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Die verborgene Schwester

hier erhältlich:

Wie weit gehst du, um deine heile Welt zu verteidigen?

Marie ist ein Babyklappen-Kind. Eine Wolldecke, ein kurzer Brief ihrer Mutter - aber keine Erklärung, mit der sie etwas anfangen könnte. Bis sich die wenigen Hinweise ihrer Herkunft eines Tages zu einer Spur verdichten. Marie setzt alles aufs Spiel, stiehlt heimlich das Material für einen Gentest. Und was sie erfährt, erschüttert sie mächtig: Ihre leiblichen Eltern leben glücklich und zufrieden - mit einer anderen Tochter. Marie lernt ihre Familie kennen, will ehrlich sein und einen Neuanfang wagen. Doch sie ahnt nicht, dass sie mit der trauten Einheit dieser Menschen etwas zu zerstören droht, das sich erbittert zu wehren weiß …

Ein packender Familienroman um Täuschung, Schuld und die verzweifelte Sehnsucht nach geordneten Verhältnissen.


  • Erscheinungstag: 15.03.2016
  • Seitenanzahl: 250
  • ISBN/Artikelnummer: 9783733785666
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Die U-Bahn fuhr in den Tunnel ein, und Marie erschrak vor ihrem Spiegelbild. Die Haare streng zu einem Pferdeschwanz gebunden, dazu ein dunkles Kostüm. Sie war nicht sie selbst. Und niemand bemerkte es. Der Bereichsleiter der Krankenkasse nicht, der ihr den Teilzeitjob als Empfangsdame gegeben hatte. Auch nicht die Lehrerin Ulrike, über die sie mit klopfendem Herzen den Kontakt zur restlichen Familie Roth herstellen konnte. Erst, als die automatische Ansage Maries Zielstation ankündigte, und der Zug kurz danach in den Bahnhof rollte, verschwand ihr Spiegelbild. Und mit ihm der Gedanke, dass ihr Plan womöglich nur ein großes Hirngespinst war.

Sie hängte sich die Tennistasche, die sie zwischen ihre Beine gestellt hatte, über die Schulter. Der Zug hielt. Marie stieg aus, fuhr fünf Stationen mit dem Bus und erreichte die Tennisanlage, wo Alessia Roth, Ulrikes sechzehnjährige Tochter, jeden Mittwochnachmittag in einer Gruppe trainierte.

Der Tennislehrer war nicht mehr der Jüngste, aber er kam jugendlich und dynamisch auf sie zu. „Ich bin Henry und du sicherlich Marie Kleinschmidt? Wir haben telefoniert. Herzlich willkommen in unserer Truppe.“

Er zeigte auf zwei Mädchen im Alter von circa fünfzehn oder sechzehn Jahren und einem etwa gleichaltrigen Jungen. „Das sind Kathrin, Alessia und Ben“, stellte er sie vor und klang dabei so stolz, als seien die drei seine eigenen Kinder.

Marie nickte freundlich und stellte verwundert fest, dass Alessia äußerlich das Gegenteil der blonden kurzhaarigen Ulrike war. Das Mädchen hatte schulterlange, fast schwarze Haare und ausdrucksstarke braune Augen. Auch die Nasen von Mutter und Tochter hätten kaum unterschiedlicher sein können.

Mit aller Kraft lächelte Marie gegen die skeptischen Gesichter der Jugendlichen an. Sie hätte in dem Alter auch wenig Lust gehabt, mit einer 32-jährigen in einer Gruppe zu spielen.

„Danke noch mal, dass ich so kurzfristig mit euch trainieren darf. Es war wirklich unmöglich, einen Kurs für Fortgeschrittene in meinem Alter zu finden. Ich hoffe nur, ich kann mit euch mithalten“, sagte sie.

„Um noch Profis zu werden, sind wir hier alle zu alt. Was nicht heißen soll, dass wir uns nicht mächtig anstrengen“, erwiderte Henry und lachte.

Ben streckte den Schläger mit beiden Armen über den Kopf. „Na denn“, sagte er. Für den smarten Jungen schien die Vorstellung damit beendet. Ohne den Schläger herunterzunehmen, drehte er sich um und lief zur Grundlinie. Marie und die Mädchen folgten ihm.

Marie beobachtete die Gesichter und überlegte, was jetzt bei ihnen besser ankam: Eine gut trainierte Frau, die sie an die Wand spielen konnte, oder die zurückhaltende Ältere, die selbstredend nicht so schnell nach dem Ball rennen konnte wie die drei.

Nimm den goldenen Mittelweg. So trocken dieser Spruch sich auch anhörte, Marie hatte ihn als Andenken an ihre Mutter fest in ihrem Sprachgebrauch verankert. Also gut. Sie war schnell am Ball, schlug kraftvoll und präzise und setzte hin und wieder absichtlich ein paar Bälle grottenschlecht ins Netz oder ins Aus. Nach einer halben Stunde wusste sie, dass sie sowohl Kathrin als auch Alessia, die bessere der beiden Mädchen, in Grund und Boden spielen könnte, wenn sie wollte. Ein Hoch auf die kostenlose Ausbildung zur Tennistrainerin im Aldiana-Club auf Djerba. Bei Ben war es schwieriger. Seine Schläge waren extrem hart und schnell, um den Ball wirklich gut platziert zurückspielen zu können. Ihn würde sie in einem Match nur besiegen, wenn sie ihn ans Netz locken könnte, wo er schlecht war.

Nach Henrys zufriedener Miene zu urteilen, lief der Unterricht heute gut. Wahrscheinlich nahmen die drei Jugendlichen ihre Anwesenheit als Ansporn, sich besonders anzustrengen. Zum Abschluss des zweistündigen Trainings zog sich Henry auf den Schiedsrichterstuhl zurück. „Na, dann spielen wir mal die letzten fünfzehn Minuten ein Doppel. Marie und Alessia gegen Kathrin und Ben. Und: Ich will Einsatz sehen, Leute.“

Marie freute sich, dass ihr Alessia nicht als Gegnerin zugeteilt worden war und konzentrierte sich darauf, die Fehler ihrer Partnerin auszubügeln, um das Match mit ihr zu gewinnen. Aus dem anfänglich formalen „Danke“ des Mädchens wurde ein breites Lächeln, und in den letzten fünf Minuten kurz vor ihrem Sieg klatschten sie jeden gewonnenen Punkt mit den Händen ab, als würden sie seit Jahren im gleichen Team spielen. Besser konnte es für Maries Plan nicht laufen.

Verschwitzt und gut gelaunt verabschiedeten sich die Schüler vom Trainer, und Marie und die Mädchen betraten nacheinander den Umkleideraum. Marie erwartete, dass Kathrin und Alessia sie nun links liegen ließen. Das taten sie auch, aber ihre verstohlenen Seitenblicke konnten sie dennoch nicht verbergen. Marie war als erste ausgezogen und ging in Badelatschen, mit Handtuch, Shampoo und Duschgel in den Waschraum. Hinter sich hörte sie die Mädchen tuscheln und kichern, bevor sie kurz danach ebenfalls den Duschraum betraten. Marie schloss die Augen und ließ das Wasser über ihren Kopf laufen.

„Es wird bald dunkel. Holt euch jemand ab?“, fragte sie zurück im Umkleideraum.

„Ja, unsere Mütter wechseln sich ab“, antwortete Alessia und führte leider nicht weiter aus, welche der Mütter heute an der Reihe war. Trotzdem schlug Maries Herz plötzlich schneller. Wie schön wäre es, gleich heute Alessias Mutter in einer anderen Umgebung als der Schule wiederzusehen.

Normalerweise brauchte Marie kaum mehr als fünf Minuten: Anziehen, Haare kopfüber mit dem Handtuch trocken rubbeln, mit einer Spange hochstecken. So, wie die Mädchen es taten. Und obwohl sie sich die Haare heute föhnte, um Zeit zu gewinnen, war sie noch vor ihnen fertig. Möglichst auffällig kramte sie in ihrer Tasche, als suche sie etwas, bis die Mädchen ebenfalls zum Gehen bereit waren.

