Und Euch, werte Dame«, sagte sie schwach.

Die Alte schmunzelte. »›Werte Dame‹? Ich bin keine werte Dame. Ich bin Gret, einfach nur Gret. Kräutergret nennen mich die, die bei mir Rat und Heilung suchen. Magst du mir deinen Namen sagen?«

»Ich heiße Ranghild.«

»Was hat dich hierher in die Wälder verschlagen, Ranghild?«

»Ich … ich …« Ranghild unterbrach sich, sie zögerte, ihre Brust wogte erregt auf und ab. Sanft legte die Alte ihre Hand auf die Stirn des Mädchens.

»Du musst es mir nicht sagen, Kind, wenn du es nicht möchtest«, sagte sie leise. »Es gibt Dinge, von denen wir wollen, dass sie in den Tiefen unserer Seele verschlossen bleiben. Erinnerungen zum Beispiel. Schlechte und gute gleichermaßen. Schlechte wie in einem dunklen Kerker, gute wie in einer kostbaren Truhe. Manchmal für kurze Zeit, manchmal für immer. Manchmal auch kommt jemand, der den Schlüssel und die Macht besitzt, unser Innerstes aufzuschließen und sie herauszulassen. Und manchmal schickt uns das Schicksal ein Ereignis, das die Tür des Kerkers oder das Schloss der Truhe aufbricht.«

Ranghild sah sie nachdenklich an. »Ihr seid eine weise Frau, Gret. Es ist schön, Euch zuzuhören«, sagte sie leise und fuhr fort: »Meine Erinnerungen sind wie schwarze Vögel, gefangen in einem Käfig. Ich wünschte, jemand käme, um ihn aufzuschließen, und die Vögel würden einfach wegfliegen. Doch das wird niemals der Fall sein. Die schwarzen Vögel werden immer da sein.«

Gret streichelte ihre gefalteten Hände, die auf der Decke ruhten.

»Sag das nicht, Kindchen. Noch krächzen die Vögel und hacken mit den Schnäbeln nach dir. Aber du bist noch sehr jung. Der Tag wird kommen, an dem du ihr Krächzen nicht mehr hören und das Hacken ihrer Schnäbel nicht mehr spüren wirst. Vielleicht werden die Vögel nie wegfliegen. Aber sie werden dir nicht immerfort wehtun.«

Ranghild sah sie dankbar an. Sie spürte: Dies waren Worte, die sie ihr ganzes Leben hindurch begleiten würden.

»Weißt du denn, was du künftig tun wirst? Wohin willst du gehen?«, fragte Gret.

Ranghild schwieg. Diese Frage hatte sie sich bereits in jener Nacht vor über einer Woche, in der sie Hals über Kopf geflohen war, gestellt. Bis jetzt hatte sie keine Antwort darauf gefunden.

Gret nickte. Sie drang nicht weiter in sie, was das Mädchen erleichtert zur Kenntnis nahm.

»Jetzt werde erst mal gesund, danach sehen wir weiter«, schlug sie vor. »Du kannst so lange bleiben, wie du möchtest.«

»Ich danke Euch, Gret. Ihr seid überaus gut zu mir«, erwiderte Ranghild. Die Starre in ihrem Blick war einem warmen Leuchten gewichen.

Die Alte erhob sich. »Ich werde nach Lisa sehen – meine Ziege, sie muss gemolken werden.« Sie lächelte, als sie den fragenden Blick des Mädchens bemerkte.

»Lasst mich das machen, Gret.«

»Du kannst melken?«

»Ja, ich habe früher des Öfteren beim Melken geholfen. Auf dem Hof mein…« Ranghild schlug erschrocken die Hand vor den Mund.

Gret hakte nicht weiter nach.

»Kannst du denn schon aufstehen?«, fragte sie stattdessen.

»Ich denke doch.«

Ranghild schlug die Decke zurück, schwang die Beine vom Lager und sprang auf. Dann aber schwankte sie und ließ sich wieder auf die Bettstatt zurückfallen, was ihr sichtlich peinlich war.

»Es geht doch noch nicht so gut«, merkte sie kleinlaut an.

»Dir ist noch schwindlig«, stellte Gret fest. »Ich werde dir noch mal eine Mixtur zubereiten, dann ruhst du noch ein Weilchen und stehst auf.«

Der Trank wirkte Wunder. Schon wenige Vaterunser später erhob sich Ranghild vom Lager und zog sich die sauberen Sachen an, die Gret für sie bereitgelegt hatte. Sie passten nicht ganz, aber es störte sie nicht.

»Magst du dich ein bisschen bei mir umsehen?«, fragte Gret.

Ranghild nickte eifrig.

»Dann komm!«

Sie traten aus der Tür ins Freie und gingen hinter die Hütte. Tief sog Ranghild die würzige Waldluft in ihre Lungen. Von einem wolkenlosen Himmel lachte die Sonne. Zwei entwurzelte Tannen am Rand der Lichtung sowie ein paar größere Äste und Zweige, die der Sturm heruntergeschlagen hatte, erinnerten noch an das Unwetter, das vor zwei Tagen über die Wälder getobt war.

Ein Meckern ließ Ranghild aufmerken. Etwa zwanzig Schritte entfernt bemerkte sie einen kleinen Bretterverschlag, davor eine weiß-braun gescheckte Ziege, die an einen Pflock angeleint war.

»Das ist Lisa«, erklärte Gret und lächelte.

Sie gingen weiter und betraten einen sorgfältig gepflegten, mit Pfosten eingefriedeten Garten, der gleich hinter der Wohnhütte lag. Die Mitte markierte ein gemauerter Brunnen.

»Mein Kräutergarten«, erklärte Gret. »Hier ziehe ich Kräuter und Heilpflanzen. Auch solche, die nicht in unserer Gegend wachsen. – Oh, da hat der Sturm doch tatsächlich einen Ast in mein Krokusbeet geworfen. Meine Neuerwerbung.« Sie ging zu einem Beet, das gelb blühte, und entfernte den Ast, den sie über die hüfthohe Palisade warf.

Ranghild sah sie fragend an.

»Crocus satinus«, erklärte Gret. »Die Pflanze stammt ursprünglich aus dem fernen Süden. Sie stärkt Herz und Leber und vermag den Seelenschmerz zu vertreiben.«

Ranghild musterte die vielen Beete mit den unterschiedlichen Gewächsen.

»So viele Pflanzen und Kräuter! Und alle heilen?«

Gret schmunzelte. »Eigentlich gibt es nur eine Krankheit, der nicht mit den Gewächsen, die uns die Natur zur Verfügung gestellt hat, beizukommen ist.«

»Und welche ist das?«

»Der Tod, mein Kind. Contra vim mortis non est medicamen in hortis – gegen den Tod ist kein Kraut gewachsen. Ein Sprichwort, das aus dem Süden stammt, aus Salerno.«

»Ihr sprecht Latein?«, wollte Ranghild wissen.

Gret nickte.

»Ist das nicht ungewöhnlich für eine Frau?«

»Ungewöhnlich vielleicht. Aber nicht unmöglich. Ich habe es mir einst angeeignet, als ich noch das Habit einer Nonne trug und als Kopistin im Scriptorium in einem Franziskanerinnenkloster tätig war.«

»Ihr trugt den Schleier?«

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