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Die Spur der Orphans

Als Buch hier erhältlich:

Als »Nowhere Man« ist Evan Smoak unter Verbrechern auf der ganzen Welt bekannt und gefürchtet; für seine ehemaligen Auftraggeber ist er »Orphan X«, ein Absolvent des Orphan-Programms, in dem Waisenkinder zu hocheffizienten Killern ausgebildet wurden. Nach Jahren des Mordens für die Regierung ist Evan in den Untergrund gegangen. Um seine früheren Taten zu sühnen, nutzt er seine Fähigkeiten nun, um den Verzweifelten zu helfen.
Doch Evan wird gejagt. Da die Existenz des geheimen und höchst illegalen Orphan-Projekts ein Risiko für dessen Erfinder darstellt, werden systematisch alle Agenten und ihre Ausbilder eliminiert. Evan hat nur eine Chance - töte oder werde getötet. Die Spur der ermordeten Orphans führt ihn zu dem Mann, der die Morde in Auftrag gegeben hat. Evans ultimatives Ziel: der amtierende US-Präsident.


  • Erscheinungstag: 06.12.2019
  • Aus der Serie: Evan Smoak
  • Bandnummer: 4
  • Seitenanzahl: 512
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959673716

Leseprobe

Für meine beängstigend kluge Lektorin
Maureen Sugden

Die mir nun schon seit sechzehn Romanen hilft, mich immer weiter zu verbessern, und mich mit rasiermesserscharfem Verstand und Gespür für feinste Schattierungen vor unzähligen Fettnäpfchen bewahrt hat.

1997

PROLOG:
NICHT ENDEN WOLLENDER REGEN

Evan ist neunzehn, gerade aus dem Flugzeug gestiegen, voll ausgebildet und bereit für seine Mission. Aber er hat sich noch nie bewähren müssen.

Dies ist sein erster Einsatz als Orphan X.

Rasch gewöhnt er sich an den fremden Ort, eine Stadt mit ständigem Nieselregen, gebieterisch wirkenden Ministeriumsgebäuden und Männern, die sich zur Begrüßung auf beide Wangen küssen.

Seine Tarnung ist perfekt, bestätigt durch diverse Visa, einen mit etlichen Stempeln versehenen Reisepass, überprüfbare vorherige Adressen und Telefonnummern, die bei strategisch platzierten Personen landen. Jack, Evans Betreuer und Ersatzvater, hat ihm eine entsprechend nichtssagende falsche Identität für diesen Einsatz erstellt: ein geschäftstüchtiger junger Mann aus Ontario, der sich vor Kurzem von seiner ebenso jungen Ehefrau getrennt hat und die elterliche Hausverkleidungsfirma zu neuen Ufern führen möchte. Jack und er haben sich mit dieser Identität bis ins allerletzte Detail beschäftigt, sie durchgeknetet wie Teig, bis sie Evan so komplett zu eigen geworden ist, dass er tatsächlich den Schmerz seines häuslichen Rückschlags und den brennenden Ehrgeiz, in diesen wundervollen neuen Markt zu expandieren, in seinem Innern verspürt. Evan hat gelernt, seine Tarnung nicht vorzutäuschen, sondern sie zu leben. Und er tut sein Bestes, den Anteil von sich, der nicht an diese Tarnung glaubt, zurückzudrängen, bis er ihn wieder benötigt. Er bewegt sich viel durch diese graue Stadt, um seine Tarnung nicht zu kompromittieren. Hin und wieder trifft er auf den Straßen auf Gleichaltrige. Sie kommen ihm wie Wesen einer anderen Spezies vor. Sie tragen Rucksäcke und betreten oder verlassen in kleinen Grüppchen Hostels und tauschen betrunken Schulanekdoten in fremden Sprachen aus. Wie immer gehört er nicht dazu – weder zu ihnen noch zu irgendjemand sonst. Die Vereinigten Staaten sind in diesem Land nicht vertreten. Es wird keine Geheimtreffen während einer Autofahrt oder direkte, persönliche Kontakte mit einer Botschaft geben. Falls er versagt, wird er in einem kalten Gefängnis sterben, allein und verlassen, nach jahrzehntelangen Qualen. Natürlich nur, wenn er nicht das Glück hat, hingerichtet zu werden.

Eines Abends meditiert Evan auf einer zerschlissenen Decke in einem allem Anschein nach aus den Gründerjahren des Landes, in dem er sich befindet, stammenden Hotel, als das senfgelbe Wählscheibentelefon auf dem Nachttisch ein durchdringendes Läuten von sich gibt.

Jack. »Könnte ich bitte mit Frederick sprechen?«, fragt er.

»Hier gibt es keinen Frederick«, antwortet Evan und legt auf.

Sofort wirft er seinen Laptop an und hackt sich in den Internetzugang des Reisebüros gegenüber. Er loggt sich in einen bestimmten E-Mail-Account ein und überprüft den Entwurfsordner.

Wie erwartet, befindet sich dort eine ungesendete Nachricht.

Sie besteht aus zwei Wörtern: »Paket wartet.« Und einer Adresse in der Nähe des Stadtrands. Sonst nichts.

Darunter tippt er ein: »Handelt es sich um eine Waffe?«

Geht auf Speichern.

Kurz darauf aktualisiert sich der Nachrichtenentwurf: »Du bist die Waffe. Alles andere ist Zubehör.«

Selbst aus der Entfernung eines ganzen Weltmeers gibt Jack geheimnisvolle Perlen der Weisheit von sich, ein Teil Koan, ein Teil Kampfparole, aber immer mit pädagogischem Hintergrund.

Evan loggt sich aus. Da die beiden sich innerhalb einer gespeicherten Nachricht in einem einzigen E-Mail-Account unterhalten haben, ist kein Wort davon ins Netz übermittelt worden, wo es entdeckt und erfasst werden könnte.

Auf dem Weg aus seinem gemieteten Zimmer hält Evan mit der Hand am wackligen Türknauf wie erstarrt inne. Er hat seinen Auftrag erhalten. Sobald er durch diese Tür tritt, ist es offiziell. Seine siebenjährige Ausbildung hat ihn an diesen Punkt geführt. Allumfassende, erdrückende Angst bemächtigt sich seines gesamten Körpers. Er will nicht sterben. Er will nicht in irgendeinem Arbeitslager bis ans Ende seiner Tage im Steinbruch arbeiten und Gulasch essen. Er will nicht, dass das Letzte, was er spürt, der Druck einer Neun-Millimeter-Tokarew auf den Hinterkopf und der kupferartige Geschmack von Blut im Mund ist. Der nicht enden wollende Regen hämmert gegen das Fenster und zerrt mit seinem beständigen Geprassel an seinen Nerven. Er hat sein Hemd durchgeschwitzt, und dennoch fühlt sich der klapprige Türknauf nach wie vor kühl in seiner Hand an.

Gleich einem Gebet hört er Jacks Worte in seinem Kopf, als ob er direkt neben ihm stünde: Stell dir jemand anderes vor, jemand, der besser ist als du. Stärker. Klüger. Zäher. Und dann tust du, was derjenige tun würde.

»Verhalte dich so, wie derjenige, der du sein möchtest«, teilt Evan der abgestandenen Luft im Hotel mit.

Er schwört, seine Angst in diesem Zimmer zurückzulassen. Für immer.

Dann öffnet er die Tür und tritt hinaus.

Der Bus stadtauswärts stinkt nach Schweiß und süßlichem Tabak. Evan sitzt ganz hinten und trägt eine dünne Schicht Sekundenkleber auf seine Fingerspitzen auf, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Dies zieht er Handschuhen vor, da es unauffälliger ist und seinen Tastsinn weniger beeinträchtigt.

Holpriger Asphalt geht allmählich in eine gewundene, unbefestigte, in einen Berghang gehauene Straße über. Die strenge Ostblock-Architektur staatlicher Bauten blendet über in kleine, halb verfallene Dörfchen. Betttücher flattern im Wind. Windschiefe Gebäude. Ein plötzlicher, regengetränkter Windstoß bringt den Gebetsruf eines Muezzins mit sich. Es kommt ihm vor, als hätten sie nicht nur Stadtviertel, sondern ganze Kontinente durchquert.

Die Adresse entpuppt sich als eine Etagenwohnung ohne Fahrstuhl mit Blick auf eine autoverstopfte Straße. Evan erklimmt die gewundene, stuckverzierte Treppe, tappt über blau-weiße orientalische Fliesen und klopft an eine riesige Rundbogentür, deren Holz mit rostigen Metallbändern verziert ist. Unter vornehmem Knarren öffnet sie sich und gibt den Blick auf einen rundlichen Mann in einem weiten Gewand eines nicht näher bestimmbaren Stils frei.

»Ah«, sagt der Mann, seine randlose Brille glänzt im Licht. »Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise?« Die in nur leicht gefärbtem Englisch vorgetragene Frage wird von einer ausladenden Geste seines in einen weiten Ärmel gehüllten Armes begleitet. »Bitte treten Sie ein.«

Die Decke ist hoch, fast wie in einer Kirche. Nicht zu übersehen, liegt eine Makarow-Pistole auf einem Fernseher mit Hasenohr-Antenne. Durch einen Perlenvorhang betreten der Mann und Evan eine winzige Küche und nehmen vor diversen Teakholzschalen mit Feigen, Trockenfrüchten und Nüssen Platz.

Der Mann holt einen kleinen Klarsichtbeutel hervor, auf dessen Etikett in kyrillischen Lettern PERSÖNLICH mit Textmarker geschrieben steht. Darin befindet sich eine einzelne Patronenhülse. Evan untersucht sie durch das Plastik hindurch. Die verkupferte Stahlhülse eines Kaliber 7,62x54-mm-R-Geschosses.

Allmählich wird ihm klar, dass sich auf dieser Hülse ein Fingerabdruck befindet, dass sie irgendwo platziert werden soll, um die Schuld an dem, was Evans Auftrag sein wird, jemand anderem in die Schuhe zu schieben.

Er dankt dem Mann und will aufstehen, aber der Mann greift über den Tisch und packt Evan mit seiner braunen Hand am Handgelenk. »Was Sie da in Händen halten, ist gefährlicher als alles, was Sie sich vorstellen können. Seien Sie vorsichtig, mein Freund. Die Welt ist ein gefährlicher Ort.«

Am nächsten Morgen macht Evan sich in diejenigen Stadtviertel auf, die er während der letzten Wochen so sorgfältig ausgekundschaftet hat. Er weiß, wo er Auskünfte bekommen kann, und aufgrund dieser Auskünfte findet er sich auf der Rückseite einer verlassenen Textilfabrik wieder, wo er über einen industriellen Webstuhl hinweg, auf dem in genau bemessenen Abständen sowjetische Gewehre aufgereiht sind, mit einem adretten kleinen Esten spricht.

Die aufbewahrte Patronenhülse in Evans Tasche passt zu der Munition einer beschränkten Anzahl von Waffen. Er wirft einen Blick auf die Warschauer-Pakt-Auswahl und entdeckt ein ausgemustertes Mosin-Nagant mit einem PSO-1-Zielfernrohr. Evan deutet darauf, und der Este reicht es ihm mit Hilfe eines sauberen Waffenputztuchs. Als der Mann Evan dabei zusieht, wie er das russische Scharfschützengewehr genauestens prüft, grenzt sein Lächeln ans Lüsterne.

Das Gewehr wird Evan eine Trefferanordnung innerhalb eines 5-cm-Radius auf eine Distanz von einhundert Metern liefern, was für seine Zwecke völlig ausreichend ist, aber trotzdem tut er so, als sei er mit dem Angebot unzufrieden. »Nicht gerade ein Weltklassegewehr.«

Der Mann verschränkt seine weichen rosafarbenen Finger. »Sie wollen damit ja nicht an den National Matches in Camp Perry teilnehmen.«

Evan registriert die Bemerkung sehr wohl, die eigens auf ihn, einen Käufer aus Nordamerika, zugeschnitten ist. Er nimmt das Auge vom Zielfernrohr und mustert den kleinen Mann in seinem lächerlichen Anzug mit dem Einstecktuch.

