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Die verlorenen Kinder von Paris

Als Buch hier erhältlich:

Ihr Mut schenkte Hoffnung in einer dunklen Zeit

Paris, 1935: Erschüttert beobachten Madeleine Lévy und ihre Freunde, wie sich von Deutschland aus ein Schatten über Europa legt. Immer mehr jüdische Flüchtlinge, vor allem Kinder, kommen in der Stadt an. Madeleine merkt schnell, dass sie deren Leid nicht einfach nur mitansehen kann – sie muss etwas tun. Gemeinsam mit anderen Mitgliedern ihrer jüdischen Glaubensgemeinschaft beginnt sie die Flüchtlinge aus Paris zu bringen. Sie fälschen Papiere und sichern Fluchtrouten durch die Pyrenäen. Doch die Lage in Paris wird immer gefährlicher und Madeleine muss sich entscheiden, für das eigene Leben oder das der Kinder …


  • Erscheinungstag: 26.04.2022
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749903160

Leseprobe

PROLOG

Rot, weiß und blau tanzte das Feuerwerk über den kobaltblauen Abendhimmel. Aufgeregtes Kindergeschrei und schwungvolle patriotische Musik von umherziehenden Straßenmusikern vermischten sich mit spontan auflebendem Gesang. Wie immer in der Woche vor dem Vierzehnten Juli strömten die Pariser auf die Straßen, um zu feiern. Die Geräusche festtäglicher Ausgelassenheit drangen durch die offenen Fenster in den Salon der Levys, doch die versammelte Familie saß vor Kummer ganz still, gleichgültig gegenüber dem fröhlichen Treiben dort unten.

Die Hände verschränkt, die Köpfe gesenkt, wagten sie nicht, einander anzusehen, aus Angst, dass ein Blickwechsel eine Flut von Tränen auslösen könnte. Es fiel ihnen schwer, die warnenden Worte zu verarbeiten, die Dr. Pierre Paul Levy langsam, voll Bedauern und in gedämpftem Tonfall zu ihnen sagte, wobei er unbehaglich das Gewicht verlagerte. Der Schwiegersohn von Alfred Dreyfus hatte im Lauf seiner medizinischen Karriere schon vielen Familien das baldige Ableben einer geliebten Person angekündigt, doch an diesem Sommerabend verkündete er solch ein Urteil vor seinen eigenen Angehörigen.

»Ich habe euch hierhergebeten, um euch zu sagen, dass ihr auf das Unvermeidliche gefasst sein müsst. Er wird sterben. Bald. Sehr bald«, sagte er, wohl wissend, dass seine Stimme kaum zu hören war.

Jeanne Dreyfus-Levy, seine Ehefrau, drehte sich zu ihm um. Alle Farbe war aus ihren feinen Gesichtszügen gewichen, und sie redete sehr leise.

»Bist du sicher, Pierre Paul?«, fragte sie, obwohl sie wusste, dass die Frage überflüssig war. Pierre Paul war bekannt für seine diagnostische Expertise und die Exaktheit seiner Voraussagen. Er war nur allzu vertraut mit dem unheimlichen Fortschreiten der Krankheit, die langsam, aber sicher das Leben von Alfred Dreyfus beenden würde.

»Es gibt keinen Zweifel«, wiederholte er entschieden. »Seine Nieren versagen. Der Tod wird schnell eintreten.«

Jeanne nickte, ging zum Fenster, schloss es und zog die purpurroten Samtvorhänge zu, um sowohl den Anblick als auch die Geräusche des ausgelassenen Treibens zu verbannen, das die Familie in ihrer gerade beginnenden Trauer störte. Was für eine Ironie, dachte sie, dass ihr Vater, der eine fälschliche Verurteilung wegen Spionage, fünf lange Jahre des Exils und der Gefangenschaft auf der Teufelsinsel und dann auch noch heldenhaft die blutigen Schlachten des großen Krieges überstanden hatte, jetzt an einem einfachen Bauchproblem sterben würde. Sie seufzte und kehrte zu ihrem Platz auf dem Sofa neben ihrer Mutter zurück. Zärtlich nahm sie Lucies kalte Hand und massierte sacht jeden einzelnen Finger der älteren Frau.

»Aber Grand-Père wird doch nicht vor dem Tag der Bastille sterben, oder?«, fragte Etienne, das jüngste der Levy-Kinder, und wurde im selben Moment rot angesichts der Nichtigkeit dieser Frage.

