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Die Spreewaldgurkenverschwörung

hier erhältlich:

Schon immer stand Apothekenhelferin Helene im Schatten ihrer schönen und gnadenlos gemeinen Schwester, der Staatsanwältin Lisa. Bei jeder Gelegenheit wird sie von ihr in die Pfanne gehauen. Doch als Lisa sie nun wegen Mordverdacht in Untersuchungshaft bringt, geht sie echt zu weit. Helene ist doch nur zufällig beim Medikamente ausliefern über diese Leiche gestolpert und dann hat sie halt dummerweise das Messer rausgezogen und dann war da überall Blut … Da kann sie doch nix dafür! Frisch aus dem Gefängnis entlassen schwört sie Rache. Die Einladung zu einem Schwesternwochenende im Spreewald passt da perfekt. Jetzt wird abgerechnet! Doch irgendwas ist faul im Spreewald und das Chaos stets nur ein Gurkenglas entfernt …


  • Erscheinungstag: 10.06.2016
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783956499012
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Plötzlich ein Stoß. Ich falle. Das Wasser schlägt über mir zusammen. Es ist kalt, so kalt.

Verzweifelt nach Luft schnappend, tauche ich auf und schlage wild um mich. Lisa steht auf dem Steg. Sie steht einfach so da und macht keine Anstalten, mir zu helfen. Lächelt sie etwa?

Die Kräfte verlassen mich, ich gehe unter. Meine Lungen brennen. Mein letzter Gedanke ist: Warum hasst du mich so, Lisa? Ich bin doch deine Schwester.

Dann versinkt die Welt um mich in Dunkelheit.

1. KAPITEL

Das Wundermittel hat geholfen, Kindchen. Ich brauch Nachschub“, rief Frau Nolte schon von Weitem und zerrte an ihrem Rollator, der vor dem Portal der Apotheke im Kopfsteinpflaster hängen geblieben war. Der neunte Gong der Kirchenglocke verhallte. Ich kam mit puderrotem Gesicht angehetzt, verhedderte mich so in meinen Taschen, dass ich beinahe stürzte.

Keuchend rief ich zurück: „Dem Rücken ihres Mannes geht es demnach besser?“

„Langsam, langsam, Kindchen! Atme erst einmal tief durch!“ Der graue Dauerwellenkopf der hochbetagten Rentnerin wippte vor Aufregung unkontrolliert auf und ab. Strahlend und mit Tränen in den Augen sagte sie: „Vorgestern hat mein Albert nach Monaten zum ersten Mal wieder gelächelt. Die nässenden Stellen sind dank der Behandlung mit deiner selbst gemischten Salbe verheilt.“

Ich tätschelte ihr begeistert den Arm. „Das hatte ich gehofft! Die Salbe mit Papaya wirkt nämlich auf ganz natürliche Weise antiseptisch und schmerzstillend. Schon die Aborigines haben mit dem Wirkstoff schwere Verletzungen behandelt. Es freut mich, dass ich Ihrem Mann helfen konnte.“

„Ohne Sie, Helene, hätte er sich längst umgebracht.“

„An so etwas Schlimmes dürfen Sie nicht einmal denken.“

Die alte Dame überschüttete mich mit Dankbarkeit in Form einer Schachtel Pralinen, die sie mir aus dem Korb ihres Rollators reichte.

„Das ist doch nicht nötig“, bedankte ich mich mit einem Knicks. „Ich mache nur meine Arbeit.“

„Die machst du gut, weil du mit dem Herzen dabei bist. Das ist nicht selbstverständlich.“

In der Apotheke brannte kein Licht. Der feuerspuckende Drachen alias meine Chefin, Beate Fürst, war also noch nicht eingeflogen „Puh!“, schnaufte ich und wühlte in meiner riesigen Umhängetasche nach dem Schlüssel.

Irgendwo hatte ich ihn hingesteckt, fragte sich nur, wohin … Ich durchforstete den Beutel mit den Frischhaltedosen, in denen sich lauter gesunde Sachen für Frühstück und Mittagessen befanden. Lecker! Seit Tagen nahm ich die Dosen abends halbvoll wieder mit nach Hause: Erstens, weil ich in der Hektik des Tages kaum zum Essen kam, und zweitens, weil der Inhalt mich eher zum Verzicht animierte. Meistens rannte ich dann doch zum Bäcker gegenüber und genehmigte mir ein oder zwei Streuselschnecken.

Fehlanzeige! In diesem Beutel war der Schlüssel auch nicht verschollen. Dann blieb nur noch Tüte Nummer drei mit der Regenjacke, die ich trotz Sonnenschein vorsorglich eingepackt hatte. Ich wollte vermeiden, dass mich meine Chefin, die Fürstin, wieder mit einem frisch gebadeten Meerschweinchen verglich, falls es doch regnete und ich keinen Parkplatz in der Nähe fand. Dagegen war ich nämlich allergisch!

Bingo! Ich klaubte den Schlüssel heraus und scannte die Umgebung nach einer Rothaarigen im Designerfummel mit Kalbsledertasche ab. Von meiner neuen Arbeitgeberin war weit und breit nichts zu sehen. Bloß gut, denn sie hasste es, wenn ihre Apotheke nicht Punkt neun Uhr öffnete.

„Du siehst erschöpft aus, und der Tag hat erst begonnen“, unterbrach Frau Nolte meinen Gedankengang.

„Ich bin ja auch schon durch halb Wilmersdorf gedüst und habe Medikamente ausgeliefert.“

„Und dann stehst du bis abends noch im Laden?“, fragte die alte Frau nachdenklich. „Kein Wunder, dass heutzutage so viele junge Leute ausgebrannt sind. Die Fürstin ist auch so eine Schinderin. Bezahlt sie dich wenigstens ordentlich?“

Schulterzuckend dachte ich an mein mickriges Gehalt und die endlos erscheinenden Arbeitstage, weit über die Öffnungszeiten der Apotheke hinaus.

Frau Nolte schnaubte erbost: „Du musst also eher noch Geld mitbringen. Diese Ausbeuterin!“

„Warum haben Sie gestern nicht einfach angerufen? Ich hätte Ihnen die Salbe doch gebracht“, sagte ich, ohne weiter auf meine miserable Jobsituation einzugehen.

„Hab ich doch, aber deine Chefin hat mich abgewimmelt und gemeint, dass ich die drei Schritte über die Straße ja noch laufen könnte. Der Hans würde sich im Grabe umdrehen, wenn er sehen könnte, wie die Beate mit seinen Kunden umspringt. Ja, ja! Die Frau Doktor der Pharmazie!“, giftete Frau Nolte und reckte dabei ihre faltige Nase in die Höhe. „Trotzdem hat sie keine Ahnung. Wenn sie einen berät, ist das, als würde ein Blinder über Farben sprechen.“

Ich schmunzelte. „Seien Sie nachsichtig mit ihr! Frau Fürst arbeitet sich noch ein. Dass sie die Apotheke übernimmt, kam für sie sehr überraschend.“

„Ein halbes Jahr ist lang genug. Sie hat doch gar kein Interesse an ihrem Erbe. Es wär für alle besser gewesen, wenn sie Modedesignerin geworden wäre“, winkte die alte Dame ab.

Meine eingebaute Kühlung streikte. Eine Haarsträhne aus meinem nachlässig gebundenen Zopf klebte an meiner Wange. Ich strich sie mir hinters Ohr. Die Sonne brannte, und das Thermometer im Schaufenster des Optikers nebenan zeigte bereits dreiundzwanzig Grad. Natürlich war ich mit der dicken körperformenden Strumpfhose unterm Jeansrock wieder einmal völlig falsch angezogen. Das angeblich atmungsaktive Teil presste meine Problemzonen so unnachgiebig zusammen, dass es mir das Blut abschnürte. Sie auszuziehen ging aber nicht, weil meine Beine ein Dreitagebart zierte. Ich hatte im Moment einfach keine Zeit, mich um solche belanglosen Dinge wie mein Äußeres zu kümmern.