Der Este rückt sich die Krawatte zurecht und deutet mit dem Kinn auf das Gewehr. »Außerdem«, sagt er, »drei Millionen tote Deutsche sind ein ziemlich gutes Argument.«

»Alvar?« Evan dreht den Kopf in die Richtung, aus der die dünne weibliche Stimme dringt.

Ein hübsches junges Mädchen, vielleicht fünfzehn, steht in der offenen Tür zum Büro; sie ist nackt bis auf eine zerschlissene, um ihre Schultern geschlungene Decke. Ihre Augen liegen tief in den Höhlen und sind dunkel umschattet. Unter ihrer Haut zeichnen sich die Knochen ab. Hinter ihr kann Evan auf dem Boden eine verdreckte Matratze und Tasse und Teller aus Blech ausmachen.

»Ich habe Hunger«, sagt das Mädchen.

Anhand seiner Russischkenntnisse kann Evan sich ungefähr zusammenreimen, was sie sagt, obwohl er vermutet, dass sie Ukrainisch spricht. Er macht sich eine mentale Notiz, diese Sprache seinem indoeuropäischen Arsenal hinzuzufügen.

Der Este kocht vor Wut, was so gar nicht zu dem Bild des souveränen Vertriebsleiters passt, als der er sich bislang gegeben hat. »Zurück in dein verdammtes Zimmer. Ich hab dir doch gesagt, stör mich nie, wenn ich geschäftlich zu tun habe.«

Das Mädchen zieht sich nicht so sehr in sein Büro zurück, als dass sie sich quasi in Luft auflöst.

Evan hebt prüfend das Gewehr, als müsse er nach Gewicht bezahlen. Er deutet mit dem Kopf auf die geschlossene Bürotür. »Die hält Sie wohl ganz schön auf Trab.«

Alvar grinst, wobei er seine tabakfleckigen Zähne entblößt. »Und wie, mein Freund, und wie.«

Zu einer Seite hin lugt eine Transportpalette mit gestapelten Splittergranaten unter einem zugezogenen Vorhang hervor. Der Este bemerkt, dass Evan sie entdeckt hat.

»Mein Freund, bislang hat sich 1997 als gutes Jahr für mich erwiesen«, sagt er. »Hier herrscht jetzt der Wilde Westen. Die Bestellungen kommen schneller rein, als ich sie erfüllen kann. Quantität ist jetzt das Zauberwort. Diese Dinger sind das, was ganze Nationen aus den Angeln hebt.«

»Für welche Seite?«, fragt Evan.

Der Mann lacht. »Es gibt keine Seiten. Nur Geld.«

Auf diesen Hinweis hin wechselt ein dickes Bündel Geldscheine den Besitzer.

Zweiundsiebzig Stunden darauf befindet sich Evan in gebeugter Haltung, das Mosin-Nagant einsatzbereit im Arm, in der Kanalisation unterhalb einer Hauptverkehrsstraße. Er steht auf einem Betonsims über zäh dahinfließenden Abwässern. Und wartet. Das auf Augenhöhe in den Bürgersteig eingelassene Abflussgitter gewährt ihm gute, direkte Sicht die gesamte Prachtstraße hinunter. In der Entfernung kann er das blecherne Geräusch der entlang der Straße angebrachten Lautsprecher und das Tosen einer in Jubelschreie ausbrechenden Menschenmenge hören. Die Parade kommt langsam näher.

Diverse verschlüsselte Nachrichten von Jack haben einige von Evans Fragen beantwortet. Die Zielperson: ein mit jedem Tag an Macht gewinnender, aggressiv militaristisch eingestellter Außenminister, der sich lautstark mit dem Stand der Kernwaffenforschung in seinem Land brüstet. Die faulig-sumpfige Luft atmend, wartet Evan weiter ab. Von der Straße dringt plötzliches Jubelgeschrei zu ihm herab. Er hebt das Gewehr – die Mündung schiebt sich ein kleines Stück aus dem Abfluss im Bürgersteig hervor –, klärt die Sicht und konzentriert sich nur noch auf das, was das Zielfernrohr ihm zeigt.

Auf den Schultern der Zuschauer reitende Kinder lachen und klatschen. Auf dem sichtbaren Straßenabschnitt mit der steilen Kurve wird die Menschenmenge von Absperrungen zurückgehalten. Vor den Gesichtern flattern Flaggen im Miniaturformat hin und her wie ein Insektenschwarm.

Die Spitze der Prozession, eine Phalanx aus gepanzerten SUVs, taucht jetzt in einigen Hundert Metern Entfernung auf. Die Fahrzeuge kommen auf dem vor ihm liegenden Straßenabschnitt auf Evan zu. Seine Sicht wird durch die einzelnen Windschutzscheiben, die in der gedämpften Mittagssonne plötzlich grell aufglänzen, geringfügig abgelenkt.

Evan korrigiert seine Position am Gewehr, um den Rückschlag zu minimieren und schnellstmöglich wieder einsatzbereit zu sein, sollte er einen zweiten Schuss abgeben müssen. Er berechnet die mechanische Abweichung, also den Abstand von 4,76 Zentimetern zwischen Fadenkreuz und Laufseelenachse. Dann passt er den Schnittpunkt für eine Distanz von neunzig Metern an, die exakte Stelle, an der der Abstand zwischen den Fahrzeugen den perfekten Schusswinkel ergibt. Je näher das Zielfahrzeug kommt, desto mehr wird sein Sichtfeld schrumpfen. Wenn das Ziel den optimalen Punkt passiert hat, wird sein Schuss mit jedem weiteren Meter schwieriger werden. Es müssen genau neunzig Meter sein, nicht mehr und nicht weniger.

Er nimmt Schussposition ein. Abgesehen von seinem Atem, der kühl über seine entschlossen zusammengepressten Lippen streicht, ist er vollkommen reglos.

Plötzlich erscheint die Zielperson groß und deutlich im Zielfernrohr. Ein hochgewachsener Mann mit schütter werdendem Haar in würdevoller Haltung, schlank, dunkler Anzug, umgeben von diversen Generälen in vollem Ornat sowie seiner Gattin in einem wallenden auberginefarbenen Kleid. Sie stehen dicht gedrängt in einem offenen Schiff von Limousine, die an das Papamobil erinnert, und winken der Menge.

Einhundertzehn Meter.

Einhundert Meter.

Dann gibt es ein Problem.

Die Gattin des Außenministers dreht sich zur anderen Straßenseite und verstellt Evan komplett die Sicht. Ihr Kopf befindet sich genau vor dem ihres Mannes.

Fünfundneunzig Meter.

Panik. Innerhalb eines Sekundenbruchteils bricht Evan zusammen, fängt sich wieder und plant neu.

Falls er durch die Frau hindurchschießen muss, ist es besser, durch die Augenhöhle zu zielen, damit der Schädel die Kugel nur an einem Punkt ablenken kann. Evan platziert das Fadenkreuz genau auf ihrer Pupille.

Dreiundneunzig.

Er betätigt den Abzug bis an den Druckpunkt und nimmt den ersten Atemzug.

Er sieht der Frau direkt ins Auge, sieht direkt in sie hinein. Mascara auf den gebogenen Wimpern, das Oberlid ist vor Freude gekräuselt. Sie ist nicht Teil dieses Einsatzes. Sollte er sie als bedauerliches, aber unvermeidliches Opfer abtun? Evan hört tief in sich hinein, ob Jack ihm einen Rat gibt, aber er vernimmt nur das Zischen der vorbeirollenden Reifen und die aufgeregten Geräusche der Menge.

Das zweite Mal Einatmen. Ausatmen. Der letzte halbe Atemzug vor dem Schuss.

Falls er noch länger wartet, wird es zu einer ganzen Reihe von neuen Problemen kommen.

Ein minimaler Druck seines Zeigefingers, und die Sache ist gelaufen.

Ungünstigerweise macht sich Jacks Stimme genau in diesem Moment als ein Flüstern in seinem Ohr bemerkbar: Dich zu einem Killer zu machen ist einfach. Schwierig wird’s erst, wenn du dabei deine Menschlichkeit bewahren sollst.

Die Limousine rollt gemächlich näher. Sie erreicht die vorgesehene Stelle. Das dunkle Rund der Pupille der Frau, der zurückgezogene Kopf des Ministers im perfekten Abstand genau hinter ihr. Jetzt.

Und dann sind sie vorbei.

Evan verzichtet auf den zweiten Teil des Atemzugs. Schweiß tropft ihm in die Augen. Fieberhaft stellt er neue Berechnungen an, passt die Schnittpunkte an, fährt die Vergrößerung zurück, wobei die Gesichter im Ausschnitt seines Zielfernrohrs mal größer, mal kleiner werden, als er darum ringt, die Kontrolle über seinen Einsatz zu behalten. Wie befürchtet, schrumpft sein Blickfeld, und die Komplikationen häufen sich.

Bewusst atmet er ein und aus. Konzentriert sich.

Abzug bis an den Druckpunkt heruntergedrückt. Die Vergrößerung immer weiter zurückgefahren. Es wird einen Augenblick geben, nur einen einzigen, in dem er die Sache genau und sauber erledigen kann, und wenn dieser Augenblick kommt, wird er bereit sein.

Die Generäle, lächelnd unter ihren buschigen Schnurrbärten, wechseln die Position und treten um die Frau herum, während das Gesicht des Ministers ab und zu kurz zwischen ihnen auftaucht. Jetzt sind es nur noch fünfundsiebzig Meter, die Fahrzeuge an der Spitze sorgen dafür, dass der Schusswinkel immer spitzer wird, bis er nur noch ein schmaler Ausschnitt ist.

Alles reduziert sich auf die Sichtachse seines Zielfernrohrs. Nichts existiert mehr, noch nicht einmal sein Atem. Die Gattin dreht sich um, ihr draller Busen erfüllt sein Gesichtsfeld, und der Minister tritt erneut hinter sie. Evan wartet darauf, dass sich ihr Arm wieder hebt, um der Menge zuzuwinken, und schließlich tut er es, wobei ein breites Stück Stoff vom Ärmel herabhängt wie ein Flügel. Der Minister verschwindet dahinter, aber Evan hat seine Bewegung verfolgt und berechnet, wie weit er ihm mit dem Lauf des Gewehres folgen muss.

Langsam und gleichmäßig atmet er ein und aus, dann betätigt er den Abzug. Die Kugel durchdringt den transparenten Stoff knapp vier Zentimeter unterhalb des gestreckten Ellbogens der Ministergattin.

Evans Hände bewegen sich wie automatisch und ziehen den Verschluss zurück für einen Folgeschuss; die Patronenhülse wird ausgeworfen und landet mit einem metallischen Klappern zu seinen Füßen. Aber eine zweite Kugel wird nicht nötig sein. Der Außenminister lehnt gegen zwei seiner Generäle, die ihn aufrecht halten; seine Augen starren ins Leere, auf einer Wange zeigt sich ein daumengroßes Loch. Der Mund seiner Frau ist weit aufgerissen und formt zitternd einen Schrei, aber dank der plötzlich ausbrechenden Panik der Menge kann Evan nichts hören.

Er lässt seine Waffe in den trägen Abwasserstrom fallen, der unter ihm vorbeifließt. Nachdem er die tödliche Patronenhülse eingesteckt hat, holt er den Plastikbeutel hervor und schüttelt die verkupferte Stahlhülse mit ihrem unsichtbaren Fingerabdruck vorsichtig auf das feuchtkalte Sims. Ein Abdruck, der, wie er mittlerweile weiß, einem nicht ganz unbekannten tschetschenischen Rebellen gehört.