»Doch. Fast sicher noch vor dem Tag der Bastille«, erwiderte sein Vater traurig.

Pierre Paul Levy konnte und wollte seine Familie nicht belügen. Als Arzt war ihm der Tod, ob plötzlich oder zögernd, schon lange ein ständiger Begleiter. Sein eigener Kummer angesichts dieses neuen bevorstehenden Verlustes war begrenzt, doch er trauerte für Jeanne; für ihren Bruder Pierre, für Lucie, deren Mutter; und für die Kinder der Familie, seine eigenen Söhne und Töchter, seine Nichten und Neffen, deren jugendliche Unbedarftheit durch den Tod ihres Großvaters erschüttert würde.

Auf deren Kummer gefasst legte er die Hand auf Jeannes Schulter, doch sein Blick haftete an Madeleine, seiner jüngeren Tochter.

Sie saß ihm gegenüber, neben ihrer Schwester Simone. Ihre Augen waren geschlossen. Lange, dunkle Wimpern, feucht von zurückgehaltenen Tränen, warfen Schatten auf ihre hohen Wangenknochen, und ihr dunkles Haar fiel ihr in einer Kaskade von Locken um die Schultern. Sie war siebzehn, sehr junge Siebzehn – zu jung, wie er fand, um einen so schweren Verlust zu erleiden. Er hatte längst das geheimnisvolle zärtliche Band zwischen Madeleine und ihrem Großvater bemerkt, das die beiden seit Madeleines frühester Kindheit tröstete und stärkte. Die starke Zuneigung zwischen ihnen war offensichtlich.

»Sie brauchen einander, sie verstehen einander«, hatte Simone einmal zu ihm gesagt. »Madeleine liest ihm von den Lippen ab, und Grand-Père aus ihrem Herzen.«

Pierre Paul hatte verstanden, wie sehr diese Worte zutrafen. Als Madeleine mit acht Jahren an Scharlach erkrankt war, hatte Alfred Dreyfus Tag für Tag, Nacht für Nacht an ihrem Bett verharrt. Als sie nach diesem lebensbedrohlichen Dämmerzustand wieder das Bewusstsein erlangt hatte, war ihr allererstes Wort Grand-Père gewesen. Und dieser Großvater, ein Mann, der selten Gefühle äußerte, hatte geweint, als er sich herabbeugte, um sie auf die Wange zu küssen. Doch als er Tage später dem frisch genesenen Kind erklärte, dass die Krankheit dessen Gehör geschädigt hatte, waren seine Augen trocken geblieben.

Er selbst und Jeanne, ihre Eltern, waren zu feige gewesen, wie Pierre Paul sich eingestand, und hatten diese schwierige Aufgabe Alfred überlassen. Aber sie hatten zugehört, als er ihrer Tochter die Wahrheit erklärte.

»Du musst deine Schwerhörigkeit als ein Geschenk betrachten. Du wirst lernen, dich zu konzentrieren und den Leuten, die mit dir sprechen, von den Lippen abzulesen. Diese Art von Konzentration wird dir zu einem tiefen Verständnis verhelfen für die Menschen und für das, was sie sagen«, hatte er erklärt, und Madeleine, mutig ihr Schicksal akzeptierend, hatte genickt.

Damals hatte sie noch nicht wirklich verstanden, was er sagte, aber seine Worte waren ihr im Gedächtnis geblieben, und sie konnte darauf zurückgreifen, wenn sie das brauchte. Vielleicht griff sie ja gerade jetzt darauf zurück.

Es war, wie er feststellte, zu einer seltsamen Umkehr der Rollenverteilung gekommen. So wie ihr Großvater an ihrem Bett gesessen hatte, als sie noch ein Kind gewesen war, hatte Madeleine während seiner Krankheit an seinem gesessen. In ihrem letzten Jahr am Lyzeum hatte sie den ganzen Frühling hindurch lange Nachmittage und Abende an seiner Seite verbracht, Stunden, die sie von ihren Schularbeiten und von ihrem Engagement für die Kinder ihrer jüdischen Pfadfindergruppe abgezwackt hatte. Die Kinder erfüllten sie mit Freude. Der sich ständig verschlechternde Gesundheitszustand ihres Großvaters jedoch erfüllte sie mit Verzweiflung.

Sie hatte gesehen, wie er zusehends abmagerte, wie sich seine Haut, brüchig wie Pergament, mit dem Einsetzen der Gelbsucht verfärbte. Als Arzttochter wusste sie, dass er im Sterben lag.

