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Die Tulpenschwestern

Als Buch hier erhältlich:

Kelly Murphy liebt Tulpen. Wenn sie im Frühling ihre farbenfrohen Blüten zeigen und das jährliche Tulpen-Festival gefeiert wird, ist es ihre größte Freude. Dieses Jahr kehrt allerdings ihre Schwester Olivia zurück - die Kelly seit elf Jahren nicht gesehen hat. Obwohl sie sich wie Tag und Nacht unterscheiden, müssen sie nun in einem Haus leben. Als dann auch noch ihre Mutter auftaucht und sich scheinbar wieder mit dem Vater versöhnen will, erschüttern lang gehütete Geheimnisse ihre Welt. Die Schwestern müssen lernen zu verzeihen und auch, dass die Liebe manchmal ganz eigene Blüten treibt …

»Gleichermaßen für Fans von Liebesromanen wie für Leser von frischer Frauenunterhaltung«
Library Journal

»›Die Tulpenschwestern‹ überrascht mit einer schwungvollen Geschichte über drei Frauen, die sich danach sehnen, die wahre Liebe in ihrem Leben zu entdecken … eine Urlaubslektüre, die man nicht verpassen will!«
Fresh Fiction

»Mallery erschafft eine reizende und bezaubernde Welt in Tulpen Crossing, und ihre drei Hauptfiguren sind ungemein liebenswert und sympathisch.«
Kirkus Reviews


  • Erscheinungstag: 01.02.2019
  • Seitenanzahl: 496
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959672429

Leseprobe

Mein Dank gilt Lynn VL für ihre unschätzbare Hilfe bei der Recherche für diesen Roman.

Du warst fabelhaft und hast mir mit Rat und Tat zur Seite gestanden, Lynn. Danke.

1

Kelly Murphy war bereit, gewisse Ungerechtigkeiten des Lebens hinzunehmen. Dass Brownies mehr Kalorien hatten als Sellerie. Dass sie grundsätzlich ihre Periode bekam, wenn sie weiße Hosen trug – völlig unabhängig davon, an welchem Punkt ihres Zyklus sie sich befand. Dass ihrem Auto nur an Tagen, an denen sie spät dran war, der Sprit ausging. Was sie nicht zu schätzen wusste oder akzeptieren konnte, war der vollkommen unfaire Umstand, dass Griffith Burnett nicht nur vor fast einem Jahr nach Tulpen Crossing, Washington, zurückgekehrt war, sondern anscheinend irgendwann im letzten Monat aufgewacht war und beschlossen hatte, sie zu stalken.

Der Mann war überall. Wirklich überall. Er war die Blattlausplage im Garten ihres Lebens. Er war ein wild wucherndes Unkraut, der Regen bei einer Freiluft-Hochzeit; jemand, der einen Film spoilerte, der gerade richtig gut zu werden begann. All das auf einmal.

»Du verschwendest zu viel Energie an den Mann«, meinte Helen Sperry nachsichtig, als müsse sie jemanden beruhigen, der ein wenig verrückt war.

»Es geht hier nicht um mich«, erklärte Kelly ihr. »Ich bin nicht diejenige, die ständig auftaucht und jemandem auflauert.«

»Wenn du ihn immer und überall siehst, könnte man auch behaupten, dass du ihn stalkst.«

»Das werde ich keiner Antwort würdigen«, murrte Kelly, während sie vor dem Kunstgewerbezentrum vorfuhr und ihren Truck parkte.

»Kanntest du Griffith schon in der Highschool?«, fragte Helen. »Du bist … was? Drei Jahre jünger als er? Dann könnt ihr nicht dieselben Freunde gehabt haben.«

»Haben wir auch nicht. Ich war in der zehnten Klasse und er in der Oberstufe«, räumte Kelly ein. »Wir hatten nie zusammen Unterricht.«

Doch dass sie nie die gleichen Kurse besucht hatten, bedeutete nicht, dass sie nicht gewusst hätte, wer er war. Alle kannten Griffith Burnett. Schließlich war er eine der gottgleichen Gestalten gewesen, die mit gutem Aussehen, Grips und sportlichem Talent gesegnet waren. Sie hingegen war das etwas sonderbare Mädchen gewesen, das er nicht wahrgenommen hatte … bis er ihr zartes, junges Mädchenherz gebrochen hatte.

»Ich bin mir sicher, dass er bloß zufällig überall auftaucht«, sagte Helen. »Tut mir leid, dir jetzt mit Logik zu kommen, aber wir wohnen in einer sehr kleinen Stadt. Auch wir beide laufen uns ständig über den Weg. Ich sehe dich ungefähr fünfhundert Mal am Tag.«

Kelly lächelte. »Aber wir sind Freundinnen, und ich sehe dich gern

»Gleichfalls.« Helen schaute sie an. »Geht’s dir gut, oder gibt es da etwas, das ich nicht weiß?«

»Nichts bis auf Griffith«, erklärte Kelly ihr. »Bestimmt hast du recht. Ich bin mir sicher, es ist bloß Zufall, dass ich keine zwei Schritte machen kann, ohne ihn zu sehen.« Worte, die toll klangen, die sie sich selbst aber keine Sekunde lang abkaufte.

Wenn sie eine andere gewesen wäre oder er nicht der, der er war, hätte sie vielleicht geglaubt, er interessiere sich für sie … also, als Mann. Jedes Mal, wenn er sie sah, sprach er mit ihr und lächelte. Sein Blick schien sie festzuhalten. Aber es war vollkommen unmöglich, dass er etwas von ihr wollte. Kelly hatte den Beweis dafür.

Vor dreizehn Jahren und ein paar Monaten war sie um eine Ecke gebogen und mit Griffith zusammengestoßen. Sie war auf dem Weg zum Englisch-Leistungskurs gewesen, und er … also, sie hatte keine Ahnung, was er vorgehabt hatte. Ihre Bücher waren in alle Richtungen davongeflogen, und Griffith und sie hatten Sekundenbruchteile von der Brust bis zu den Schenkeln förmlich aneinandergeklebt. Nie zuvor war sie einem Jungen so nahe gewesen. Hatte noch nie so bewusst … alles gespürt.

Dann war er zurückgetreten. Er hatte ihr geholfen, ihre Bücher aufzusammeln, gezwinkert, als sie eine Entschuldigung stammelte, und ihr dann leicht und, oh, sehr sanft die Hand gedrückt, bevor sie in die Sicherheit ihres Klassenraums davongeschossen war.

Während dieser magischen Sekunden, als seine Finger ihre berührt und sie einander in die Augen gesehen hatten, hatte sie sich vollkommen und rettungslos in Griffith verliebt.

Es war die Art wahrer Liebe gewesen, wie sie nur einem reinen und unerfahrenen Herzen entspringen konnte. Sie war noch ungeküsst gewesen. Und von dem Moment an hatte sie von Griffith geträumt.

Nur eine Woche später war sie an ihm vorbeigegangen, als er mit seinen Freunden zusammenstand. Einer der Jungs rief, dass man sie jetzt »flachlegen« könnte. Eine widerliche und abscheuliche Bemerkung, bei der Kelly zusammengezuckt war; aber das war nichts im Vergleich zu Griffiths beiläufig hingeworfenem »Die interessiert mich nicht die Bohne«.

Niedergeschmettert hatte sie sich abgewandt und war davongerannt. Sie war so bestürzt und verletzt gewesen, dass sich all diese Gefühle irgendwo hatten Bahn brechen müssen. Am selben Abend hatte sie einen Streit mit ihrer Mutter – von der Art, bei der man Dinge sagte, die besser unausgesprochen blieben und die ein Leben für immer veränderten.

Vom Verstand her wusste Kelly, dass der Vorfall mit Griffith nichts damit zu tun hatte, dass ihre Mutter weniger als zwölf Stunden später die Familie verlassen hatte, doch gefühlsmäßig waren diese beiden Ereignisse für sie auf ewig miteinander verbunden.

Sie schüttelte die Erinnerungen ab und griff nach ihrem Exemplar von Eat, Pray, Love. Heute Abend wurde in ihrem Buchclub darüber diskutiert – zum dritten Mal –, und sie schwor sich, von dieser Sekunde an nie wieder an Griffith zu denken. Zumindest nicht während der nächsten drei Stunden.

Sie stieg nach Helen aus dem Truck und folgte ihr ins Petal Pushers – das Kunstgewerbezentrum, von dem die Stadt hoffte, dass es Unmengen von Touristen anziehen würde. Dort gab es Stände, an denen alles von handgefertigten Artikeln über Antiquitäten bis zu Lebensmitteln angeboten wurde. Am anderen Ende des weitläufigen Gebäudes lagen eine große Bühne sowie ein Saal für Empfänge und ein paar Räume für Gemeindetreffen. Das Einzige, was fehlte, waren die Touristen. Die Feriengäste kamen gern zum Tulpenfestival nach Tulpen Crossing, das jeden Frühling stattfand, aber ansonsten ließen sich selten welche blicken.

Am liebsten hätte Kelly behauptet, das sei nicht ihr Problem, aber als Mitglied des Tourismus-Komitees hatte sie großes Interesse daran, Menschen in ihr kleines Paradies zu locken.

Es war früh am Dienstagabend, und das Petal Pushers war geschlossen. Der lange Flur, der zum Versammlungsraum führte, war spärlich beleuchtet, und ihre Schritte hallten von dem abgetretenen Linoleum wider – Kellys sogar lauter als Helens. Wahrscheinlich weil Helen hübsche Ballerinas trug, während Kelly sich nicht damit aufgehalten hatte, ihre Arbeitsstiefel gegen andere Schuhe auszutauschen, und immer noch ihre Jeans und ihr leicht fleckiges T-Shirt trug.

Eines Tages, versprach sie sich. Eines Tages würde sie sich mehr Mühe mit ihrer Kleidung geben, sich einen Push-up-BH kaufen und wenn schon nicht mädchenhaft, dann wenigstens einigermaßen weiblich aussehen. Sie sollte sich von Helen inspirieren lassen.

Ihre Freundin war groß, hatte rabenschwarzes Haar, das ihr bis über die Schultern reichte, und verblüffend blaue Augen. Außerdem hatte sie jede Menge Kurven und schaffte es stets, sexy auszusehen, ganz gleich, was sie trug. Helen machte sich Sorgen wegen ein paar Pfund zu viel, doch Kelly sah die überhaupt nicht. Ihre Freundin war üppig, wo Kelly … langweilig war. Sie hatte braunes Haar, das sie im Pferdeschwanz trug. Braune Augen. Keine Kurven und auch sonst keine hervorstechenden Merkmale. Kurzum: Sie war unscheinbar.

Wahrscheinlich hätte sie versuchen können, Helen ähnlicher zu werden, aber wer hatte schon die Zeit dazu? Und selbst wenn sie sich alle paar Monate schwor, etwas wegen ihres Aussehens zu unternehmen – sich beispielsweise die Wimpern zu tuschen –, ließ sie sich schnell ablenken und vergaß es wieder. Bis zum nächsten Mal.

Und hier stapfte sie nun in Stiefeln herum, an denen möglicherweise sogar Schlamm klebte. Wenigstens würde der Buchclub Spaß machen. Sie plauderten immer nett und tranken Wein.

»Hast du es noch mal gelesen?«, fragte Helen und hielt ihr Exemplar von Eat, Pray, Love in die Höhe. »Ich nicht. Ich dachte mir, zweimal reicht.«

»Ja, ich hab’s gelesen.« Es nicht zu tun wäre nicht infrage gekommen, dachte Kelly. Stets machte sie sich Notizen beim Lesen und befolgte grundsätzlich die Regeln. Wie deprimierend. Sie musste dringend aus ihrem üblichen Trott ausbrechen oder so etwas. Vielleicht war es an der Zeit, den Wimperntusche-Schwur zu erneuern.

