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Die Verlockung

Als Buch hier erhältlich:

Während seine Familie Ferien macht, arbeitet der Wirtschaftsprüfer Mauro Assante in Rom an einem Bericht über eine Bank, an der mächtige Politiker beteiligt sind. Für Mauro stehen Ehre und Karriere auf dem Spiel. Eines Abends klingelt es an der Tür, und vor Mauro steht die schöne Carla. Ihr Besuch: eine Verwechslung. Kurz darauf trifft er sie erneut: ein Zufall. Zeitgleich häufen sich merkwürdige Ereignisse, die ihn von der Fertigstellung seines Berichts abhalten. Doch mit Hilfe der klugen, attraktiven Carla macht sich Mauro daran, seine Widersacher zu entlarven. Am Ende dieses spannenden Krimis ist in Italien wieder einmal ein moralisch integrer Mann der allgemeinen Habgier zum Opfer gefallen.


  • Erscheinungstag: 25.07.2016
  • Seitenanzahl: 160
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312009961

Leseprobe

Über das Buch

Bei diesen hochsommerlichen Temperaturen ist die Arbeit eine Qual. Aber sein Chef hat Mauro klargemacht, dass die Überprüfung der Bank Santamaria unbedingt termingerecht erfolgen muss, sonst bliebe den Beteiligten genügend Zeit für mögliche Vertuschungen. Für den peniblen Mauro stehen Ehre und Karriere auf dem Spiel. Eines Abends klingelt es an der Tür, und Mauro steht wie vom Blitz getroffen vor der wunderschönen Carla. Ihr Besuch: eine Verwechslung. Kurz darauf begegnet er ihr erneut: ein Zufall. Gleichzeitig häufen sich merkwürdige Ereignisse, bei Mauro wird eingebrochen, er wird beschattet, sein Auto verschwindet. All das gehört offenbar zu dem kindischen Plan, ihn einzuschüchtern und die Fertigstellung seines Berichts hinauszuzögern. Doch mit Hilfe der klugen, göttlich attraktiven Carla macht sich Mauro daran, seine Widersacher zu entlarven. Am Ende ist – begleitet von Mitleid und Schadenfreude – in Italien wieder einmal ein moralisch integrer Mann der allgemeinen Habgier geopfert worden.

Eins

Mauro hat müde Augen. Er löst den Blick vom Bildschirm, es ist kurz vor halb acht, seit drei Uhr nachmittags sitzt er nun schon unentwegt am Computer, schreibt, löscht, schreibt neu, schreibt um, durchdenkt jedes Wort, jedes Adjektiv. Um nicht gestört zu werden, hat er sich einen Lärmschutz eingerichtet, er hat den Festnetzstecker gezogen und sein Handy abgeschaltet. Ja, er hat sogar die Vorhänge ein wenig zugezogen und knipst nun mit der Absicht, noch ein halbes Stündchen weiterzuarbeiten, die Tischlampe an. Den letzten Satz, den er geschrieben hat, liest er noch einmal durch. Er funktioniert nicht, zu umständlich, zu lang, es wird besser sein, zwei daraus zu machen.

Das Klingeln ist so kurz gewesen, dass Mauro sich nicht sicher ist, ob es wirklich geläutet hat. Eine Weile verharrt er mit aufgerichtetem Oberkörper und erhobenem Kopf in Erwartung eines zweiten, bestätigenden Klingelns, das jedoch ausbleibt. Als er sich anschickt weiterzulesen, ertönt das Geräusch erneut. Kurz wie das erste, als sei die Person an der Tür von dem, was sie da tut, selbst eingeschüchtert. Diesmal steht Mauro auf, verlässt sein Arbeitszimmer, geht durch den Flur, macht Licht in der Diele und öffnet die Tür. Er rechnet fest damit, die alte Baronessa aus dem oberen Stockwerk vor sich zu sehen, die gekommen ist, um ihre Einladung zum Abendessen zu erneuern. Doch die Frau, die geklingelt hat und ihn nun anlächelt, ist etwa dreißig, hochgewachsen, blond, elegant und vor allem umwerfend schön.

«Da bin ich», sagt sie. «Pünktlich auf die Minute.»