Während ich die schwere Glastür aufschloss, nahm ich den daran geklemmten Zettel der Stadtwerke ab, der für morgen, den 19. Juni 2015, ab zehn Uhr einen einstündigen Stromausfall in Großbuchstaben ankündigte.

„Das ist wegen der Baustelle und betrifft die ganze Straße. Keine Ahnung, was die da hinter der Holzwand seit Monaten an der Kanalisation herumbuddeln.“ Frau Nolte zeigte auf den Mittelstreifen des Kaiserdamms, wo reger Betrieb herrschte und Presslufthammergeräusche sowie quietschende Baggerschaufeln den Motorenlärm der fahrenden Autos untermalten.

Lächelnd half ich der alten Dame in Filzlatschen mit der Gehhilfe über die Schwelle der Apotheke und stellte ihr einen Stuhl bereit. „Ruhen Sie sich einen Moment aus. Ich bin gleich wieder bei Ihnen.“ Schnell huschte ich nach hinten, warf die Taschen von mir und den Kittel von gestern über.

Mist! Der sah aus, als hätte ihn ein Baby mit Spinat bespuckt. Gestern Abend beim Zusammenmischen der Tinkturen hatte ich gar nicht bemerkt, dass ich mich so bekleckert hatte. Ich rubbelte an den Flecken herum. Zwecklos, die ließen sich höchstens mit der Schere entfernen. Bei dem Gedanken schmunzelte ich. Die Fürst würde garantiert in Ohnmacht fallen, wenn mein Kittel einem Fischernetz glich. „Fromm! Herrgott, wie sehen Sie bloß wieder aus?“, äffte ich sie nach. Vielleicht findet sie es aber auch kreativ, schließlich wollte sie doch lieber Modedesignerin werden.

Ich kramte in meinem Spind. „Prima!“ Der einzige frisch gewaschene hing zu Hause auf der Leine. Flugs legte ich den Zettel der Stadtwerke auf den Schreibtisch. Nicht, dass die Fürst sich morgen wunderte, wenn alle elektrischen Geräte streikten.

Morgen zehn Uhr! Ich schluckte den Würgereiz herunter, weil mir bewusst wurde, dass ich morgen um die Zeit in der Aula der Volkshochschule über den Aufgaben der schriftlichen Mathematikprüfung sitzen würde. Natürlich wusste Beate Fürst nicht, was ich vorhatte. Nur unter dem Vorwand eines wichtigen Arzttermins hatte ich ihr den Urlaubstag vor meinem einzigen freien Samstag im Monat abgerungen. Niemand, außer meinem Freund Torsten, war eingeweiht, dass ich seit drei Jahren das Abitur nachmachte. Wegen der Doppelbelastung war ich im Moment auch so erschöpft, weil ich derzeit wegen den Prüfungen meine Nase jede Nacht bis zum Morgengrauen in die Bücher steckte.

Stichprobenartig kramte ich in meinem Gehirn nach der Formel zum Herleiten der Sinusfunktion. Uh!

In meinem Kopf herrschte gähnende Leere.

„Scheiß Prüfungsangst! Aber ich schaffe das!“ Sinus alpha gleich Gegenkathete mal Ankathete? Oder muss ich die Ankathete durch die Hypotenuse teilen?

„Au, Mann!“ Vielleicht ist diese Hürde doch zu hoch: Abitur … Studium …

„Lisa hat es auch geschafft!“, sagte ich laut und verschränkte die Arme vor der Brust.

Wenn meine große Schwester es bis zur Staatsanwältin gebracht hat, werde ich mindestens Richterin. Dann wird sie zu mir aufblicken, wenn ich mit meinem Hammer über Recht und Unrecht entscheide!

Sinus alpha … und was kam dann?

„Verdammt!“ Trotzig trat ich gegen einen herumstehenden Karton und kickte ihn stellvertretend für meine große Schwester in den Müll, bevor ich in den Laden zurückeilte.

Ich tippte den Preis der Salbe in die Kasse: „Siebzehn fünfunddreißig.“

Frau Nolte griff mit zitternden Händen in ihre Jackentasche. „Jetzt habe ich doch glatt das Portemonnaie zu Hause vergessen.“

Zeitgleich ertönte die Ladenglocke. Ralph Berger, ein klapperdürrer Drogenabhängiger mit eingefallenen Wangen, stolperte zur Tür herein. Kalter Schweiß stand ihm auf der geröteten Haut, die von Ekzemen übersät war. Unruhig trat er von einen Fuß auf den anderen.

„Moment, Frau Nolte“, sagte ich und unterbrach den Kassiervorgang. Schnell dosierte ich Ralph Bergers tägliches Methadon, reichte ihm den Becher herüber und half ihm dann besser doch dabei, die Lösung zum Mund zu führen, weil seine Hände schlimmer zitterten als die der alten Frau.

„Du setzt dich so lange her, bis es wirkt, Ralph, sonst rennst du mir in dem Zustand draußen in ein Auto. Dann muss ich dich beatmen, du verwandelst dich in einen Prinzen und willst mich vielleicht noch heiraten.“ Mit meinen Worten rang ich ihm ein winziges Lächeln ab. Brav setzte er sich auf den Stuhl und ließ sich von mir zwei Qigong-Kugeln in die Hand drücken. „Konzentrier dich auf deine Finger. Es wird gleich besser.“

Hinten klingelte das Telefon. „Frau Nolte und Ralph, ihr passt auf, dass niemand die Apotheke klaut.“ Ich rannte ins Büro, holte mein Portemonnaie und klärte den schwerhörigen Anrufer brüllend über die Öffnungszeiten auf. Währenddessen schrillte mehrmals die Ladenglocke. Also eilte ich im Affentempo wieder nach vorn. Hinter Frau Nolte hatte sich eine Kundenschlange gebildet, und unser Postbote stapelte Kartons zum Turm neben die Eingangstür. „Helene, Autogrammstunde!“

Grinsend stolzierte ich zur Tür und wackelte dabei mit den Hüften. „Wie hätten Sie es denn gern, Herr Marshall: Helene F. oder nur Helene?“, schnurrte ich, quittierte den Empfang, zählte die Pakete und blieb mit meinem Blick an dem Firmennamen auf dem Lieferschein hängen: Pharmakuss. Von denen hatte ich ja noch nie etwas gehört.

Was war denn das? „Haxenhexi macht ihre Haxen sexy!“ Aha, Schrunden-Salbe.

Schlemmenthin, ein chemisch zusammengemixter Kräuterschnaps, der angeblich sofort jegliches Magen- und Darmproblem ausräumt und obendrein den Haarausfall stoppt. Haarausfall? Wer hatte denn den Mist bestellt?

Und natürlich eine Million Pflaster. Wir hatten kein Insulin, aber wir hatten das ganze Lager voller Pflaster. Mit dieser Fuhre war Apotheke Fürst nun endlich gerüstet, um in den nächsten zehn Jahren alle Berliner Schnitt-, Platz- und Schürfwunden abzukleben. Bestimmt hatte meine Chefin von einem bevorstehenden Pflasternotstand erfahren, der sich noch nicht bis zu mir herumgesprochen hatte.

Ich wandte mich wieder meiner Kundschaft zu. „So, die Salbe für ihren Mann ist bezahlt. Sagen Sie ihm gute Besserung von mir!“ Großzügig packte ich einen Zwanzigeuroschein von mir in die Kasse und reichte Frau Nolte die Tüte mit dem Medikament über den Tresen. Jetzt war ich zwar fast pleite, aber egal.

„Kindchen, das geht doch nicht“, protestierte die alte Dame.