Pierre Paul blickte auf das hübsche Gesicht seiner Tochter und fragte sich, weshalb er immer nur an Madeleines Zerbrechlichkeit dachte und nie ihre bemerkenswerte Stärke würdigte. Er würdigte sie jetzt; er nahm Madeleines Hand und führte sie ins Esszimmer, wo die Familie sich um den Tisch herum versammelte, an kalt gewordenem Tee nippte und all die Angelegenheiten besprach, die angesichts des Unvermeidlichen zu erledigen waren. Vorbereitungen für die Bestattung. Ankündigungen in der Presse und beim Militär. Alfred Dreyfus war eine Person von historischer Bedeutung, Chevalier der Ehrenlegion. Kondolenzlisten mussten aufgelegt, Zuständigkeiten verteilt werden.

Als das getan war, driftete das Gespräch unausweichlich wieder zu den bedrohlichen Nachrichten aus Deutschland, die die Familie zu jeder wachen Stunde quälten. Die Grausamkeit des Nazi-Regimes, die Realität des Bösen so nah an ihrer eigenen bedrohten Grenze, ließ sich nicht ignorieren.

Ein Krieg, dachte Pierre Dreyfus, steht uns ebenso bevor, so wie der Tod meines Vaters.

»Die Berichte aus Berlin machen Angst«, stellte Pierre düster fest. »Antisemitische Gesetze werden verabschiedet, und Juden leiden furchtbar. Berufe werden ihnen verwehrt. Kinder werden vom Schulbesuch ausgeschlossen und von den jugendlichen Schlägern der Hitlerjugend terrorisiert. Entsetzliche Dinge geschehen, und das Schlimmste kommt erst noch.«

»Man wird diese Gesetze wieder streichen. Hitler wird nicht lange bestehen im Land von Schiller, Goethe, Beethoven und Bach«, entgegnete Pierre Paul. »Du bist zu pessimistisch, Pierre.«

»Nein«, erwiderte Pierre entschieden. »Ich bin nicht pessimistisch genug. Vielleicht hast du vergessen, dass mein Vater im Land von Voltaire und Racine verfolgt wurde.«

»Und freigesprochen. Frankreich ist nicht Deutschland«, widersprach Pierre Paul.

»Aber jetzt ist Deutschland gleich Adolf Hitler. Erst heute hat er gesagt, dass er Italiens Invasion in Äthiopien unterstützt. Wenn Italien in Äthiopien einmarschieren kann, warum sollte Deutschland dann nicht in Frankreich einmarschieren? Hat er nicht bereits gesagt, Deutschland habe einen berechtigten Anspruch auf das Elsass?«

Ein Schauer überlief sie alle, als er das Elsass erwähnte. Alfred Dreyfus war in Mulhouse zur Welt gekommen, und ihre weitläufige Verwandtschaft lebte immer noch dort. Ein bedrohtes Elsass bedeutete, dass die Familie Dreyfus bedroht war. Hitlers Drohungen stachen ihnen ins Herz.

Pierres Stimme wurde leiser, und er ließ die Schultern hängen. Seine Frage war rhetorisch. Die Sinnlosigkeit des Streits ermüdete ihn. So nahe sie einander auch standen, der Ehemann seiner Schwester und er waren politisch schon lange gegensätzlicher Meinung.

»Selbst in dem unwahrscheinlichen Fall einer deutschen Invasion – die Franzosen werden sich mutig und ehrenvoll verhalten«, beharrte Pierre Paul.

Madeleine zitterte. Die Erwähnung der Grausamkeiten, die jüdische Kinder in Deutschland aushalten mussten, erfüllte sie mit Angst. Wenn Deutschland in Frankreich einmarschierte, wären die Kinder, die sie betreute, derselben Gefahr ausgesetzt. Sie dachte an ihre strahlenden Gesichter, ihre niedlichen Kinderstimmen, und die Angst erdrückte sie fast.

Sie blickte über den Tisch zu Simone und zu ihren Brüdern. Simone, die ihre Not spürte, drückte beruhigend Madeleines Hand, und die Jungen lächelten. Als Mitglieder der éclaireurs Isrealites, der jüdischen Pfadfinder, teilten die Levy-Geschwister die Ansichten ihres Onkels, aber dies war kein Abend, um ihrem Vater Widerworte zu geben, noch war es ein Abend, an dem die Familie Dreyfus im Streit liegen sollte.