„Ah hier.“ Triumphierend hielt sie ihr Handy in die Höhe und lächelte die beiden an.

„Das kenn ich“, antwortete Kathrin und grinste.

„Tschüss. Bis zum nächsten Mal“, grüßte Marie.

„Ciao. Hat Spaß gemacht“, antwortete Alessia und Maries Puls beschleunigte sich abermals vor Freude.

Sie folgte den beiden sofort, hielt aber einigen Abstand. Als die Mädchen aus dem Gebäude traten, drehte sich Kathrin unerwartet um.

„Können wir dich irgendwohin mitnehmen?“

„Danke. Nett von euch, aber die Bushaltestelle ist ja gleich vor der Tür“, sagte Marie und hätte sich im gleichen Moment ohrfeigen können. Wie dämlich war das denn? Sie hätte die Chance gehabt, Mutter und Tochter gleich heute wissen zu lassen, dass sie Marie beide scheinbar zufällig kannten. Und sie lehnte ab.

Hatte sie etwa Angst vor ihrem eigenen Plan?

Ihr Ärger verflog, als sie erkannte, dass es nicht Ulrike war, die auf die Mädchen wartete. Kathrins Mutter war eine kleine mollige Frau, die aussah, als würde sie jedes Kind der gesamten Nachbarschaft von überall her abholen oder irgendwo hinbringen und das ausgesprochen gerne. Als sich ihre Blicke trafen, lächelte Marie und lief in Richtung Bushaltestelle.

Vor dem Hauseigang kramte Marie ihren Schlüssel aus der Sporttasche. Der Schläger war zu lang für die Tasche. Marie stopfte ihn diagonal hinein und schloss mühsam den Reißverschluss. Schließlich konnte sie ihren Mitbewohnern schwer erklären, warum sie es sich leisten konnte, Tennis zu spielen, nachdem sie ihnen erfolgreich die Miete des WG-Zimmers heruntergejammert hatte.

Zum Glück gab es von ihren Mitbewohnern, ein Informatikstudent und eine Studentin der Filmakademie, keine Spur. Marie ging in die Küche und schmierte sich zwei Leberwurstbrote. Sie liebte Leberwurst und musste augenblicklich an ihre Arbeit im Club auf Djerba in Tunesien denken. Einige Stammgäste wussten, dass sie dort nur schwer zu bekommen war. Deshalb brachten sie für die Animateure ein Glas Leberwurst und auch das ebenso seltene Schwarzbrot mit. Wehe, man hatte frei an diesem Tag. Dann bekam man nur noch die begeisterten Erzählungen der Kollegen ab, die diese Köstlichkeiten längst verspeist hatten.

Sie betrat Denises Zimmer, räumte die Tasche aus und setzte sich auf die ocker-braun gestreifte Bettwäsche. Darin zu schlafen war eine Strafe. Sie saß still und musterte das Zimmer der Frau, die sie nicht kannte, aber der sie hatte versprechen müssen, bis zu ihrer Rückkehr aus Australien nichts zu verändern und alles zu pflegen, als seien es ihre eigenen Dinge.

Ein Gefühl von Verlorenheit machte sich im Raum breit und Marie schaltete den Flachbild-Fernseher ein. Schierer Luxus für sie, die seit Jahren nur mit einem großen Koffer von Club zu Club reiste, in denen es in der Regel nur in den Gemeinschaftsräumen Fernseher gab. Sie zappte durch die Kanäle und blieb bei der Wiederholung eines Tatorts hängen. Mit Genuss aß sie ihre Brote und trank ein Bier dazu. Kurz vor der Auflösung des Mordes schlief sie ein und träumte von bunt verpackten Geschenken, einer Torte mit sieben Kerzen und dem lachenden Gesicht ihrer Mutter.

Am nächsten Tag traf sie Ulrike Roth wie verabredet im Lehrerzimmer der Schule in Frohnau, einem Berliner Randbezirk. Seit kurzem gaben sie zweimal in der Woche gemeinsam und ehrenamtlich Deutschkurse für Flüchtlingskinder. Marie verfügte über ein entsprechendes Zertifikat des Goetheinstituts.

„Ich bin total groggy, aber ich freue mich auf den Kurs. Der Unterschied ist unglaublich, oder?“, sagte die Lehrerin. Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Während sie den Inhalt ihrer Umhängetasche neu sortierte und dabei kurz hochsah, leuchteten ihre Augen. Neben ihren Unterrichtsfächern Deutsch und Geschichte führte sie, wie Marie bereits herausgefunden hatte, ehrenamtlich einen Mutter-Kind-Kreis der evangelischen Kirchengemeinde und organisierte Lesepatenschaften in Schulen der sozial schwächeren Bezirke.

Heute glänzte Ulrikes schlanke Nase ein wenig, und die Falten um ihre Augen herum traten deutlicher hervor als bei ihrem ersten Treffen. Trotzdem war sie eine schöne Frau in den besten Jahren, Ehefrau und Mutter, mit Einfamilienhaus, Garten und Hund. Damit gehörte Ulrike zu einer Spezies, mit der Marie sonst eher selten zu tun hatte. Jedenfalls nicht außerhalb der Ferien, und in denen waren selbst Lehrer relativ entspannt.

In Ulrikes direkter Nähe spürte Marie das gleiche schlechte Gewissen in sich aufsteigen wie schon in den Wochen zuvor. Eine ganze Familie heimlich zu beobachten, ihre Arbeitgeber und ihren Wohnort herauszufinden, damit tat sie niemandem weh. Aber trotzdem fühlte es sich schlecht an. Wie ein Treuebruch in einer Beziehung, die es noch gar nicht gab.

„Sehen Sie sich die Kinder an. Sie benehmen sich vorbildlich, sind stolz darauf, hier etwas lernen zu dürfen, geradezu begierig darauf“, fuhr Ulrike fort.

Marie dachte an Berichte anderer Deutschlehrer aus den Kursen mit älteren Kindern und Jugendlichen der Flüchtlingsfamilien, die auch anderes zu berichten wussten, aber sie nickte.

„Bildung ist eben das Einzige, das hilft.“ Und hier musste Marie ihr nun uneingeschränkt Recht geben. Wäre sie damals an der Schule geblieben, stünden ihr heute mehr Möglichkeiten offen, als nur die einer Animateurin, Tennislehrerin, Kellnerin oder jetzt Empfangsdame. Dabei machte ihr all das mehr Spaß als den meisten ihrer Kollegen und Kolleginnen. Und doch gab noch so viel Anderes. Sie könnte ein Buch schreiben, an einer Expedition ins ewige Eis teilnehmen oder als Umweltaktivistin in einem Schlauchboot den Walfang bekämpfen. Aber diese Möglichkeiten wahrzunehmen, ohne sich in der Zeit selbst finanzieren zu müssen, das war ohne Ausbildung oder Studium fast unmöglich.

„Woran denken Sie?“, fragte Ulrike.

Marie schüttelte den Kopf und lächelte. „An etwas ganz anderes.“

Ulrike war fertig mit Packen, und sie machten sich auf den Weg zum Klassenraum fünfzehn, aus dem eine Lautstärke drang, mit der es jede deutsche Schulklasse aufnehmen konnte. Aber als Marie die Klinke herunterdrückte, wurde es still, noch bevor sie die Tür vollständig geöffnet hatte. Sie erinnerte sich an ihre eigene Schulzeit, und mit welcher Methode sich mancher Lehrer Ruhe verschaffen musste. Die einen schrien, andere klopften mit einem Buch auf den Lehrertisch, oder sie klatschen in die Hände. Es hatte auch Lehrer gegeben, die einfach nur schweigend dastanden und warteten. Ulrike hatte Recht. Es machte sehr viel mehr Spaß, Kindern etwas beizubringen, die das auch wollten.