Man wird zwar die Menschenmenge, die umliegenden Gebäude und die geparkten Fahrzeuge absuchen, bevor man auf die Idee kommt, auch einen Blick unter die Erde zu werfen, aber Evan rennt trotzdem, so schnell er kann, zu seinem Ausstiegspunkt und kommt durch einen Gullydeckel in einem Park fünf Blocks weiter nördlich wieder zum Vorschein. Er läuft drei Blocks nach Osten, in die entgegengesetzte Richtung des sich ausbreitenden Aufruhrs, und steigt in einen Bus. Nach einigen Kilometern steigt er aus, dreht seine Wendejacke um und bewegt sich im Zickzackkurs durch die Stadt. Die Neuigkeiten verbreiten sich über die Lippen der Passanten, werden im Vorbeigehen von Cafétischen aufschnappt oder dröhnen in voller Lautstärke aus Autoradios.

Sobald er sicher in seinem Hotelzimmer angekommen ist, loggt er sich in den E-Mail-Account ein und erstellt eine neue gespeicherte Nachricht, die aus einem einzigen Wort besteht: »Neutralisiert.«

Kurz darauf aktualisiert sich der Entwurf: »Beende den Einsatz.«

Evan starrt auf die Nachricht und spürt, wie sein Gesicht anfängt zu glühen. Er fährt sich mit der Hand durchs kurze Haar – Schweiß bleibt auf seiner Handfläche zurück. Er steht auf, entfernt sich ein paar Schritte vom Laptop, dann geht er wieder zurück. Schreibt: »Erbitte Telefonkontakt.«

Er geht auf Aktualisieren. Gibt erneut das Kommando ein. Nichts.

Jack denkt darüber nach.

Siebzehn angsterfüllte Stunden darauf erhält Evan endlich eine Antwort, und weitere zwei Stunden später steht er an der vereinbarten Straßenkreuzung, nachdem er Jack in einer Telefonzelle von einer anderen Telefonzelle aus erreicht hat. Er hat Jack sehr früh an einem Ostküstenmorgen erwischt, obwohl Jack sich so hellwach wie immer anhört und mit dem scharfen Verstand eines ehemaligen Dienststellenleiters seine Antworten in genau bemessene Worte, bedeutungsvolles Schweigen und aussagekräftige Betonungen verpackt.

»Er hat lediglich eine Patronenhülse zur Verfügung gestellt«, sagt Evan.

»Zumindest, soviel du weißt«, antwortet Jack.

»Er scheint loyal zu sein. Auf unserer Seite.«

»Glaub nicht alles, was du denkst.«

Der leichte Wind bläst Evan feuchte Tropfen ins Gesicht, und er duckt sich tiefer in den Kragen seiner Jacke und dreht sich mal in diese, mal in jene Richtung, um Fußgänger, Fahrzeuge und die Fenster der hoch aufragenden, steinverblendeten Gebäude ringsum im Auge zu behalten.

»Er ist nicht unser Freund«, fährt Jack fort. »Er ist jedermanns Freund. Ein Geschäftsmann. Er verkauft nicht nur Patronenhülsen mit Fingerabdrücken. Er ist ein Waffenschieber.«

»Waffen?«

»Spaltbares Material. An den Meistbietenden. Was unsere Arbeit dort vor Ort angeht, kompliziert er die Dinge nur. Das muss dir reichen.«

»Was ist mit dem Sechsten Gebot?«, fragt Evan. Er kann nicht verhindern, dass man ihm anhört, wie wütend er ist. »Hinterfrage deine Befehle.«

»Du hast sie hinterfragt«, antwortet Jack. »Jetzt führe sie aus. Bring den Einsatz zu Ende. Dein Freund und wer immer sonst, mit dem du Kontakt hattest. Diese Sache darf nicht – sie wird nicht – auf uns zurückfallen.«

Dann ist nur noch das stete Tuten des Wähltons in der Leitung zu hören.

Evan durchstreift die nähere Umgebung, bis er auf einen GAZ Wolga stößt, eine viertürige Limousine, die auf den Straßen hier so häufig anzutreffen ist wie ein Chrysler in Detroit. Er schließt ihn kurz, verlässt damit die Stadt und fährt auf einen in der Farbigkeit an einen schillernden blauen Fleck erinnernden Sonnenuntergang zu. Mehrere Blocks von der Wohnung mit der geschwungenen, stuckverkleideten Treppe entfernt, stellt er den Wagen ab und nähert sich ihr im Schutze der rasch einsetzenden Dunkelheit. Erst als er auf den blau-weißen orien­talischen Fliesen steht, holt er sein Lockpick-Set hervor. In Sekundenschnelle lässt sich das rostige Schloss der hölzernen Rundbogentür öffnen.

Ohne einen Laut schleicht sich Evan durch das dunkle Wohnzimmer mit der hohen Decke. Die Makarow-Pistole liegt noch immer an ihrem Platz oben auf dem uralten Fernsehgerät.

Im hinteren Bereich der Wohnung brennt Licht in der Küche, und durch den Perlenvorhang dringt das verzerrte Geräusch eines lebhaft in einer Sprache dahinplappernden Radiomoderators, die Evan nicht geläufig ist. Tadschikisch? Bucharisch?

Wie wenig er von diesem Leben weiß, das er im Begriff steht, auszulöschen.

Der Blick in den Raum wird vom Perlenvorhang in vertikale Abschnitte unterteilt: Der Mann sitzt an dem kleinen, bestoßenen Tisch mit dem Rücken zu ihm und löffelt Suppe aus einem tiefen Teller. Ein altmodisches Radio steht neben der Kochplatte auf der Arbeitsfläche. Ein gänzlich unromantisches kleines Porträt: Allein zu Abend essender Mann.

Evan tritt durch den Vorhang, die aneinanderschlagenden Perlen kündigen ihn an. Der Mann dreht sich um und wirft durch seine randlose Brille einen Blick hinter sich. Es gibt einen Augenblick des Wiedererkennens, dann tritt ein sorgenvoller Ausdruck in sein Gesicht. Weder Wut noch Angst – lediglich Traurigkeit. Er nickt ein Mal, dann wendet er sich langsam wieder zu seiner Suppe um.

Evan schießt ihm in den Hinterkopf.

Als der Mann nach vorne kippt, rutscht sein Stuhl ein Stück nach hinten, und seine Leiche verharrt in dieser Position: die Brust an der Tischkante, das Gesicht in der Suppe.

Evan hebt ihn aus dem Teller, richtet ihn im Stuhl auf und säubert sein Gesicht, so gut er kann. Das linke Auge des Mannes fehlt, wie auch ein Stück seiner Stirn. Als Evan das Küchentuch zurück auf die Arbeitsplatte legt, findet er einen grob gearbeiteten Aschenbecher aus Ton, offenbar von Kinderhand geformt.

Er erbricht sich in die Spüle.

Danach entdeckt er in einem Schrank eine Flasche Bleichmittel und schüttet sie großzügig in den Abfluss.

Als er auf die dunkle Treppe hinaustritt, nimmt er wahr, wie sich ein Mann, vielleicht angezogen vom Geräusch des Schusses, langsam die Stufen hinaufstiehlt. Selbst im Dunklen glänzt etwas in seiner linken Hand auf.

Mitten auf der Treppe bleiben beide wie angewurzelt stehen.

Für Evan ist der Mann nur ein dunkler Umriss, wie auch Evan für ihn. Der Kopf des Mannes senkt sich, als er die Pistole in Evans Hand fixiert. Er lässt seine eigene Waffe sinken, streckt Evan die andere, leere Hand entgegen als Zeichen seiner guten Absicht und schüttelt bekräftigend den Kopf. Evan nickt und drängt sich an ihm vorbei.

Zehn Minuten darauf, auf halbem Wege zurück in die Stadt, ist seine Brust noch immer so verkrampft, dass er kaum richtig atmen kann.

Sein nächstes Ziel ist die verlassene Textilfabrik. Als er sie betritt und durch das Gewirr riesiger Stoffballen huscht, taucht plötzlich der adrette Este vor ihm auf. Er hält eine waschechte Kalaschnikow, deren gebogenes Magazin hervorsteht wie ein Stoßzahn. Evan ist mit einer Pistole zu einem Maschinengewehrgefecht erschienen. Die beiden stehen neben dem industriellen Webstuhl, bei dem sie sich auch beim letzten Mal getroffen haben.

Mit wohlwollender Neugier legt der Este den Kopf schief, aber er lockert nicht den Griff um das Sturmgewehr, und der Ausdruck seiner kleinen Augen ist hart und unnachgiebig. Selbst um diese Uhrzeit und vermutlich aus dem Schlaf geholt, trägt der Mann ordentlich gebügelte Hosen und ein Anzughemd, von dem jedoch ein Zipfel noch über der Hose hängt. Die Tür zum Büro in seinem Rücken ist geschlossen, aber ein schwacher Schein erhellt das Milchglas der Scheibe.

Die beiden Männer stehen sich in einem unsicheren Waffenstillstand gegenüber, bei dem sie zwar nicht aufeinander zielen, die Waffen jedoch auch nicht sinken lassen.

»Ich brauche Ihre Hilfe«, sagt Evan. Langsam und vorsichtig hebt er die Makarow an, fummelt dann am Schlitten herum. »Der klemmt immer wieder.«

Bei dem Esten zeigt sich ein Lächeln, ein perfektes Halbrund inmitten seiner weichen rosafarbenen Wangen. »Das kommt, weil Sie die nicht bei mir gekauft haben.« Er streckt die Hand nach der Pistole aus. »Aber mal ganz im Ernst, statistisch gesehen ist das so gut wie unmöglich. Makarows klemmen einfach nicht.«

Das weiß Evan, aber es war die einzige Ausrede, die ihm auf Anhieb eingefallen war.

Der Este wedelt ungeduldig mit der Hand. Unter seinem anderen Ellbogen hebt sich die Mündung der Kalaschnikow ein wenig an. »Also?«

Evan ist gezwungen, ihm die Pistole zu reichen.

Der Este nimmt sie, legt dann seine eigene Waffe auf den Webstuhl. Er holt das Magazin aus der Makarow, sieht es prüfend an, grinst dann ob Evans Unwissenheit. »Die Unterseite der einen Magazinlippe hat eine kleine Unebenheit, wo sie am Rand entlangreibt.«

Mit der Spitze seines Loafers angelt er nach einem Karton und zieht ihn unter dem Webstuhl hervor. Er durchwühlt den Inhalt, holt ein neues Magazin hervor, schiebt es in den Schacht und reicht Evan die Pistole zurück.

»Tut mir leid«, sagt Evan und jagt dem Mann eine Kugel in die Brust.

Der Este stürzt nach hinten, seine Handflächen klatschen auf den Betonboden. Er zittert, seine Arme bewegen sich wie wild hin und her. Ein Husten hinterlässt einen feinen Speichelfilm auf seinen bläulichen Lippen. Seine Pupillen gehen ruckweise nach oben, finden Evan. Noch nie in seinem Leben hat Evan eine solche Todesangst im Gesicht eines anderen Menschen gesehen.

Evan geht in die Hocke, nimmt die manikürte Hand des Mannes in seine. Die Nägel sind sauber und kurz. Der Este umklammert Evans Hand, packt ihn mit der anderen Hand am Unterarm und zieht ihn näher zu sich heran. In einem anderen Zusammenhang könnte diese angedeutete Umarmung als beinahe zärtlich gelten. Vielleicht ist sie das auch jetzt. Evan lässt den Mann sanft auf den Boden sinken, wobei er seinen Kopf festhält, damit er nicht auf den Beton aufschlägt. Dann hält er die Hand des Mannes, bis dessen Griff erschlafft.