Sie betraten den Versammlungsraum und begrüßten ihre Freundinnen. Paula, eine hübsche dreifache Mutter, hatte die Weinflaschen, die sie mitgebracht hatte, bereits geöffnet. Jemand anderes hatte Plätzchen und Cupcakes auf Tellern arrangiert. Kelly überflog die Liste und bestätigte, dass sie sich nächsten Monat um den Wein kümmern würde und sie die Memoiren von Eleanor Roosevelt lesen würden.

Sie griff gerade nach einem Cupcake, als einige weitere Mitglieder eintrafen. »Ladys«, verkündete Sally, eine passionierte Quilterin in den Fünfzigern, die den größten Stand im Petal Pushers betrieb, »wir haben ein neues Mitglied. Ihr werdet es nicht glauben, es ist ein Mann!«

Kelly sah auf den Cupcake in ihrer Hand hinunter. Am liebsten hätte sie ein großes Stück abgebissen – oder wäre durch den Hinterausgang hinausgerannt. Sie hätte auch Helen anstoßen und dabei laut und spöttisch »Ich hab’s dir doch gesagt« rufen können. Denn sie wusste, ohne sich umzudrehen, wer dort stehen würde. Griffith war zurück – wie der Terminator höchstpersönlich –, und sie konnte rein gar nichts dagegen tun.

Griffith Burnett war es gewohnt, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen – ob bei einem Symposium, bei dem es darum ging, wie Mikrowohnen die ärmsten Regionen Afrikas verändern und zugleich die Bedürfnisse von Obdachlosen in den urbanen Zentren Europas und der USA befriedigen könnte, oder als Hauptredner bei der Benefizgala einer Kinderstiftung. Vor großem Publikum fühlte er sich wohl, zumindest hatte er das geglaubt. In einem Raum mit fast einem Dutzend Frauen, die ihn alle unterschiedlich interessiert anstarrten, fühlte er sich etwas weniger entspannt.

Nein, dachte er, während er den Blick über die Gesichter schweifen ließ. Fast ein Dutzend minus eins. Kelly sah ihn überhaupt nicht an.

»Leute, das ist Griffith Burnett. Ihr müsstet ihn eigentlich kennen. Ihm gehört die Mikrohaus-Baufirma, die ihr alle schon vom Highway aus gesehen habt. Er ist hier groß geworden. Seine Eltern heißen Mark und Melinda. Vor einem halben Jahr sind sie aber nach New Mexico gezogen. Und Griffith möchte jetzt unserem Buchclub beitreten.«

Er wartete auf die unvermeidliche Frage nach dem Warum, doch die Frauen lächelten und nickten nur. Bis auf Kelly, die sich fest auf den Cupcake in ihrer Hand konzentrierte.

»Ich stelle Ihnen alle vor«, erklärte Sally. Die beiden waren zusammen hereingekommen, und irgendwie hatte sie sich damit zur Gastgeberin des Abends erklärt.

Sie ging in dem Raum umher und spulte schneller, als er sie sich merken konnte, Namen herunter. Mit einer dreifachen Mutter begann sie und endete mit dem Grund, aus dem er überhaupt hier war.

»Das ist Kelly Murphy.« Sally runzelte die Stirn. »Sind Sie nicht zusammen zur Highschool gegangen? Oder ist sie eher im Alter Ihres Bruders? Ich werfe euch Kids immer durcheinander. Und was ist mit Helen Sperry? Sie sind gleichaltrig, stimmt’s?«

»Ich bin ein Jahr älter«, erklärte Helen und gab ihm die Hand. »Hi. Ich glaube, wir hatten Sozialkunde zusammen.«

»Bestimmt.« Er wartete, bis Kelly nichts anderes übrig blieb, als ihn anzusehen. »Hallo, Kelly.«

»Griffith.« Sie klang kurz angebunden. Ihr Ton war alles andere als freundlich und passte zu dem misstrauischen Ausdruck ihrer großen braunen Augen.

Sie sah gut aus. Wahrscheinlich, dachte er, lassen manche Männer sich von ihrer Schnörkellosigkeit abschrecken, doch ihm gefiel diese Seite an ihr. Die scharfen Kanten, die Arglosigkeit. Bei ihr bekam man, was man sah, wie man so schön sagte. Sie war klug, entschlossen und würde es ihm nicht leicht machen. Allerdings war er schon immer jemand gewesen, der Herausforderungen liebte, daher freute er sich darauf.

»Warum bist du hier?«, verlangte sie zu wissen.

Sally, die neben ihm stand, erstarrte. »Was ist los, Kelly, Schätzchen? Griffith möchte unserem Buchclub beitreten.«

»Und Eat, Pray, Love lesen? Fällt mir schwer, das zu glauben.«

»Ziehst du meine Lesefähigkeit oder mein Interesse am Thema in Zweifel?«

Einer ihrer Mundwinkel zuckte. Als Grund vermutete er eher Ärger als Belustigung, obwohl er nichts dagegen gehabt hätte, sie lächeln zu sehen.

»Ich glaube nicht, dass du die Reise einer Frau zu emotionaler und spiritueller Erfüllung genießen würdest«, murmelte sie.

»Glaubst du, du kennst mich gut genug, um darüber zu urteilen?«

Jetzt sahen alle sie an und spitzten die Ohren. Er trat weiter auf Kelly zu. So nahe, dass sie den Kopf leicht in den Nacken legen musste, um seinem Blick standzuhalten.

»Ich finde alles an der Reise einer Frau interessant und genieße es zu entdecken, wie sehr sie sich von meinen Erwartungen unterscheidet.«

Jemandem stockte der Atem. Nicht Kelly. Sie kniff die Augen zusammen. »Nächsten Monat lesen wir eine Autobiografie von Eleanor Roosevelt.«

»Da habe ich aber Glück. Ich habe sie immer schon bewundert.«

Lügner.

Sie sprach das Wort nicht laut aus, aber er war sich verdammt sicher, dass sie es dachte. Griffith verkniff sich ein Grinsen, während er zusah, wie sie gegen ihre Wut ankämpfte. Vermutlich stellte sie sich vor, wie sie ihm den Cupcake ins Gesicht klatschte, sich auf dem Absatz umdrehte und davonging. Nur dass sie das nicht tun würde. Sie würde sich beherrschen. Und er konnte es kaum erwarten, diese Beherrschung auf jede mögliche Art auf die Probe zu stellen.

Aber nicht jetzt. Der heutige Abend war einfach der nächste Schritt in seinem Plan. Er wünschte sich jemanden in seinem Leben – er hatte entschieden, dass serielle Monogamie sein Weg zum Glück war, und hoffte, dass Kelly und er diesbezüglich übereinkommen würden.

»Fandest du nicht, dass die Autorin sich in ihrem Buch viel zu lange damit beschäftigt, ihre Scheidung auseinanderzunehmen?«, fragte sie. »Hätte man nicht gleich mit der Reise anfangen sollen?«

Er hatte sich schon gedacht, dass sie ihm eine Testfrage stellen würde, aber er hatte gehofft, sie würde schwieriger. »Meines Erachtens nimmt sie ihre Scheidung nicht auseinander. Eigentlich erzählt sie nicht besonders detailliert, was schiefgegangen ist, obwohl sie schon klarmacht, dass die Scheidung schmerzhaft war.«

Das verstand er auf einer persönlichen Ebene. Es war nie angenehm, etwas zu verbocken, aber so etwas Grundlegendes zu vermasseln war wirklich ätzend.

»Und der Teil in Thailand?«, hakte Kelly nach.

»Du meinst Indonesien?«

Sie steckte ihre Niederlage mit Anstand ein. Statt einer sarkastischen Bemerkung warf sie ihm ein unerwartetes Lächeln zu – das ihn wie ein Magenschwinger traf – und bot ihm ihren Cupcake an.

»Willkommen in unserem Buchclub.«

»Danke.«

»Und jetzt entschuldige mich, ich brauche ein Glas Wein.«

»Er war nett«, meinte Helen, als Kelly die beiden vom Petal Pushers die paar Meilen bis nach Hause fuhr.

Nicht nötig zu fragen, wen sie mit »er« meint, dachte Kelly. Schließlich hatte sie soeben im selben Raum mit Griffith die längsten drei Stunden ihres Lebens durchgestanden. Sie hatte sich angehört, wie er das Buch analysiert, Scherze gemacht und im Allgemeinen jede Frau in Hörweite entzückt hatte. Bis auf sie natürlich. Andererseits war sie die Einzige, die es überlebt hatte, von Griffith abgewiesen zu werden, daher war sie etwas Besonderes.

»Unglaublich nett«, murmelte Kelly.

»Jetzt wirst du sarkastisch.«

»Ich kann nicht anders. Kommt es dir denn überhaupt nicht komisch vor, dass er in unseren Buchclub eintreten wollte? In La Conner gibt es einen Krimi-Club. Warum wird er dort nicht Mitglied?«

»Er ist eben von hier, genau wie wir.«

Griffith war vieles, aber sicher nicht »genau wie wir«. »Kannst du nicht wenigstens zugeben, dass sein Auftauchen ein wenig eigenartig war?«

Helen wog die Frage ab. »Unerwartet schon. Aber das ist nicht übel.«

»Nicht für dich.«

Helen beugte sich zu Kelly hinüber. »Komm schon. Griffith sieht umwerfend aus. Du musst zugeben, dass es nicht schwerfällt, ihn anzusehen.«

Nein, aber sie hatte auch nicht vor, etwas Derartiges einzugestehen. Er war schon immer einer der Kerle gewesen, die die Aufmerksamkeit jeder Frau im Umkreis von drei Straßenblocks auf sich zogen. Natürlich war er groß, hatte sandfarbenes Haar und braune Augen. Aber die Anziehungskraft beruhte nicht so sehr auf seinen einzelnen Attributen, sondern vielmehr darauf, wie sie sich in einem unglaublich attraktiven Mann vereinten.

»Ich wünschte immer noch, er wäre in den Krimi-Club gegangen. Dort sind auch Männer. Er würde sich wohler fühlen.«

»Vielleicht solltest du ihm das sagen.«

Kelly nahm den amüsierten Unterton ihrer Freundin wahr und stöhnte. »Das macht dir Spaß, oder?«

»Ein bisschen.« Helen schüttelte den Kopf. »Komm schon. Ist es wirklich so schlimm, dass ein Mann wie Griffith sich für dich interessiert? Es ist jetzt sechs Monate her, seit ihr euch getrennt habt, Sven und du. Höchste Zeit für etwas Neues. Und Griffith ist genau der Richtige dafür.«

»Sagt die Frau, die seit ihrer Scheidung vor sechs Jahren kein einziges Date hatte.«

»In unserer Beziehung fühle ich mich durchaus wohl als diejenige, die ihre eigenen Ratschläge nicht beherzigt. Komm schon. Du kannst mir nicht erzählen, dass du dich nicht wenigstens ein bisschen geschmeichelt fühlst. Das musst du doch.«

»Wieso? Weil er mich anstarrt? Keine Ahnung, was er will, aber ich bezweifle, dass es das ist, was du denkst.«

»Wie kommst du darauf?«

Kelly bog um die Ecke und fuhr auf das Haus ihrer Freundin zu. »Weil ich mir meines Platzes im Universum vollkommen bewusst bin.«

»Heißt was?«

Kelly wedelte mit der Hand vor ihrem Bauch herum. »Ich bin bestenfalls durchschnittlich. Nicht schön, nicht hübsch, nicht hässlich. Bloß Durchschnitt.«

Falls Griffith auf der Suche nach einer schickeren Murphy-Ausgabe war, sollte er sich Olivia anschauen. Kelly hatte ihre Schwester seit Ewigkeiten nicht gesehen, aber sie hätte buchstäblich die Farm darauf verwettet, dass Olivia immer noch wunderschön und glamourös war und irgendeinen Designerfummel trug. Keine Cargohosen, die bei einem Onlineshop für landwirtschaftlichen Bedarf im Angebot gewesen waren.