Sie ergänzten sich gut. Da nicht ausreichend Lehrkräfte zur Verfügung standen, die arabisch sprechen konnten, mussten sie ohne Übersetzung auskommen. Ihre Erfahrungen als Animateurin machten es Marie leicht, sich mit Gesten und Grimassen zu verständigen.

„Sie machen das hervorragend“, lobte Ulrike sie nach Ende des Kurses.

„Na wenigstens lachen die Kinder bei uns am meisten.“ Marie zuckte mit den Schultern. „Glaube ich wenigstens.“

Gemeinsam räumten sie den Raum auf, und Marie hatte das Gefühl, Ulrike beobachtete sie dabei. Anschließend liefen sie schweigend zum Ausgang.

Marie nahm allen Mut zusammen. „Darf ich Sie etwas fragen?“

„Aber natürlich.“

„Heißt Ihr Mann Holger und fährt ab und zu Rallye?“ Ulrike blieb auf dem Parkplatz stehen und sah sie überrascht an. „Ja. Kennen Sie ihn? Woher?“

Marie schüttelte den Kopf. „Nein ich kenne ihn nicht. Aber ich bin selbst schon einmal eine Rallye gefahren und bin in einigen Foren und in einer entsprechenden Facebook-Gruppe. Mir fiel nur der Name auf, und da dachte ich, ich frage mal.“

Ulrike lachte. „Na, das werde ich ihm gleich heute erzählen. Sind Sie dort unter Ihrem Klarnamen? Ich dachte, in diesen Foren haben die Leute alle total abgefahrene Pseudonyme. So etwas wie Feuersturm oder Stahlblitz.“ Wieder lachte sie. „Ich habe ihn schon öfter damit aufgezogen. Wie langweilig, sich einfach nur Holger zu nennen. Allerdings wusste ich nicht, dass sein Nachname dort auch erscheint. Wissen Sie, ich predige meinen Schülern immer, sie sollen bloß vorsichtig sein. Das Internet vergisst nie. Man weiß nicht, wer sich da so alles tummelt, und dann kommt das böse Erwachen.“ Ihre Stirnfalten vertieften sich.

Marie lächelte. „Keine Sorge. Er heißt nur Holger. Aber er hat einen Artikel über sich in einer Rallyefachzeitschrift verlinkt. Da stand H. Roth.“

„Sehen Sie. Ich sage es ja.“

Ulrike blieb neben einem silbernen Golf GTI stehen, doch Marie bezweifelte, dass Ulrike schon jemals das Gaspedal bis zum Anschlag durchgetreten hat.

„Kann ich Sie mitnehmen? Müssen Sie zur U- oder S-Bahn?“, fragte Ulrike.

Marie schüttelte den Kopf und zeigte auf die Haltestelle, die sich unmittelbar vor dem Schulgebäude befand.

„Der Bus kommt in drei Minuten.“

Das war gelogen. Aber sie konnte jetzt nicht bei ihr mitfahren. Zuerst musste sich ihr Herzschlag wieder normalisieren, nachdem sie diesen Vorstoß in Richtung des letzten Familienmitglieds Holger Roth gewagt hatte.

„Mein Mann ist im Moment beruflich viel unterwegs, aber vielleicht kommen Sie mal auf einen Kaffee zu uns? So von Rallyefahrerin zu Rallyefahrer.“ Ulrike hob noch einmal grüßend die Hand, stieg ein und fuhr davon.

Marie setzte sich auf die Bank im Wartehäuschen. Der Klang von Ulrikes Stimme hallte in ihrem Kopf nach. Vielleicht kommen Sie mal auf einen Kaffee zu uns.

Ja vielleicht. Das wäre schön.

Die Krankenkasse hatte ihr nur einen Teilzeitjob von drei Tagen in der Woche anbieten können. Heute hatte sie frei, war allein und nutzte den Tag, um sich in der WG nützlich zu machen. Beim Putzen konnte sie am besten nachdenken. Und der erste Gedanke, der ihr kam, war eine ärgerliche Erinnerung an den Vorabend. Serina, ihre Mitbewohnerin, hatte beim gemeinsamen Pasta-Essen nur lauthals gelacht über Maries Idee, ihr eigenes Leben in einem Drehbuch umzusetzen.

„Du, da sind schon ein paar Szenen, die ungewöhnlich sind, aber wo bleibt die Geschichte? Verstehst du? Es müsste eine Geschichte geben. Mit unerwarteten Wendepunkten, Konflikten, die sich zuspitzen, auflösen und neuen Konflikten Platz machen. Und dann muss es auch irgendeinen Showdown und danach eine befriedigende Auflösung geben. Dein Leben läuft einfach zu linear.“

Noch immer war Marie wütend und bedauerte, dass Carsten nicht anwesend gewesen war. Der hätte wenigstens etwas mehr Interesse gezeigt. Schließlich hatte es durchaus Wendepunkte in ihrem Leben gegeben, und der nächste stand sogar unmittelbar bevor. Dramen und Konflikte? Ihr Leben war reich gesegnet damit. Zumindest ihr Liebesleben, das jetzt allerdings völlig konfliktlos war, da sie keines mehr hatte.

Auf den Knien rutschend wienerte Marie den Fliesenboden. Sie würde heute Abend keine Pasta kochen. Und sie würde sich niemals einen Film von Serina ansehen. Sie war jetzt zweiunddreißig Jahre alt, gesund, sportlich und trotz fehlender Ausbildung ganz sicher nicht dumm. Mit ihr konnte ein Mann Pferde stehlen gehen, und trotzdem bekam sie auch einen ansehnlichen Striptease hin. Jedenfalls bei Kerzenschein. Gut, sie war ein wenig verkorkst. Aß Käse mit Marmelade und freute sich über Brausepulver in ihrem Bauchnabel mehr als über Champagner und Kaviar. Drückte lieber mit Turnschuhen auf das Gaspedal schneller Autos und hielt dann an einem Imbissstand, anstatt mit Stöckelschuhen in ein Sterne-Restaurant zu stolzieren. Zwei vielversprechende Beziehungen hatte sie das schon gekostet. Eine davon mit einem plastischen Chirurgen. Wenigstens waren sie in Freundschaft auseinandergegangen und er hatte ihr sogar eine Mini-Schönheits-OP spendiert, als Abschiedsgeschenk sozusagen. Aber ansonsten kreuzten sich ihre Wege eher mit denen unsteter Typen, und die hatten wie sie selbst alle das gleiche Problem: Es zog sie urplötzlich fort. Noch eben die große Liebe, waren mit einem Mal andere Dinge so unendlich wichtiger. Wahrscheinlich hatten sich ihre Verflossenen das Leben ebenso anders vorgestellt wie sie selbst. Sie war davon ausgegangen, vermutlich irgendwann zu heiraten, Kinder zu kriegen und sesshaft zu werden. Wenn sie das noch vorhatte, wurde es langsam Zeit.

Der Fußboden war sauber. Wahrscheinlich so sauber wie nie zuvor in dieser Wohngemeinschaft. Während sie Putzeimer und Wischlappen beiseite räumte, summte Marie eine Melodie.

Über eine Woche verging, und leider schien Ulrike vergessen zu haben, ihrem Mann Holger ein gemeinsames Kaffeetrinken im Hause Roth vorzuschlagen. Bis jetzt wussten Alessia und Ulrike noch nicht einmal, dass sie beide mit Marie die gleiche neue Bekanntschaft gemacht hatten.

Zeit für einen nächsten Schritt.

„Heute ist irgendwo Pendelverkehr“, log Marie nach dem Tennistraining. „Vielleicht könnt ihr mich ausnahmsweise an der S-Bahn-Station absetzen?“

„Klar, kein Problem“, antwortete Alessia und stopfte ihre Kleidung in ihren Rucksack und die vom Belag rot gefärbten Schuhe hinterher. Marie war sich sicher, dass es Ulrike war, die die Sachen regelmäßig auspackte. Da hätte sie mal auf Frau Burmann treffen müssen, deren Ordnung schlimmer gewesen war als bei der Bundeswehr. Klar, kein Problem. Wahrscheinlich gab es für Alessia überhaupt keine Probleme. Sie schien keine Verpflichtungen zu haben, die Probleme verursachen könnten.