„Sie können es mir ja später irgendwann wiedergeben.“

Dann wandte ich mich an Ralph, der nun ganz ruhig vor sich hin starrend die Kugeln in seinen Händen drehte. „Kannst du Frau Nolte bitte mit dem Rollator helfen?“

Ralph bewegte sich langsam wie ein Zombie, stand auf und führte die Seniorin aus der Apotheke. Dann setzte er sich wieder hin und starrte kugeldrehend Löcher in die Luft.

Ich löste ein Rezept nach dem anderen ein und hörte mir geduldig Krankengeschichten an. „… danke, dass Sie mir das Buscopan verweigert und mich in die Notaufnahme geschickt haben. Eine Stunde später lag ich nämlich auf dem OP-Tisch. Der Blinddarm war schon kurz vorm Platzen. Sie waren mein Schutzengel“, sagte ein bärtiger Mittfünfziger, hob das T-Shirt hoch und zeigte mir seinen schwammigen Bauch.

„Ganz schön große Narbe! Zwickt es noch?“, fragte ich und wusste gleich, welche Salbe er benötigte, um den Heilungsprozess zu beschleunigen.

Der Vormittag verging wie im Flug. Der Kundenstrom riss einfach nicht ab. Ich trocknete Kindertränen mit Gummibärchen, beriet und beruhigte meinen Stammkunden Olaf geduldig: „Ihr Fuß stirbt nicht ab. Er ist schwarz, weil Ihre Socke abgefärbt hat“, sagte ich zu dem hypochondrischen jungen Mann, der jeden Tag mit einem anderen Wehwehchen in die Apotheke kam, sein ganzes Geld in Medikamente investierte und deshalb schon hoch verschuldet war.

„Ich verkaufe Ihnen weder Schmerztabletten noch Tebonin zur Förderung der Durchblutung. Sie gehen jetzt nach Hause, waschen sich die Füße und ziehen andere Socken an.“

„Ich spüre aber die arteriosklerotischen Ablagerungen in meinen Beinen und habe entweder krampfartige Schmerzen oder alles fühlt sich taub an“, murrte Olaf.

„Das liegt an den Thrombosestrümpfen, die Sie tragen. Die pressen Ihnen alles zusammen. Glauben Sie mir, ich spreche da aus Erfahrung. Legen Sie die Strümpfe ab und Sie fühlen sich wieder frei. Sie sind zweiunddreißig. Ihr Herz schafft es allein, das venöse Blut aus Ihren Beinen nach oben zu pumpen.“

Jetzt wurde er neugierig. „Sie tragen auch Thrombosestrümpfe?“

„Körperformende Damenwäsche kann genauso einengend sein“, sagte ich und zwinkerte ihm zu.

„Helene, bitte! Es muss doch irgendetwas geben, das mein Leiden lindert.“

Die Ladenglocke ertönte, und die Fürstin stolzierte grußlos zur Tür herein. Sie schaute sich um, schnüffelte und hielt sich ziemlich angewidert die Nase zu.

„Fromm!“

Meine Chefin war ein sehr sparsamer Mensch und beherrschte die Kunst des Weglassens überflüssiger Worte bei mir perfekt. Eine Anrede war zweifellos überflüssig, wenn man jemanden ansprach, den man nicht auf seiner Augenhöhe einordnete.

„Wieso stehen hier tausend Kartons herum? Ist das jetzt eine Deponie, oder haben Sie in meiner Abwesenheit aus der Apotheke ein Obdachlosenheim gemacht?“, zischte sie, rollte mit den Augen und zeigte mit ihrer Tasche auf Ralph Berger, der sich in Embryonalhaltung neben dem Stuhl zusammengerollt hatte und die Qigong-Kugeln umklammerte.

Das war mir in der Hektik irgendwie entgangen. „Oh!“ Ich sprang hinter dem Tresen hervor und bückte mich über den Gestrandeten. „Herr Berger!“

„Es ging ihm vorhin nicht so gut“, entschuldigte ich mich und rüttelte ihn an der Schulter. „Herr Berger!“

„Sehen Sie zu, dass er auf die Beine kommt und dann …“ Sie wies den Weg zur Tür und erstarrte mitten in der Bewegung. „Sind das etwa unsere Qigong-Kugeln?“

„Ja, eine Maßnahme zur Beruhigung“, rief ich und wollte sie in die offene Schachtel im Regal zurücklegen.

„Das ist nicht Ihr Ernst, oder?“ Angeekelt verzog sie das Gesicht, zitierte mich heran und zischte mir ins Ohr: „Die Kugeln sind kon-ta-mi-niert. Die können Sie doch niemandem mehr verkaufen? Ich hoffe für Sie, dass wir jetzt keine Haustiere haben. Sowie Sie dieses Insektenhotel nach draußen befördert haben, lüften Sie durch und desinfizieren alles.“

„Aber …“, begann ich zu protestieren.

„Was, aber?“, unterbrach mich die Fürstin wütend. „Entweder bezahlt der Kunde die angefasste Ware, oder ich ziehe es Ihnen vom Gehalt ab. Und die Kartons müssen sofort ins Lager. Haben Sie die Inventur erledigt?“

„Ich bin fast durch“, murmelte ich.

„Fast? Und die Vorbestellungen der hauseigenen Rezepturen?“

„Fünf Flaschen B3 und acht Flaschen H56 stehen im Kühlschrank. Drei Salben und die Tees muss ich nachher noch herstellen.“

Die Fürstin verdrehte die Augen. „Ich frage mich ernsthaft, was Sie den ganzen Tag machen?“

Mein Mund öffnete und schloss sich wie bei einem verendenden Fisch.

„Hat Sie jemand festgetackert? Ich bezahle Sie fürs Arbeiten und nicht zum Wurzelnschlagen. Na los, räumen Sie die Kartons ins Lager!“, forderte mich meine Sklaventreiberin energisch auf.

Wo sollte ich denn nun zuerst anfangen? Berger raus befördern, Olaf bedienen, Kartons wegräumen, den Fußboden desinfizieren …

Die Fürst riss die Augen auf und fragte: „Was haben Sie an Kartons ins Lager räumen nicht verstanden?“

„Aber … der Kunde …“, ich deutete auf Olaf, der uns neugierig belauschte.

Prompt nutzte der kleine Hypochonder die Gelegenheit für sich. „Ihre Mitarbeiterin verweigert mir den Verkauf von Schmerzmitteln und Tebonin, das ich dringend zur Behandlung meiner Durchblutungsstörungen brauche“, klagte er.

Na toll! Dass der mich in die Pfanne haut, hat mir grade noch gefehlt.

„Sie haben Durchblutungsstörungen? Wo? Im Kopf?“, erkundigte sich die Fürstin von oben herab.

„In den Beinen. Schauen Sie, meine Füße faulen ab, die sind schon ganz schwarz.“ Er schob das Hosenbein hoch, schlüpfte aus den Pantoletten und zog einen Strumpf aus.

Meine Chefin schloss genervt die Augen und hielt sich die Hand vor die Nase. „Herrgott! Fromm, geben Sie dem Mann, was er verlangt.“

„Aber seine Füße …“

Die Fürstin unterbrach mich: „Aber scheint Ihr Lieblingswort zu sein.“ Dabei musterte sie mich abschätzig. „Und wie Sie wieder aussehen! Ziehen Sie sich einen frischen Kittel an und machen Sie ihn bitte zu. Ihr Anputz lässt einen ja vor Fremdscham erblinden.“ Ihr Handy klingelte. Sie schaute auf das Display, lächelte versonnen und ging ran.

„Hey Achim, gut nach Hause gekommen?“ Glucksend stolzierte sie Richtung Straße, drehte sich um und bedeutete mir mit Handzeichen, dass sie einen Kaffee wollte.

Olaf grinste mich schräg von der Seite an.

Blödmann! Nein, so durfte ich nicht denken. Er war krank und handelte aus einem Zwang heraus.