Mauro ist wie vom Donner gerührt, die junge Frau ist ihm vollkommen unbekannt. Nie gesehen, da ist er sich sicher. Unmöglich, so eine Frau zu vergessen, selbst wenn man ihr nur ein einziges Mal begegnet sein sollte. Sie kann auch keine der wenigen Freundinnen seiner Frau sein, denn die kennt er alle.

«Wollen Sie mich nicht reinlassen?», fragt die Blondine, wobei sie einen kleinen Schritt nach vorn macht und ihr Lächeln verstärkt.

Mauro fällt ihr Parfüm auf. Leicht, doch einschmeichelnd.

«Das muss ein Irrtum sein», sagt er schroff, ohne seinen Blick von ihren Augen lösen zu können, zwei ungetrübte, hellblaue Seen.

Das Lächeln der Frau erlischt sofort, an seine Stelle tritt ein Ausdruck der Verblüffung. In ihrer Stimme schwingt ein alarmierter Unterton. «Haben Sie denn nicht bei der Agentur angerufen?»

«Ich habe nirgendwo angerufen.»

Die Augen der jungen Frau werden argwöhnisch. «Sie haben es sich nicht zufällig anders überlegt und …»

Was sollte er sich anders überlegt haben? «Ich weiß nicht, wovon Sie reden», sagt er gereizt.

«Dann habe ich mich geirrt, bitte entschuldigen Sie.»

Entschlossen dreht sie sich um, überquert den Treppenabsatz und geht die Stufen hinunter.

Erst als sie verschwunden ist, schließt Mauro die Tür. Er kann nicht anders, als ihr versonnen nachzuschauen.

Zehn Minuten, nachdem er sich erneut an den Schreibtisch gesetzt hat, muss er sich eingestehen, dass er an diesem Nachmittag wohl kaum noch weiterarbeiten kann, der Faden der komplexen Beweisführung, den er gerade spinnt, ist durch das unverhoffte Eindringen der Unbekannten zerrissen. Es wird Zeit, sich wieder mit der Welt zu verbinden. Er schaltet die beiden Computer aus, stöpselt den Telefonstecker in die Dose und schaltet sein Handy wieder ein.

Dann habe ich mich geirrt, bitte entschuldigen Sie.

Moment mal. Was soll das heißen, sie hat sich geirrt? Oder vielmehr: Wie will sie das denn gemacht haben?

Er, Mauro Assante, wohnt mit seiner Frau Muttina und seinem Sohn Stefano im ersten Stock einer noch verbliebenen Jugendstilvilla im römischen Stadtteil Prati. Im Erdgeschoss wohnt Colonnello Germani von den Carabinieri mit seiner Frau und seiner achtzehnjährigen Tochter, im zweiten und obersten Stockwerk der achtzig Jahre alte Barone Ardigò mit seiner Frau Margherita. Das Haus hat keinen Portier, es obliegt Colonnello Germani, morgens um sieben die Haustür aufzuschließen und sie abends um acht wieder zu verschließen. Draußen am Portal gibt es eine Sprechanlage mit den Namen der Mieter. Unwahrscheinlich, dass die Unbekannte von Germani oder Ardigò angerufen wurde. Also kann sie sich nicht im Namen oder im Stockwerk geirrt haben, sondern wohl eher in der Hausnummer, obwohl es genügt hätte, ihr die Villa zu beschreiben, um eine solche Verwechslung auszuschließen.