Alessia blickte auf, und Marie bildete sich ein, in ihren Augen so etwas wie Freude darüber zu sehen, dass Marie mit ihnen fahren wollte. Ganz sicher war Alessia verwöhnt, aber vielleicht auch ein wenig einsam.

Gemeinsam verließen sie das Gebäude. Ulrikes silberner Golf stand am Straßenrand, und Marie blieb ein paar Schritte hinter den Mädchen zurück, bemüht, zuerst den Kloß in ihrem Hals herunterzuschlucken. Alessia öffnete die Beifahrertür und beugte sich in das Wageninnere. Kurz danach tauchte auch schon Ulrikes überraschtes Gesicht in Höhe des Fahrzeugdaches auf. Freudig überrascht.

Was hatte Marie erwartet? Sie waren sich in den Deutschkursen sympathisch. Warum also nicht außerhalb der gemeinsamen Arbeit?

„Frau Kleinschmidt. Welch ein Zufall. Kommen Sie.“ Ulrike kam auf sie zu und streckte Marie die Hand entgegen. Der Händedruck fühlte sich kraftlos an.

„Ihr kennt euch?“ Alessias Gesicht war ein einziges Fragezeichen.

„Von der Schule. Wir geben zusammen Unterricht“, antwortete Ulrike, ohne den Blick von Marie abzuwenden. Alessias Mutter trug eine Jeans, Turnschuhe und einen grauen weiten Wollpulli. Ihre sonst eher energischen Züge wirkten sanft. Die kurzen, modisch geschnittenen Haare waren zerzaust. Warum sah Ulrike nicht immer so aus? Als sie ins Auto einstieg, Alessia und Kathrin hatten sich bereits auf die Rückbank gesetzt, erkannte sie den Grund für Ulrikes sportliches Aussehen. Ein schwarzer Cockerspaniel saß im Fußraum des Beifahrersitzes und sah sie aus kugelrunden Augen an. In seinem Fell steckten Grashalme. Offensichtlich hatten Frauchen und Hund gerade einen Spaziergang hinter sich.

„Die Welt ist wirklich klein. Vielen Dank fürs Mitnehmen“, sagte Marie und platzierte vorsichtig ihre Beine im Fußraum, um dem Hund nicht auf die Pfoten zu treten.

„Das ist Idefix“, stellte Ulrike mit Fingerzeig den Cocker vor.

„Ist ja witzig“, sagte Alessia an Marie gewandt. „Ich habe meiner Mutter von dir erzählt; dass du die Neue beim Training bist.“

„Und ich habe dir von meiner Hilfslehrerin in den Deutschkursen erzählt, mein Schatz“, antwortete Ulrike. Sie lachten alle vier, und Marie streichelte den Hund, der sich vertrauensvoll an ihre Beine lehnte. Der Wagen setzte sich in Bewegung.

„Das Beste kommt noch. Frau Kleinschmidt kennt auch Papa. Also nicht direkt. Aber aus dem Rallye-Forum.“

„Echt jetzt? Du bist Rallye gefahren?“ Kathrin beugte sich zwischen den Sitzen weiter nach vorne.

„Schnall dich bitte an, Kathrin“, forderte Ulrike mit Blick in den Rückspiegel.

„Nur ein einziges Mal. In Spanien. Das Hobby ist zu teuer für mich.“

„So durch die Wüste und alles?“, fragte Alessia.

„Schatz, in Südspanien gibt es keine Wüste.“ Ulrike schüttelte den Kopf. „Manchmal habe ich wirklich Zweifel, ob du im Unterricht jemals aufpasst.“ Sie stöhnte vernehmlich auf.

„Egal. Cool ist es trotzdem. Hast du gewonnen?“, fragte Kathrin.

Marie drehte sich zu den Mädchen um. „Was glaubst du denn?“, antwortete sie, blieb einen Moment ernst, bis sie sich das Lachen nicht mehr verkneifen konnte. „Ich habe darin gewonnen, die meisten Rückleuchten der übrigen Teilnehmer zu sehen.“

Die Mädchen grinsten.

„Man muss nicht immer gewinnen. Dabei sein ist alles“, warf Ulrike ein. Sie meinte es wahrscheinlich so ernst, wie ihre Stimme klang.

„Alles klar, Mama.“ Alessia zog die Augenbrauen hoch und warf Marie einen verschwörerischen Blick zu.

Sie hatten die S-Bahnstation erreicht. Selten war Marie so ungern aus einem Auto ausgestiegen.

„Vielen Dank und grüßen Sie Ihren Mann von mir“, bat sie und hoffte, mit diesem letzten Satz ein Samenkorn in Ulrikes Gedächtnis zu pflanzen.

2. KAPITEL

Eine weitere Woche hielt es Marie aus, dann half sie dem Schicksal etwas nach. „Meinst du, du könntest mir morgen Nachmittag dein Auto leihen? Nur für ein paar Stunden. Wäre wirklich wichtig“, fragte sie Carsten beim Abendessen in der WG-Küche.

„Hmm.“ Carsten kaute genüsslich zu Ende. „Eigentlich bin ich schon verabredet. Aber gar keine schlechte Idee. Mein Kumpel soll fahren. Dann kann ich auch mal ein Bier mehr trinken.“

„Super. Du hast was gut bei mir.“

„Was denn? Eine Tennisstunde?“ Er lachte, und Marie wurde es heiß im Gesicht. Betreten sah sie auf ihren Teller.

„Hab deinen Schläger gesehen. Du musst kein Geheimnis daraus machen. Wofür man sein Geld ausgibt, ist jedem seine Sache, oder?“

Marie nickte dankbar und war froh, dass Serina nicht zu Hause war, die bestimmt zickiger reagiert hätte. Carsten und Serina mussten fünfzig Euro aus eigener Tasche zuzahlen, weil sie Denise versprochen hatten, sich selbst um einen Ersatz zu kümmern, damit sie während ihres Aufenthaltes in Australien keine Kosten haben würde. Aber dann war es doch nicht so einfach gewesen, für nur drei Monate jemanden zu finden. Und bevor das Zimmer einen ganzen Monat leer stand und gar kein Geld brachte, hatten die beiden Maries geringeres Mietangebot angenommen.

Marie parkte Carstens Auto gegenüber der Schule. Sie war viel zu früh und wartete im Lehrerzimmer. Als Ulrike pünktlich kam, liefen sie gemeinsam zum Unterrichtsraum. Marie versuchte, sich zu konzentrieren, aber die Gedanken an das, was sie vorhatte, zogen sich hartnäckig durch den Unterricht. Endlich war das Kursende erreicht.

Die 5- bis 8-jährigen Kinder stürmten aus dem Unterrichtsraum, durch den Flur in die Eingangshalle der Schule, wo bereits derart viele Mütter, Väter, Tanten, Brüder und andere Verwandte warteten, dass auf jedes Schulkind mindestens je drei Erwachsene kamen. Ulrike lief mit den Kindern hinaus, um ihnen die Glastür am Ende des Ganges aufzuschließen. Marie blieb allein im Raum zurück.

Jetzt musste sie schnell sein. Ulrikes Autoschlüssel trug einen kleinen Stoffdelphin als Anhänger, und er steckte immer in der Außentasche ihrer Umhängetasche. Eilig nahm Marie das Schlüsselbund und verbarg es tief unten in ihrem Rucksack. Ob auch Ulrike schon einmal mit Delphinen geschwommen war? Allein der Gedanke an dieses wunderschöne Gefühl beruhigte ihren Atem.

Gemeinsam räumten sie das Lehrmaterial in den Schrank und wischten die Tafel sauber. Danach verließen sie den Raum. Am Gebäudeausgang sahen beide wie auf Kommando zum Himmel. Ein grauverhangener Nachmittag. Kaum vorstellbar, dass dort oben irgendwo die Sonne existierte. Außerdem regnete es.