»Liegt in der Familie«, fuhr sie fort. »Ich komme nach meinem Vater. Wir sind vernünftig. Fleißig. Gewöhnlich. Meine Mom und meine Schwester sind …«

»… die exotischen Tulpen im Garten deines Lebens?«, fragte Helen trocken.

»Ich hätte eine andere Metapher benutzt, aber ja. So ungefähr.«

»Du stellst dein Licht unter den Scheffel«, erklärte ihr Helen. »Schlimmer noch, du erzählst üble Dinge über meine Freundin, und das mag ich gar nicht. Du bist nicht gewöhnlich, sondern wunderbar und witzig und fleißig.«

»Erstaunlich, dass du nicht sofort Sex mit mir haben willst.«

»Hör auf auszuweichen.« Aufgebracht starrte Helen sie an. »Das ist mein Ernst. Du bist großartig, Kelly. Und Griffith hat endlich gerade lange genug aufgehört, ein Idiot zu sein, um dich zu bemerken.«

»Ich dachte, du kannst ihn gut leiden.«

»Ist auch so. Ich habe den Ausdruck benutzt, um etwas zu betonen. Was dachtest du denn?«

»Gut gemacht.«

»Danke.« Sie drehte sich so, dass sie Kelly ansehen konnte. »Es ist mir ernst. Du bist offensichtlich über Sven hinweg. Gib einem tollen Kerl eine Chance.«

»Wir wissen nicht, ob er toll ist.«

»Ich habe da Gerüchte gehört.«

Kelly auch. Das Problem war nicht Griffith. Nicht ausschließlich zumindest. Und der Grund war auch nicht, dass sie noch dabei gewesen wäre, sich von dem Ende einer Langzeitbeziehung zu erholen. Es war ihr peinlich, das zuzugeben, aber Sven hatte sie zwar verblüfft, als er Schluss gemacht hatte, doch sie vermisste ihn nicht wirklich. Und war auch nicht richtig erschüttert gewesen. Was traurig war, denn hätte sie nach fünf Jahren nicht zumindest etwas niedergeschlagen sein müssen? Was bedeutete es, dass sie einfach weitergemacht hatte, ohne mit der Wimper zu zucken? Hatte sie sich überhaupt emotional engagiert? Und wenn nicht, was war der Grund? War er nicht der Richtige gewesen, oder war sie irgendwie seelisch verkümmert?

Keine Frage, auf die sie wirklich eine Antwort hören wollte. Obwohl Sven betont hatte, sie sei nie verliebt in ihn gewesen. Was stimmte, wenn es auch befremdlich war, von einem Mann darauf hingewiesen zu werden.

»Was könnte denn schlimmstenfalls passieren?«, fragte Helen.

»Wenn ich mit Griffith schlafe?« Die Liste war richtig lang – wo sollte sie anfangen?

»Wow, ich meinte, wenn du mit Griffith redest. Ich finde es faszinierend, dass du in Gedanken gleich mit ihm ins Bett gesprungen bist.«

»Bitte nicht.«

»Zu spät. Du hast mir unbewusst schon alles verraten.«

»Habe ich nicht, und da war gar nichts unbewusst. Ich habe es laut ausgesprochen.« Kelly bog in Helens Einfahrt ein.

»Du versuchst, mich mit Fakten abzulenken«, gab ihre Freundin grinsend zurück. »Aber ich sehe dich so, wie du bist.«

»Ich habe richtig Angst zu fragen, was genau du dann siehst.«

»Zu Recht.« Helen senkte die Stimme. »Du bist eine nach Sex ausgehungerte Singlefrau, die unbedingt etwas mit Griffith anfangen will, aber du hast Angst.«

Scherzhaft ausgesprochene Worte, die der Wahrheit viel zu nahe kamen. Nicht der Teil mit dem sexhungrig. Sex war in Ordnung, wenn auch nicht das großartige, welterschütternde Ereignis, wie allgemein behauptet wurde. Aber trotzdem. Ja, sie fand Griffith faszinierend und attraktiv, aber …

»Er nervt.«

»Du lügst, du lügst.«

»Er kann einem aber auf die Nerven gehen.«

»Schon besser.«

»Er soll mich in Ruhe lassen.«

Helen seufzte. »Auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Du lügst.«

Kelly stieß einen missbilligenden Laut aus. »Du gehst mir auf die Nerven.«

»Das ist absolut die Wahrheit. Sag es doch einfach. Du bist interessiert. Fasziniert sogar. Er ist heiß, und du hast keine Ahnung, warum er plötzlich interessiert ist, aber du hasst es nicht.«

»Was ich hasse, ist, dass ich so leicht zu durchschauen bin.«

Helen umarmte sie, öffnete dann die Beifahrertür und stieg aus. »Nur für mich, meine Süße. Nur für mich. Mein Rat ist einfach: Sag Ja.«

»Er hat mich überhaupt nichts gefragt. Eigentlich starrt er mich nur an und taucht überall auf, wo ich bin.«

»Dann finde raus, warum. Ach, und gewöhn dir an, Kondome in der Handtasche zu haben. Nur für alle Fälle.«

Mit diesen Worten winkte Helen ihr zu und ging zum Haus. Kelly wartete, bis im Wohnzimmer das Licht angeschaltet wurde, dann setzte sie rückwärts aus der Einfahrt und fuhr nach Hause.

Sie hatte nicht vor, den Rat bezüglich der Kondome zu beherzigen, aber vielleicht wäre es keine so üble Idee, Griffith direkt anzusprechen und herauszufinden, was er im Schilde führte. Denn so nett die Vorstellung, er könnte sich für sie interessieren, auch war – sie wusste ganz genau, dass sie so viel Glück nicht hatte. Außerdem war er Griffith Burnett. Selbst wenn sie ihn kriegen würde, hätte sie keine Ahnung, was sie mit ihm anfangen sollte. Traurig, aber wahr.

2

Die meisten Menschen glaubten, der Unterschied zwischen einem kleinen Haus auf Rädern und einem ohne Räder hätte mit der Größe zu tun. Doch Griffith Burnett wusste es besser. Es ging um das Gewicht. Wenn man vorhatte, mit seinem ungefähr neun Quadratmeter großen Mikrohaus herumzuziehen, wollte man nicht durch sein Gewicht behindert werden. Also keine Arbeitsflächen aus Granit, keine dicken Bodendielen und keine schmiedeeisernen Geländer auf dem Oberdeck. Aber wenn man ein achtzehn Quadratmeter großes Mikrohaus hatte, das an einem einzigen Ort bleiben sollte, dann kannte er einen großartigen Anbieter von Boden- und Wandbelägen, den er einem empfehlen konnte. Und weil das Mikrohaus … nun ja … klein war, konnte man erstklassiges Material zum Preis für Restbestände bekommen.

Er stand in der Mitte dessen, was man zur Not seine Fertigungseinrichtung hätte nennen können. In Wahrheit bestand sie einfach aus zwei Lagerhäusern, die durch einen überdachten Gang verbunden waren; es war aber nicht nur ein Anfang, sondern es gehörte ihm.

In dem größeren der Gebäude befanden sich sechs Mikrohäuser, an denen gearbeitet wurde. Zwei waren für San Francisco bestimmt und eines für Portland, Oregon. Zwei weitere gingen an eine Familie im Osten von Washington State. »Meine Söhne werden nie ausziehen«, hatte eine frustrierte Frau mittleren Alters es ausgedrückt. »Ich ertrage es einfach nicht, jeden Tag über sie hinwegzusteigen. Ich kann akzeptieren, dass sie bleiben, solange ich nicht ständig mit ihnen und ihrem Chaos zu tun habe.«

Das letzte Mikrohaus würde in einer originellen Frühstückspension in Texas als elegantes Gästehäuschen dienen.

Dieser Teil von GB-Mikrohäuser brachte das Geld ein. Ob man dreißigtausend oder einhundertdreißigtausend Dollar ausgeben wollte, Griffith baute einem ein Mikrohaus ganz nach Wunsch. Auf einer Ebene oder zwei, mit Lofts oder Zwischendecken, mit edlen Oberflächen und Armaturen oder komplett aus wiederverwertetem Material von Baustellen. Alles war möglich. Es kam nur auf das Gewicht an und darauf, wie viel man anlegen wollte.

Inzwischen hatte er Vorbestellungen für die nächsten paar Jahre, und die Warteliste wurde immer länger. Er hatte noch zwei Vollzeitkräfte eingestellt, womit er bei zehn Mitarbeitern war.

Wahrscheinlich, dachte er, würde jemand, der etwas von Geld versteht, mir raten, ich solle meine andere Lagerhalle benutzen, um die Bestellungen, die etwas einbringen, zu erledigen. Aber er fühlte sich nicht einmal versucht. In der zweiten, kleineren Halle fand die wirkliche Arbeit statt.

Dort experimentierte, spielte und träumte er. Mit dieser Arbeit würde er nie auch nur einen Cent verdienen, aber sie bedeutete auch, dass er jeden Abend wusste, dass er das Richtige getan hatte. Sie ließ ihn nachts besser schlafen.

Er ging in den Pausenraum, um sich Kaffee einzugießen, und stellte fest, dass sein Bruder an einem der Tische saß. Ryan lehnte sich auf einem Stuhl zurück und hatte die Füße auf den anderen gelegt. Seine Augen waren geschlossen, und er lauschte etwas, das aus seinen Kopfhörern drang.

Griffith widerstand dem Drang, seinem Bruder den Stuhl unter den Füßen wegzutreten. Vielleicht würde ihm das Ryans Aufmerksamkeit einbringen, obwohl er da so seine Zweifel hatte.

Momentan war sein Bruder unmotiviert. Er war nur nach Tulpen Crossing zurückgekommen, weil er nirgendwo anders hinkonnte. Als Ryan sich die Schulter verletzt hatte, hatten die Red Sox ihn hinausgeworfen. Nachdem er sich zwei Jahre lang mehr mit Baseball als mit dem College beschäftigt und fast vier Jahre in der unteren Liga gespielt hatte, war er nicht wirklich für etwas ausgebildet. Er hatte einen Job gebraucht, und Griffith hatte ihm einen angeboten – Handlangerarbeiten beim Bau der Mikrohäuser. Inzwischen bedauerte Griffith seine Entscheidung.

Er stieß den Arm seines Bruders an. Ryan schlug die Augen auf und lächelte.

»Hey, Bro.«

»Selbst hey. Die Pause ist seit einer halben Stunde vorbei.«

»Was?«

Ryan blinzelte und sah sich um, als sei er aufrichtig erstaunt darüber, dass alle anderen wieder bei der Arbeit waren. »Huch. Tut mir leid. Ich habe mir das Spiel angehört. Hat mich wahrscheinlich abgelenkt.«

Griffith konnte sich gut vorstellen, was passiert war. Einer der Jungs musste gesagt haben, die Pause sei vorüber. Ryan hatte wahrscheinlich geantwortet, er werde in einer Minute nachkommen. Wäre der Fünfundzwanzigjährige jemand anderer gewesen, hätte der Vorarbeiter davon erfahren. Aber Ryan war der Bruder des Chefs. Niemand war sich sicher, ob in diesem Fall die üblichen Regeln galten – nicht einmal Griffith selbst.

Kurz dachte er an seine Eltern, die immer darauf bestanden hatten, dass er sich um seinen kleinen Bruder kümmerte – ganz gleich, wie unpassend das gerade kam –, atmete tief ein und nahm sich vor, sich ein anderes Mal mit Ryan zu beschäftigen.

»Geh zurück an die Arbeit«, sagte er. »Sofort.«

»Klar.«

Langsam stand sein Bruder auf und schlenderte zur Tür.