Ich verkaufte ihm das Tebonin und eine Packung Paracetamol. Dann schleppte ich Kartons, telefonierte mit dem Pflegedienst des Altersheims, schmiss zwischendurch die Kaffeemaschine an, rannte in den Laden, weil die Fürstin von draußen „Kundschaft!“ blaffte – sie telefonierte natürlich immer noch –, verkaufte Antifaltencreme und schleppte wieder Kartons.

Die Fürstin kam schließlich hereingeschlendert, verschwand in ihrem Büro und kreischte, als hätte sie eine Leiche unterm Schreibtisch gefunden. „Fromm!“

Was war denn nun schon wieder los? Ich kassierte die Halspastillen ab und hetzte nach hinten.

Am Aktenschrank lief braune Brühe herunter. Den Fußboden zierte eine hässliche Pfütze. Die Kaffeemaschine gluckste unschuldig vor sich hin. Schiet! Ich hatte vergessen, die Kanne darunterzustellen.

Schnell holte ich Eimer sowie Scheuerlappen und wischte auf allen vieren die Bescherung unter Aufsicht der Fürstin weg.

„Sie haben ja immer noch diesen Kittel an, der aussieht, als hätten Sie ihn aus dem Altkleidersack gezogen“, sagte sie genervt und schüttelte den Kopf. „Jetzt sind auch noch Kaffeeflecken drauf.“

Ich guckte an mir herunter. „Entschuldigung, aber …“

„Schon wieder ‚aber‘ …“ Sie verdrehte die Augen.

„Der einzige saubere hängt zu Hause auf der Leine.“

„Da hängt er gut. Mir bleibt wohl nichts anderes übrig, als selbst den Verkauf zu übernehmen“, jammerte sie. „So kann man Sie ja nicht auf die Menschheit loslassen. Sie kümmern sich ab jetzt um die Inventur!“

Mittlerweile war es zwölf Uhr und alle Kartons im Lager verstaut. Ich atmete erst einmal tief durch. Dabei spürte ich, wie mein Magen knurrte. Ich verschwendete erst gar keinen Gedanken an das leckere Pausenbrot, sondern stopfte mir den Inhalt der Pralinenschachtel, die mir Frau Nolte geschenkt hatte, in den Mund. Schokolade war jetzt das Einzige, was half, meinen Blutzuckerspiegel wieder auf Kurs zu bringen.

„Kundschaft, Fromm!“, plärrte es aus Richtung Büro. Hä? Ich denke, sie übernimmt den Verkauf? Ich guckte um die Ecke. Die Fürstin thronte hinterm Schreibtisch und telefonierte angeregt mit Achim. Pantomimisch machte sie mir klar, dass ich mich beeilen sollte, hielt das Handy kurz weg und rief mir noch hinterher: „Sie haben da was am Mund!“

Mit dem Handrücken über die Wange wischend, eilte ich im Stechschritt in den Laden, wo ich in ein verdammt blasses, aber sehr attraktives Männergesicht mit braungrünen Augen guckte, die fiebrig glänzten. Bei dem würde ich auch gerne die Krankenschwester spielen. Ich stierte den Kerl sekundenlang an, und mir versagte die Stimme.

Er fuhr sich durch die widerspenstigen Locken. Seine Oberarmmuskeln drohten den Stoff seines edlen Jacketts, das er trotz frühsommerlicher Temperaturen über einem hochgeschlossenen Troyer zur ausgewaschenen Jeans trug, zu sprengen.

„Was, äh … was kann ich für Sie tun?“, stotterte ich, weil sich die Buchstaben in meinem Kopf tanzend verflüchtigten.

Der Mann – vielleicht Pilot, Rechtsanwalt, Immobilienmakler, Manager oder Architekt, Anfang, aber höchstens Mitte dreißig – reichte mir, ohne eine Miene zu verziehen, ein Rezept über den Ladentisch. Er schniefte.

Nervös überflog ich den rosa Zettel, zog die Stirn in Falten und plapperte dann munter drauflos: „Penizillin macht bei Sommergrippe, die oft von Viren ausgelöst wird, wenig Sinn. Wurden im Labor Bakterien in Ihrem Hals nachgewiesen?“

„Keine Ahnung. Das Medikament ist für meinen Onkel.“

Jetzt erst las ich den Namen, auf den das Rezept ausgestellt war: „Professor Hans Albrecht? Ja, das sind wohl nicht Sie. Entschuldigung, ich dachte, es wäre für Sie … wegen Ihrer Nase … Naja, Sie sehen irgendwie angeschlagen, ähm, erkältet aus.“

Adonis verzog immer noch keine Miene.

Ist er jetzt beleidigt, weil ich ihm den Professor nicht zugetraut habe – oder weil ich ihn für den Patienten gehalten habe? Verunsichert vollführte ich eine schwungvolle Drehung und riss quasi im Vorbeifliegen etwas zu ruckartig die hölzerne Schublade des Apothekerschrankes hinter mir auf. Polternd krachte sie herunter. Wie peinlich! Mein Mund verzog sich ungefragt zu einem Strich, der sicher meine Ohren wie ein Feldweg miteinander verband. „Sorry, das Medikament ist leider nicht vorrätig.“

Die Fürstin steckte ihren Kopf um die Ecke. „Fromm, kann man Sie nicht eine Minute unbeaufsichtigt lassen, ohne dass Sie gleich die Apotheke abfackeln oder ein mittleres Erdbeben auslösen?“ Ihre Pupillen vergrößerten sich. Sie lächelte übertrieben und drängelte sich in den Vordergrund. „Tja, sie ist und bleibt eben ein kleines Trampeltier.“

Na, herzlichen Dank! Ich hob die leere Schublade auf und schob sie wieder in das Fach hinein.

„Gehen Sie mal lieber nach hinten, Fromm, kümmern Sie sich um die Inventur!“ Meine Chefin scheuchte mich beiseite wie ein lästiges Insekt. „Ich mach das lieber selbst fertig.“

„Das Antibiotikum muss bestellt werden“, sagte ich und schenkte dem Fremden ein letztes Lächeln, das an ihm abprallte wie ein verschossener Elfmeter am Torpfosten. Okay, der Mann ist erkältet und hat mit sich zu tun. Das kennt man ja: Die Herren der Schöpfung halten Schnupfen für lebensgefährlich und ziehen sich in ihre Höhlen zum Sterben zurück. Ich nahm es ihm nicht übel.

„Dann wissen Sie ja, was Sie zu tun haben.“ Mit ihrem schnippischen Tonfall holte mich die Fürstin abrupt in die Wirklichkeit zurück. Sie warf mit einer lässigen Handbewegung ihre rote Lockenmähne aus dem Gesicht. Das wirkte bei ihm wie ein Defibrillator. So machte man das also, wenn man einen Traumtypen bezirzen wollte.

Ich warf meinen halblangen Zopf in den Nacken, watschelte mit meinem schönsten Hüftschwung nach hinten und hörte noch, wie meine Chefin sagte: „Wenn meine Mitarbeiterin das Medikament jetzt bestellt, trifft es in der Regel gegen achtzehn Uhr ein. Sie liefert es Ihrem Onkel selbstverständlich direkt nach Hause.“

Prustend bog ich zur Toilette ab. Das bedeutete wieder Überstunden und die vierte geschäftliche Fahrt mit meinem Privatauto in dieser Woche. Dabei hatte sie mir noch nicht einmal das Benzingeld für den letzten Monat erstattet. „Und wann lerne ich dann, bitte schön?“, sagte ich zu meinem Spiegelbild über dem Waschbecken und erstarrte, als ich den dicken Schokoladenstrich über meinem Mund sah. Hatte ich den Traumtypen gerade so bedient? Ich seufzte. Kein Wunder, dass Amor mich mobbte.

2. KAPITEL

Wegen der unzähligen Baustellen und daraus folgender Umleitungen brauchte ich zwanzig Minuten, um die Adresse von Professor Albrecht am Halensee in Grunewald zu erreichen. Ich klingelte an dem kleinen Einfamilienhaus, das wie ein Relikt aus alter Zeit zwischen den modernen Stadtbungalows im Bauhausstil in einer ruhigen Seitenstraße hervorstach.