Ein kurzes Tschüss, und Ulrike hastete zu ihrem Auto. Marie zog sich die Kapuze ihrer Jacke über den Kopf und lief langsam in die entgegengesetzte Richtung.

„Marie?“, rief Ulrike wie erwartet und sie blieb stehen. „Haben Sie eine Taschenlampe an Ihrem Handy? Ich habe nur so ein altmodisches Ding“, sagte sie und lachte nervös. „Könnten Sie mir freundlicherweise mal leuchten?“

Marie machte kehrt.

„Ach Sie Arme. Jetzt werden Sie meinetwegen auch noch nass.“

„Ist Ihnen etwas heruntergefallen?“, fragte Marie und schaltete die Lampe an ihrem Smartphone an. Sie leuchtete unter das Auto.

„Nein, nein. Meine Tasche ist das Problem. Ich finde meinen Autoschlüssel nicht. Ich habe ihn sonst immer hier.“ Sie pochte auf die Seitentasche. „Aber in diesem Chaos … Ich will jetzt nur nicht alles auspacken.“

Marie leuchtete in das Innere der Tasche, deren Inhalt Ulrike hektisch umwälzte. Auch ein Taschenregenschirm war dabei, und Marie nahm ihn kurzerhand an sich und spannte ihn über ihren Köpfen auf.

„Ich muss den Schlüssel irgendwo hier verloren haben. Schließlich bin ich ja hergefahren.“

„Ich habe eine Regenjacke an. Gehen Sie zurück ins Gebäude und suchen dort“, schlug Marie vor und hielt Ulrike den Schirm entgegen, den sie dankbar annahm, bevor sie eilig zum Schuleingang zurücklief.

Wieder dieses schlechte Gewissen. Einerseits wollte sie nicht, dass Ulrike Stress hatte, aber andererseits musste Marie endlich weiterkommen. Warum musste es auch ausgerechnet heute regnen. Obwohl. Es könnte den Weg in Ulrikes Haus auch leichter machen. Hätten Sie vielleicht ein Handtuch für mich? Nur mal kurz abtrocknen, könnte sie fragen. Sie tat so, als suche sie im nahen Gebüsch und rund um das Auto, bis Ulrike zurückkam, ihr Handy am Ohr. Erschrocken lief Marie auf sie zu und gestikulierte so heftig, dass Ulrike auch prompt das Gespräch unterbrach.

„Bleib kurz dran, Holger … Haben Sie ihn gefunden?“ Ulrikes Gesicht begann zu strahlen.

Marie schüttelte den Kopf. „Leider nicht. Haben Sie zu Hause einen Ersatzschlüssel?“

„Ja, deshalb spreche ich gerade mit meinem Mann. Der muss mich nachher abholen. Ich kann ja solange in der Schule warten. Holger?“ Sie wollte weiter ins Telefon sprechen.

„War ihr Hausschlüssel auch an dem Schlüsselbund?“, fragte Marie.

„Nein, es sind zwei unterschiedliche.“

Rasch fuhr Marie fort: „Dann habe ich eine Idee: Ich habe heute das Auto meiner Freundin. Ich fahr Sie schnell nach Hause, wir holen den Schlüssel, und ich setze Sie hier wieder ab. Sie wohnen ja nicht weit.“

Schlagartig wurde ihr heiß. Wie konnte sie so unvorsichtig sein? Wahrscheinlich hatte Ulrike ihr noch nie erzählt, wo genau sie wohnte. Hoffentlich hatte die Lehrerin diesen Teil ihrer Aussage nicht bemerkt.

Ulrike wirkte unentschlossen, dann nickte sie und lächelte Marie dankbar an. „Holger. Es hat sich erledigt. Frau Kleinschmidt ist so nett und fährt mich. Wann wirst du zu Hause sein?“ Marie deutete in Richtung ihres Autos. Nebeneinander liefen sie die paar Schritte, während Ulrike ihr Gespräch fortführte.

„Ach, das ist schön. Dann mache ich einen Kaffee … Nein, Alessia ist noch bei Kathrin … Also, bis nachher.“ Sie steckte das Handy in ihre Tasche. „Was für ein glücklicher Zufall, dass Sie ausnahmsweise ein Auto haben. Aber das wird einen Grund haben. Sie haben es sicherlich eilig?“

„Nein, ich habe Zeit. Außerdem kann ich Sie hier nicht obdachlos stehen lassen.“ Marie sah Ulrikes erstauntes Gesicht und zwinkerte ihr zu. „Sehen Sie. Er schließt gerade ab.“ Sie zeigte auf den Hausmeister, der sich im Inneren des Gebäudes an der großen Glastür zu schaffen machte.

Sie hatten Carstens Kleinwagen erreicht. Marie ließ sich von Ulrikes Fahranweisungen leiten, als kenne sie den Weg nicht. Je näher sie der Straße kamen, in denen die Roths wohnten, umso mehr Mühe hatte sie, ihr Zittern zu unterdrücken. Sie war sich keinesfalls sicher, ob das nur daran lag, dass ihre Haare nass waren und sie fror. In ihrer Aufregung fand sie am Armaturenbrett den Regler für die Heizung nicht.

„Sie können einfach auf der Einfahrt halten. Dort drüben, wo das Tor offensteht.“ Ulrike zeigte auf ein zweistöckiges Haus mit hellgrüner Fassade und Satteldach.

Marie bereitete im Geist ihre Frage vor, noch kurz auf Toilette gehen zu dürfen.

„Mein Mann kommt auch bald nach Hause. Ich mache uns erst einmal einen Kaffee“, unterbrach Ulrike ihre Überlegung.

„Gern.“ Maries Stimme krächzte und Ulrike sah sie besorgt von der Seite an. „Oh je, hoffentlich haben Sie sich nicht erkältet. Ich werde Ihnen ein Handtuch geben, damit Sie sich Ihre Haare trocknen können.“

Sie stiegen aus. Es hatte aufgehört zu regnen. Die dichte Wolkendecke war an einigen Stellen aufgerissen. Durch die Zwischenräume trafen die Sonnenstrahlen das Dach und die vordere Hausfront. Die Nachbarhäuser links und rechts lagen weiter im Schatten der noch immer grauen Wolken. Ein gutes Zeichen, dachte Marie und folgte Ulrike auf wackligen Beinen die vier Stufen zum Hauseingang hoch. Sie hatte die Tür kaum einen Spalt breit geöffnet, als der Cocker Idefix sich hindurchzwängte, jaulend an Ulrike hochsprang und anschließend auch Marie so freudig begrüßte, als gehöre sie seit langem zur Familie. Der Gedanke versetzte Marie einen Stich.

„Passen Sie auf, dass er Sie nicht schmutzig macht.“

Marie putzte sich ausgiebig ihre Schuhe ab, bevor sie eine großzügige fensterlose Diele betraten. Durch eine offenstehende Tür drang Tageslicht. Garderobenmöbel in dunklem Holz. Diverse Jacken und Mäntel. Schuhe ordentlich auf eine Plastikschale gereiht. Auf dem Boden ein Perserteppich. Oder so etwas Ähnliches. Marie kannte sich damit nicht aus. Unschlüssig blieb sie stehen. Ulrike öffnete eine weitere Tür zu einem Gäste-WC. Dort nahm sie ein Handtuch aus einem Regal und hielt es Marie entgegen.

„Ich bin in der Küche“, sagte sie und zeigte in Richtung des offenstehenden Raumes. „Möchten Sie Tee oder Kaffee?“

„Kaffee bitte.“

„Schön, ich bin auch so eine Kaffeetante. Ich glaube, ich kann überhaupt keinen vernünftigen Tee zubereiten.“ Ulrike lachte und verschwand.