Plötzlich überfällt ihn ein unwiderstehliches Bedürfnis zu rauchen. Er hat vor fünf Jahren aufgehört, warum also nun dieses unsinnige Verlangen? Er weiß, dass er im zweiten Schubfach seines Schreibtischs eine ungeöffnete Schachtel Zigaretten hat. Er nimmt sie heraus, legt sie vor sich hin, sieht sie an. RAUCHEN TÖTET. Er muss lächeln. Diese Drohung ließe sich leicht ins Gegenteil verkehren. RAUCHEN TÖTET DIE LANGEWEILE. Er zerreißt die Zellophanhülle, öffnet die Schachtel, nimmt eine Zigarette heraus, steckt sie sich zwischen die Lippen, kann sie aber nicht anzünden, da weder Feuerzeug noch Streichhölzer in greifbarer Nähe sind. Ihm fällt ein, dass er irgendwo welche gesehen hat, doch er hat keine Lust aufzustehen. Wenn Muttina ihn so sehen könnte! Ach ja, Muttina. Vielleicht liegt die Erklärung für sein Unbehagen ja darin, dass er zum ersten Mal in ihren sieben Ehejahren längere Zeit von ihr getrennt ist. Stefanos Kinderarzt hatte erklärt, Bergluft sei für das Kind das Beste, und das hat sich Muttina nicht zweimal sagen lassen. Am ersten Juni ist sie mit Stefano zu ihren Eltern in ihr trientinisches Heimatdorf gefahren, wo sie mindestens drei Monate bleiben will. Mauro wird dann die Augustferien mit ihnen verbringen.

Obwohl nun schon zwei Wochen um sind, kommt Mauro als Strohwitwer noch immer nicht zurecht. Wäre er nicht so organisiert und ordentlich, ließe sich dieser Wechsel seines Lebensrhythmus leichter ertragen. Zwar nimmt ihn seine Arbeit sehr in Anspruch, sowohl im Büro als auch zu Hause, doch die Gestaltung der Abendstunden ist ein echtes Problem. Muttinas Freundinnen haben sich mit ihren Einladungen fast überschlagen, doch ihm war nicht danach, allein zu ihnen zu gehen. Denn bei solchen Abendessen, bei solchen Treffen, das wird ihm erst jetzt bewusst, ist es immer Muttina gewesen, die ihn in die Unterhaltung mit einbezogen hat, andernfalls wäre er stumm wie ein Fisch geblieben. Nicht aus Schüchternheit, sondern wegen seiner angeborenen Unfähigkeit, sich anderen gegenüber vollkommen zu öffnen. Schon beim ersten Mal, da Muttina ein paar Worte mit ihm gewechselt hatte, fand sie auf wundersame Weise den richtigen Schlüssel, um ihn aus seinem Panzer zu befreien. Wäre er, mit damals schon gut vierzig Jahren, ihr nicht begegnet, hätte er garantiert nie geheiratet und wäre auch nie in den Genuss gekommen, ein Kind zu haben.

Er nimmt die Zigarette von den Lippen, steckt sie zurück in die Schachtel und verstaut sie wieder im Schubfach.

Das Klingeln schreckt ihn auf. Für einen kurzen Augenblick kommt ihm die Unbekannte in den Sinn. Eine minimale Veränderung des Herzschlags. Er geht zur Tür. Baronessa Margherita Ardigò mustert ihn gebieterisch.

«Wenn Sie in zehn Minuten nicht zum Essen heraufkommen, rede ich nie wieder ein Wort mit Ihnen.»

Muttina hat ihn der Baronessa ans Herz gelegt, und diese nimmt die ihr übertragene Aufgabe sehr ernst. Er kann sich nicht entziehen. Die Einladung ein drittes Mal abzulehnen, wäre ein ungerechtfertigter Affront.

Außer Mauro ist noch ein weiterer Gast anwesend, Giorgio, der heißgeliebte Neffe der Baronessa. Über ihn weiß Mauro nur, dass er etwa dreißig und unverheiratet ist, ein Lebemann, der sündhaft teure Autos liebt und sich mit lässiger Eleganz kleidet. Wo er arbeitet, was er so treibt – ein Rätsel. Nach Muttinas Überzeugung muss Giorgio ein Gigolo sein oder doch etwas in der Art, er besuche seine Tante nur deshalb so oft, weil sie ganz vernarrt in ihn sei und sich nur zu gern das Geld aus der Tasche ziehen lasse. Zum Glück ist er an diesem Abend auch da und bestreitet die ganze Unterhaltung, denn sonst hätte Mauro in einem fort die langweiligen Monologe der Baronessa über sich ergehen lassen müssen, da ihr Mann, der Barone, der stocktaub und nicht ganz bei sich ist, es vorzieht, in Schweigen zu verharren. Giorgio erzählt gerade von einer Reise nach Berlin, wo er kürzlich in Geschäften unterwegs war, Geschäften, die er nicht näher benennt, als ihn die Baronessa unterbricht: «Warst du allein dort?»