Niemand öffnete. Das Medikament einfach in den Briefkasten zu stecken war mir verboten. Fluchend stampfte ich auf. „Mann! Wieso ist niemand zu Hause? Wo treibt sich dieser Professor Albrecht herum? Ich denke, er ist krank? Selbst sein überaus schöner Neffe gehört eigentlich ins Bett.“ Bei der Vorstellung, wie ich ihm Brust und Rücken mit Pulmotin einrieb, musste ich kurz schmunzeln.

Der Typ spielt Champions League und du dritte Kreisklasse. Der guckt dich nicht mal mit den Hühneraugen an.

Ich stapfte zu meinem Twingo zurück, der von rostigen Flecken überwuchert war wie ein vernachlässigter Garten von Unkraut.

Wutschäumend riss ich die Tür auf, schmiss die Pillen auf den Beifahrersitz, klemmte mich hinters Lenkrad und jammerte die Frontscheibe an: „Jetzt muss ich noch einmal herfahren. Ich hab heute wirklich Wichtigeres zu tun. Hätte ich die Karteikarten mit den Formeln mit, könnte ich die Wartezeit wenigstens sinnvoll nutzen. Außerdem wollte ich heute einmal zeitig schlafen gehen!“

Innerlich machte ich mich auf eine weitere Nachtschicht mit meinem speziellen Freund Mathematik gefasst.

Und morgen hängen meine Gehirnzellen vor Erschöpfung in den Seilen. Ich werde alle Herleitungen verwechseln und durchfallen.

Mein Kopf war jetzt schon hohl wie ein ausgetrockneter Kürbis. Ich raufte mir die Haare. Alles weg!

Krampfhaft versuchte ich, mich wenigstens an eine der Formeln zu erinnern. Stattdessen fiel mir nur ein: dreißig Gramm Tausendguldenkraut auf 120 Milliliter Flüssigkeit … Mit diesem Wissen konnte ich vielleicht dem Prüfer bei seinen Verdauungsproblemen helfen, aber zur Lösung der Mathematikaufgaben nützte es mir nichts. Ich bemühte mich, ruhig zu bleiben, und atmete so ganz bewusst: Mund aus, Nase ein, Mund aus … was aber nichts nützte. Der Kerl namens Angst schlich sich ganz langsam mit seinen eiskalten Füßen meinen Rücken hinauf und ließ sich frech in meinem Nacken nieder.

„Ich schaffe das! Ich schaffe das! Ich schaffe das!“, wiederholte ich laut. Aber das Mantra beeindruckte ihn wenig.

Bis an das andere Ende der Stadt nach Hause zu fahren lohnte sich nicht. Und nun?

Mein Magen knurrte. „Okay, dann hole ich eben die ausgefallene Mittagspause nach“, sagte ich zu mir selbst und öffnete die Brotdose. Der Geruch erinnerte mich an die Biomülltonne in unserem Hof; die mit Sojamargarine bestrichenen Vollkornscheiben waren von den dazwischen drapierten Tomatenscheiben im Salatblatt längst durchgeweicht. Mit einem übertriebenen „Mmm!“ machte ich mir Mut und biss herzhaft hinein … nur um das Pausenbrot sofort wieder zurückzulegen. Angeekelt verzog ich das Gesicht. „Bäh! Dieses Zeug schmeckt wie aufgeweichte Dachpappe.“

Glückshormone, ich brauch dringend Glückshormone. Ich aktivierte die App, die einem anzeigt, wo man das Produkt bekommt, nach dem es einem gelüstet, und tippte das Wort Schokolade ein. Drei Straßen weiter war ein Supermarkt, und ich düste sofort hin. Ohne Klimaanlage war es heiß. Ich schwitzte in meiner Strumpfhose. Als ich auf dem Parkplatz ausstieg, fühlten sich meine Beine regelrecht glitschig an. BH und T-Shirt klebten auf der Haut. Ich spürte, wie sich meine Nackenhaare aufstellten, kaum dass mich jemand schief anguckte.

Vor dem Eingang des Einkaufstempels durchwühlte ich meine Handtasche nach dem Chip für den Einkaufswagen.

Wieso kann ich mir einfach nicht angewöhnen, dieses kleine fiese Plastikteil nach Gebrauch wieder an Ort und Stelle in das Portemonnaie zu stecken? Mein Gott! Ist das wirklich so schwierig?

Ich gab es auf, weiter in den Abgründen dieses ledernen Sammelbeckens zu suchen, in dem sich mein Leben befand.

Für einen Moment starrte ich mein Spiegelbild im Schaufenster an. Wenn Eltern mit der Namensgebung gleich nach der Geburt Aussehen, Schicksal und Charakter ihres Nachwuchses heraufbeschwören, dann war dieser Versuch bei mir kläglich misslungen.

Keine Ahnung, was sich meine Mutter dabei gedacht hatte, ihre zweite Tochter nach einer Schönheitsgöttin zu benennen. Leider hatte sie bei der Entscheidung die Dominanz der väterlichen Gene unterschätzt. Mein Vater stammte nämlich von einer Bäuerin ab, die ihr Lebtag schwer geschuftet hatte. Die Natur sorgte also mit derben gut gepolsterten Knochen vor, weil sie wohl davon ausging, dass wenigstens ein Nachkomme der Großmutter einer ähnlichen Plackerei ausgesetzt sein wird. So entwickelte sich meine Statur in der Pubertät zu einem tropfenförmigen Klumpen, den ich damals unter weiten Klamotten versteckte. Meine Schwester Lisa war quasi die Einzige, die in unserem gemeinsamen Zimmer die nackten Tatsachen zu Gesicht bekam. Den Anblick meines Hinterns in Zusammenhang mit meinem Namen assoziierte sie mit dem schwabbeligen Dessert, dass unsere Mutter gerne auf den Tisch brachte: Birne Helene. Fortan hatte ich meinen Spitznamen weg, den Lisa unter den Mitschülern verbreitete. Ihre Witze auf meine Kosten kamen bei ihren Freunden und meinen Feinden immer gut an.

Ja, ich beneidete Lisa, die blond und weißhäutig wie Papa und zierlich wie Mama war. Und das, obwohl Lisa ja eigentlich ein klassischer Kuh-Name ist. Anmut und Zierlichkeit lassen sich eben nur schwer erzwingen. Dafür müsste man Disziplin aufbringen können, an der es mir aber leider mangelte; auch so eine genetisch bedingte Charaktereigenschaft, die ich meinem Vater verdankte.

Da nützten auch die tröstenden Worte von meinem besten Freund Torsten nichts: „Rehlein, du besitzt so viele innere Werte, die brauchen schließlich genügend Platz!“, sagte er gerne, wenn ich mit mir haderte und mir die tausendste Nulldiät auferlegte, die ich maximal drei Stunden durchhielt, weil ich mich zu fett und überhaupt nicht wohl in meiner Haut fühlte.

Woran diese innere Unzufriedenheit lag? Hauptsächlich an Lisa.

Meine große Schwester war nicht nur äußerlich das weiße Schaf in der schwarzen Herde. Sie war stolz darauf, mit ihrer elfenhaften Gestalt, den zwei linken Händen und der einsteinschen Intelligenz so anders zu sein. Das ließ sie mich und den Rest unserer Familie spüren. In ihren Augen waren wir der Abschaum.

„Nehm’n Se nun een Wagen oder nich? Sie versperrn ja mit Ihrem ausladenden Heck die gesamte Einflugschneise“, ranzte mich ein kugelrunder, rotgesichtiger Kerl in Arbeitsklamotten ungeduldig von der Seite an und rammte mir seinen Einkaufswagen in die Hacken.

Frechheit! Ich sprang zur Seite und rieb mir die Wade.

Kugelbauch grinste breit und zwinkerte mir zweideutig zu.