Marie stellte ihren Rucksack ab und rubbelte sich mit dem Handtuch das Haar trocken. Dann kramte sie aus ihrem Rucksack eine Spange. Durch die Feuchtigkeit waren ihre langen Haare gewellt, fast schon lockig. Wie gewohnt fasste sie sie über dem Kopf zusammen, drehte sie einmal und steckte sie fest. Dabei betrachtete sie im Spiegel ihr Gesicht, das keinerlei Ähnlichkeit mit dem Holger Roths zeigte. Sie holte ihr Moleskin aus dem Rucksack und zog das Foto heraus. Hielt es in der Hand und starrte es an, wie sie es schon hunderte Male getan hatte. Wie naiv, dass dieses Foto etwas mit ihr, mit ihrem Leben zu tun haben sollte. Dann musste sie wieder an eine Internetseite denken, die erst kürzlich aufgekommen war. Nach einem Interview mit der Domaininhaberin mehr aus Jux als aus ernsthaften Erfolgserwartungen heraus: strange twins. Jeder Mensch sollte angeblich weltweit sieben Doppelgänger haben, mit denen er nicht verwandt war. Es hatte etwas mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu tun. Die Anzahl der möglichen Kombinationen aus Anlagen, die den Phänotypen eines Menschen bestimmten. Und so groß diese Anzahl erschien, war sie dennoch endlich und bei rund sieben Milliarden Menschen auf der Welt kam es dann doch eben zu einer großen Ähnlichkeit in den Kombinationen. Die Seite sollte nun dazu dienen, weltweit die eigenen Doppelgänger zu finden.

In ihrem Fall gab es nicht einmal eine starke Übereinstimmung. Nur der Leberfleck über der linken Mundseite, der war ihr sofort aufgefallen. Und seit dem plötzlichen Tod ihrer Adoptiveltern hatte sie nie wieder so heftig geweint, wie bei der Erkenntnis, dass sie sich möglicherweise das Einzige hatte weglasern lassen, das sie sichtbar von ihrem leiblichen Vater geerbt hatte.

„Kein Problem, mein Schmetterling“, hatte Robert ihr damals im Club gesagt. „Du weißt ja, wo du mich findest. Das dauert kaum mehr als zehn Minuten, dann bist du das Ding los.“

„Und du weißt genau, dass ich mir das nicht leisten kann“, hatte sie den Vorschlag mürrisch abgelehnt. So, wie er zuvor die Fortführung ihrer Beziehung abgewiesen hatte.

„Das passt einfach nicht mit uns. Wenn ich hierbleiben könnte, dann hätten wir das Paradies. Aber ich muss zurück in die Hölle. Glaub mir: Dorthin willst du nicht. Dich unter die B- und C-Promis mischen, die den ganz großen Durchbruch durch eine neue Nase oder große Titten erreichen wollen. Oder zwischen die reichen Frauen, von Beruf Ehefrau oder Topmanagerin, beide besorgt um den Verlust ihres Alleinstellungsmerkmales, weil sie, oh Schreck, die Vierzig überschritten haben. Schmetterlinge wie du würden sich in dieser Hölle die Flügel verbrennen.“

„Wenn das so scheiße ist, warum machst du es dann?“

„Weil es kaum einen medizinischen Job gibt, bei dem die Arbeitszeiten und das Honorar so exzellent sind.“

„Versprich mir eines.“

„Alles Butterfly, alles.“

„Wenn du jemals wieder einen Cluburlaub mit deinem Sohn machen möchtest, bitte nicht dort, wo ich arbeite, okay?“

„Einverstanden“, hatte er ernst geantwortet und ihr seine Praxiskarte in die Hand gedrückt. „Mach einen Termin, wenn du das nächste Mal in Berlin bist.“ Er hatte sie noch einmal lange und intensiv angesehen, soweit sie das trotz der Tränen in ihren Augen hatte erkennen können, und war dann mit einem leisen „Danke“ in den Bus zum Flughafen gestiegen. Dort hatte sein sechsjähriger Sohn bereits einen Sitzplatz am Fenster ergattert und Marie heftig zugewinkt. Robert würde ihn am Flughafen Berlin-Tegel wieder in die Arme seiner Exfrau zurückgeben und dann in die Hölle, wie er es nannte, zurückkehren.

Das war vor drei Jahren gewesen, und sie hatte Robert nie wiedergesehen. Den Leberfleck hatte ein halbes Jahr später seine Urlaubsvertretung entfernt. Der Doktor sei mit der Familie auf einer längeren Weltreise, hatte es geheißen. Aber Robert hatte Wort gehalten und niemals eine Rechnung geschickt.

Marie riss sich von dem Foto los und sah wieder in den Spiegel. Sie und Alessia Halbschwestern? Dabei hätten sie kaum verschiedener aussehen können. Vielleicht war das Ganze nicht mehr als ein großer Blödsinn in ihrem Kopf. Dann würde sie schnellstmöglich wieder aus dem Leben der Familie Roth verschwinden, sich in einer weit entfernt gelegenen Ferienanlage bewerben und niemals wieder zurückkommen. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie gerade eine sehr weitreichende Entscheidung getroffen hatte – ausgerechnet hier, in einem winzigen Raum, in einem fremden Haus, in ihrer Geburtsstadt, die längst nicht mehr ihre Heimat war. Es gab Tausende, Zehntausende Menschen auf der Welt, die nicht wussten, wer ihre leiblichen Eltern waren. Sollte Holger Roth nicht ihr Vater sein, würde sie ein für alle Mal mit der Suche aufhören. Es mochte ja ganz interessant sein, diese sogenannten und vielbeschworenen eigenen Wurzeln zu kennen, aber das Leben gehörte ihr. Ihr allein. Egal, wer es ihr ursprünglich geschenkt oder ihr irgendwelche Anlagen mit auf den Weg gegeben hatte.

Und doch war sie in diesem Moment ihrem möglichen Vater so nah, wie nie zuvor. Diesen letzten Versuch war sie sich selbst schuldig. Suchend schaute sie sich um, fand jedoch weder Haare noch andere Proben für einen Gentest. Kein Wunder, schließlich hatte Ulrike sie in das Gäste-WC geschickt. Vermutlich würde sie dieser Besuch im Hause Roth also kein Stück weiterbringen.

Sie machte sich auf die Suche nach Ulrike und betrat einen Wohnraum der so groß war wie das Haus, in dem sie bis zu ihrem siebten Lebensjahr aufgewachsen war. Die Einrichtung wirkte hochwertig, allerdings ebenso langweilig wie ein Möblierungsbeispiel aus einem Verkaufskatalog. Nur ein paar afrikanische Holzfiguren, üppige Grünpflanzen auf der Fensterbank und eine gewisse Unordnung in einem Teil der Regalwand ließen die Persönlichkeiten der Bewohner erahnen. Vermutlich saß Ulrike während ihrer Unterrichtsvorbereitungen gewöhnlich an dem großen Esstisch. Eine Spitzentischdecke schütze seine Glasplatte. Nach getaner Arbeit stapelte Ulrike dann Hefte, Bücher und Zeitschriften in einige Fächer dieser Regalwand, in der ansonsten Bücher und ein großer Flachbildfernseher untergebracht waren. Vor den Büchern standen einige Bilderrahmen mit Fotos von unterschiedlichen Personen. Familienmitglieder, vermutete Marie. Gern hätte sie die Fotos näher betrachtet, doch aus der amerikanischen Küche, die vom Wohn- und Essbereich des Riesenraumes nur durch eine Theke mit drei Barhockern abgeteilt wurde, rief Ulrike. Sie fragte, ob Marie auch Lust auf einen Napfkuchen mit Marzipan habe. Marie nickte erfreut und trat näher. Marzipan stand in der Liste ihrer Lieblingsessen beinahe auf gleicher Höhe mit Leberwurst.

„Schön haben Sie es hier.“

„Danke. Wir haben das Haus damals selbst entworfen und bauen lassen. Ich bin hier in der Gegend auch aufgewachsen, aber in recht beengten Wohnverhältnissen. Deshalb wollte ich es einmal etwas großzügiger.“

Sie hatte auf einem Tablett Geschirr, Milchkännchen und Zuckerdose bereitgestellt. Marie hätte erwartet, dass die ansonsten mit allen erdenklichen Edelstahlgeräten ausgestattete Küche über einen modernen Kaffee- und Teevollautomaten verfügte, mindestens über eine Kapsel- oder Padmaschine. Aber aus einer Ecke gurgelte das restliche Wasser durch den Filter einer stinknormalen Kaffeemaschine.