Dann steht er auf, geht zu dem bescheidenen Büro zurück und öffnet die Tür. Das Mädchen liegt mit blutigen Lippen und aschfahler Haut zusammengerollt auf der Matratze. Auf einem Klappstuhl aus Metall liegt ein Fixbesteck. Das Mädchen ist nackt, übersät mit blauen Flecken, ihre Haut spannt sich über den hervortretenden Knochen. Ihre linke Schulter sieht aus, als sei sie ausgerenkt. Den Schuss kann sie unmöglich überhört haben.

Auf einem Metallschreibtisch der Matratze gegenüber steht eine Zigarrenkiste randvoll mit Geldscheinen. Evan greift sie und stellt sie neben ihrem mageren Arm auf den Boden. »Du darfst jetzt gehen«, sagt er.

Träge wendet sie ihm die Augen zu. »Wohin?«, fragt sie.

Er lässt sie dort mit der Kiste voller Geld zurück.

In dieser Nacht schlägt er sein Bett in einem anderen Hotel auf, in dem er sich in den E-Mail-Account einloggt und eine Nachricht im Entwurfordner für Jack hinterlässt. »Einsatz beendet.«

Er überprüft die Abflugzeiten vom zweitgrößten Flughafen des Nachbarlandes. Am morgigen Tag hat er viel vor.

Und am Tag danach und am Tag danach und am Tag danach.

Jetzt

1. GESICHT IN DER MENGE

Ein Mann mischte sich unbemerkt ins dichte Gedränge der Touristen, die sich entlang der E Street auf dem Bürgersteig versammelt hatten. Der Mann war weder groß noch klein, weder besonders muskulös noch besonders schlank. Nur ein durchschnittlicher Typ, mit durchschnittlich gutem Aussehen.

Er hatte sich eine Washington-Nationals-Baseballkappe tief ins Gesicht gezogen, um den Überwachungskameras den Zugriff zu erschweren. Oberhalb der Backenzähne hatte er sich jeweils Zahnwatteröllchen unter die Wange gestopft, um seinen Gesichtsschnitt zu verändern und die Gesichtserkennungssoftware auszutricksen, die der Secret Service über jedes einzelne Gesicht in der Menge laufen ließ. Seine Kleidung war körpernah geschnitten – kein für die Jahreszeit unpassender Mantel, unter dem sich Ausrüstung oder Waffen verbergen könnten und der unerwünschte Aufmerksamkeit auf ihn lenken würde.

Mit einem auf einen anderen Namen ausgestellten Pass war er von der Westküste nach D. C. geflogen, wie auch beim letzten und vorletzten Mal. Den Wagen hatte er sich unter wieder anderem Namen gemietet, und beim Check-in im Hotel hatte er eine dritte falsche Identität benutzt.

Er schlürfte seinen knapp einen Liter fassenden Big Gulp, den er sich bei einem 7-Eleven geholt hatte, durch den Strohhalm – eine weitere Requisite zur Ergänzung des T-Shirts vom »National Air and Space Museum« und der Clarks-Wanderschuhe, die er letzte Woche gekauft und zusammen mit schmutzigen Lumpen durch den Trockner gejagt hatte, damit sie eingelaufen aussahen. Der Softdrink schmeckte genau nach dem, was er war, in Maissirup aufgelöster Zucker, und er fragte sich, wieso die Leute willens waren, ihrem Körper diese Art von Nahrung zuzuführen.

Er wusste, welche visuellen Auslöser er vermeiden musste; er schwitzte nicht und achtete genau darauf, keine nervösen Bewegungen zu machen – keine schützend hochgezogenen Schultern oder aufgeregtes Verlagern des Gewichtes von einem Bein auf das andere. Er hatte weder Tasche noch Rucksack dabei und vermied es, die Hände in die Hosentaschen zu stecken.

Evan Smoak kannte die Secret-Service-Richtlinien in- und auswendig.

Das letzte halbe Jahr hatte er damit verbracht, Stück für Stück die Informationen zusammenzutragen und sie zu einem größeren Bild zusammenzufügen. Allmählich näherte er sich dem Ende der Aufklärungsphase. Jetzt war es an der Zeit, sich an die Einsatzplanung zu machen.

Er legte die Hände an die Gitterstäbe des acht Fuß hohen Zaunes. Die Bäume auf dem South Lawn bildeten eine Art auf das Weiße Haus zuführenden Trichter – eine sehr passende Metapher für Evans eigenen, nur auf eines gerichteten Fokus, wäre er überhaupt der Typ für Metaphern.

Er stellte seinen Big Gulp auf den Bürgersteig, dann hob er die um seinen Hals baumelnde Kamera und tat so, als hantiere er umständlich an ihr herum. Um es zwischen den Zaunstäben hindurchstecken zu können, musste er die Streulichtblende des 18-200-mm-Nikkor-Objektivs entfernen. Als er das Auge an den Sucher legte, sah er die herangezoomte Ansicht der Südseite des Weißen Hauses unverstellt vor sich.

Unsichtbar verschmolzen mit einer riesigen fotografierenden Masse von Touristen ließ er das Objektiv über das gesamte Gelände schweifen. Die Hindernisse waren beeindruckend.

Die Außengrenze war gesäumt von einer Unmenge strategisch platzierter Stahlpoller.

Unter der Erde warteten Balken nur darauf, beim kleinsten Anlass nach oben zu schnellen.

Zehn Fuß hinter dem Zaun lauerten Bodensensoren und hochauflösende Überwachungskameras, bereit, jegliche auch noch so kleine Bewegung oder Erschütterung des Erdreichs auf der falschen Seite der Gitterstäbe zu erfassen.

Uniformed-Division-Officers standen auf dem gesamten Gelände gut sichtbar verteilt Wache, mit einer mit FN-P90-Maschinenpistolen ausgestatteten Eingreiftruppe als Verstärkung. Getreu den Secret-Service-Klischees trugen die Agents Sonnenbrillen der Marke Wiley X, aber die Brillen hatten auch einen strategischen Vorteil: Ein potenzieller Angreifer konnte sich nie sicher sein, wohin genau die Agents sahen. Die auffälligen Wachposten lenkten die Aufmerksamkeit der Menschenmenge von den Sicherheitsvorkehrungen ab, die ihnen verborgen bleiben sollten.

Am Südwesttor bewachten zwei Belgische Schäferhunde einen vorgelagerten Betonstreifen, der thermoelektrisch gekühlt war, damit sie sich in der sommerlichen Hitze nicht die Pfoten verbrannten. Sie durchsuchten alle ankommenden Fahrzeuge auf Sprengstoff. Gleichzeitig waren sie dazu ausgebildet anzugreifen, wenn es tatsächlich jemand schaffen sollte, die scharfen Spitzen oben auf dem Zaun zu überwinden. Falls es einen schlimmeren Ort gab, wo man landen konnte, als zwischen den Kiefern eines fünfunddreißig Kilo schweren Belgischen Schäferhunds, war sich Evan nicht sicher, wo das sein sollte. Die Hunde waren echte Nahkämpfer, und zwar weit über ihrer Gewichtsklasse; das Navy-SEAL-Team-Six war sogar so weit gegangen, mit einem Exemplar dieser Gattung per Fallschirm Osama Bin Ladens Anwesen in Abbottabad zu stürmen.

Als Nächstes schwenkte Evan die Kamera auf das Weiße Haus selbst. Der halbrunde Portikus auf der Südseite war wie der Rest des Gebäudes mit Infrarotsensoren und Geräuschmeldern ausgestattet, die rund um die Uhr von den Einsatzzentralen vor Ort sowie dem Joint Operations Center im Hauptquartier des Secret Service eine Meile weiter östlich überwacht wurden.

Zusätzlich überwachten die Agents im JOC Radarschirme, die jedes in den umliegenden Luftraum eindringende Flugzeug zeigten. Sie hatten eine Standleitung zur Luftfahrtbehörde der Vereinigten Staaten und dem Tower des Reagan National Airport. Falls es einer Drohne oder einem Piloten wider Erwarten gelingen sollte, durch das dichte Netz von Frühwarnsystemen zu gelangen, befand sich am Weißen Haus selbst ein fest installiertes und mit FIM-92-Stinger-Luftabwehrraketen bestücktes Flugabwehrsystem, das den Eindringling bereits in der Luft abfangen würde.

Evan richtete das Zoomobjektiv nach oben auf das Dach oberhalb des Truman-Balkons. Ein Scharfschütze mit einem Stoner-SR-16-Gewehr auf permanentem Posten sorgte von dort aus für die Überwachung des South Lawn, auf dem riesenhafte kreisrunde rote Markierungen die Landezone für Marine One, den Hubschrauber des Präsidenten, anzeigten. Weitere Scharfschützen patrouillierten das Dach mit .300-Winchester-Magnum-Gewehren im Anschlag, die eine Reichweite von fünfzehnhundert Metern hatten und für eine Schutzkuppel sorgten, die sich eine Meile in jede Richtung erstreckte.

Bis zum Weißen Haus zu gelangen würde sich nicht nur als schwierig erweisen. Es wäre vollkommen unmöglich.

Nicht dass es leichter wurde, wenn irgendein Glückspilz es bis an die Schwelle des Gebäudes schaffen sollte.

Durch die vereinten Kräfte von Metalldetektoren, Wachpostenhäuschen und Metalldetektorsonden gelangte nichts ins Weiße Haus, das zuvor nicht aufs Genaueste untersucht worden wäre. Keine einzige der Millionen jedes Jahr eintreffenden Postsendungen. Nicht einmal die Atemluft selbst. Elektronische »Nasen« an jedem Eingang entdeckten auch noch die winzigsten Spuren luftübertragener Krankheitserreger, gefährlicher Gase oder jeglicher anderer in böswilliger Absicht freigesetzter Substanzen. Die Technical Security Division, also die Abteilung für technische Sicherheit, führte eine tägliche Untersuchung jedes Zimmers durch, bei der sie es auf als Waffen eingesetzte Viren, Bakterien, Radioaktivität, Sprengstoffspuren und selbst auf Schadstoffe exotischerer Genese überprüfte.

Und sollte es doch jemandem auf wundersame Weise gelingen, in das sicherste Gebäude der Welt einzudringen, hatte das Weiße Haus noch diverse weitere Sicherheitsvorkehrungen zu bieten. Im Inneren verbargen sich nicht nur unzählige Notfallknöpfe, Alarme und Schutzräume, sondern auch etliche Fluchtwege, zu denen auch ein Tunnel im Durchmesser von drei Metern zählte, der tief unter der East Executive Avenue NW hindurchführte und im Keller des Finanzministeriums auf der gegenüberliegenden Straßenseite wieder herauskam.

Evan ließ die Kamera sinken, trat einen Stück von den Gitterstäben aus Panzerstahl zurück und stieß ein unmerkliches Seufzen aus.

Den Präsidenten umzubringen würde verdammt viel Arbeit machen.

2. DAS FEHLEN VON LICHT

Orphan X.

So lautete Evans Codename, der ihm im Alter von zwölf Jahren verliehen worden war, als man ihn aus einem Waisenhaus herausgeholt und im Rahmen eines tief im Verteidigungsministerium verborgenen Programms ausgebildet hatte, dessen Existenz komplett abgestritten werden konnte. Das Programm war nicht nur geheim, es schien mit einer Tarnkappenfunktion ausgestattet zu sein. Man konnte direkt darauf starren und nahm doch nichts wahr als das Fehlen von Licht.

Vor etwa zehn Jahren hatten die unvermeidlichen moralischen Unschärfen der Aufträge, mit denen Evan betraut war, ihn an einen Punkt geführt, an dem er eine Entscheidung treffen musste. Also war er aus dem Orphan-Programm geflohen und von der Bildfläche verschwunden.

Die schier unendlichen finanziellen Mittel, die er während seiner Zeit als Geheimagent angehäuft hatte, hatte er behalten, wie auch die besonderen Fähigkeiten, die ihm in Fleisch und Blut übergegangen waren. Was er jedoch ebenfalls behalten hatte, war seine moralische Richtschnur, die sich trotz all des Blutes, das er auf sechs Kontinenten vergossen hatte, hartnäckig geweigert hatte zu reißen.