Ich ignorierte die Beleidigung und eilte ohne Einkaufswagen in den Supermarkt schnurstracks zum Süßigkeitenregal. Dort schnappte ich mir drei Tafeln Nussschokolade.

Ein junger sportlicher Mann, Marke Surfer-Typ, drängelte sich an mir vorbei und würdigte mich keines Blickes.

Was hatte ich Amor eigentlich getan, dass er mein Verlangen nach Zuneigung und Liebe einfach ignorierte?

„Entschuldigung!“, rief ich dem Fremden hinterher. Der drehte sich nicht einmal um.

Pah! Liebe! Das ist auch nur ein Wort wie Leberwurst.

Ich warf die Schokolade zurück und stapfte zur Gemüseabteilung, schmiss zwei Salatköpfe, Tomaten und ein Bund Möhren in eine Papiertüte.

Wer schön sein will, muss eben leiden!

Seufzend raffte ich in der Tiefkühlabteilung drei Quarkbecher an mich und trottete voll beladen an der Drogerie-Abteilung vorbei in Richtung Kasse.

Mattheo? Scheiße! Was macht der da?

Mein kleiner Bruder versuchte, seinem Vorbild, einem amerikanischen Gangsterboss, alle Ehre zu machen, und packte sich gerade die Innentaschen seiner Lederjacke mit Rasierklingen voll. Dabei hatte er mit seinen neunzehn Jahren gar keinen Bart. Blöd war nur, dass er dem Hausdetektiv, der ihn garantiert längst durch die Überwachungskamera über seinem Kopf beobachtet hatte und nun auf ihn zueilte, keine Beachtung schenkte.

Reflexartig rief ich: „Mattheo!“ Mein Bruder drehte sich erschrocken um. Ich jonglierte mit Gemüse und Sojamilchprodukten, rannte los und verursachte einen Zusammenstoß mit ihm sowie dem Hausdetektiv. Die Quarkbecher platschten auf den Fliesenboden. Beim Versuch, ihn einhändig aufzufangen, purzelten Tomaten und Möhren aus der Tüte und folgten im freien Fall. Die wollweiße Pampe spritzte in alle Richtungen und verzierte als Stillleben mit Gemüsegarnierung den Gang zwischen den Regalen. „Oh!“ Die Hose des kleiderschrankgro-ßen Supermarktschnüfflers hatte ordentlich was abbekommen.

„Sorry! Ich bin irgendwie weggerutscht“, sagte ich, zog mich an Mattheo hoch und lächelte den bulligen Glatzkopf im blütenweißen Hemd schuldbewusst an.

Der lächelte überhaupt nicht zurück. „Zeigen Sie mir mal die Innentaschen Ihrer Lederjacke!“, forderte er den Jungen auf.

Mattheo zögerte.

Ich ermunterte ihn: „Na los, mach schon! Du hast doch nichts zu verbergen, oder?“

Sein Fluchtinstinkt setzte ein.

„Keine Sorge, das ist bestimmt eine Verwechslung.“ Abermals nickte ich ihm aufmunternd zu.

Der Nachwuchsgangster klappte sein Jackenrevers auf. Der Detektiv griff hinein und zog die verlängerte Stirn kraus. „Aber ich habe doch genau gesehen, wie er seine Hände in seine Jackentasche gesteckt hat …“

Mattheos Miene hellte sich selbstsicher auf.

Der Hausdetektiv zeigte misstrauisch auf die Hosentaschen des vermeintlichen Diebes.

Mattheo meckerte gestikulierend: „Ey, ischwör, isch such nur Taschentuch. Isch krieg Hals! Der macht misch dumm, ey.“

„Beruhige dich, der Mann macht nur seinen Job.“

„Bin isch gleisch Dieb, weil isch hab schwarze Haare oder was?“ Mein Bruder stülpte seine Hosentaschen nach außen.

Der Hausdetektiv starrte mich verdattert an. Ich hörte seine Gehirnzellen rattern. „Sie haben die Rasierklingen beim Zusammenstoß eingesteckt!“

„Ich? Wie kommen Sie denn darauf? Sehe ich aus, als würde ich Rasierklingen benutzen. Bei meinen starken Bartwuchs an den Waden hilft nur Kaltwachs auf Zuckerbasis. Aber das führen Sie ja nicht, oder?“ Demonstrativ schaute ich mich suchend im Laden um.

„Der Zusammenstoß war doch nicht zufällig? Sie gehören zusammen. Der eine klaut, und der andere haut mit der Beute ab, während der, der beobachtet wurde, gefilzt wird; genau wie bei euren Landsleuten, diesen Hütchenspielern. Nur seid ihr dieses Mal zu langsam gewesen. Ich habe euch nämlich durchschaut.“

„Bei unseren Landsleuten? Na hören Sie mal! Mein Bruder hat völlig recht: Unsere schwarzen Haare machen uns noch lange nicht zu Dieben. Als Nächstes behaupten Sie noch, ich wollte Ihnen einen Teppich verkaufen. Ich beschuldige Sie doch auch nicht, dass Sie ein Nazi wären, nur weil Sie blaue Augen und eine Glatze haben“, schrie ich den Security-Mann an, dass sich die anderen Leute im Laden tuschelnd oder neugierig umdrehten, was ihm sichtlich peinlich war.

Ich öffnete meine Handtasche und stülpte alle Taschen an der Kleidung demonstrativ nach außen. „Bitte schauen Sie nach, ob Sie die Beute bei mir finden.“

„Das ist doch bestimmt ein Trick.“ Der Glatzkopf zeigte auf meinen Rock.

„Sie denken, ich habe mir die Rasierklingen unter den Rock geschoben? Auf Ihre Verantwortung.“

Immer noch völlig unterzuckert, öffnete ich den Gürtel.

„Halt! Wollen wir das nicht besser in meinem Büro …?“

„Wieso? Ich habe damit kein Problem, in aller Öffentlichkeit die sprichwörtlichen Hosen vor Ihnen runterzulassen.“

Den Bauch einziehend, quälte ich mich damit, den Rock über die Hüfte zu schieben, was nicht funktionierte. „Dort hineinzukommen war heute Morgen ein Kunststück. Glauben Sie mir nun, dass da kein Blatt Papier dazwischenpasst, geschweige denn eine zwei Zentimeter dicke Packung Rasierklingen?“

Mattheo grinste hinter vorgehaltener Hand, als ich sogar meine Schuhe auszog. „Überzeugt? Oder wollen Sie mich noch abtasten? Vielleicht habe ich mir Ihre Rasierklingen ja mit einem Hütchenspieler-Trick in den BH gesteckt …“ Ich lüftete das T-Shirt bis über den Bauchnabel. „… denn einer Frau mit schwarzen Haaren und südländischem Teint ist ja alles zuzutrauen.“

Der Hausdetektiv hüstelte verlegen. Sein Kopf nahm die Farbe eines Hydranten an. Er sagte: „ Ziehen Sie sich bitte wieder an.“

Ich tat, was er verlangte. „Wenigstens könnten Sie sich entschuldigen.“ Dabei sah ich dem Riesen mit festem Blick in die Augen. Er schluckte nur.

Ich schnappte Mattheo am Arm. „Wir gehen!“

„Spinnst du?“ Ich öffnete die Beifahrertür. „Einsteigen!“, sagte ich scharf, stapfte um das Auto herum, sprang hinters Steuer und knallte meine Tür zu. Als wäre nichts gewesen, lüftete Mattheo erst sein Baseballcap und dann seinen Hintern, klaubte die Medikamententüte unter seiner drei Nummern zu groß geratenen Rapperjeans hervor und warf sie auf den Rücksitz. Erst als er bequem saß, setzte er zum Protest an.

Ich zeigte ihm die Innenseite meiner Tatze. „Sprich mit der Hand!“, sagte ich in bester Terminatormanier und guckte demonstrativ weg.