Aus der Diele hörten sie Schließgeräusche und sofort danach fing der Hund an, fröhlich zu bellen.

„Mein Mann kommt. Da sind wir ja gerade rechtzeitig fertiggeworden.“ Es klang zufrieden, fast erleichtert. Und Marie fragte sich, was Schlimmes hätte passieren können, wäre Holger Roth früher gekommen. Ulrike goss den Kaffee in eine Thermoskanne, stellte sie neben den gefüllten Kuchenteller auf das Tablett und trug dieses in Richtung Esstisch. In der Mitte des Weges stoppte sie.

„Oder wollen wir es uns lieber im Wohnzimmer gemütlich machen?“

Es war Marie egal, denn in diesem Moment betrat Holger Roth den Raum. Im Gesicht des 57-jährigen waren seit der Africa Eco Race 2010 ein paar Falten hinzugekommen, außerdem wirkte er größer, als sie erwartet hatte. Und dicker. Vielleicht lag es an dem Leberfleck über seinem Mund, dass sie ihn sofort erkannte. So gut es ging, verbarg sie ihre Aufregung, als er jetzt auf sie zukam und ihr die Hand zur Begrüßung entgegenstreckte.

„Sie sind die fleißige Aushilfslehrerin meiner Frau, nehme ich an. Und heute sogar ihre Retterin.“

Marie starrte noch immer auf den Leberfleck, der sich durch sein Lachen bewegte. Sie spürte Hitze in ihren Wangen aufsteigen, als sie seinen Händedruck erwiderte.

„Ja, na ja, das war jetzt nicht … Ich hab es gerne … Marie. Marie Kleinschmidt“, stellte sie sich stotternd vor.

„Holger Roth. Aber das wissen Sie ja bereits. Aus dem Forum. Schön, dass Sie unseren komischen Männerhaufen dort bereichern.“

Im Forum gab es trotz Männerüberschuss auch einige weibliche Rallyefans. Ein Widerspruch lag ihr schon auf der Zunge. Aber vielleicht würde sie wieder stottern und sich verraten, also schwieg sie und beobachtete, wie Holger zu Ulrike trat und sich beide wechselseitig auf die Wange küssten. Dabei strich Holger seiner Frau über den Rücken. Es war eine flüchtige Bewegung, dennoch wirkte sie wie ein bewusst ausgesendetes Zeichen seiner Zuneigung. Ulrike quittierte es mit einem Lächeln. Sie hielt noch immer das Tablett in beiden Händen. Holger und Marie warteten, bis sie den Tisch gedeckt hatte. Dann setzten sie sich und Marie schaffte es, Ulrike ihre Kaffeetasse entgegenzuhalten, ohne dass ihre Hände zitterten.

Unaufgefordert reichte Ulrike ihrem Mann die Zuckerdose, und Marie fragte sich, ob sie die beiden um ihr Eheglück beneiden sollte.

Holger streute zwei Löffel Zucker in seine Tasse, rührte ausdauernd den Kaffee um und steckte danach den Löffel in den Mund, bevor er ihn auf der Untertasse ablegte. Marie fiel es schwer, den Blick von dem Löffel abzuwenden. Am liebsten hätte sie ihn sofort eingesteckt. Eine Speichelprobe wäre perfekt und dazu in greifbarer Nähe. Sie riss sich zusammen und konzentrierte sich wieder auf ihre Gastgeber.

„Ich will nicht neugierig sein, aber Sie wirken so harmonisch. Wie lange sind Sie schon verheiratet?“, fragte sie.

„Wir haben 1990 geheiratet“, bestätigte Holger, was Marie bereits wusste. „Aber wir kannten uns schon ein Weilchen vorher.“ Beide tauschten Blicke und lächelten sich an. Jetzt beneidete Marie sie tatsächlich.

„Ja, im Dezember feiern wir Silberhochzeit. Kaum zu glauben“, kommentierte Ulrike.

„Und? Gibt es ein großes Fest?“

Wieder sahen sich die beiden an, bevor Holger antwortete. „Ich glaube, wir werden auf das ganze Tamtam verzichten und uns stattdessen eine schöne Reise leisten.“

„Aber keine Rallye-Reise“, fügte Ulrike hinzu und lachte.

„Rallye ist ein gutes Stichwort. Ich weiß nicht einmal ihren Nicknamen im Forum.“

„Kurven-Lady“, antwortete Marie leise und nahm sich vor, morgen sofort ihr Profil zu ändern. Holger und Ulrike bemühten sich um ein erstes Gesicht. Aber es gelang ihnen nur ein paar Sekunden, dann konnten sie das Lachen nicht mehr zurückhalten. Wie peinlich. Marie lachte gequält mit.

„Ich bin auch nur einmal eine gefahren“, entschuldigte sie sich, als sei mangelnde Erfahrung eine ausreichende Erklärung für einen bescheuerten Nicknamen.

Der Cockerspaniel lag die gesamte Zeit des Gespräches zusammengerollt in seinem Korb, der seitlich neben der Couch stand. Ulrike, die an diesem Ende saß, ließ immer wieder ihren Arm über die Seitenlehne herunterbaumeln und kraulte mit den Fingerspitzen in seinem Fell. Plötzlich sprang der Hund auf, rannte so schnell in Richtung Flur, sodass seine Pfoten mehrmals den Halt auf dem Fliesenboden verloren. Marie musste unwillkürlich lachen, was nach der vorangegangenen Peinlichkeit ausgesprochen befreiend wirkte.

„Was ist denn jetzt passiert?“, prustete sie hervor.

„Alessia ist gekommen“, antwortete Ulrike und lächelte. Sie hörten vom Flur das aufgeregte Bellen des Hundes und einen Moment später sah Alessia von der Tür ins Wohnzimmer. „Hallo, bin wieder da.“ Sie wollte sich wieder umdrehen, als sie Marie erkannte.

„Marie? Das ist ja witzig. Was machst du denn hier bei uns?“, fragte sie erstaunt. Offensichtlich freute sie sich und kam nun doch näher.

Ihre Mutter erklärte ihr, wie es zu Maries Besuch gekommen war. „Setz dich zu uns“, forderte sie ihre Tochter auf.

Doch Alessia blieb stehen. „Nee sorry, muss noch so viel für die Schule machen. Aber Marie, hast du nicht Lust, kurz mit hochzukommen? Ich hab dir doch von diesem irren Soul-Musiker erzählt, dessen Namen ich vergessen hatte. Ich hab ihn auf Youtube wiedergefunden. Willst du mal hören?“

Marie sah unschlüssig zu Alessias Eltern. Beide nickten und lächelten ihr aufmunternd zu. Ulrike begann, die Kuchenteller und Tassen aufeinanderzustellen. Marie ließ Holgers Löffel nicht aus den Augen.

„Warten Sie, ich helfe …“

„Untersteh dich Marie. Meine Mutter hasst es, wenn ihr jemand beim Aufräumen in die Quere kommt.“ Alessia stand bereits wieder im Türrahmen.

„Da hat sie vollkommen Recht. Gehen Sie ruhig“, bestätigte Ulrike ihre Tochter.

Das läuft jetzt völlig schief. Marie hatte genau auf diesen Moment gewartet. Hätte höflich beim Abräumen geholfen und dabei unauffällig Holgers Löffel eingesteckt. Jetzt machte Alessia ihre Pläne zunichte.