Jetzt war er der Nowhere Man und stellte seine Dienste den wahrhaft Verzweifelten zur Verfügung, denjenigen, die keinen Ausweg mehr wussten. Er war bereit gewesen, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Selbst innerhalb der Welt der Geheimdienste war das Programm größtenteils unbekannt gewesen. Evans Codename, Orphan X, wurde als Sagengestalt oder urbane Legende abgetan. Nur wenige Menschen wussten, wer Evan wirklich war oder was er getan hatte.

Bedauerlicherweise war zufällig einer von ihnen jedoch der Präsident der Vereinigten Staaten.

Während Evans Anfangsjahre beim Orphan-Programm war Jonathan Bennett Staatssekretär für Verteidigungspolitik am Verteidigungsministerium gewesen. Mittels eines auf größtmögliche glaubhafte Bestreitbarkeit angelegten »Trickle Down«-Systems hatte Bennett die Einsatzbefehle gegeben. Während Bennetts Zeit als Befehlshaber war Evan der erfolgreichste Agent des Programms gewesen und hatte genügend erklärte Staatsfeinde eliminiert, um einen ganzen Friedhof zu füllen. Evan wusste, wo die Leichen begraben waren, denn er hatte sie eigenhändig dorthin befördert.

Etliche Jahre darauf, als Bennett Präsident geworden war, hatte er sich darangemacht, jeglichen Verweis auf das aus Verfassungssicht fragwürdige Programm, dem er vorgestanden hatte, zu tilgen. Durch Blut, Schweiß und harte Arbeit hatte Evan herausgefunden, dass Bennett ganz besonders darauf erpicht war, jegliche Spur des Einsatzes von 1997 auszulöschen.

Was Evan ganz oben auf die Abschussliste setzte.

Er hatte keine Ahnung, warum dieser Einsatz einen so speziellen Platz in Bennetts paranoidem Herzen innehatte oder warum das Attentat in jener weit entfernten grauen Stadt heutzutage noch eine Bedeutung haben sollte. Was für Geheimnisse hatte es an jenem kalten, schicksalhaften Morgen gegeben, die außerhalb von Evans Zielfernrohr gelegen hatten? Hatte er mit dem Druck auf den Abzug einen Dominostein umgestoßen und eine Kettenreaktion mit folgenschweren Auswirkungen ausgelöst? Oder war in der Dunkelheit jener Kanalisation versehentlich in etwas Persönliches gewatet und somit ins Visier eines privaten Rachefeldzugs geraten? Auf keine dieser Fragen hatte er eine Antwort.

Er wusste nur, dass Bennett ihn ausschalten wollte.

Und dass er im Gegenzug Bennett ausschalten wollte.

Evans Motive waren jedoch nicht reiner Selbsterhalt. Bennett war in umfassendster Hinsicht moralisch verdorben, eine Fäulnis, die sich durch die gesamte Befehlskette nach unten fraß. Vom höchsten Amt des Staates aus hatte er die Ermordung einer ganzen Reihe von Orphans angeordnet und diejenigen hinrichten lassen, die – während seiner Amtszeit – ihr Leben für ihr Land aufs Spiel gesetzt hatten. Er hatte auch noch jemand anders ermorden lassen, einen so verlässlichen und loyalen Menschen, dass Evan ihn mit der Zeit als eine Art Vater betrachtet hatte.

Damit war Bennett wirklich ein entscheidender Fehler unterlaufen.

Und aus diesem Grund war Evan jetzt hier, in der klebrigen Junihitze, mit einer ganzen Gruppe von Touristen dicht an das Tor des Weißen Hauses gedrängt, wo er auf irgendein Anzeichen für die Anwesenheit des Staatsoberhauptes wartete.

Die Frau neben Evan stellte sich auf die Zehenspitzen und lotste ihre Kinder vor sich, damit sie besser sehen konnten. »Guckt mal! Ich glaube, das ist er! Ich glaub, jetzt kommt er!« Sie knuffte ihren Ältesten in den Arm. »Hör endlich auf mit diesem Pokémon-Blödsinn und mach ein paar Fotos für dein Instagram.«

Evan ließ die Kamera sinken und griff sich wieder den Big Gulp, als die Phalanx der Fahrzeuge langsam in den Blick rollte, nachdem sie sich vom West Wing aus langsam die kreisrunde Einfahrt hinunterbewegt hatte. Die Wagenkolonne war das sogenannte »informelle Paket«: acht G-Rides, also Zivilfahrzeuge, des Secret Service und drei vollkommen identisch aussehende Präsidentenlimousinen. Bei der Auswahl eines Zieles zwangen die drei Limousinen potenzielle Attentäter zu einer Art Hütchenspiel: Sie konnten sich nie ganz sicher sein, in welcher der Präsident sich tatsächlich befand. Im Falle eines Angriffs dienten die beiden Ablenkungslimousinen gleichzeitig als Rückendeckung.

Als sich die Kolonne dem South Lawn näherte, hielt sie abrupt an.

Erregung machte sich in Evans Innerem bemerkbar wie das Auflodern einer kontrollierten Flamme. War dies die Gelegenheit, auf die er in den vergangenen sechs Monaten insgesamt 237 Überwachungsstunden lang gewartete hatte?

Er hob die Kamera gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie ein Referent mit einer weichen Lederaktentasche im Laufschritt aus dem Rose Garden geeilt kam. Die Bäume schränkten die Sicht ein, sodass der Referent nur hin und wieder zu sehen war, als er sich der Wagenkolonne näherte. Um den Mann im Blick zu behalten, schlängelte sich Evan durch das Gedränge vor dem Tor.

Vor der mittleren Limousine blieb der Referent stehen, kaum auszumachen zwischen den Bäumen. Die Tür öffnete sich, allerdings nur minimal, und der Referent schob die Aktentasche durch den winzigen Spalt.

Die Tür ging wieder zu.

Höchstens ein Dutzend Menschen, die im richtigen Blickwinkel vor dem Tor standen, konnten diesen Vorfall mitbekommen haben.

Es war tatsächlich die glückliche Fügung gewesen, auf die Evan ein halbes Jahr lang gewartete hatte.

Bennett hatte sein Blatt gezeigt.

Die Tatsache, dass der Präsident jetzt in der mittleren Limousine saß, bedeutete nicht, dass er es auch beim nächsten Mal tun würde. Oder dass die Limousinen jedes Mal in derselben Reihenfolge fahren würden.

Evans Hirn arbeitete auf Hochtouren, als er versuchte, alle Variablen miteinzubeziehen.

Der Präsident mochte vielleicht keine Lieblingslimousine haben. Aber mit ziemlicher Sicherheit hatte er einen Lieblingchauffeur.

Evan musste nicht die Limousinen beobachten, sondern die Fahrer.

Oder besser gesagt, da die Fahrer in identisch aussehenden Fahrzeugen hinter verdunkelten Scheiben verborgen waren, musste Evan beobachten, wie die Fahrer fuhren, und dabei jegliche Besonderheit herausfiltern, wie der Mann am Steuer der mittleren Limousine mit seinem Fahrzeug umging.

Er legte sein Hauptaugenmerk auf die Limousine in der Mitte, dabei behielt er allerdings auch die beiden anderen im Blick. Die Sonne brannte ihm seitlich auf den Hals. In der Menschenmenge entstand ein erwartungsvolles Gedränge, in der Luft lag ein Geruch nach Coppertone-Sonnencreme und Deo. Der Instagram-Junge quengelte, er sei am Verhungern, und stand so schlaff und in sich zusammengesunken da, als hätte sich seine Wirbelsäule überraschend aufgelöst.

Evan konzentrierte sich nach wie vor hundertprozentig auf sein Ziel.

Als sich die Kolonne wieder in Bewegung setzte, schlugen die beiden Endfahrzeuge das Lenkrad ein, bevor sie losfuhren, und justierten die Reifen auf dem Asphalt, während die Limousinen noch standen. Aber der mittlere Fahrer schlug das Lenkrad erst ein, als er bereits vorwärtsrollte, um dem Präsidenten ein angenehmeres Fahrgefühl zu ermöglichen.

Ein verräterischer Hinweis wie beim Poker.

Wäre Evan jemand gewesen, der lächelte, hätte er es jetzt getan.

Die Instagram-Mom zog ihren Sohn auf die Füße. »Stell dich gerade hin, Cameron. Der Präsident kommt gleich hier vorbei.«

Als die Kolonne auf dem kreisförmigen Zufahrtsweg in die Kurve ging, setzte auch Evan sich in Bewegung und bahnte sich in gemessenem Tempo einen Weg durch die Zuschauer in Richtung der Stelle, an der die East Executive Avenue in die E Street einmündete.

Präsident Bennett bevorzugte diese Route, da er so Penn­sylvania Avenue vermeiden konnte, die entlang der Vorderseite des Weißen Hauses mit Blick auf den Lafayette Square verlief. Dort hatte sich eine stetig wachsende Masse von Demonstranten versammelt, um seine Amtsenthebung zu fordern. Sie schwenkten Plakate und Transparente, die unzählige Gesetzesverstöße anprangerten: Umgehung des Gesetzes zur Kontrolle von Waffenexporten. Illegale Versorgung von ausländischen Kampftruppen mit Geld und Waffen. Einrichtung der großflächigen Überwachung der amerikanischen Bürger durch die NSA. Kontrolle politischer Gruppierungen im eigenen Land, die gegen ihn Stellung bezogen hatten. Verstoß gegen internationale Abkommen. Erleichterter Zugang zu Verträgen für Rüstungsunternehmen. Umgehen des Kongresses. Widerrechtliche Aneignung von Justizgewalt.

Aber auf meisterhafte Art und Weise hatte Bennett ein Kraftfeld um seine Regierung errichtet, das die Transparenz gerade so weit trübte, um seine Feinde auf Abstand zu halten.

Um Politik ging es Evan allerdings nicht. Während Bennetts Amtsverfehlungen schockierend waren, waren sie nicht der Grund, der Evan hier auf den von der Sonne aufgeheizten Betonstreifen vor dem Weißen Haus gebracht hatte. Es ging nicht um das Große und Konspirative. Um die geflüsterten Unterhaltungen in den Chefetagen. Die über inoffizielle Kanäle ausgehandelten Deals, die Könige stürzen konnten, oder die Rube-Goldberg-artigen Machenschaften, die Urheber von Ergebnis und Ursache von Wirkung distanzierten.

Nein, es waren die Gesichter der Toten.

Und die Tatsache, dass der Präsident der Vereinigten Staaten die Ermordung von Männern und Frauen in Auftrag gegeben hatte, die man als Kind aus Waisenhäusern geholt und dazu ausgebildet und indoktriniert hatte, ihre gesamte Existenz dem Dienst an ihrem Land zu verschreiben. Sie hatten ihr Bestes gegeben innerhalb des Lebens, das man ihnen aufgezwungen hatte. Und er hatte diese Menschen einfach beseitigen lassen, um seine eigene Haut zu retten.

Jonathan Bennett zu vernichten war der ultimative Einsatz für den Nowhere Man.

Endlich hatte die Wagenkolonne die Einmündung erreicht und war angehalten. Wieder schlugen die Fahrer der vorderen und hinteren Limousine das Lenkrad ein, während sie noch standen, sodass das Reifenprofil am Asphalt entlangquietschte. Und wieder drehten sich die Räder der mittleren Limousine erst, als deren Fahrer sie in Bewegung setzte.

Dann war es also nicht nur Zufall gewesen. Es war eine feste Angewohnheit.

Die Kolonne bog auf die E Street ab und kam auf Evan zu.