Griffith sah ihm nach und sagte sich, dass er selbst schuld war, wenn er sich ärgerte. Ryan hatte sich noch nie hetzen lassen – außer auf dem Baseballfeld. Dort konnte er so schnell sein, dass er einem vor den Augen verschwamm; aber im richtigen Leben hatte er es nicht so mit der Geschwindigkeit.

»Ich liebe es!«

Olivia Murphy sonnte sich in dem erfreuten Tonfall und den begeisterten Worten ihrer Kundin. Jenny war in den Sechzigern, vor Kurzem Witwe geworden und musste das Haus ihrer Familie verkaufen, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Da war es oberste Priorität, einen Höchstpreis zu erzielen.

Das einstöckige Haus mit drei Zimmern und zwei Bädern war nicht besonders schick. Tatsächlich gab es in den älteren Vierteln von Phoenix Hunderte davon. Eine zusätzliche Herausforderung waren sowohl der Umstand, dass das Haus lange nicht mehr modernisiert worden war, als auch die Jahreszeit. Der Juni war in der Wüste nicht gerade die Hauptsaison für Immobilienverkäufe – nicht, solange die Mittagstemperaturen regelmäßig auf fast vierzig Grad stiegen. Niemand wollte Häuser besichtigen, wenn es nicht sein musste. Im Winter war der Immobilienmarkt weit aktiver.

Doch Jenny konnte nicht bis zum Winter warten, was bedeutete, das Haus mit einem minimalen Budget aufzuhübschen. Olivia hatte Stunden auf Pinterest verbracht, war durch Secondhandläden gezogen und hatte alles andere zusammengebettelt und – geliehen. Mit weniger als fünfhundert Dollar hatte sie einen veralteten, ganz gewöhnlichen Bungalow in ein hübsches, einladendes Ferienhaus mit maritimem Flair verwandelt.

»Ich kann kaum glauben, dass es dasselbe Haus ist«, rief Jenny begeistert. »Sehen Sie sich nur an, was Sie daraus gemacht haben.«

»Ich weiß«, gab Marilee Quedenfeld zurück. Ihr bescheidener Stolz war reine Selbstdarstellung. »Es ist wunderbar, nicht wahr? In der Sekunde, in der man eintritt, meint man, eine kühle Meeresbrise zu spüren.«

Olivia achtete darauf, dass ihr Lächeln nicht verrutschte. Sinnlos, etwas zu sagen, das hatten sie die letzten vier Jahre, seitdem sie für Marilee arbeitete, gelehrt. Lob ging an Marilee. Wenn es Beschwerden gab, landeten die woanders.

»Sie sind ein Genie«, sagte Jenny zu Marilee. »Alle haben gemeint, Sie seien die Beste, aber damit hätte ich nicht gerechnet. Danke!«

»Gern geschehen.« Marilee schlang einen Arm um ihre Klientin. »Ich weiß, was Sie durchgemacht haben, da ist es das Mindeste, was ich tun kann.«

Worte, die Jenny sicher für bare Münze nehmen wird, schoss es Olivia durch den Kopf, während Marilee wahrscheinlich etwas denkt wie: Lieber Gott, warum achtet diese Frau nicht besser auf sich?

Der äußerliche Unterschied zwischen den beiden war auffällig. Jenny war klein, altbacken und hatte offenbar vor dem Alterungsprozess kapituliert. Marilee dagegen trug ein gepunktetes, leicht ausgestelltes Kleid von Akris Punto und Pumps von Valentino. Ihr glattes dunkelblondes Haar war zu einem schulterlangen Bob geschnitten, und ihr Make-up betonte ihre großen Augen und den makellosen Teint. Obwohl sie fast fünfzig war, wirkte sie wie fünfunddreißig und versuchte gelegentlich, für noch jünger durchzugehen.

»Sehen wir uns den Rest des Hauses an«, schlug Marilee vor. »Ihnen wird alles gefallen, was ich getan habe.«

»Das weiß ich.«

Olivia blieb in der Küche. Das war sicherer – so würde sie nicht in Versuchung geraten, mit einem Fakt herauszuplatzen, den nur die Designerin kennen konnte. Die kurzfristige Befriedigung wäre großartig, aber später würde sie dafür bezahlen.

Olivia war gleich nach dem College in Marilees erfolgreiche Immobilienfirma eingestiegen. Sie hatte als Sekretärin begonnen und sich hochgearbeitet, bis sie für das gesamte Marketing der Firma verantwortlich war. Da das keine Vollzeitstelle war, hatte sie sich am Hausverkauf versucht, aber festgestellt, dass sie dazu nicht die richtige Persönlichkeit besaß. Marilee auch nicht, aber sie konnte sich besser verstellen.

Um sich nicht den ganzen Tag mit den Aufgaben einer Sekretärin zu beschäftigen, hatte Olivia angefangen, Designerkurse zu besuchen. Rasch stellte sie fest, dass sie ein Talent besaß, das darüber hinausging, ein Haus für wenig Geld attraktiv auszugestalten und aus einer einfachen Behausung etwas äußerst Ansprechendes zu machen. Bisher bot sie ihren Einrichtungsservice zum Selbstkostenpreis an, doch sie spielte mit dem Gedanken, daraus ein richtiges Geschäft zu machen, und hatte auch das dazu nötige Sparkonto. Dieses Haus war bis jetzt ihr größtes Projekt gewesen, und auch wenn sie nicht die gebührende Anerkennung dafür einheimste, hatte sie jede Menge Vorher-Nachher-Bilder in ihrer Mappe.

Jenny und Marilee verließen das Haus, um wieder ins Büro zu fahren, während Olivia zurückblieb, um sich noch einmal umzusehen und abzuschließen.

»Ihre Assistentin ist so ein hübsches Mädchen«, hörte sie Jenny sagen, während die beiden zu Marilees Mercedes gingen. »Wir sollten alle noch einmal so jung sein.«

Olivia zuckte zusammen. Marilee würde es nicht schätzen, in Jennys Altersgruppe – über sechzig – eingeordnet zu werden, und es passte ihr auch nicht, wenn jemand Olivia Komplimente machte. Aber das würden sie später unter sich ausmachen.

Schnell überzeugte sie sich davon, dass die Hintertür abgeschlossen war, und hielt kurz inne, um die Adirondack-Stühle zu bewundern, die sie für ganze zehn Dollar pro Stück auf einem Trödelmarkt gefunden hatte. Sie hatte ein Tablett aus einem Secondhandladen auf einen schäbigen Beistelltisch aus Plastik gelegt. Ein paar Muscheln in einem alten Einmachglas mit ein wenig Sand, und das langweilige Areal um den Pool hatte etwas von einem Strand.

Im Inneren hatte sie Jennys durchgesessenes Sofa mit einem naturweißen Überzug ausgestattet und dann Dekokissen in Grau-, Blau- und Türkistönen ergänzt. Ein strukturierter Teppich in Nuancen von Beige und Cremeweiß bedeckte den größten Teil des Fliesenbodens, der aus den 1980er-Jahren stammte.

Im großen Schlafzimmer hatte sie das Kopfteil des Betts mit grau-weiß gestreiftem Stoff bespannt. Sie hatte ordentlich Geld für eine neue Steppdecke ausgegeben und dann die Möbel umgestellt. Ein paar Accessoires – ein Seestern, eine Uhr in der Form eines Leuchtturms und ein Stück Treibholz – führten das Thema fort.

Das Bad, das sich an das Schlafzimmer anschloss, war reine Illusion. Zusammengerollte Handtücher und hübsche Gläser mit Badesalz lenkten von den altmodischen Fliesen ab. Ein schnell angebrachter Anstrich mit weißer Farbe verlieh dem Raum einen Hauch von Frische. Sie hatte ein reizendes Arrangement aus Seidenblumen gefunden und es in einen Kinder-Sandeimer gesetzt. Der originelle Touch lenkte den Blick von der hässlichen Wanne ab.

Plötzlich piepte ihr Handy. Sie sah aufs Display und stellte fest, dass sie eine Textnachricht von Logan hatte. Sie hatten sich am Wochenende kennengelernt, und er versuchte seitdem ständig, sie wiederzusehen. Ehrlich, Olivia war einfach nicht in der Stimmung dazu. Ja, er war Kathys Freund, und es würde ziemlichen Spaß machen, ihn ihr wegzunehmen, aber aus irgendeinem Grund lockte die Vorstellung sie nicht.

Sie scrollte durch andere SMS und hielt inne, als sie die sah, die wirklich ihre Aufmerksamkeit erregt hatte.

Du solltest nach Hause kommen. Wir könnten zusammen abhängen. Fehlst mir, Babe.

Jede Frau hatte eine Schwäche. Bei manchen waren es Brownies, bei anderen Schuhe, und bei ihr war es Ryan Burnett.

Der Mann machte sie wahnsinnig. Sie kannte den Grund – sie hatten nie eine Chance gehabt. Grausam war sie aus seinen Armen gerissen worden, bevor sie beide das beliebteste Paar an der Highschool werden konnten. Später, am College, hatte er sich mehr für Baseball interessiert als für sie; etwas, wofür er immer noch zahlte.

Sie wollte ihn vergessen, konnte es aber nicht. Er war die Verheißung dessen gewesen, was hätte sein können, was aus ihr hätte werden können. Wenn sie mit ihm zusammen war, hatte sie endlich das Gefühl, irgendwo hinzugehören. Sie brauchte das – brauchte ihn. Seit er vor drei Monaten wieder nach Tulpen Crossing gezogen war, bat er sie immer wieder, ihn zu besuchen. Was lächerlich war. Dies war der letzte Ort, an dem sie sein wollte. Nur dass Ryan …

Entschlossen steckte sie das Handy wieder zurück in ihre Tasche und ging nach draußen. Nachdem sie den Schlüssel in die Lockbox gelegt hatte, überprüfte sie die Haustür und fuhr zurück in die Agentur, wo sie noch hörte, wie Jenny von dem Werbefeldzug schwärmte, den Olivia vorbereitet hatte.

»Ich habe keine Ahnung, wie Sie das alles schaffen«, sprudelte es nur so aus Jenny heraus. »Sie sind großartig, Marilee.« Dann wandte sie sich an Olivia. »Sie müssen durch die Arbeit für sie so viel lernen.«

»Das tue ich. Jeden Tag.« Schnell wandte sie sich an Marilee. »Das Haus ist bereit, online zu gehen. Soll ich das für dich übernehmen?«

»Bitte.«

Olivia zog sich in ihr kleines, fensterloses Büro zurück, ging online und lud das Angebot hoch, das sie schon vorbereitet hatte. Dann sah sie ihre anderen Angebote durch, was nicht besonders lange dauerte. Im September würden sie wieder mehr Häuser verkaufen, aber bis dahin befanden sie sich, was Immobilien anging, an einem toten Punkt.

Eine Stunde später rief Marilee Olivia über die Gegensprechanlage in ihr Büro. Olivia strich sich die Vorderseite ihres ärmellosen Kleids glatt und ging dann den mit Teppichboden ausgelegten Flur hinunter. Marilee saß auf dem Ledersofa in ihrem großen Eckbüro.

»Diese Frau ist so anstrengend. Ich dachte, sie würde nie wieder gehen. Wenigstens gefiel ihr die Ausstattung, obwohl ich sagen muss, dass ich ein wenig enttäuscht war.« Sie rümpfte die Nase, so gut sie das in Anbetracht ihrer regelmäßigen Botox-Spritzen konnte. »Wirklich, Olivia? Seesterne und ein Sandeimer? War das das Beste, was dir eingefallen ist?«

Olivia spürte, wie sie rot anlief. »Ich hatte ein Budget von fünfhundert Dollar. Viel Auswahl hatte ich da nicht. Aber ich finde, der einzigartige Stil wird die Käufer ansprechen.«

»Das werden wir ja sehen. Zumindest Jenny war glücklich, obwohl das nicht viel zu sagen hat.« Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Wie heiß ist es da draußen? Über achtunddreißig Grad?«

»Beinahe.«

»Ich kann es kaum erwarten, hier rauszukommen. Rogers Haus in Colorado wird himmlisch sein. Die Landschaft ist wunderbar. Du solltest auch ein paar Wochen wegfahren, Olivia. Im Sommer laufen die Geschäfte schlecht, und es würde mir ersparen, deine Arbeitsstunden reduzieren zu müssen.«

Die nicht besonders diskrete Anspielung war nichts Neues. Marilee drohte ihren Angestellten ständig damit, ihnen das Gehalt zu kürzen oder sie zu entlassen. Der Umstand, dass sie die erfolgreichste Immobilienagentur in der Stadt führte, verlieh ihr Macht, und das wusste sie.