Sie folgte dem Mädchen über eine großzügige, mit einem weichen Läufer ausgelegte Treppe ins Obergeschoss. Ein Bild aus frühen Kindertagen drang vor Maries Augen. Jedes Mal hatte ihre Mutter über das laute Poltern geschimpft, wenn Marie die Holztreppe rauf oder runter gestürmt war. Hier hörte man keinen Schritt. Alessia ging an drei Türen vorbei, bis sie die letzte öffnete. Die Möbel des ehemals gediegen eingerichteten Zimmers bestanden aus hellem Holz. Doch einige Einrichtungsgegenstände wie ein Schreibtisch, ein Beistelltisch und ein Bücher- und CD-Regal aus Glas und Metall machten deutlich, dass hier kein Kind mehr wohnte. Vor dem Bett lag ein großer Teppich, ein typisches Ikea-Design, und in der dem Bett gegenüberliegenden Ecke hing ein Korbsitz von der Decke, der einer angeschnittenen Kugel glich. Dicke rote Kissen luden dazu ein, sich in den Sitz zu kuscheln und ein Buch lesend oder einfach mit geschlossenen Augen in eine andere Welt zu schwingen.

An den Wänden fehlten die typischen Poster, die Marie erwartet hätte, und die in ihrem damaligen Jugendzimmer die Wände so umfangreich geschmückt hatten, dass sie nie frisch gestrichen werden mussten. Stattdessen entdeckte Marie auf dem Dielenfußboden mehrere Autozeitschriften.

„Teilst du das Hobby deines Vaters?“ Sie deutete auf den Stapel.

„Nee, das sind alles Oldtimerzeitungen“, antwortete sie, während sie den Laptop aufklappte, ihn anschaltete und sich davorsetzte. Es wunderte Marie nicht, dass es eines der neuesten Apple-Modelle war. Ulrike verdiente als Grundschullehrerin sicherlich nicht schlecht, aber nach allem, was Marie bisher in diesem Haus gesehen hatte, musste Holger Roth als Unternehmensberater mit eigener Firma beruflich sehr erfolgreich sein.

„Mein Opa sammelt welche. Er hat demnächst Geburtstag. Große Feier und so. Ich will ihm ein Fotobuch zusammenstellen und brauche dazu ein bisschen Informationsmaterial.“ Marie erschrak. An eine weitere Familie Roth hatte sie bisher niemals gedacht.

„Der Vater deiner Mutter oder deines Vaters?“, fragte sie und räusperte sich, weil ihre Stimme ungewöhnlich rau klang.

„Von meiner Mama, obwohl das Hobby eigentlich mehr zu Papas Eltern passt.“

Alessia hatte offenbar gefunden, was sie suchte und wandte sich wieder Marie zu. „Meine Eltern kommen aus ziemlich unterschiedlichen Verhältnissen. Papas Eltern haben damals wohl auch ziemlich großkotzig reagiert, als sie von der Beziehung erfuhren. Von wegen unser Sohn hätte etwas Besseres verdient und so’n Scheiß. Ich mag meine anderen Großeltern lieber, obwohl die auch nicht gerade cool sind. Sie können einem mit der Kirchgängerei ziemlich auf die Nerven gehen. Sie sind katholisch, die Familie meines Vaters evangelisch. Und meine Mutter ist sogar übergetreten. Nicht seinetwegen, behauptet sie jedenfalls. Sie meint, egal welche Konfession, Hauptsache helfen. Trotzdem gibt’s jedes Weihnachten die gleiche Diskussion, in welche Kirche wir denn diesmal gehen. Aber im Laufe der Jahre haben sich doch alle aneinander gewöhnt.“ Sie lachte. „Jedenfalls sind unsere Familienfeiern wesentlich entspannter als früher.“

Alessia zog für Marie einen weiteren Stuhl an den Schreibtisch. Marie zögerte.

„Ich müsste nur mal kurz nach unten auf die Toilette. Wo war die noch mal …?“

„Du kannst hier oben gehen. Gleich die nächste Tür.“

Erleichtert atmete Marie auf. Nach der Pleite mit dem Kaffeelöffel nun also eine zweite Chance. Gerade in Alessias Zimmer hatte sie keinerlei Blasendruck verspürt, jetzt beeilte sie sich, Hose und Slip herunterzulassen, so nötig musste sie vor Aufregung. Während sie auf der WC-Brille saß, sah sie sich aufmerksam um: Ein Doppelwaschtisch mit weißen Hochglanzmöbeln umbaut. Links und rechts offene Regale über die gesamte Breite des Badezimmers. Offenbar verfügte jedes der Familienmitglieder über eine Etage in diesem Regal, um seine Utensilien abzustellen. Die übrigen Etagen waren mit exakt gefalteten Handtüchern gefüllt. Leichter konnte es nicht sein – wäre das Badezimmer nicht strahlend sauber, und hätte sie nur dummerweise ihren Rucksack nicht unten im Wohnzimmer stehen lassen, in dem sich neben dem gestohlenen Autoschlüssel auch zwei Klarsichtbeutel mit Zippverschluss befanden, die sie gestern vorausschauend gekauft hatte. Sie zog sich wieder an, wartete mit der Spülung aber noch. In dem Fach, das eindeutig der Männerkosmetik zugeteilt worden war, steckte ein Kamm in einer Bürste. Sie hob den Kamm gegen das Licht über dem Waschtisch, aber kein einziges Haar war zu erkennen. Bei der Bürste hatte sie mehr Glück.

„Bitte sorgen Sie dafür, dass die Proben nicht durch anderes genetisches Material verunreinigt werden“, stand auf dem Informationszettel des diagnostischen Instituts in den Niederlanden. Sie hatte zunächst ein deutsches Institut angerufen, aber dort nahm man es mit den gesetzlichen Vorgaben sehr genau. Ein Gentest ohne Einwilligung durch Unterschrift aller Beteiligten war verboten. Im Falle eines Einverständnisses sei eine Speichelprobe erwünscht. Haare, Fingernägel oder Hautpartikel seien eher ungeeignet. Das Institut in Amsterdam war da weniger kompliziert. Der Einsender konnte alle möglichen Proben schicken. Und es schien niemanden zu interessieren, wo und wie sie genommen worden waren. Nur der Hinweis wurde gegeben, dass das Testergebnis vor einem deutschen Gericht keine Beweiskraft habe. Aber Marie wollte zu keinem Gericht, sondern einfach nur wissen, ob Holger Roth ihr Vater war oder nicht.

Im Regal entdeckte sie eine Kosmetiktuchbox, aus der sie mehrere Tücher herauszog, bis sie sicher sein konnte, dass das Folgende auf keinen Fall verunreinigt sein konnte. Mit spitzen Fingern griff sie es ganz am Rand, zog es heraus und ließ es vorsichtig auf die Bürste in ihrer anderen Hand herabsinken. Sorgfältig darauf bedacht, nicht zu viel Druck auszuüben, dass die Borsten das dünne Papier womöglich durchstießen, zupfte sie die Haare heraus. Sie betrachtete ihre geringe Ausbeute. Die dunklen Haarteile hoben sich vom Weiß des Papieres ab, einige davon waren bereits ergraut. Wenn sie vorher noch unsicher war, ob vielleicht die nicht so penible Alessia einfach nach der erstbesten Bürste griff, war sich Marie nun sicher: Was sie in der Hand hielt, mussten Holgers Haare sein. Nun konnte sie nur hoffen, dass deren Anzahl für ein eindeutiges Testergebnis ausreichte.

Sie faltete das Papier zusammen und schob es vorsichtig in ihre hintere Jeanstasche, die herausgezogenen Kosmetiktücher in die vordere. Sie betätigte die Spülung, klappte den Deckel herunter, wusch sich die Hände und kehrte zu Alessia zurück.

Hoffentlich bemerkte Alessia Maries Herzklopfen und den leichten Schweißfilm auf ihrer Haut nicht. Aber das Mädchen konzentrierte sich so sehr auf den Bildschirm, als könne sie nicht erwarten, auf Play zu drücken. Gemeinsam sahen und hörten sie sich den amerikanischen Soulsänger an. Seine Stimme beruhigte Maries aufgewühlte Nerven.

„Spielst du ein Instrument?“, fragte Alessia nach Ende des Videos.

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