Er rückte sich die Baseballkappe zurecht und verlangsamte seine Atmung, bis er die Stille zwischen seinen Herzschlägen spüren konnte, den wunderbar friedlichen inneren Zustand, den er in dem kurzen Augenblick innehatte, bevor er den Abzug eines Scharfschützengewehrs betätigte, wenn selbst das minimalste Pochen eines Pulses in seiner Fingerkuppe dazu führen konnte, dass er das Ziel verfehlte.

In weniger als einer Minute würde die Limousine des Präsidenten unmittelbar vor Evan vorbeifahren und ihn bis auf ­wenige Meter an den am schwersten zugänglichen und meistbewachten Mann der Welt heranbringen.

3. BEDROHUNG ERKANNT

Freudige Erregung breitete sich in der dicht an dicht stehenden Menschenmenge auf dem Bürgersteig aus. Die Leute drängten sich an den Bordstein, reckten die Hälse und winkten stupide. Eine ganze Wand von Händen mit Smartphones ging gleichzeitig nach oben, die meisten drehten sich dabei um, um selbst mit auf dem Foto zu sein. Die Wagenkolonne nahm rasch Fahrt auf: Der Anblick, der tausend Selfies nach sich zog …

So viel Übles man Präsident Bennett mittlerweile auch nachsagte, für einen Status-Update in den sozialen Netzwerken taugte er immer noch.

Umgeben von Zivilisten beobachtete Evan alles genauestens. Die Luft war wie üblich für die Ostküste drückend, hin und wieder ging ein feucht-warmer Wind. Er hatte noch immer den Geschmack des Softdrinks im Mund, der mittlerweile einen Film auf seinen Zähnen gebildet hatte.

Die Vorhut aus G-Rides des Secret Service und der vordere Köder rauschten vorbei, dann hatte man klare Sicht auf die Limousine des Präsidenten. »Cadillac One« oder »The Beast« genannt, trug sie beide Spitznamen zu Recht.

Auf dem Fahrgestell eines GMC-Trucks aufgebaut, wog die Limousine nahezu acht Tonnen, wobei jede Tür dasselbe Gewicht hatte wie die Kabinentür einer Boeing 747.

Die Panzerung auf militärischem Niveau, eine Mischung aus Keramik und DP-Stahl, war Titan-Aluminium-Nitrit-beschichtet. Die Fenster bestanden aus einem halben Fuß dicken, kugelsicheren Glasplatten. Eine unter dem Unterboden angeschweißte Stahlplatte schützte das Fahrzeug gegen eventuelle Splittergranaten oder improvisierte Sprengsätze. Selbst falls ein Kugelregen die durchstoßfesten, kevlarverstärkten Runflat-Reifen zerfetzen sollte, könnte die Limousine immer noch auf den darunterliegenden Radkränzen aus Stahl weiterfahren und entkommen. Das Fahrzeug war so konstruiert, dass es direktem Bazooka-Beschuss standhalten konnte.

Evan hatte einen Big Gulp voll Dr Pepper.

Falls nötig, konnte Cadillac One als ein autarker, komplett funktionstüchtiger Notfallbunker dienen. Unter den Rücksitzen befand sich immer ein Vorrat an Blutkonserven mit dem Blut des Präsidenten. Ein eigens für Notfälle vorgesehener Sauerstoffvorrat konnte jederzeit unverzüglich durch die Lüftungsschlitze der Klimaanlage ins Wageninnere gepumpt werden. An die Brandbekämpfungsausrüstung kam man durch eine Klappe hinter der Armlehne in der Rückbank. Der Benzintank war selbstversiegelnd, sodass es nicht zu Explosionen kommen konnte. Eine verschlüsselte Kommunikationsanlage befand sich in ständigem Kontakt mit den Strafverfolgungsbehörden auf Bundes- und Landesebene.

Evan hatte Watteröllchen unter den Wangen.

Am Steuer von Cadillac One befand sich ein hochqualifizierter Chauffeur der White House Transportation Agency. Dieser Chauffeur hatte unter Garantie eine hochspezialisierte Ausbildung bei der Army im Bereich Ausweichmanöver, Streckenanalyse, taktisches Fahren und Fahrzeugdynamik durchlaufen.

Evan hatte bequeme Opaschuhe.

Die Präsidentenlimousine befand sich jetzt auf gleicher Höhe mit Evan, und für den Bruchteil einer Sekunde heftete sich sein Blick inmitten der großen Menge von Zuschauern an die getönte Scheibe, hinter der Bennett in einer Blase der Sicherheit und des Komforts an ihm vorbeiglitt.

So dicht, dass Evan auf die Scheibe hätte spucken können.

Und dann war die Wagenkolonne auch schon vorbei.

Evan musste sich daran erinnern, sein Gesicht zu entspannen, während er ihr hinterherblickte.

Jonathan Bennett schwitzte nicht.

Nie ließ er sich zu einem nervösen Lachen, gequälten Lächeln oder versöhnlichen Kopfnicken hinreißen.

Und niemals zitterten seine Hände. Nicht, als er als Special Agent des Verteidigungsministeriums diverse Male mit einer Schusswaffe bedroht worden war. Nicht, als er als Staatssekretär desselben Ministeriums in einer Kommandozentrale auf einen Knopf gedrückt und dabei zugesehen hatte, wie ein aus schwarzen Kassen finanziertes unbemanntes Fluggerät auf der anderen Seite des Erdballs die Hölle entfesselt hatte. Und auch nicht, als er während seiner ersten, oder seiner sechsten, Präsidentschaftsdebatte durch die Aufzeichnungen seiner Gegenargumente geblättert hatte.

Seine Körperbeherrschung war eine erlernte Fähigkeit, und zwar eine, die man ihm während seiner anfänglichen Ausbildung im Federal Law Enforcement Training Center in Glynco beigebracht hatte und die er jeden Tag als Staatschef der Vereinigten Staaten zum Tragen brachte. Ohne ein Wort zu sagen, konnte er die Sorgen des amerikanischen Volkes beschwichtigen und auf der Weltbühne Macht verkörpern. Der breiten Masse verkaufte er sich nicht, in dem er ihr höheres Selbst ansprach, sondern indem er subtile Dominanz ausstrahlte, die die Wähler im verlängerten Rückenmark wahrnahmen.

Die Tatsache, dass es ihm größtenteils geglückt war, die Bevölkerung zu beruhigen, war ein Beleg für seine unglaubliche Willenskraft. Natürlich, seine Gegner hatten ein wenig an Boden gewinnen können, aber er wusste ganz genau, welche Hebel er vor den Zwischenwahlen betätigen musste, damit er die Kon­trolle über beide Kammern behielt.

Jetzt machte er es sich auf den butterweichen Ledersitzen der Präsidentenlimousine bequem und überflog den städtebaulichen Bericht, zu dem er sich in der Kabinettssitzung am heutigen Nachmittag äußern sollte.

Als sein Chauffeur mit der Präsidentenlimousine ein wenig schärfer links abbog, als er es normalerweise tat, bemerkte Bennett, wie sein Puls minimal in die Höhe schnellte.

Er warf einen Blick auf seinen Deputy Chief of Staff, den stellvertretenden Stabschef, seinen persönlichen Assistenten und den Mitarbeiter vom Secret Service, die hinten im Wagen mitfuhren, aber keiner von den dreien schien den Umweg bemerkt zu haben.

Er wartete die obligatorischen zwei Sekunden, und dann erstarrte der Secret-Service-Agent, als er seine Hand an das transparente Spiralkabel hob, das in sein Ohr führte.

Orphan X, dachte Bennett.

Er überprüfte seine Atmung und stellte zufrieden fest, dass sie sich nicht im Geringsten verändert hatte.

Der Agent nahm die Hand vom Ohrhörer seines Funkgeräts. Bennett wartete darauf, dass er Mr. President. Wir weichen von der geplanten Route ab. Eine Bedrohung wurde erkannt sagte.

Dann sagte der Agent: »Mr. President. Wir weichen von der geplanten Route ab. Eine Bedrohung wurde erkannt.«

»Was Sie nicht sagen«, kommentierte Bennett.

Er warf seinem Deputy Chief of Staff einen vielsagenden Blick zu, dann drehte er sich um und sah zu, wie die Gebäude draußen vor der getönten Scheibe vorbeiglitten.

Ein großer Trupp Secret-Service-Agents drängte sich in den Flur im sechsten Stock des vornehmen Wohnhauses. Trotz des dicken, weichen Teppichbodens bewegten sie sich auf Zehenspitzen, als sie sich langsam und vorsichtig Apartment 705 näherten.

Der Agent an der Spitze hob die Hand und zählte mit den Fingern stumm bis drei, und dann stieß der Zugangstechniker mit voller Wucht den Rammbock in die Tür, sodass der Türriegel einfach aus dem Rahmen gerissen wurde.

Die SIG Sauer im Anschlag, stürmten die Agents das Apartment, wobei aus zwei Mann bestehende Teams in Schlafzimmer und Küche abschwenkten.

»Sauber!«

»Sauber!«

Sie beendeten ihren Rundgang im Wohnzimmer, wo sie auf den Anblick starrten, der gut sichtbar vor dem offenen Fenster hinterlassen worden war. Ein träges Lüftchen bauschte die hauchzarten Gardinen und kühlte den Schweiß auf den Gesichtern der Männer.

Unten von der F Street drang kein Verkehrsgeräusch herauf; der gesamte Block war abgeriegelt worden, sobald die Meldung der Sichtung eingegangen war.

Der Anführer der Agents sah sich in der Wohnung um und machte eine Bestandsaufnahme. »Ja leck mich«, sagte er. »Wenn das keine Inszenierung ist.«

Der Zugangstechniker sah vom Fensterbrett auf. »War verkabelt«, sagte er. »Das Fenster, meine ich. Jemand hat es per Fernbedienung hochgeschoben.«

»Wie lange ist die Wohnung schon vermietet?«

Ein weiterer Agent meldete sich zu Wort. »Laut Hausmeister sechs Monate.«

Es gab keine Möbel, keine Umzugskartons, nichts lag auf den Regalen oder den Arbeitsflächen.

Nur ein Scharfschützengewehr auf einem dreibeinigen Stativ, da, wo es vor dem offenen Fenster an Präsident Bennetts Route bestens zu sehen war.

»Ruf mal einer diese neue Special Agent in Charge drüben bei Protective Intelligence and Assessment an«, ordnete der Anführer der Agents an. »Die Kleine von Templeton.« Er lockerte die Klettverschlüsse seiner Schutzweste, um für ein wenig Luftzufuhr zu sorgen, wobei sein Mund einen grimmigen Zug annahm. »Das hier hat jemand von langer Hand geplant.«

4. WAS SOLL’S SEIN?

Einige Blocks von dem Aufruhr entfernt bewegte sich Evan in raschem Tempo die E Street hinunter. Die Sperrung hatte zu einem Verkehrsstau auf den angrenzenden Straßen geführt, obwohl die Limousine des Präsidenten bereits den Rückzug angetreten hatte, indem sie auf demselben Weg zurückfuhr, den sie gekommen war, bevor die Öffentlichkeit von der angeblichen Bedrohung in Kenntnis gesetzt wurde. Evan hatte Bennett eine Nachricht zukommen lassen wollen, sicher, aber er wollte auch herausfinden, welche Maßnahmen zur Änderung der Route der Chauffeur im Falle eines Notfalls ergreifen würde.

Pendler drückten in einer Tour auf die Hupe, ein richtiggehendes Konzert des Missmuts. In Abständen kamen Polizisten im Laufschritt vorbei, um sich in dem fraglichen Gebiet zu ­verteilen. In diesem Teil von Washington D. C., in Scharfschützendistanz vom Weißen Haus, gab es so viele Überwachungs­kameras wie an einer x-beliebigen Londoner Straßenecke, daher hielt Evan den Kopf gesenkt und versteckte das Gesicht unter dem Schirm seiner Baseballkappe.