Als Olivia damals in die Firma eingetreten war, hatte sie sich immun gegenüber Marilees Kleingeistigkeit und ihren Launen gefühlt, aber das hatte sich in letzter Zeit geändert. Vielleicht war das im Lauf der Zeit unvermeidlich. Oder es lag daran, dass Olivia Roger dabei erwischt hatte, wie er auf ihre Beine starrte. Die Wahrheit war, dass Marilee in ein paar Jahren fünfzig wurde, ganz gleich, wie sehr sie versuchte, den Zahn der Zeit, der an ihr nagte, zu stoppen. Und aus irgendeinem Grund war Olivia nicht mehr Marilees Favoritin. Jetzt war sie genau wie alle anderen.

Ein vertrauter Schmerz stieg in ihrer Brust auf. Angefangen hatte es, als sie zwölf war und ihre Mutter einfach gegangen war. Olivia war am Boden zerstört gewesen. Ihre Mutter und sie hatten einander so nahegestanden. Sie waren die beiden, die sich verstanden. Kelly war immer Dads Lieblingskind gewesen und Olivia das von ihrer Mom; jeder hatte eines, so wie es sein sollte. Doch als ihre Mom sie verlassen hatte, war Olivia allein gewesen.

Seitdem war nichts mehr richtig gelaufen. Es hatte Momente gegeben, da hatte sie sich sicher gefühlt, als gehöre sie hierher, aber nur kurz. Außer bei Ryan. Wenn sie bei ihm war, wusste sie immer, dass alles gut werden würde. Bei ihm konnte sie an sich selbst, an die Zukunft glauben.

Sie dachte an die Nachrichten auf ihrem Telefon. Die bedeutungslosen Partys, mit denen sie Zeit verschwenden konnte, die Frauen, mit denen sie sich traf. Wie Marilee waren sie eher falsche als richtige Freundinnen. Was hielt sie noch hier? Kathys Freund? Eine Karriere, die ins Leere lief? Sie hatte keine Ahnung, was sie wollte, was bedeutete, dass sie nie etwas erreichen würde. Sie brauchte Zeit zum Nachdenken und – vielleicht, nur vielleicht – eine Chance, ihr Leben wieder vollkommen zu machen.

Sie konnte die Zeit nicht zurückdrehen zu dem Zeitpunkt, als sie dieses zwölfjährige Mädchen gewesen war, aber sie konnte Ryans Einladung annehmen. Zurück nach Tulpen Crossing gehen. Daran würde Marilee zu knabbern haben. Und wäre das nicht lustig? Außerdem konnte sie endlich ihren Mann kriegen. Denn mit Ryan war alles besser.

»Weißt du was, Mom? Du hast recht. Ich sollte mir wirklich Urlaub nehmen.«

Marilee kniff die Augen zusammen. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst mich nicht so ansprechen. Vor allem nicht im Büro. Ich bin nicht annähernd alt genug, um für deine Mutter gehalten zu werden.«

»Gut, dass Kelly nicht für dich arbeitet. Sie ist sogar noch älter als ich.«

»Ich muss dir sagen, dass deine Einstellung mir nicht gefällt.«

»Tut mir leid. Dann sollte ich vielleicht gehen. Ich muss packen und meine Wohnung für die nächste Zeit abschließen.«

»Du fährst tatsächlich weg?«

»Hm … ja. Nach Hause. Ich will den Sommer zu Hause verbringen.«

Erstaunt setzte Marilee sich auf. »Nach Hause? In dieses hinterwäldlerische Kaff? Bist du verrückt geworden?«

»Nein. Ich glaube, das wird lustig. Ich war eine Ewigkeit nicht mehr dort. Ich gebe dir Bescheid, wenn ich fahre. Und ich vergewissere mich, dass Kathy alle Informationen hat, die sie für unsere aktuellen Angebote braucht.«

»Du kannst mich nicht einfach im Stich lassen. Du hast Pflichten.«

»Ach, du kommst schon klar, Mom. Das tust du immer.« Olivia lächelte. »So brauchst du mir wenigstens nicht die Stunden zu kürzen.«

Morgens um fünf zur Arbeit zu gehen war nichts für Feiglinge, aber es gab ein paar Dinge, die das Grauen mildern konnten. Eines war der Duft frisch gebackener Zimtschnecken, noch heiß und gerade aus dem Ofen. Das andere war Billy Joel in einer Lautstärke, bei der man kurz vor dem Gehörverlust stand.

Helen Sperry trat um zwei Minuten vor fünf durch die Tür des Parrot Café. Pünktlich zu sein war nicht schwer, da sie praktisch um die Ecke wohnte. Sie hielt inne, um den herrlich süßen Duft einzuatmen, als sie die erste Zeile von »Uptown Girl« hörte.

»Ich wette, heutzutage kann sich Billy so viele Perlen leisten, wie er will«, rief sie und knipste die Lichter an. »Was meinst du, Delja?«

Aus der Küche kam keine Antwort, aber das war in Ordnung. Delja America war nicht besonders redselig. Stattdessen drückte sie sich aus, indem sie großartig kochte und backte.

Helen summte den Song mit und trat in die Küche. »Morgen. Alles okay?«

Delja arbeitete im Café, seit sie vor fast vierzig Jahren die Highschool abgeschlossen hatte. Sie war nur knapp über eins fünfzig groß, hatte aber den Körperbau eines Linebackers. Und die dazugehörigen Muskeln. Sie konnte einen fünfzig Pfund schweren Mehlsack vom Boden auf die Arbeitsplatte heben wie ein Tütchen Trauben. Und was diese Frau mit Eiern anzustellen vermochte, grenzte an ein Wunder. Sie war Witwe und hatte einen Sohn – den derzeitigen Bürgermeister von Tulpen Crossing – und eine Tochter, die in Utah lebte.

Delja sah zu Helen auf und lächelte, während Helen die Küche durchquerte, um ihre morgendliche Umarmung in Empfang zu nehmen – die ihr fast die Luft aus den Lungen quetschte. Sie versuchte, genauso kräftig zurückzudrücken, vermutete aber, dass Delja von ihrer Kraft nicht sonderlich beeindruckt war.

Dejla ließ sie los und hielt sie dann eine Armeslänge von sich weg.

»Alles gut bei dir?«

Dasselbe fragte Delja sie seit acht Jahren an jedem einzelnen Morgen – seit Helen das Lokal von ihrer Tante übernommen hatte.

»Ja. Hast du mit Lidiya gesprochen? Fährst du diesen Sommer zu ihr?«

Jedes Jahr fuhr Delja drei Wochen zu ihrer Tochter. Die ganze Stadt trauerte, wenn die Quelle der Zimtschnecken versiegte. Die Menschen wurden reizbar und zählten die Tage bis zu Deljas Rückkehr.

»Im September.«

»Gut. Du mailst mir die Daten?«

Delja nickte einmal und machte sich wieder an das Glasieren der Schnecken.

Sie hätten über mehr reden können – ihr Privatleben, welche Vorräte zur Neige gingen oder ob die Mariners diese Baseballsaison gewinnen würden, doch das taten sie nicht. Delja zog knappe Antworten einem richtigen Gespräch vor und kommunizierte größtenteils via E-Mail. Wenn etwas nachbestellt werden musste, hatte sie ihrem Lieferanten wahrscheinlich schon eine Nachricht geschickt.

Und Helen hütete sich, ihre Arbeit zu überprüfen. Deljas Tag begann um zwei Uhr morgens. Um fünf waren Brötchen im Ofen, alle Beilagen für die Omeletts waren vorbereitet und die Orangen gepresst. Im Parrot Café lief die Küche reibungslos – und das alles dank Delja.

Helen ging in ihr Büro und packte ihre Handtasche in die unterste Schreibtischschublade. Dann warf sie einen Blick in den kleinen Spiegel, der über dem Waschbecken an der Tür hing. Ihr schwarzes Haar hatte sie zu einem französischen Zopf frisiert, ihr Pony war geschnitten und ihr Make-up diskret. Alles so, wie es sein sollte. Da sie sich nur bis zu den Schultern sehen konnte, brauchte sie nicht zu bemerken, dass ihre letzte Diät ebenso spektakulär gescheitert war wie die siebzehn vorhergegangenen. Was nicht ihre Schuld war. Wirklich nicht. Wie sollte sie sich in einer Welt, in der Deljas Zimtschnecken existierten, nach der Paleo-Diät ernähren?

Sie ging zurück in den Gastraum und begann mit den morgendlichen Vorbereitungen. Die Tische mussten gedeckt und die Zuckerstreuer gefüllt werden. Geistlose, einfache Arbeiten, bei denen sie sich auf den Tag konzentrieren konnte. Und sich vielleicht, nur vielleicht eine Sekunde Zeit nehmen konnte, damit die Schmetterlinge in ihrem Bauch, die im Moment Hiphop tanzten, zu einem etwas würdevolleren Walzer übergingen.

Das Parrot Café – das nach Papageientulpen benannt war, nicht nach dem Vogel – existierte schon fast so lange wie die Stadt selbst. Helens Tante hatte es von ihren Eltern geerbt, und als sie heiratete, hatte ihr Mann sich dem Team angeschlossen. Soweit Helen wusste, waren die beiden sehr glücklich miteinander gewesen. Das Café öffnete von sechs Uhr morgens bis zwei Uhr mittags, sieben Tage die Woche. Bis Helen gekommen war, hatte das kinderlose Paar jeden August geschlossen und die Welt bereist. Dann waren Helens Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen und hatten ihr einziges Kind als Waise zurückgelassen. Andere Familienmitglieder gab es nicht, daher war Helen nach Tulpen Crossing gekommen.

Bestimmt hatten ihre Tante und ihr Onkel alles versucht. Helens Welt war ins Chaos gestürzt worden, aber ihre ebenfalls. Sie hatten getan, was sie konnten, damit ihre Nichte sich willkommen fühlte, aber sie hatte die Wahrheit gekannt. Sie hatten nie Kinder gewollt. Dafür hatten sie sich entschieden – doch jetzt hatten sie sie, Helen, am Hals.

Sie hatte ihr Bestes getan, um ihnen keine Probleme zu bereiten und das Geschäft zu erlernen. Schon mit dreizehn bediente sie im Café. Die Stammgäste liebten sie, und niemand ahnte, dass sie sich während der ersten drei Jahre nach dem Tod ihrer Eltern jeden Abend in den Schlaf weinte.

Ihre Eltern waren arm, aber glücklich gewesen – beide Musiker. Das hieß, dass sie kein Geld für … nun ja, für gar nichts gehabt hatten. Das einzige Erinnerungsstück, das sie noch von ihren Eltern besaß, waren das Klavier, das sie gespielt hatten, und ihre Eheringe. Ersteres stand im Wohnzimmer ihres kleinen Hauses, und aus Letzteren hatte sie sich einen Anhänger anfertigen lassen, den sie täglich trug. Bis auf die Tatsache, dass sie Billy Joel liebte wie ihre Eltern, hatte sie nicht viel von ihrem musikalischen Talent geerbt. Der Sänger war ihre Verbindung zur Vergangenheit.