Ebenfalls nach Muttinas Überzeugung verlangt die Tante für ihre üppigen Zuwendungen von Giorgio eine haarkleine Schilderung seiner Liebesaffären.

«Na, und ob!»

«Das glaube ich dir nicht.»

«Das solltest du aber, ich bin allein gefahren, weil ich mir sicher war, dort Gesellschaft zu finden.»

«Und hast du sie gefunden?»

«Klar doch. Schon am ersten Abend wurde mir ein Mädchen vorgestellt, das mich während meines ganzen Aufenthalts begleiten sollte.»

«War sie eine Firmenangestellte?»

«Aber nicht doch, Tantchen! Solche Mädchen machen das professionell. Die sehen nicht nur gut aus, die haben auch was im Kopf. Meine konnte Italienisch, Englisch und Französisch.»

«Begleiten sie dich auch ins Bett?»

«Nur wenn sie wollen, sie sind nicht dazu verpflichtet, solche Dienste stehen nicht im Vertrag.»

«Nur damit ich das richtig verstehe», schaltet sich Mauro ein. «Sie hatten einen Vertrag mit dem Mädchen?»

Giorgio lacht. «Ich nicht, aber die, die sie für mich engagiert haben, wohl schon. Vielleicht war das kein richtiger Vertrag, aber irgendeine Abmachung bestimmt.»

«Mit dem Mädchen?»

«Nein, nicht mit ihr, sondern mit der Agentur, für die sie arbeitet.»

«Gibt es solche Agenturen auch in Italien?»

«Aber sicher.»

Haben Sie denn nicht bei der Agentur angerufen?

Das Essen hat sich nicht weit in den Abend hineingezogen, da die Baronessa für gewöhnlich früh zu Bett geht und ihre Gäste um halb zehn fortgeschickt hat. Giorgio ist förmlich davongeschnellt und mit dem Handy fest am Ohr immer gleich zwei Treppenstufen auf einmal hinuntergesprungen. Kaum ist Mauro zurück in seiner Wohnung, klingelt das Telefon. Es ist Muttina.

«Warst du zum Essen bei Margherita?»

«Ja.»

«Sehr schön. Und, war es langweilig?»

«Viel weniger als befürchtet. Zum Glück war Giorgio auch da. Und wie geht es Stefi?»

«Prächtig. Er hat einen gesunden Appetit. Heute war er lange mit seinem Großvater draußen, er ist gerade wie tot ins Bett gefallen. Und wie geht’s dir?»

«Ich war heute Nachmittag nicht noch mal im Büro, ich habe hier gearbeitet. Ach, übrigens, mir ist heute was Komisches passiert.» Er erzählt ihr von der Unbekannten.

Muttina lacht.

«Was ist denn so lustig daran?»

«Ich stelle mir gerade das Gesicht vor, das du gemacht hast.» Pause. Dann: «Die Situation war ja, sozusagen, klassisch.»

«Das verstehe ich nicht.»

«Die Frau ist im Urlaub, die Bedürfnisse des verflixten siebten Jahres …»

Jetzt lacht Mauro. «Willst du damit sagen, ich hätte die Gelegenheit beim Schopf ergreifen sollen? Na, beim nächsten Mal …»

«Es wird kein nächstes Mal geben.»

«Wieso nicht?»

«Weil das ein Zufall war. So was passiert einem nicht zweimal, unmöglich.»

«Schade eigentlich.»

Sie plaudern noch einige Minuten, dann sagen sie sich gute Nacht.