Die Forensic Services Division, also die Kriminaltechnische Abteilung, des Secret Service verfügte über neueste Software, die alle Kameraaufzeichnungen aus der Gegend auswerten würde. Da er vermeiden wollte, dass man seine Bewegungen im Nachhinein nachvollziehen konnte, hielt Evan unmittelbar unterhalb einer Traube von Kameras an einer Straßenlaterne an, streifte sich die Windjacke ab, sodass sie wie zufällig im Rinnstein landete, und trat sie mit der Hacke in den Gully. Die Nikon ließ er tief an seinem Arm herabbaumeln, bevor er sie demselben Schicksal überantwortete.

Er wartete darauf, dass die Menschenmenge anwuchs und ihn den Bürgersteig entlang mit sich zog. Ein Stück weiter vorne stand ein Mülleimer am Rand eines Fußgängerüberwegs im toten Winkel einer anderen Straßenlaterne. Rasch sah er sich nach Polizisten um, entdeckte aber keine, die nah genug waren, um ihn zu bemerken. Er beschleunigte seine Schritte, nahm die Na­tionals-Baseballkappe ab, entfernte unauffällig die Watteröllchen aus seinem Mund und warf beides zusammen in den Müll. Hinten aus der Hosentasche holte er eine Baltimore-Orioles-Kappe und setzte sie auf, bevor er wieder in die Sichtachsen der über ihm angebrachten Überwachungskameras trat.

Aus den Augenwinkeln nahm er ein Gesicht wahr, das ihn einen Augenblick zu lang fixierte. Er riskierte einen Blick über die Köpfe der anderen Passanten hinweg, die zeitgleich mit ihm die Straße überquerten, und hatte kurz Augenkontakt mit einer mit einem Sweatshirt bekleideten Frau mit kantigem Kinn.

Hastig drehte die Frau sich um und nahm ihr Handy ans Ohr.

An ihrem Finger konnte er einen Streifen heller Haut ausmachen; sie hatte ihren Ehering ausgezogen, damit er nicht am Abzugbügel hängen blieb. Innerhalb eines Sekundenbruchteils hatte er ihre Statur und Körperhaltung analysiert: Polizeibeamtin in Zivil, die nach auffälligem Verhalten Ausschau hielt.

Sagen wir, wie zum Beispiel ein Mann, der sich mitten auf einer Kreuzung eine andere Baseballkappe aufsetzte.

Leichtsinnig.

Und faul.

Evan maßregelte sich mit dem Zweiten Gebot: Totaler Fokus im Großen wie im Kleinen.

Er konnte sehen, wie der Mund der Frau das Handy berührte, als sie hineinsprach. Ein Stück weiter den Block rauf waren zwei Polizisten ganz auf ihre Funkgeräte konzentriert.

Er ging einfach weiter.

Die Frau folgte ihm.

Die beiden Polizisten teilten sich auf und übernahmen jeweils eine Straßenseite, wo sie sich einen Weg durch den Strom der Passanten bahnten und auf ihn zusteuerten.

Mit drei Verfolgern konnte er fertigwerden. Niemand musste dabei zu Schaden kommen.

Unzählige Menschen strömten aus Bars und Restaurants. Jemand verteilte Flyer für das Spy Museum. Ein völlig entnervter Vater versuchte, das Rad seines Kinderwagens aus dem Abflussgitter zu befreien. Chaos war hilfreich.

Evan bog in genau dem Moment um die Ecke, als ein weiteres Paar Streifenbeamte vor ihm aus einer Gasse stürzte und ihm den besten Fluchtweg abschnitt. Ein älterer Cop mit einem Ich-warte-nur-auf-den-Ruhestand-Bäuchlein über dem Gürtel und ein muskelbepackter Junge, der kaum ein Jahr aus der Academy heraus sein konnte.

Aus einem Abstand von etwa zwanzig Metern fixierten sich die Officer und Evan.

Evan nickte ihnen zu.

Und dann trat er vom Bürgersteig in ein Café, in dem reges Treiben herrschte.

Diese beiden Officer würden umdrehen und die Rückseite bewachen, während ihre drei Kollegen den Vordereingang stürmten.

Evan blieben zehn Sekunden, vielleicht zwölf.

Für einen Mann seiner Fähigkeiten war das eine halbe Ewigkeit.

Evan bahnte sich einen Weg zwischen den voll besetzten Tischen hindurch und requirierte dabei einen gigantischen Becher Latte von der Servicetheke. Im hinteren Teil des Cafés führte ein kurzer Flur zu einer Unisex-Toilette und einer Hintertür mit einem Einsatz aus Milchglas. Kurz vor dem Flur war ein kleiner Tisch noch uneingedeckt geblieben, da er offenbar gerade abgewischt worden war.

Während er direkt auf den freien Platz zuhielt, schnappte er sich eine Kanne Eiswasser von einer Bedienung und verteilte es großzügig auf dem Fliesenboden vor dem Tisch. Als er sich umdrehte, um sich auf den Stuhl zu setzen, griff er gleichzeitig zwischen dem am Nachbartisch speisenden Pärchen hindurch und nahm deren Salzstreuer an sich.

Die Frau bedeutete ihrem Mann mit Blicken, er solle etwas unternehmen, aber der brachte nur ein lahmes »Alter, was soll das?« zustande.

Evan gab keine Antwort. Ihm blieben nur noch fünf Sekunden.

Er schraubte den Verschluss des Salzstreuers ab und schüttete sich den Inhalt in die Hand. Dann lehnte er sich im Stuhl zurück, sodass er mit den Schultern die Wand hinter ihm berührte, nahm einen Schluck von der Matcha-Grüntee-Latte und wartete.

Auf der Oberfläche der Latte befand sich ein mit Milchschaum gezeichneter Schwan, dessen Schwanz die Proportionen eines Pfauenrads angenommen hatte, seit er davon getrunken hatte. Drüben auf der Servicetheke brutzelte ein Panini mit Artischocke und sonnengetrockneten Tomaten im Grill und verströmte einen köstlichen Duft. Evan hatte jedoch den Vordereingang fest im Blick.

Auf Geheiß des gestressten Cafémanagers kam eine Kellnerin zu ihm an den Tisch, die sich eine Karte an die Brust drückte, als wolle sie sie ihm keinesfalls überreichen. Sie sah hinunter auf den nassen Boden, dann wieder zu Evan, offenbar unsicher, wo sie anfangen sollte. »Äh, entschuldigen Sie, Sir. Aber Sie können sich nicht einfach hier hinsetzen. Sie müssen warten, bis wir Sie an einen Tisch führen.«

Evan griff in die Tasche und holte ein Bündel Hundertdollarscheine heraus.

»Das hier ist kein Nachtclub. Wir sind, na ja, ein Café. Wir nehmen kein Bestechungsgeld

Er wandte den Blick nicht vom Eingang. Mit dem Fuß schob er den Tisch weitere fünfzehn Zentimeter von sich weg, um ihn in Position zu bringen. »Das ist kein Bestechungsgeld«, sagte er.

»Ach ja?« Die Frau musterte die ihr entgegengestreckten Geldscheine. »Wofür ist es dann?«

»Für den Schaden«, antwortete Evan.

Die Polizistin in Zivil und die beiden Streifenbeamten drängten sich durch die Vordertür des Cafés und entdeckten Evan sofort.

Evan nahm wahr, wie sich der Kopf der Kellnerin abrupt zu den Officers und dann wieder zu ihm drehte. Kurzzeitig fiel ihr die Kinnlade herunter, als sie begriff, was er meinte. Dann verschwanden die Hunderter aus seiner Hand, und die Kellnerin huschte zurück zum Manager.

Als die Officers sich zwischen den Tischen hindurchbewegten, veränderte sich die Energie im Café. Einer der beiden Männer öffnete den Sicherungsriemen seines Holsters, ein Kind schrie los, und dann gab es ein allgemeines Geschrei und Gedränge und Geschiebe, als die Leute aus dem Lokal stürzten.

Die Cops kamen langsam und vorsichtig auf ihn zu, die Hände griffbereit ein paar Zentimeter vor dem Holster, für den Fall, dass Sergio Leone sich plötzlich entschließen sollte, mit einem Kamerateam dazuzustoßen und das Ganze zu filmen.

Evan nahm einen weiteren Schluck von dem Matcha-Tee. Gar nicht mal so übel. Er fragte sich, welche Art Leben man haben musste, um einen Wasservogel aus Milchschaum als Zierde auf seinem Heißgetränk haben zu wollen.

Drei Meter vor seinem Tisch blieben die Officers stehen und verteilten sich. Aber nicht großräumig genug.

Auf einmal schien es totenstill im Café zu sein.

»Warum verfolgen Sie mich?«, fragte Evan.

»Warum laufen Sie weg?«, entgegnete die Polizistin in Zivil.

»Weil Sie mich verfolgen.«

»Ein paar Blocks von hier gab es einen Vorfall«, sagte sie.

»Einen Vorfall.«

»Richtig. Und dann habe ich gesehen, wie Sie Ihre Kopfbedeckung gewechselt haben.«

Die beiden Streifenbeamten nahmen ihre Glocks aus dem Holster. Sie zielten nicht auf Evan, zumindest noch nicht, sondern ließen die Mündung auf den Boden zeigen. Es knirschte, als einer der beiden auf einen Eiswürfel trat.

Evan sah die drei Polizisten an, die sich ihm gegenüber aufgebaut hatten. »Also deshalb sind Sie alle hier? Weil ich mir eine andere Kopfbedeckung aufgesetzt habe?«

»Warum sollten Sie so was tun?«, fragte die Frau.

»Die Nationals brauchen dringend ein paar anständige Hitter«, sagte Evan. »Da habe ich beschlossen, dass die Orioles die aussichtsreichere Mannschaft für die Nachsaison sind.«

»Und das fiel Ihnen mitten auf der Kreuzung von der E und der Eleventh ein?«

Die Frau war gut.

»Ganz genau«, sagte er. »Und obwohl ich mir bewusst bin, dass die gegenwärtige Regierung die Bürgerrechte auf dem Kieker hat, würde ich doch annehmen, dass Sie über eine spontane Eingebung, was der Nation liebste Freizeitbeschäftigung angeht, hinwegsehen können.«

Schlagartig verschwand der belustigte Ausdruck aus ihren Augen. »Warum lassen wir nicht das alberne Geplänkel?«, fragte sie.

Evan nippte noch einmal an seinem Tee. Angenehm warm, nicht mehr kochend heiß. »Gerne.«

»Ich sage Ihnen jetzt, was als Nächstes passieren wird«, sagte die Polizistin.

»Nein«, sagte Evan. »Ich sage Ihnen jetzt, was als Nächstes passieren wird.«

Noch immer lehnte er sich im Stuhl zurück, ganz entspannt, aber unter dem Tisch hatte er den Fuß an den Sockel gepresst. Die Streifenbeamten hielten ihre Glocks zu verkrampft; rund um die Fingerknöchel färbte sich die Haut hell. Die Mündungen zielten jetzt auf einen Punkt irgendwo auf halbem Weg zwischen ihren Schuhspitzen und Evans Tisch.

»Sie werden mich hier einfach rausspazieren lassen«, sagte Evan.

Einer der beiden Männer lachte, und die Polizistin musste zweimal blinzeln. »Oder?«, fragte sie.