Um halb sechs kochte Helen Kaffee. Die anderen Bedienungen tauchten um Viertel vor sechs auf, und um Punkt sechs trat der erste Gast durch die Tür. Um halb acht waren alle Nischen und die Plätze an der Theke besetzt. Gegen zehn wurde es immer ruhiger, bis die Mittagsgäste auftauchten. Inzwischen hatte Delja Feierabend gemacht, und die Schüler von der Kochschule oben in Bellingham arbeiteten in der Küche schwer an den Vorbereitungen für das Mittagessen.

Das System funktionierte. Die Schüler konnten in einem echten Restaurant üben, ihre Gäste hatten Gelegenheit, zusammen mit alten Lieblingsspeisen auch neue, spannende Gerichte auszuprobieren, und sie hatte einen stetigen Nachschub an Arbeitskräften. Viele Schüler übernahmen Wochenendschichten, und diejenigen, die in der Gegend wohnten, arbeiteten oft gern ein paar Jahre bei ihr, um Erfahrungen für ihren Lebenslauf zu sammeln, bevor sie zu einem weit eleganteren Lokal als dem Parrot Café wechselten.

Helen warf einen Blick auf die Uhr und griff nach einer Tasse. Sie ließ immer noch Kaffee hineinlaufen, als sie hörte, wie die Eingangstür geöffnet wurde. Die Schmetterlinge in ihrem Bauch starteten einen Quickstepp, und einen Moment lang hatte sie das Gefühl, ihre Hände könnten zittern. Was albern war. Und wie auf ein Stichwort hin war in der Aufnahme ein Klirren von Glas zu hören, gefolgt von den ersten Takten von »You May Be Right«.

»Und ich bin vielleicht verrückt«, flüsterte Helen in sich hinein und drehte sich lächelnd um, als Jeff Murphy auf sie zukam. »Morgen.«

»Hi, Helen.« Jeff zuckte leicht zusammen. »Muss das so laut sein?«

»Billy ist mein absoluter Rock-and-Roll-Schwarm. Eine solche Liebe verlangt nach Lautstärke.«

»Uh … uh.«

Jeff legte in Papier gewickelte Blumen auf die Theke, zog dann sein Handy hervor und tippte auf das Display. Er brauchte nur eine Sekunde, um die Sonos-App zu finden und die Musik auf Hintergrundlautstärke hinunterzufahren.

»Eines Tages wird Billy dich dafür schlagen«, schalt sie ihn.

Er grinste. »Das Risiko gehe ich ein.«

Mehr oder weniger führten sie dieses Gespräch fast jeden Tag. Und sie freute sich beinahe lächerlich darauf. Billy mochte ja ihr Rock-and-Roll-Schwarm sein, aber Jeff war, nun ja … Jeff war der Grund, aus dem ihr Herz weiterschlug.

Dumm, aber so war es. Die reine Wahrheit. Sie war Hals über Kopf und verzweifelt in Jeff Murphy verliebt.

Der Mann war hinreißend. Er sah ein wenig aus wie der Schauspieler Jason Bateman – mit struppigem Haar und großen braunen Augen. Er war groß, fit, witzig, freundlich und spielte Gitarre wie sonst niemand. In einem Wort – unwiderstehlich.

Außerdem war er Single, wo war also das Problem? Warum konnte sie ihm nicht einfach sagen, wie sie empfand? Oder ihn zum Abendessen einladen? Oder sich die Kleider herunterreißen und einnehmend lächeln? Jeff war kein Idiot. Er würde schon verstehen.

Nur drei Dinge hielten sie davon ab. Erstens war er älter als sie. Um genau zu sein, sechzehn Jahre. Ihr war das zwar gleichgültig, aber sie vermutete, dass es ihn stören würde. Zweitens: ihre dreißig Pfund Übergewicht. Momentan war sie eine Anhängerin der »Sobald-Philosophie« – einer entfernten Verwandten des »Wenn-dann-Konzepts«. Sobald sie abgenommen hatte, würde sie mutig sein und sich Jeff an den Hals werfen.

Insgeheim fragte sie sich, ob die Aussicht auf diesen katastrophalen Moment womöglich der Grund dafür war, dass sie es nicht eilig hatte, sich richtig an einen Diätplan zu halten, war sich aber nicht sicher.

Und Grund Nummer drei – der wahrscheinlich der wichtigste war und daher eigentlich an erster Stelle stehen sollte: Jeff war der Vater ihrer besten Freundin.

Jepp, Jeff war Kellys Dad, was die Lage noch zusätzlich verkomplizierte. Denn falls sie besagter bester Freundin jemals die Wahrheit gestand, würde das in einem Gespräch voller »Was zur Hölle« und »Willst du mich auf den Arm nehmen?« enden. Und das alles eher gebrüllt als gesprochen.

Oh, Moment mal. Es gab noch einen vierten Grund, aus dem Helen sich Jeff bisher nicht an den Hals geworfen hatte. Er hatte niemals, nicht ein einziges Mal, Anstalten gemacht, ihr näherzukommen. Noch mehr Grund, ihre unerwiderte Liebe/Lüsternheit in einer warmen Zimtschnecke zu begraben.

»Lass dir zeigen, was ich dir heute mitgebracht habe«, sagte er und wickelte die Blumen aus. »Havran-Tulpen.«

Helen trat näher, um die wunderschönen Blumen zu betrachten. Sie waren dunkellila und besaßen leicht zugespitzte Blütenblätter. Die Stiele waren blassgrün und glatt.

»Sie sind wunderschön. Danke.«

Sie wusste, dass sie nicht anbieten durfte, dafür zu bezahlen. Ein paar Mal hatte sie es versucht, doch Jeff hatte nur den Kopf geschüttelt. »Ich baue Tulpen an, Helen. Ich möchte das tun.«

Sie hatte versucht, etwas in seine Worte hineinzulesen, aber Wochen und Monate waren vergangen, ohne dass sich ihre Beziehung verändert hätte. Mit keinem Flüstern, keinem Blick und keiner Berührung deutete er jemals an, dass sie für ihn mehr als eine Freundin wäre. Sie hatte gelernt, die Blumen als nett gemeintes Geschenk anzunehmen. Der Mann war Tulpenfarmer und hatte sie schließlich nicht kaufen müssen.

Sie holte ein Tablett mit kleinen Vasen und eine Blumenschere. Gemeinsam füllten sie die Vasen und stellten auf jeden Tisch eine. Als sie wieder zur Theke zurückging, streckte er ihr ein kleines Päckchen entgegen, das die Größe und Form einer einzigen Blume aufwies.

»Für dich. Sag Kelly nichts davon.«

Seine dunkelbraunen Augen funkelten belustigt. Augen, in denen sie sich sehr gern verlieren würde. Vielleicht während er sich langsam auszog und die Arme nach ihr ausstreckte, während sie …

»Helen?«

»Was? Oh … danke. Obwohl ich dir wahrscheinlich nicht dafür danken sollte, dass du sie aus dem privaten Treibhaus deiner Tochter stiehlst.«

»Sie wird es nicht merken, wenn eine einzige Blume fehlt.«

»Du nimmst aber jede Woche eine. Irgendwann wird sie das mitbekommen.«

Er zwinkerte ihr zu. »Hat sie aber noch nicht.«

Nein. Denn Kelly hätte den Diebstahl erwähnt, wenn er ihr aufgefallen wäre.

Ja, es stimmte – Vater und Tochter arbeiteten zusammen auf ihrer Tulpenfarm. Dort pflanzten sie nicht nur Millionen von Blumen für Floristen und Lebensmittelläden an, sondern Kelly hatte auch ein kleines, privates Treibhaus, in dem sie ganz besondere Blumen zog. Blumen, von denen Jeff gelegentlich eine abzweigte und sie Helen schenkte.

Seine heutige Gabe war rot mit einer gelben Basis. Doch das Bemerkenswerteste waren die langen, schmalen Blütenblätter, die nadelspitz zuliefen. Sie waren zart und exotisch und unglaublich schön.

»Tulipa acuminata«, erklärte Jeff.

Helen hatte keine Ahnung, ob die Worte Latein waren oder nur wissenschaftlich klangen, aber die Art, wie er das sagte, ließ ihre weiblichen Körperteile einstimmig aufseufzen.

»Sie ist überwältigend«, sagte sie. »Ich werde sie in mein Büro stellen und meiner besten Freundin nichts davon erzählen, was mich zu einem schlechten Menschen macht, und das ist alles deine Schuld.«

»Ich tue, was ich kann.«

Er setzte sich an die Theke. Auf seinen üblichen Platz. Den, der für sie Jeffs Stuhl war. Wenn sie beim Bedienen einen Moment Zeit hatte, würde sie sich später darauf setzen. Traurig, aber wahr.

»Möchtest du eine Speisekarte?«, fragte sie.

Er zog die Augenbrauen hoch. »Ist das deine Vorstellung von Humor?«

Denn er kam in dieses Café, seit er erwachsen war, und kannte die Karte in- und auswendig.

»Ich versuche, etwas Abwechslung reinzubringen«, erklärte sie.

»Ich nehme ein Omelett.«

»Mit Speck, Avocado und Käse.« Das war eine Feststellung, keine Frage.

»Du weißt, was ich mag.«

Wenn das nur wahr wäre. Wenn sie nur Worte oder Strategien hätte, damit er mehr als eine Freundin in ihr sähe. Außer natürlich, er war nicht interessiert. Was wahrscheinlich zutraf, denn er war ein entscheidungsfreudiger Mann. Also sollte sie über ihn hinwegkommen und ihr Leben weiterführen. Nur dass sie nicht über Jeff hinwegkommen wollte. Sie wünschte sich eher, ihm noch näher zu kommen. Oder er ihr oder …

»Ich brauche mehr Kaffee«, brummte sie. Und eine Hormontherapie. Oder vielleicht nur mehr Billy Joel.

3

Leo Meierotto, Vorarbeiter und Mitte vierzig, steckte den Kopf zur Tür von Griffiths Büro herein. »Sie haben Besuch, Boss.« Leo, der normalerweise eine ernste Miene zur Schau trug, sah belustigt drein. »Kelly Murphy ist hier.«

Leo war aus Tulpen Crossing, und in einer Kleinstadt kannte jeder jeden.

»Danke.«

»Meinen Sie, sie will ein Mikrohaus kaufen?«

»Das bezweifle ich«, gab Griffith in Anbetracht des Umstands, dass sie in einem Haus lebte, das seit fünf Generationen in der Familie war, zurück.

Vielleicht wollte sie ihm ja eine einstweilige Verfügung überbringen. Oder musste die von einer Amtsperson überreicht werden? Er war sich nicht sicher. Griffiths Ziel war es stets gewesen, Handlungen zu vermeiden, die gegen das Gesetz verstießen.

Er sagte sich, dass er damit zurechtkommen würde, was auch immer ihn erwartete, und ging dann in den Ausstellungsraum der größeren Lagerhalle. Kelly stand vor dem Querschnitt eines Mikrohauses und studierte den Grundriss.

Ein paar Sekunden lang nahm er sich Zeit, um ihren Anblick zu genießen. Sie war ungefähr eins achtundsechzig groß, fit und hatte schmale Hüften und gerade Schultern. Als Farmerin, die von Farmern abstammte, kleidete sich Kelly entsprechend für ihren Job. Sie trug Jeans, Arbeitsstiefel und ein langärmliges T-Shirt. Obwohl es Anfang Juni war, fielen im Nordwesten der USA häufig Schauer. Heute war ein grauer Tag, und man rechnete mit höchstens achtzehn Grad. Nicht gerade Strandwetter.

Das wellige Haar, das ihr bis knapp über die Schultern reichte, hatte sie zu einem einfachen Pferdeschwanz gebunden. Sie trug weder Make-up, noch gab sich sie mit Maniküre ab. Sie war vollkommen ungekünstelt. Wahrscheinlich gehörte das zu den Dingen, die er an ihr mochte. Keine Tricks. Nur die ungeschönte Wahrheit. Kelly war nicht oberflächlich, und man bekam genau das, was man sah. Jedenfalls hoffte er das.