Mauro hat noch keine Lust, schlafen zu gehen. Und er hat auch keine Lust, diesen Abend wie die vorangegangenen damit zu verbringen, einen zerstreuten Blick mal auf den Fernseher und mal auf die Schlagzeilen der Zeitungen zu werfen. Zur Abwechslung könnte er sich einen Roman aus Muttinas Bücherschrank holen, sie hat jede Menge davon, doch Romane langweilen ihn. Was tun? Er geht ins Wohnzimmer, macht das Fenster weit auf und sieht hinaus. Dieser römische Abend ist warm und einladend, direkt schon sommerlich. Nach einem Spaziergang würde er bestimmt gut schlafen. Warum eigentlich nicht? Zehn Minuten später passiert er das Eingangstor und nimmt Kurs auf die Straße am Tiber. Es herrscht viel Verkehr, besonders an der Brücke staut es sich, und er muss sich mühsam zwischen den Autos hindurchschlängeln. Er schwitzt. Und wenn er das Jackett ausziehen würde? Noch nie ist er in Hemdsärmeln aus dem Haus gegangen, das kam ihm immer etwas ordinär vor. Doch heute zieht er es aus und legt es sich über den Arm. Ja, mehr noch, er lockert seine Krawatte und öffnet den obersten Hemdknopf. Vor ihm liegt die Piazza del Popolo, bevölkert mit Leuten, die spazieren gehen, diskutieren, singen. Er geht auf eines von zwei einander gegenüberliegenden Cafés zu. Die Tische draußen sind alle besetzt. Doch im zweiten Café findet er noch einen Platz im Freien. Er setzt sich.

Zu seiner eigenen Überraschung verlangt er einen Pfefferminzlikör auf Eis. Seit seiner Jugend hat er so was nicht mehr getrunken, und er hat nicht die leiseste Ahnung, warum er den jetzt bestellt hat. Sein Tisch steht direkt an der Bordsteinkante, auf der anderen Straßenseite ist ein Taxistand mit mehreren Wagen.

Aus den Augenwinkeln beobachtet er ein junges Paar am Nachbartisch. Es ist unübersehbar, dass die beiden sich zwar leise, doch heftig streiten. Angestrengt horcht er auf das, was sie sagen, doch ringsumher ist es zu laut. Der Kellner bringt ihm seinen Drink. Er nippt daran und verzieht das Gesicht. Viel zu süß.

«Verpiss dich, du Mistkerl!»

Das kam von dem jungen Mädchen, das aufgesprungen ist und nun davonläuft. Ihr Begleiter kramt in seinen Taschen, wirft einen Geldschein auf das Tablett und setzt zur Verfolgung an.

Mauros zerstreuter Blick fällt auf die Taxireihe. Ein Pärchen, das ihm den Rücken zuwendet, hat gerade den ersten Wagen erreicht. Der etwa fünfzigjährige Mann, hochgewachsen und stattlich, hält seiner Begleiterin die Tür auf. Als sie in ihrem langen Abendkleid einsteigt, zeigt sie für einen kurzen Augenblick ihr Profil. Mauro erstarrt auf seinem Platz. Das ist die Unbekannte! Der Mann schließt die Autotür. Mauro kann das Profil der Frau noch immer gut erkennen, weil das Fenster heruntergelassen ist. Allmählich und mit einer unerklärlichen Enttäuschung wird ihm klar, dass sie nicht die Unbekannte ist, sondern eine Frau, die ihr zum Verwechseln ähnlich sieht. Nun ist auch der Mann eingestiegen, das Taxi fährt an.

Mauro möchte jetzt nur noch weg, so weit wie möglich. Er zahlt, steht auf, stellt aber überrascht fest, dass seine Beine ihm nicht gehorchen, zu Fuß wird er es nicht nach Hause schaffen. Er nimmt sich ein Taxi.

In seiner Wohnung, im Schutz der eigenen vier Wände, legt sich seine unerklärliche Nervosität. Er will nicht über die Wirkung nachdenken, die der Anblick der der Unbekannten so ähnlichen Frau auf ihn gehabt hat, er will nur schlafen.

Zwei

Nur an Regentagen fährt Mauro mit dem Auto in sein Büro in der Via Nazionale, ansonsten nimmt er die öffentlichen Verkehrsmittel. Sobald er aus der Tür ist, wechselt er für gewöhnlich auf den gegenüberliegenden Gehsteig, weil sich dort ganz in der Nähe der Kiosk befindet, an dem er immer die gleichen zwei Zeitungen kauft. An diesem Morgen muss er beim Überqueren der Straße abrupt anhalten, um nicht von einem Auto überfahren zu werden, das von links angerast kommt. Der Wagen streift jedoch einen entgegenkommenden Motorroller mit einem schnauzbärtigen Lockenkopf darauf, bringt ihn aus dem Gleichgewicht, so dass er stürzt, und fährt weiter. Mauro eilt dem Mann zu Hilfe, der schon wieder aufsteht.