»Oder ich werde Ihnen im selben Moment Salz in die Augen werfen, in dem ich diesen Tisch umtrete. Während Sie damit ­beschäftigt sind, sich die Augen zu reiben, trifft der Tisch Sie« – Evans Blick wanderte zum Cop in der Mitte – »mitten in die Magengrube. Das wird Ihre Waffe zur Seite hin ablenken. Vielleicht schießen Sie Ihrem Partner ins Bein. Vielleicht auch nicht. In jedem Fall wird der abgelenkt sein, denn ich werde ihm diese überteuerte Latte ins Gesicht schütten. Ungefähr zu dem Zeitpunkt, wenn Sie alle verzweifelt versuchen zu reagieren, werden Sie bemerken, wie unglaublich rutschig der Fliesenboden unter Ihren Füßen ist.«

Er richtete seine Aufmerksamkeit auf den Cop rechts. »Ich werde über die Tischplatte hinweg auf Sie zukommen und dabei meinen Stuhl schwingen, der gegen Ihre Handgelenke schmettern wird, was Ihnen wiederum die Glock aus der Hand schlagen wird – falls Sie sie dann überhaupt noch in der Hand haben. Dann bin ich mitten unter Ihnen. Was bedeutet – selbst wenn Sie etwas sehen könnten, selbst wenn Sie noch Ihre Waffen hätten –, dass Sie nicht auf mich schießen können, ohne einander zu treffen.«

Dann wandte er sich wieder an den mittleren Polizisten: »Zu diesem Zeitpunkt krümmen Sie sich bereits auf dem Boden, weil … na ja, das hatten wir ja schon. Ich werde Ihnen die Nase so sauber brechen, wie ich kann, mit einem schnellen linken Jab, um sicherzustellen, dass Sie so schnell nicht wieder klar sehen können. Dafür möchte ich mich schon mal vorab entschuldigen. Ich weiß, Sie machen nur Ihren Job. Dann werde ich Sie mit meinem rechten Fuß in Ihre Kollegin kicken – sein Blick wanderte zu der Polizistin in Zivil –, während die noch immer verzweifelt versucht, sich das Salz aus den Augen zu reiben.«

»Aber mir werden Sie nicht die Nase brechen«, ergänzte die Frau, »weil Sie ein Gentleman sind.«

Zur Zustimmung deutete Evan ein einseitiges Schulterzucken an. Dann fuhr er fort: »Sobald Sie drei auf einem Haufen liegen und ausgeschaltet sind, werde ich mit viereinhalb großen Schritten das Ende des hinteren Flurs erreichen, wo Ihre Verstärkung schon auf mich wartet. In der verspiegelten Seite der Espressomaschine da vorne auf der Servicetheke kann ich ein schönes, deutliches Spiegelbild der Hintertür mit der Milchglasscheibe sehen. Ihr Knabe mit dem zusätzlichen Y-Chromosom wirft auf der Seite des Scharniers einen Schatten. Er hält seine Dienstpistole zu weit vor sich, wenn ich also die Tür eintrete, wird die sie ihm direkt in die Zähne rammen. Er wird einfach umkippen, wie das nun mal so ist mit Muskelprotzen. Dem altgedienten Cop auf der anderen Seite werde ich den Arm auf den Rücken drücken und ihn sanft auf die Matte schicken, aber ich werde ihm nichts brechen, weil: Respekt. Bevor sich die beiden erholen können, werde ich die kleine Gasse runtersprinten und im Hintereingang eines der Geschäfte verschwinden, die ich vorab schon ausgekundschaftet habe, aber welches, werde ich Ihnen nicht verraten, ich will ja nicht berechenbar sein, und, seien wir ehrlich, zu diesem Zeitpunkt wäre das auch des Guten zu viel.«

Evan ließ den riesigen Becher auf die Höhe seines Bauches sinken, und alle drei Polizisten spannten sich automatisch an. Sie hatten die Hände zu fest um die Griffe ihrer Waffen geschlossen, und zu fest bedeutete Zittern und Zielungenauigkeit. Evan war unbewaffnet, und seine Körpersprache war so wenig aggressiv, dass sie fast schon versöhnlich wirkte, eine Diskrepanz, die seine Gegner offensichtlich extrem verwirrend fanden.

Evan musterte die drei wie erstarrt wirkenden Officer. »Also, Leute. Was soll’s sein?«

Als Antwort richteten sich die Mündungen aller drei Waffen auf ihn.

»Na schön.« Evan justierte den Griff um den Becher, machte seine Hand mit dem Salz bereit und setzte seinen Fuß fest an den Tischsockel. »Sind wir dann so weit?«

5. EIN NICHT GANZ UNBEKANNTES GEFÜHL DER KÄLTE

Die in einem malerischen Winkel schräg unter einem an Rockwell erinnernden Ahorn aufgestellte Parkbank neben dem künstlich angelegten Teich sah aus wie eine Filmrequisite. Auf dem Teich schwamm eine wohlgenährte Entenfamilie vorbei, ohne der Überfülle an Brotkrumen am Ufer irgendeine Beachtung zu schenken.

Der Mann auf der Parkbank war glatt rasiert, bis auf eine Partie grau melierter Bartstoppeln ganz vorne an seinem Kinn. Sein ehemals kantiges Gesicht hatte der Schwerkraft nachgegeben, weswegen er jetzt Hängewangen hatte. Seine Augen waren ein wenig trübe, seine noch immer kräftigen Unterarme von Altersflecken übersät.

Die in einem fast schon Sprint zu nennenden Tempo joggende Naomi Templeton bemerkte die Bank bereits aus einem guten Stück Entfernung und beschloss, noch einen Zahn zuzulegen, bis sie daran vorbei war. Das Racerback-Tanktop über dem Lauf-BH, schwarze Lauftights, die Kopfhörer, aus denen Alicia Keys dröhnte – all das diente dem Zweck, sie schneller laufen, mehr geben und besser sein zu lassen. This girl is on fire.

Sie überquerte die Ziellinie der Bank und beugte sich, die Hände auf die Oberschenkel gestützt, nach vorne, um sich ein paar Minuten zu erholen. Dann umrundete sie die Bank, setzte sich zu dem alten Mann ans andere Ende und zog sich die Ohrhörer heraus.

Als sie wieder bei Atem war, sah der alte Mann zu ihr he­rüber und blickte verdutzt. »Sie erinnern mich an meine Tochter.«

»Ach ja?«, sagte sie.

»Ja, sie ist kräftig, wie Sie. Und jetzt regen Sie sich nicht gleich auf. Ich meine gut gebaut, nicht dick.«

»Verstanden.«

»Ihre Brüder sind auch durchtrainiert. Beides Sportler. Lacrosse. Sie hätten mal ihre Muskeln sehen sollen, wenn sie in den Semesterferien nach Hause gekommen sind. Haben mich ganz schön alt aussehen lassen – will sagen, mich in meinen besten Jahren. Ich glaube, sie hat immer versucht, mit ihnen Schritt zu halten.«

Naomi beugte sich nach vorne. Ein leichter Wind strich über ihre nackten Schultern und kühlte angenehm den trocknenden Schweiß. »Typisch Mädchen.«

»Ja, vor allem weil ihre Mutter so früh verstorben ist.« Mit zitternder Hand fand er das auf seinem grauen, kurz unter der Vertiefung seiner Kehle hervorlugenden Brusthaar ruhende Kreuz. Sein Hemd war falsch geknöpft und saß ganz schief. Ein leichtes Zittern durchfuhr ihn. »Sie ist eine Zähe, meine Tochter. Hat immer versucht, mir zu gefallen, glaube ich.«

Naomi sah angestrengt aufs Wasser. »Auch das ist typisch für Mädchen.«

»Sie hat nie begriffen, dass man niemandem gefallen kann, wenn man sich bemüht, ihm zu gefallen.«

»Ist auch eine ziemlich schwierige Lektion, würde ich sagen.«

Einen Augenblick lang saßen die beiden einfach nur da und sahen zu, wie der Wind die Oberfläche des Teiches kräuselte. Hier herrschte eine künstliche Idylle, was es einfacher machte, die unzähligen Fernsehgeräte zu ignorieren, die viel zu laut aus den unzähligen Fenstern des industriell anmutenden Gebäudeklotzes plärrten, der zurückgesetzt hinter einem Streifen Kunst­rasen lag; die Plattform des Rollstuhllifts, die unten an der Treppe wartete, das Pflegepersonal – alle unheimlich nett, alle geduldig und allesamt Angehörige von ethnischen Minderheiten –, das auf den sanft geschwungenen Wegen von ihrer Pause zurückkehrten. Man musste nur ein wenig die Augen zusammenkneifen und die frische Luft atmen, und man konnte sich beinahe so fühlen, als sei dies die wirkliche Welt und alles sei in Ordnung.

Den alten Mann durchfuhr wieder ein Zittern.

Naomi sagte: »Was meinst du, sollen wir dich wieder reinbringen, Dad?«

Sie stand vor dem Schwesternzimmer in der Einrichtung für Betreutes Wohnen und überflog den neuesten Krankenbericht. Der Name des Heims, Sunrise Villa, kam ihr immer hoffnungsfroh und auf perverse Weise grausam vor. Als sie das Blutbild ihres Vaters auswertete, verspürte sie ein nicht ganz unbekanntes Gefühl der Kälte in der Magengrube.

Sie konnte spüren, wie Amanaki hinter der Empfangstheke den Kopf hob und sie ansah. Die Schwester mit dem mitfühlenden Blick und dem tongaischen Akzent schien außergewöhnlich empfänglich, was subtile Stimmungsänderungen anging, quasi eine menschliche Stimmgabel. »Alles in Ordnung, Schätzchen?«

»Ja, danke. Ist nur … Die Laborwerte … Ich muss meinen Bruder anrufen.«

Ein wissendes Funkeln trat in Amanakis Augen, und sie widmete sich erneut dem Computer.

Naomi trat ein Stück von der Theke weg und wählte die Nummer. Beim dritten Klingeln meldete sich Jason. »Was geht ab, Nay-Nay?«

»Ich bin bei Dad im Heim. Sie haben sein Exelon abgesetzt …«

»Was abgesetzt?«

»Eins seiner Medikamente. Sie haben es wegen Übelkeit und Schwindel abgesetzt, aber ihm ist auch ohne schwindlig. Mit dem Pflaster haben Sie’s schon versucht, aber das funktioniert auch nicht.« Sie fuhr sich durch das stumpf geschnittene blonde Haar. »Seine komplexen motorischen Fähigkeiten nehmen immer weiter ab, und ich glaube, heute Morgen hat er die Schwester mit seinen Pillen beworfen.«

»Hat er sie getroffen?«

»Jason.«

»Okay, tut mir leid. Aber hör mal, dafür ist das Pflegepersonal doch da.«

»Um sich mit Pillen bewerfen zu lassen?«

»Du weißt, was ich meine. Wir bezahlen gutes Geld für die Pflege. Das Heim ist sehr gut.«

»Ich weiß. Ich war nämlich schon mal da.« Ihr fiel auf, dass sie die Hand hinten in ihr Haar gekrallt hatte. »Ich wollte nur sagen, du solltest vermutlich auch mal hier rauskommen und ihn besuchen. Bald, meine ich. Robbie auch. Mann, Robbie kann ich nicht mal telefonisch erreichen.«

»Aber er schickt immer seinen Scheck. Die ganze Sache war von Anfang an fair geregelt.«

»Hierbei geht’s nicht um fair. Wir sind nicht mehr acht, Jason. Ich bin alle zwei Tage hier …«

»Weil du in D. C. wohnst. Außerdem ist es deine Entscheidung, N.«

»Allerdings ist es meine Entscheidung. Aber ich rede von deinen Entscheidungen. Es würde Dad ’ne Menge bedeuten, wenn du dich einfach ab und zu mal ins Flugzeug setzen würdest. Du weißt genau, was er für dich und Robbie empfindet. Das ist was ganz anderes.«

»Ist gar nichts anderes.«

Es war eine halbherzige Lüge; Jason gab sich kaum Mühe, die Spitzfindigkeit durch den entsprechenden Tonfall zu überspielen. Im Hintergrund konnte Naomi Stimmen hören: Jemand rief laut ein Börsenticker-Update.

»Hör mal«, fuhr Jason fort, »mit Tammy und den Kindern, ja? Vier verschiedene Terminkalender, vier unterschiedliche Richtungen. Du weißt nicht, wie verdammt schwierig es ist, wenn man eine Familie hat.«

»Jason, ich kenne deine Familie. Ich weiß genau, wie schwierig es ist.«

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