»Hey, Kelly.«

Sie drehte sich um, und er sah etwas in ihren Augen aufblitzen. Unbehagen? Nervosität? Entschlossenheit? War sie hier, um ihm zu sagen, er solle sie in Ruhe lassen? Übel nehmen könnte er ihr das nicht. Er war so begeistert von seinem Plan gewesen, hätte aber subtiler vorgehen sollen. Vermutlich würde sie ihm sagen, er solle sie in Frieden lassen.

Doch er war nicht bereit, kampflos aufzugeben, und entschied, dass er eine Ablenkung brauchte. Wie passend, dass die direkt neben ihm stand.

»Du warst noch nie in meinem Büro«, fuhr er fort. »Wieso eigentlich?«

»Keine Ahnung. Du bist seit einem Jahr wieder zurück. Wahrscheinlich hätte ich vorbeischauen sollen.« Sie wandte sich den Mikrohäusern zu. »Die baust du?«

»Ja. Hast du schon mal eins gesehen?«

»Nur im Fernsehen.«

Er grinste. »Ich liebe die Gratis-Werbung.« Schnell wies er auf das Modell, das am nächsten bei dem Querschnitt stand. »Alle Mikrohäuser sind kleiner als fünfundvierzig Quadratmeter. Sie erfüllen für unterschiedliche Menschen ganz verschiedene Bedürfnisse. Im subsaharischen Afrika bieten Mikrohäuser stabile und relativ preiswerte Unterkünfte, die an die Bedürfnisse der Gemeinschaft angepasst werden können.« Er wies auf das Dach. »Wir können zum Beispiel Solarpaneele installieren, sodass die Besitzer Zugang zu elektrischem Strom haben. In einem urbanen Umfeld können modifizierte Häuser eine Alternative zu teuren Wohnungen bieten oder als Unterkunft für Obdachlose dienen. Aber sie erfüllen auch andere Bedürfnisse. Du kannst ein einstöckiges Haus für einen Verwandten bauen lassen oder ein Gästehäuschen mit Loft. Du kannst es auf der Straße transportieren und sogar autark vom Versorgungsnetz leben, wenn du willst.«

Während er sprach, musterte sie ihn aufmerksam, als sauge sie jedes Wort auf. »Ich lebe gern mit Strom, Wasser und Kanalisation, aber das ist nur meine Meinung.«

»Da bin ich ganz bei dir. Es geht doch nichts über ein paar Annehmlichkeiten. Komm. Ich zeige dir, wie wir sie bauen.«

Er führte sie um die Trennwand herum in den hinteren Teil des Lagerhauses, wo der eigentliche Zusammenbau stattfand. Fast ein halbes Dutzend Männer arbeiteten geschäftig an den Häusern. Griffith sah, dass Ryan an einer Werkbank lehnte und redete, statt zu arbeiten. Nicht überraschend. Er ignorierte die Frustration, die in ihm aufstieg, und wandte seine Aufmerksamkeit erneut Kelly zu.

»Die Kunden können sich etwas aus unseren vorliegenden Plänen aussuchen oder ihren eigenen Grundriss aufstellen. Im letzteren Fall arbeite ich mit ihnen zusammen, damit die Statik stimmt. Ein Haus, das bleibt, wo es ist, muss andere Richtlinien erfüllen als eins, das gezogen wird.«

Sie nickte langsam. »Man müsste sichergehen, dass es auf dem Hänger gut ausbalanciert ist. Außerdem darf es nicht zu hoch sein. Brücken und Überführungen würden zum Problem. Vielleicht spielt auch das Gewicht eine Rolle.«

»Genau. Viele Leute glauben, dass sie sich ein Mikrohaus wünschen, aber wenn sie tatsächlich eins sehen, sind sie erstaunt über seine Größe.«

»Oder den Mangel daran?« Sie lächelte. »Ich kann mir nicht vorstellen, auf fünfundvierzig Quadratmetern zu leben.«

»Oder weniger. Man muss Kompromisse schließen und kreativ denken.«

»Und nicht allzu viel Zeugs besitzen.«

Sie gingen zurück in den Ausstellungsraum. Kelly sah sich ein fertiggestelltes Mikrohaus an, das darauf wartete, abgeholt zu werden.

»Ich kann nicht glauben, dass du einen Waschtrockner eingebaut hast«, rief sie von drinnen.

»Na ja, Kleidung wird nun mal schmutzig.«

»Aber trotzdem. Es ist ein Waschtrockner.« Sie trat wieder in den Ausstellungsraum. »Es ist nett, dass du das hier für deine Kunden aufgebaut hast. Sie bekommen die Häuser zu sehen, statt sie sich bloß vorzustellen.«

Nickend blickte er sich um. Zusammen mit der Querschnittaufnahme hingen Fotos von abgeschlossenen Projekten an der Wand, außerdem eine kleine Auswahl an Materialmustern für das Dach, die Verkleidung und die Flächen. Nur das Wichtigste.

»Was ist?«, fragte sie.

»Es ist schon in Ordnung«, gestand er. »Ich möchte es gern besser machen, aber ich habe keine Ahnung, wie ich der Sache den letzten Schliff geben soll.« Er konnte alles Mögliche auf achtundzwanzig Quadratmetern unterbringen, aber wenn es um Dinge wie Farbe oder Dekokissen ging, war er genauso orientierungslos wie jeder Durchschnittsmann in der Haushaltswarenabteilung.

»Ich wünschte, ich könnte dir helfen, kann ich aber nicht.« Sie warf ihm ein kurzes Lächeln zu. »Ich bin bei so was auch ein hoffnungsloser Fall. Wenn du allerdings die Pantone-Farbe des Jahres wissen willst, da kenne ich mich aus.«

»Die was?«

»Die Farbe des Jahres. Jedes Jahr wählt die Designwelt Farben aus, von denen man damit rechnet, dass sie beliebt sind. Du weißt schon, für Kleidung und Inneneinrichtung.«

»Warum solltest du darüber Bescheid wissen?«

»Ähm, Griffith, ich lebe davon, Tulpen anzubauen. Wenn ich nicht die richtigen Farben treffe, will sie niemand bei seiner Hochzeit oder auf seinem Kaffeetisch haben.«

»Richtig. Das hatte ich nicht bedacht.« Er runzelte die Stirn. »Musst du die Zwiebeln nicht bestellen, bevor du sie pflanzt? Was, wenn du dich bei den Farben irrst?«

»Dann bin ich erledigt, und wir verlieren die Farm. Deswegen achte ich auf so was wie die Pantone-Farben des Jahres. Gelbe Tulpen verkaufen sich immer, ganz gleich, was gerade beliebt ist. Aber ich vergraule Kunden, wenn ich nicht die richtigen Farben zur richtigen Zeit habe. Und ich möchte gern, dass sie zuerst zu mir kommen, wenn sie was brauchen.«

Er hatte gewusst, dass ihr Geschäft ihr wichtig war, aber er hatte sie nicht für konkurrenzorientiert gehalten. Das wurde ja immer besser.

»Konzentrierst du dich bei den Blumen auf den Feldern genauso auf die richtigen Farben wie bei denen, die du drinnen ziehst?«

Sie musterte ihn eine Sekunde lang, als überrasche seine Frage sie.

»Na ja, es gibt schon einen Unterschied«, räumte sie ein. »Bei dem alljährlichen Tulpenfestival konzentrieren wir uns mehr auf populäre Farben und verschiedene Arten von Tulpen. In den Treibhäusern ziehe ich die Tulpen für die beliebtesten Hochzeitstermine und die exotischeren Blumen. Es ist einfacher, den Prozess zu kontrollieren, wenn man sich nicht mit Mutter Natur auseinanderzusetzen braucht.«

»Ich habe gehört, dass sie ein ganz schönes Miststück sein kann.«

Kelly lachte. »Wenn du so was wie einen Hagelsturm im Frühling meinst, kann ich dir nicht widersprechen. Zehn Minuten Hagel können eine ganze Ernte ruinieren.«

Er zuckte zusammen. »Das ist übel.«

»Wem sagst du das?«

Einen Moment lang lächelten sie einander an. Er hatte das Gefühl, dass sie vergessen hatte, warum sie ihn aufgesucht hatte, und das gefiel ihm.

Er kannte Kelly seit der Highschool. Zwar war sie ein paar Jahre jünger als er, aber er war ihr regelmäßig begegnet. Sie war relativ ruhig gewesen. Hübsch, aber nicht auffällig zurechtgemacht. Als sie in der neunten Klasse war, hatten sie zusammen am Jahrbuch gearbeitet, und er hatte sie näher kennengelernt. Trotzdem, damals war er dieser Typ gewesen – und sie um einiges jünger. Er hatte nicht gewusst, ob er versuchen sollte, ihr näherzukommen. Dann war die Sache mit ihrer Mutter eskaliert, er hatte Kellys Gefühle verletzt, und ehe er sich schlüssig darüber war, was er sagen oder tun sollte, hatte er schon die Schule abgeschlossen und ging aufs College.

Um ehrlich zu sein, hatte er nicht allzu viel über sie nachgedacht, bis er wieder nach Tulpen Crossing gezogen war. Aber seit er wieder hier war, ging sie ihm ständig im Kopf herum. Kellys fünfjährige Beziehung war passenderweise vor sechs Monaten zu Ende gegangen. Er nahm an, dass sie genug Zeit gehabt hatte, um sich anders zu orientieren. Jetzt musste sie ihm nur noch seinen Plan abkaufen. Und wenn die Lady Nein sagte – gut, dann würde er sich eben zurückziehen.

»Komm«, sagte er und wies auf die Tür, die zu der Passage zwischen den Lagerhäusern führte. »Ich möchte dir was zeigen.«

Sofort setzte sie eine misstrauische Miene auf. »Deine Briefmarkensammlung?«, murmelte sie und errötete prompt. »Tut mir leid, ich wollte nicht …« Sie räusperte sich, sah auf den Boden, schaute dann wieder ihn an und holte tief Luft. »Was wolltest du mir zeigen?«, fragte sie dann munter.

»Nur das andere Lagerhaus.«

»Okay.«

Sie klang zweifelnd, folgte ihm aber dennoch durch die überdachte Passage in das andere Gebäude.

Es war kleiner und momentan verlassen. Überall lagen Materialstapel herum, Pläne waren an die Wände geheftet, und neben einem kleinen Gabelstapler standen leere Paletten.

»Für den Überhang, wenn ihr wirklich viel zu tun habt?«, fragte sie und ging zu einem Stapel noch verpackter Solarpaneele hinüber.

»Nein. Hier gehe ich meiner anderen Arbeit nach.« Er steckte die Hände in die Jeanstaschen. »Versteh mich nicht falsch. Ich entwerfe gern Häuser für andere. Die Leute sind so aufgeregt und begeistert. Es ist nur so, dass anderswo Menschen dringend ein Obdach brauchen. Das ist die Arbeit, die ich hier tue.«

Erstaunt riss sie die braunen Augen auf. »Was meinst du?«

»Ich arbeite mit mehreren Nonprofit-Organisationen zusammen. Sie sammeln Material und schicken es mir. Wenn ich genug habe, suche ich Freiwillige, und wir stellen einen Bausatz für ein Mikrohaus zusammen. Der wird dann hingeschickt, wo er am dringendsten gebraucht wird.« Er wies auf die Solarpaneele. »Die sind für das subsaharische Afrika bestimmt. Damit können die Bewohner sich selbst mit Strom versorgen. Ich arbeite mit einem Typ in Oklahoma zusammen, der mit verschiedenen Methoden zur Reinigung von Wasser experimentiert. Momentan sind die Einheiten noch zu groß und zu teuer, aber irgendwann können wir sie zusammen mit den Häusern liefern. Die sind zwar einfacher als die, die ich hier verkaufe, aber eine Unterkunft bieten sie trotzdem.«

Er trat zu den Entwürfen, die an der Wand hingen. »Eine der Organisationen lässt mich Mikrohäuser für Obdachlose bauen. Dieselbe Prämisse, aber unterschiedliche Materialien, je nachdem, für welchen Teil des Landes sie bestimmt sind. Ein paar Mal im Jahr schicken sie mir Praktikanten, um alles zu koordinieren. Wir bereiten uns darauf vor, nächsten Monat eines davon zu bauen. Dann starte ich einen Aufruf nach Freiwilligen.«

Ihr stand nicht wirklich der Mund offen, doch viel fehlte nicht. Gut. Griffith tat diese Arbeit nicht, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, doch er war sich nicht zu fein dazu, Kelly damit zu beeindrucken. Denn bei einer Frau wie ihr musste ein Mann bereit sein, jeden Vorteil auszunutzen, den die Götter ihm schenkten.