«Haben Sie sich weh getan?»

«Einen Scheiß hab ich», sagt der Mann nervös, steigt wieder auf und fährt davon.

Je schlimmer die Krise wird, desto mehr liegen bei allen die Nerven blank, denkt Mauro. Der tut ja gerade so, als hätte ich ihn angefahren.

Wenig später, auf dem Weg zur Bushaltestelle, bleibt er kurz vor dem Schaufenster eines Schuhgeschäfts stehen, er braucht ein Paar Sommerschuhe. Da sieht er im Spiegel der Scheibe, wie der schnauzbärtige Lockenkopf auf seinem Motorroller langsam hinter ihm vorbeifährt. Und in seine Richtung schaut. Der ist ja wohl nicht ganz bei Trost! Will er testen, ob er noch sauer auf ihn ist?

Ein diskretes Klopfen, dann wird die Tür seines Büros geöffnet, und eine Stimme sagt: «Gestatten Sie?»

Mauro kennt sie, es ist die von Biraghi, dem leitenden Inspektor. Er ist etwas verwundert, denn Biraghi verlässt seinen Sessel nur selten, um die Büros der anderen aufzusuchen. Mauro steht auf und geht ihm entgegen. Sie schütteln sich die Hand. Biraghi schließt die Tür sorgfältig hinter sich. Sie setzen sich auf die kleine Eckcouch.

«Was macht die Familie, alles in Ordnung?»

«Alles in Ordnung, danke.»

«Haben Sie schon mit dem Bericht angefangen?»

«Vor drei Tagen, ja.»

«Wird es keine Verzögerungen geben?»

«Warum sollte es welche geben?»

«So was kann ja passieren.»

«Das wird nicht passieren.»

«Umso besser. Ich wollte Ihnen neulich nicht das Gefühl geben, dass ich ungeduldig darauf warte zu erfahren … Nun, es hat keine Eile. Falls Sie noch eine weitere Prüfung benötigen, dann führen Sie sie durch, lassen Sie sich alle Zeit, die Sie brauchen.»

«Danke.»

Mauro hält den Besuch für beendet und will schon aufstehen, doch Biraghi bleibt sitzen.

«Gestern Abend war ich bei Freunden eingeladen», sagt er nach einer winzigen Pause. «De Simone war auch dort.»

«Der Staatssekretär?»

«Ja. Er war in Begleitung von Senator Fondi, seinem Parteifreund.» Er holt kurz Luft und fährt fort. «Ich will ja nichts argwöhnen, doch ich hatte den unangenehmen Eindruck, in eine Art Hinterhalt geraten zu sein.»

«Das verstehe ich nicht.»

«Ich hatte das Gefühl, meine Einladung zu diesem Abend ist auf Betreiben von De Simone und Fondi zustande gekommen.»

«Wozu denn?»

«Um mir, wenn auch verklausuliert und durch die Blume, einen Tipp zu geben.»

«Entschuldigung, aber …»

«Die beiden waren gut aufeinander eingespielt und warfen sich die Bälle in einem Schwall von Worten zu, aus dem immer wieder ein Grundgedanke auftauchte, nämlich der, dass alle, die die Aufgabe haben, für die Einhaltung der Gesetze zu sorgen, auch die Pflicht hätten, dabei die möglichen politischen und sozialen Auswirkungen ihres Handelns genauestens im Blick zu behalten.»

«Was im Klartext heißt: Passt auf, wie ihr mit der Banca Santamaria umgeht?», fragte Mauro spöttisch.

«Mir scheint, genau das wollten sie sagen. Doch lassen Sie sich dadurch in Ihrer Arbeit nicht beirren, mein lieber Assante. Ich wollte Sie nur über den Stand der Dinge informieren.»

Er steht auf, sie schütteln sich erneut die Hand, Mauro öffnet ihm die Tür.