Ich war nicht sauer, sondern stinksauer! Den Motor anschmeißend, drückte ich auf die Hupe, als eine Frau ihren übervollen Einkaufswagen in Zeitlupe heckseitig an der Parklücke vorbeischob, erschrocken glotzte und stehen blieb. Ich gestikulierte wild. Die Frau schüttelte unverständlich den Kopf.

Leute gibt’s! Jetzt machte ich meiner ganzen Wut Luft und brüllte Mattheo an: „Was sollte diese Scheiße da drin? Du bist auf Bewährung. Willst du wie Papa den Großteil deines Lebens im Knast verbringen? Du hast bis vor zwei Jahren noch mit Lego gespielt. Wozu brauchst du bei deinem Babyflaum Rasierklingen?“ Mit einem Ruck fuhr ich rückwärts aus der Lücke.

„Ey, isch mach grad so Job so …“

Mir schwoll der Kamm. Ich bremste abrupt und blieb mitten auf dem Parkplatz stehen. „Ey Alter“, äffte ich ihn nach: „Könntest du bitte mal mit diesem Gangstergehabe aufhören und so!“ Normalerweise riss er sich wenigstens bei mir und meiner Familie zusammen und sprach perfektes Hochdeutsch.

Mattheo kringelte sich: „Was willst du, ey. Du hast den Typ voll fertiggemacht. Ey, ich krieg gleich ’n Lachflash.“

„Sag mal, schnallst du es immer noch nicht? Ich hab dir mit der Nummer da drin gerade wieder mal den Arsch gerettet.“

„Isch verneig misch ja auch und so, aber schieb jetzt mal die Ware rüber!“

Hinter und vor uns hupte es. Das war mir gerade völlig egal.

Kurzes Schweigen.

Dann brüllte ich so ohrenbetäubend los, dass Mattheo zusammenzuckte: „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich dir dein Diebesgut aus der Tasche gezogen und mir eingesteckt habe, um es dir, wenn die Luft wieder rein ist, zurückzugeben. Die Rasierklingen liegen wieder im Regal. Ich bringe dich jetzt nach Hause und werde mal ein ernsthaftes Wörtchen mit Papa reden!“ Ich drückte aufs Gas.

„Hör auf, die Staatsanwältin zu spielen. Du bist nicht Lisa!“, murmelte Mattheo grinsend.

Vor unserem Elternhaus, einer dieser dunklen, lauten, noch unsanierten Mietskasernen im zweiten Hinterhof in Kreuzberg klingelte ich bereits unten Sturm. Meine Mutter öffnete im Hochparterre wie immer in ihrer bunten und von einer leckeren Duftwolke aus Saltimbocca umwehten Kittelschürze. Ohne eine Begrüßung schob ich sie zur Seite und zog Mattheo am Ärmel unsanft hinter mir her; genau so, wie ich es immer getan hatte, wenn ich ihn als kleinen Jungen auf dem Spielplatz erwischte, wie er andere Kinder verprügelte oder mit dem Springseil ans Klettergerüst fesselte, weil sie sich nicht freiwillig ihre Eimer und Schippen von ihm wegnehmen ließen. Keine Ahnung, woher diese Gewaltbereitschaft kam. Er prügelte sich ständig. Wenn andere Kinder froh waren, dass ihre großen Brüder kamen, um sie zu beschützen, war Matthi enttäuscht, wenn ich hinter der Ecke auftauchte, weil ich immer die anderen vor ihm beschützte.

Meine Mutter wunderte sich also nicht darüber und rief stattdessen: „Lenchen!“, und versuchte, mir einen Kuss auf die Wange zu drücken.

„Ist Papa da?“

Mama lächelte breit. „Er wurde vor zwei Stunden entlassen und freut sich bestimmt riesig, dich zu sehen. Du bleibst doch zur Feier des Tages zum Essen. Es gibt deine Leibspeise.“ Sie reichte mir mein Paar aus den in Reih und Glied neben der Wohnungstür stehenden Filzschlappen, die alle liebevoll mit dem Vornamen des Familienmitgliedes handbestickt waren. Lisas Latschen standen seit Jahren im Schrank.

„Zieh bitte die Schuhe aus.“

„Danke für die Einladung, aber ich esse gerade vegan.“

„Vegan?“, sagte meine Mutter verächtlich und verzog den Mund, als würde sie sich allein vor dem Wort ekeln. Sie musterte mich abschätzend und leierte ihren Spruch zum Thema Essen und Ich wie die Ansagerin im Navigationsgerät herunter: „So dick bist du ja nun auch wieder nicht. Das sind die Knochen, die hast du von deiner Großmutter … und dein Vater hat …“

„Ja, Mama, akzeptiere einfach, dass ich heute nicht mit euch essen will“, unterbrach ich den Vortrag.

„Das ist aber schade. Torsten ist auch extra gekommen.“

„Ach so?“ Eigentlich war es nichts Besonderes, das sie meinen besten Freund, mit dem ich drei Straßen weiter vis-à-vis wohnte, zum Essen eingeladen hatte. Er liebte die pseudoitalienischen Kochkünste meiner Mutter und hatte dafür längst sein eigenes Paar Filzschlappen bekommen.

„Ich liefere nur deinen ehrenwerten Sohn ab, den ich unterwegs zufällig aufgegabelt habe“, sagte ich mit zusammengekniffenen Augen Richtung Mattheo, der brav seine supercoolen Rapperturnschuhe gegen grüne „Matthi“-Latschen tauschte.

„Das ist aber nett von dir, dass du deinen Bruder nach Hause bringst. Ich hab schon gewartet und gedacht, wo bleibt denn der Junge nur? Wir wollen doch pünktlich essen. Zum Nachtisch gibt’s Birne. Lenchen, willst du es dir nicht doch überlegen?“ Sie tätschelte mir den Arm. „Den fünften Teller habe ich ganz schnell dazugestellt.“ Mattheo grinste. Er wusste, dass ich auf Birne und Lenchen allergisch reagierte. Ich krallte mich fester in den Ärmel seiner Lederjacke. „Nein, Mama!“

Mattheo jammerte, entzog mir den Arm und hängte die Lederjacke ordentlich an die Garderobe.

Meine Mutter kriegte von all dem Gerangel überhaupt nichts mit – oder wollte sie es nicht mitbekommen?

„Ach schade.“ Mama wandte sich an ihren Sohn: „Hast du den Parmesan mitgebracht?“

Mattheo zuckte mit den Achseln. „Lenchen ist schuld, dass ich’s vergessen hab!“

Ich klatschte ihm eine.

„Autsch!“

„Ach, Junge! Mit Mozzarella schmeckt es Papa nicht“, klagte meine Mutter.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Der ‚Junge‘ wäre beinahe beim Klauen erwischt worden!“ Verzweifelt versuchte ich, meiner Mutter wenigstens einmal so etwas wie Empörung zu entlocken.

„Ich hab dir doch für den Käse Geld gegeben.“ Mama tätschelte ihm das Gesicht. Sie war eine Meisterin der Verdrängung.

„Rasierklingen“, rief ich, während ich im Wohnzimmer nachsah, wo bereits der Tisch gedeckt war und der Koffer meines Vaters noch unausgepackt in der Ecke stand. Ich lief zurück. „Er hat Rasierklingen geklaut.“

„Junge, du hast doch gar keinen Bart. Bestimmt wollte er seinem Vater eine Freude machen.“

Ich gab es auf. „Wo sind denn eigentlich Papa und Torsten.“ „Torsten schneidet ihm in der Werkstatt die Haare. Neuerdings haben die Häftlinge aus Kostengründen nur noch alle drei Monate Anspruch auf einen Friseurbesuch. Bei Papa wären die drei Monate am Montag erst um gewesen. Da kannst du dir ja vorstellen, dass er heute aussah wie ein abgenutzter Handfeger. Er hat sich richtig geschämt, auf die Straße zu gehen.“ Sie starrte auf meine Füße. „Jetzt zieh endlich die Schuhe aus! Du machst lauter Striemen aufs Linoleum.“

Ich reagierte nicht, sondern eilte nichts Gutes ahnend den langen schmalen Flur entlang in die Werkstatt. Papas Reich; das hinterste Zimmer, wo er sein Werkzeug, diverse Karten, Stadt-und Baupläne, Tresormodelle zum Üben aufbewahrte und die Tomatenpflanzen auf der Fensterbank für seinen Kleingarten zog; vorausgesetzt, er verbrachte die dunkle Jahreszeit nicht in der JVA Moabit.