»Das gefällt mir«, erklärte sie ihm. »Zu helfen, meine ich. Das ist ein großartiges Projekt. Alles zusammen. Ich hatte ja keine Ahnung, dass du das tust.« Sie riss den Blick von den Materialien los und sah ihm ins Gesicht. »Es ist erstaunlich. Alle erzählen immer, sie wollen etwas bewegen, aber so wenige von uns haben die Gelegenheit, so direkt zu handeln. Aber das hier wird zu Wohnungen für Familien, die vorher keine hatten. Es könnte den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten – wortwörtlich.«

»Ja. Du verstehst es«, sagte er, bevor er sich zurückhalten konnte.

Sie lächelte. »Tut das nicht jeder?«

Nein. Jane hatte es nicht begriffen. Seine Exfrau hatte ihn begleitet, als er nach Afrika gegangen war, um mit seinem Mentor zu arbeiten, aber sie hatte überhaupt nichts davon gehalten. Das hatte sie täglich deutlich gemacht. Wahrscheinlich war er zum Teil selbst daran schuld. Er war derjenige, der eigentlich in eine internationale Architekturfirma eintreten und Museen und elegante Wolkenkratzer entwerfen sollte. Doch dann hatte er sich mit Herz und Seele den Mikrohäusern verschrieben. Jane hatte das nicht akzeptiert.

»Du wärst erstaunt, wie viele Menschen bloß einen Scheck ausstellen wollen«, erklärte er stattdessen. »Ich meine, nichts gegen die Scheckschreiber. Sie sorgen für die finanziellen Mittel.«

»Es braucht beide Seiten der Gleichung. Ohne deine Arbeit wäre der Scheck bedeutungslos.«

»Genau mein Gedanke.«

Sie stand in einigem Abstand zu ihm da. Ihre Haltung wirkte entspannt und offen. Anscheinend hatte sie wirklich vergessen, warum sie ihn aufgesucht hatte. Was wahrscheinlich hieß, dass es an der Zeit war, sie daran zu erinnern.

»Worüber wolltest du mit mir reden?«

Sie blinzelte verblüfft, und dann veränderte sich ihre ganze Haltung, als sie wieder an ihre Mission dachte. »Oh, richtig.« Sie räusperte sich. »Ich, ähm … Also, die Sache ist die …«

Er wartete geduldig. »Ja?«

»Du bist, hmm … oft in der Nähe. In meiner Nähe.«

Nähe klang besser als Stalking. Viel besser. Er schenkte ihr noch einmal sein charmantestes Lächeln und hoffte, dass es hilfreich sein würde.

»Du bildest dir nichts ein«, erklärte er leise. »Ich habe versucht, dich kennenzulernen, ohne zu offensichtlich zu sein. Wahrscheinlich wäre ich ein ganz mieser Spion, was?«

Sie entspannte sich. »Irgendwie schon.«

»Tut mir leid, wenn ich dir Unbehagen bereitet habe. Das war nicht meine Absicht.« Jetzt war er an der Reihe, nervös zu sein. Kelly trieb keine Spielchen, also würde er es auch nicht tun. Er würde die Dinge offen ansprechen.

»Als ich wieder hergezogen bin, bist du mir gleich aufgefallen. Aber du warst mit Sven zusammen, daher musste ich mir dich aus dem Kopf schlagen. Dann habt ihr beiden euch getrennt. Das ist sechs Monate her, also hoffe ich, du bist darüber hinweg.«

Ihre Augen weiteten sich. »Okay.« Sie schluckte.

»Also, es ist so. Ich möchte, dass wir einander kennenlernen. Ich glaube, wir könnten Spaß miteinander haben. Wenn ich recht habe, würde ich mir wünschen, dass wir einander näherkommen.« Er sah ihr in die Augen. »Ich bin ein anständiger Kerl und glaube an serielle Monogamie. Zwar bin ich nicht auf der Suche nach ewiger Liebe, Ehe oder einem märchenhaften Happy End. Aber ich wünsche mir eine Partnerin. Ich hoffe, du empfindest genauso und wir können uns einigen.«

Ihr klappte die Kinnlade herunter. Sekunden später schloss sie den Mund und trat einen Schritt zurück. »Freunde mit gewissen Vorzügen?«

»Etwas in der Art, ja. Zwei Menschen, die sich mögen und miteinander schlafen.«

»Du willst mit mir schlafen?«

Er grinste. »Kelly, so ziemlich jeder Kerl, der dich sieht, will mit dir ins Bett, aber um es ganz deutlich zu sagen: Ja. Das würde ich mir sehr wünschen.«

»Das verstehe ich nicht.« Sie hielt die Hand in die Höhe. »Nein, das nehme ich zurück. Ich habe verstanden, was du gesagt hast. Es ist nur … wow.«

Wow war besser als Geh zum Teufel oder Verdammt, nein, also würde er es nehmen. »Wahrscheinlich brauchst du etwas Zeit, um darüber nachzudenken.«

»Ja. Das wäre toll.« Sie wirkte ziemlich schockiert. »Du hast Eat, Pray, Love gelesen, um mich ins Bett zu kriegen?«

»Nein. Ich habe es gelesen, weil dein Buchclub es liest, und ich dachte, wir könnten uns darüber unterhalten. Ich will nicht nur mit dir schlafen, Kelly. Was ich gesagt habe, ist mein Ernst. Ich bin auf der Suche nach einer Beziehung.«

»Aber nicht nach Liebe oder Ehe.«

»Genau.«

»Du bist sehr direkt und ehrlich.«

»Ja. Wirst du darüber nachdenken, was ich gesagt habe?«

»Wahrscheinlich wird es mir schwerfallen, an etwas anderes zu denken.«

»Nein heißt Nein. Wenn du mir einen Korb gibst, behellige ich dich nie wieder.« Natürlich wollte er nicht, dass sie Nein sagte, aber nichts an seinem Vorschlag sollte ihr Furcht einflößen.

Sie nickte langsam und wie benommen.

»Soll ich dich zurück zu deinem Truck begleiten?«

Wieder nickte sie und setzte sich in Bewegung. Er ging neben ihr her. »Danke, dass du vorbeigekommen bist.«

»Hmm … hmm.«

Sie traten ins Freie. Verwirrt blickte Kelly sich um, als sei sie sich nicht sicher, wo sie sich befand. Er wies auf ihren Laster.

»Dort drüben.«

Aufgebracht starrte sie ihn an. »Du genießt das, nicht wahr?«

»Nur ein wenig. Würdest du das umgekehrt nicht genauso?«

»Vielleicht.« Ein argwöhnischer Ausdruck trat in ihre braunen Augen. »Dann ist das kein Scherz, oder?«

Die vorsichtig formulierte Frage schmerzte ihn stärker, als er erwartet hätte.

»Nein, Kelly.« Er trat näher an sie heran und nahm ihre Hand. »Ich scherze nicht. Was ich gesagt habe, war mir ernst. Dass ich dich kennenlernen möchte, dass wir beide Potenzial zusammen haben und dass Nein auch Nein bedeutet. Alles. Ich schwöre. Bitte glaube mir. Ich habe keinen Grund, dich verletzen zu wollen.«

»Okay. Danke.«

Sie stieg in ihren Truck und fuhr rückwärts vom Parkplatz. Erst als sie auf die Landstraße eingebogen war, fiel ihm wieder ein, was in der Highschool passiert war. Wie er sie vor all seinen Freunden dumm angemacht hatte. Er hatte es aus den bestmöglichen Beweggründen getan, aber schlussendlich hatte er sie gedemütigt, und es war alles seine Schuld.

Ach, zur Hölle. Kein Wunder, dass sie ihm jetzt nicht vertrauen mochte.

Es kam nur selten vor, dass Kelly nachts nicht gut schlief, doch das Gespräch mit Griffith ging ihr einfach nicht aus dem Kopf und hielt sie wach. Der Mann hatte deutlich gemacht, dass er mit ihr schlafen wollte. Und was auf eine Art noch beunruhigender war: Er wollte, dass sie seine Freundin wurde.

Wer redete denn so? Noch nie hatte sich ein Mann vor sie hingestellt und so unverblümt seine Absichten erklärt. Nicht, dass sie viele Erfahrungen mit Männern hätte. Schließlich zog sie sie nicht gerade an wie ein Magnet. Am College hatte sie den obligatorischen Freund gehabt, ihre Unschuld verloren und Mrs. Elijah Mellon in ihre Notizen gekritzelt, dann aber in ihrem letzten Studienjahr erkannt, dass sie sich stärker danach sehnte, auf die Farm zurückzukehren, als zu heiraten.

Ein paar Jahre nach ihrem Abschluss hatten Sven und sie begonnen, sich zu treffen. Ihre Beziehung war langsam gestartet. Sie waren fast ein Jahr befreundet gewesen, bevor sie »weiter gegangen« waren. Nachdem sie zusammengekommen waren, hatten sie es sich in ihrer wenn auch nicht besonders aufregenden Beziehung bequem gemacht. Sie hatte nie nach mehr gedrängt – ebenso wenig wie er. Trotzdem war sie erstaunt gewesen, als er vor einem halben Jahr Schluss gemacht hatte. Nicht untröstlich, aber verblüfft. Schade, denn theoretisch passten Sven und sie gut zusammen. Sie zog Tulpen, und er baute Pflanzen für Gartencenter an der ganzen Westküste an.

Das war also ihre romantische Vergangenheit – Elijah und Sven. Wollte sie, dass Griffith ihr dritter Freund wurde? Und was sagte es über sie aus, dass Griffith sie nur als Freundin wollte, ohne eine Option auf mehr? Ihr sollte es recht sein, aber woher wusste er das?

Sie machte ihr Bett und ging dann in das Bad, das sie sich mit ihrer Schwester geteilt hatte, als sie jünger waren, und das zwischen ihren Zimmern lag. Nachdem sie ihr welliges Haar gebürstet hatte, bis es sich formen ließ, frisierte sie es zu ihrem üblichen Pferdeschwanz und betrachtete sich dann im Spiegel.

Warum gerade sie? Sie war weder hübsch noch elegant. Wenn sie ihre Schwester Olivia gewesen wäre, hätte sie Griffiths Interesse verstanden. Aber wenn sie Olivia wäre, würde Griffith Schlange stehen müssen, denn es gab viele Männer, die sich für ihre jüngere Schwester interessierten.

Doch von dieser Art Aufmerksamkeit hielt Kelly nichts. Sie wollte die Leidenschaft und das Drama, die damit einhergingen, nicht. Was unkontrollierte Leidenschaft anrichten konnte, hatte sie daran gesehen, wie ihre Mutter ihre Familie zerstört hatte. Kelly wünschte sich etwas anders. Nicht ruhig und nicht vernünftig, nur … sicher. Sie wollte sich sicher fühlen. Ihrer Meinung nach war das viel wichtiger als eine flüchtige, hormongesteuerte Ausrede dafür, andere zu vernichten und im Stich zu lassen.

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