Was für ein Drecksack dieser Biraghi doch ist! Auf diese Weise hat er leichthin und unauffällig die Warnung, die er selbst erhalten hat, auf ihn abgewälzt. Dass die Inspektion in der Banca Santamaria eine riesige Schererei werden würde, hatte er schon in dem Moment begriffen, als Biraghi ihn damit beauftragte.

Es war ein offenes Geheimnis, dass der Vorstandsvorsitzende Foschini ein Günstling des Abgeordneten De Simone war, eines milliardenschweren, nahezu skrupellosen Unternehmers, der in die Politik gegangen war, und dass der gesamte Vorstand von Senator Fondi zusammengestellt worden war. Diese Männer hatten die Bank in eine Parteikasse umfunktioniert, wie Dutzende Beschwerdebriefe und einige Zeitungsartikel monierten. Die Bank einer Finanzprüfung zu unterziehen war, als würde man in eine Hochspannungsleitung greifen.

Er hat sich angewöhnt, mittags in einer kleinen Trattoria unweit des Büros zu essen. Sein Kollege Marasco hat sie ihm empfohlen, der als Junggeselle dort Stammgast ist. Beim Eintreten entdeckt er ihn an seinem üblichen Tisch. Er geht zu ihm und setzt sich.

Marasco kommt mit einem leichten Lächeln sofort zur Sache. «Ich habe gehört, Biraghi hat dir heute Morgen einen Besuch abgestattet.»

«Hm.» Besser, er spricht nicht darüber, Marasco ist ein fürchterliches Klatschmaul. Doch der lässt nicht locker.

«Was wollte er denn?»

Mauro beschließt, ihm nicht alles zu verraten, was Biraghi ihm gesagt hat. «Er war da, um mir mitzuteilen, dass er mir für die Abfassung meines Berichts alle Zeit der Welt lässt.»

«Und was hast du ihm geantwortet?»

«Ich habe mich bedankt und ihm gesagt, dass ich zum vorgesehenen Termin abgeben werde.»

«Da wäre ich zu gern dabei gewesen.»

«Warum?»

«Na, um sein Gesicht zu sehen.»

«Aber er hat gar kein Gesicht gezogen!»

«Weil er sich unter Kontrolle hat. Eigentlich wollte er dich bitten, das Ganze noch eine Weile aufzuschieben.»

«Wie kommst du denn darauf?»

«Da kannst du Gift drauf nehmen. De Simone und Fondi wissen, dass das Schicksal ihrer Bank sehr wahrscheinlich besiegelt ist, und sie brauchen Zeit für eine Reihe von Manövern, die den Schaden, der ihnen entstehen wird, begrenzen sollen. Und Biraghi wollte dich genau darum bitten.»

«Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, zumal Biraghi den Abgabetermin ja selbst festgelegt hat.»

«Offensichtlich haben sie ihn darauf hingewiesen, dass er einen Fehler gemacht hat, und jetzt versucht er zurückzurudern.»

Ein Kellner kommt, um ihre Bestellung aufzunehmen. Marasco wartet, bis er gegangen ist, bevor er weiterspricht. «Alles in allem ist es doch amüsant», sagt er.

«Was?»

«Dass Biraghi dich verheizen will und dabei Gefahr läuft, sich selbst gehörig die Finger zu verbrennen.»

«Was ist denn das für eine Geschichte, kannst du mir das mal erklären?»

«Welche Geschichte?»

«Dass Biraghi mich verheizen will.»

«Sieh dir die Fakten an. Im normalen Dienstbetrieb hätte man dich für diese Prüfung nicht eingeteilt, weil du gerade erst eine andere Inspektion abgeschlossen hast. Trotzdem hat Biraghi dich damit beauftragt. Und er hat nur dich geschickt, als einzigen Hauptprüfer, was nicht gerade üblich ist. Er hat dafür gesorgt, dass du allein der Verantwortliche in dieser brenzligen Angelegenheit bist.»

«Sag mal, Marasco, ganz ehrlich: Warum soll Biraghi mich deiner Meinung nach verheizen?»

Marasco sieht ihn erstaunt an. «Fragst du mich das im Ernst?»

«Ganz im Ernst.»

«Dann bist du also der Einzige, der nicht weiß, was man über dich redet?»

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