Einen Moment hielt ich vor der Tür inne und lauschte den Stimmen dahinter. „… garantiert ein todsicheres Ding!“

Auch das war wie immer. Mein Vater hatte noch nicht mal den Koffer ausgepackt, schon plante er das nächste „todsichere“ Ding. Und Torsten, der Papas Ideen so aufregend fand wie eine Achterbahnfahrt, war der dankbare Zuhörer.

Ich öffnete die Tür. Flugs wurde ein Tuch über den Tisch geworfen. Mein knubbeliger Vater sprang mit seinen nackten Beinen, an denen die Socken schlaff herunterhingen, zurück auf einen Drehstuhl. Der Friseurumhang wölbte sich über dem Bauch. Bei einer Schwangeren würde man entsprechend dem Umfang auf siebten Monat schätzen. Die blauen Filzschlappen mit der Aufschrift „Mamas Held Günther“ baumelten in der Luft. Silbrig glänzende, mit Blondier-Creme beschmierte Folienstreifen standen ihm vom Kopf ab, als hätte er beherzt in eine Steckdose gefasst.

Torsten, der heute ganz stilbewusst Neonleggins zu rosa Puschen trug, schäumte Papa flugs mit einem Wisch ein und winkte mir scheinheilig zu. Sein fetter Smaragd am Zeigefinger stellte alle anderen Ringe der linken Hand in den Schatten. Papa grinste mich mit Unschuldsmiene an. „Bella principessa, amore mio!“

Ich nickte nur kurz und verschränkte die Arme vor der Brust.

Mamas Pantoffelheld riss sich entschlossen den Umhang herunter, umarmte und küsste mich auf Wangen und Stirn. „Amore mio! Bella principessa. Wenigstens eine meiner Töchter ist gekommen, um ihren Vater wieder im Kreise seiner Familie willkommen zu heißen. Ich bin von Freude überschüttet“, schwärmte er und drückte sich eine Träne heraus.

Ähnlich meinem Bruder, der mit seinem Gangstergehabe so tat, als kontrollierte er das gesamte Stadtviertel, markierte Papa gern den Paten der Cosa Nostra, obwohl er eher in die Kategorie Egon Olsen einzuordnen war.

Es fiel mir schwer, aus vollem Herzen zu lächeln. „Du hältst es nicht zu Hause aus, oder?“

Mein Vater verzog das Gesicht zum Fragezeichen. Ich zeigte auf den verdeckten Tisch. „Was hast du da versteckt, den Plan für dein nächstes ‚todsicheres‘ Projekt?“

„Was redest du da, non capisco? Komm her und gib deinem Vater einen Kuss! Hast du endlich einen Mann mitgebracht, der dich heiratet?“

„Bin ich nicht doch als Kind vertauscht worden?“

Mein Vater überspielte den Witz, der keiner war, mit seiner Art von Humor und empörte sich: „Da kommt dein Vater nach so langer Zeit von der Kur nach Hause, und du beleidigst ihn.“

„Kur? Papa, ich habe schon mit zehn kapiert, dass du nicht freiwillig Ferien machst.“

„Du hast recht, zum Nichtstun gezwungen zu sein ist eine Strafe. Man rostet regelrecht ein. Deshalb wird es Zeit, dass ich wieder arbeite, und es wäre schön, wenn du mich bei meinem neuen Projekt ein wenig unterstützen könntest. Ich habe da nämlich eine geniale Geschäftsidee …“ Er entfernte das Laken vom Tisch.

Ich unterbrach ihn: „Papa!“

„Ein todsicheres Ding. Das sieht selbst Torsten so.“

Mein bester Freund nickte eifrig. Der selbsternannte Clan-Chef setzte sich zurück in den Stuhl und ließ sich von seinem Barbier neu einschäumen.

Ich zeigte Torsten den Vogel: „Spinnst du jetzt auch noch. Weißt du, was die mit dir in Papas Kurheim machen?“

„Sie laden ihn ein, sich in der Dusche nach der Seife zu bücken“, sagte der Mann mit dem Rasiermesser vor der Nase frech. „Das ist für Torsten ja nun nicht das Schlechteste.“

Torsten setzte das Messer am Hals an. „So ein bisschen Nervenkitzel ist wie das Salz in der Suppe. Ohne schmeckt das Leben fad. Dauerwelle, Haare schneiden, Föhnen. Ich will mal was erleben.“

„Der Junge hat recht“, jubelte mein Vater.

Seufzend schüttelte ich den Kopf. „Aber so ein kleines Abenteuer ist es doch nicht wert, hinter Gitter zu kommen, wenn es schiefgeht. Denn glaub mir, seine ‚todsicheren Dinger‘ gehen schief, seit ich denken kann.“

Der Pate protestierte, und Torsten rechtfertigte sich: „Ein Risiko besteht doch immer, oder? Schau, wenn ich mit dem Rasiermesser abrutsche …“

„Untersteh dich, Junge!“

„Wir können am Wochenende ins Kino gehen, oder ich lade dich ins Pergamon-Museum ein, meinetwegen auch zum Bowling“, schlug ich eine Alternative vor.

Papa befahl: „Lasst uns das später besprechen! Du machst den Jungen ja ganz nervös. Dann rutscht er wirklich noch ab, und ich beiße ins Gras.“ Er musterte mich. „Wieso trägst du eigentlich immer diese grauen Klamotten und diesen grässlichen Zopf. Bella, du hast einen Friseur als Freund, der quasi zur Familie gehört.“ Er nickte zu Torsten hinüber und zückte seine Geldbörse. „Kauf dir ein buntes Sommerkleid, sonst kriegst du nie einen Mann. Selbst deine Schwester hat es mit fünfundzwanzig unter die Haube geschafft.“

„Sie wurde nach sechs Wochen wieder geschieden“, sagte ich und weigerte mich, das Geld anzunehmen.

„Weil sie den erstbesten Idioten geheiratet hat. Mit Franky, dem Metzger, wäre ihr das nicht passiert.“

Ich verdrehte die Augen. „Der ‚Idiot‘ war Richter. Und sie hat ihn geheiratet, um sich von deinem Nachnamen zu befreien, damit sie nicht mehr mit uns in Verbindung gebracht wird.“

Mein Vater winkte ab. „Fang damit bitte nicht an, wenn deine Mutter dabei ist. Es bricht ihr das Herz. Stimmt es, dass Lisa nicht einmal zu ihrem Geburtstag angerufen hat?“

„Die blöde Kuh hat eben kein Herz.“

Der Möchtegern-Mafioso lehnte sich schweigend auf dem Stuhl zurück und schnellte im nächsten Moment wieder hoch. „Trotzdem musst du dich nicht verstecken. Mach dich mal hübsch!“ Er wandte sich an Torsten: „Was sagst du als Experte? Kann man aus dem Stroh da was machen?“

„Besser Stroh auf dem Kopf als im Kopf!“, konterte ich bockig. Kaum sprachen wir über Lisa, herrschte sofort eine unsichtbare Spannung im Raum, die mich wütend machte. Während ich das Gesicht zusammenkniff, untersuchte Torsten meine Haarspitzen. „Vor deinem großen Tag morgen könntest du wirklich ein bisschen Farbe vertragen.“

Ich blitzte ihn warnend an, und Torsten ergänzte schnell: „Spliss, meine Liebe. Da hilft eigentlich nur die Schere.“

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