Lucie hob schließlich die Hand und sprach mit leiser Stimme. »Lasst uns nicht streiten«, sagte sie. »Lasst uns stattdessen beten für alles, was uns wichtig ist. Frieden für unser Land und unser Volk. Frieden für Alfred.«

Ihre Worte besänftigten sie und ließen sie verstummen. Madeleine half Lucie, ihre Pelerine zurechtzurücken.

»Wir sehen uns morgen, grand-mère«, sagte sie.

»Ja. Morgen. A demain«, sagte die alte Frau und küsste sie auf die Wange.

***

Am nächsten Morgen stand Madeleine früh auf und radelte schnell vom Haus ihrer Eltern zu dem kleinen Studentencafé im Rive Gauche, wo ihr enger Freund Claude Lehmann auf sie wartete. Er blätterte in der Le Monde und runzelte die Stirn.

»Wieder schlechte Nachrichten?« Sie setzte sich ihm gegenüber und tunkte dankbar ihr Croissant in die Schale mit café au lait, die er so vorausschauend für sie bestellt hatte.

»Wann gab es je gute Nachrichten?« Claude seufzte. »Es sind gefährliche Zeiten. Die éclaireurs müssen sich auf die Probleme einstellen, die auf sie zukommen.«

Sie nickte. Er sprach seine Schlussfolgerungen nicht direkt aus, aber sie verstand, worauf er hinauswollte.

»Ich kann nicht mehr sagen«, fuhr er fort. »Aber du verstehst. Die jüdischen Pfadfinder brauchen dich, Madeleine. Es gibt Arbeit.«

»Ich weiß«, sagte sie mit fester Stimme, aber geröteten Wangen.

»Natürlich.« Claude senkte den Blick. »Deinem Großvater geht es nicht besser?«, fragte er sanft.

»Er wird sich nicht erholen, Claude«, sagte sie tonlos. Er griff über den Tisch und berührte ihre Hand.

»Sei stark, Madeleine«, sagte er, stand auf und sammelte seine Bücher ein. »Es tut mir leid, dass ich gehen muss. Ich habe schon früh ein Seminar.«

Er suchte nach Worten, um sie zu trösten, doch es war sie, die die richtigen Worte fand, um den Abschied zu erleichtern.

»Mach dir keine Sorgen um mich, Claude«, sagte sie. »Kümmere dich um dein Studium. Wir treffen uns bald wieder. Jetzt erst einmal au revoir

»Au revoir«, wiederholte er und eilte davon.

Als er um die Ecke bog und zurückblickte, sah er, dass Madeleine regungslos am Tisch saß und in ihre leere Tasse starrte. Er hätte sie nicht ermahnen sollen, stark zu sein. Madeleine war stark genug. Stattdessen hätte er sie auf beide Wangen küssen und zärtlich die Hand auf ihren Kopf legen sollen. Reue ließ ihn seine Schritte verlangsamen, und er verfluchte sich im Geist für seine Befangenheit.

Sich selbst überlassen genoss Madeleine die Stille und verlor sich in einem Strudel von Erinnerungen.

»Blumen, Mademoiselle, Blumen zum Tag der Bastille? Heutiges Sonderangebot: Rote, Weiße und Blaue.«

Ein kleiner Junge, an dessen mageren Schultern Körbe mit Blumen hingen, unterbrach ihre Tagträumerei und lächelte sie hoffnungsvoll an.

»Ja. Natürlich.« Sie griff nach ihrer Geldbörse und zählte zwei Franc-Noten ab.

Der Junge überreichte ihr ein großes, von einem dreifarbigen Band zusammengehaltenes Bouquet.

»Und von diesem schönen Flieder möchte ich auch etwas«, fügte sie hinzu und lächelte, als er ihr die duftenden lila Blüten gab.

Fliederblüten, das wusste Madeleine, waren die Lieblingsblumen ihrer Großmutter, und auch sie selbst mochte sie sehr. Sie flocht sich einen der Zweige in ihr langes dunkles Haar. Frisch gestärkt trank sie den inzwischen lauwarmen Rest ihres Kaffees, stieg aufs Rad und fuhr rasch zur Wohnung ihrer Großeltern in der Rue des Renaudes.

Wie immer öffnete Lucie Dreyfus die schwere Eichentür mit einem heiteren, sanften Lächeln. Selbst in diesem Moment der Krise bewahrte sie ihre ruhige, würdevolle Ausstrahlung. Ihr dichtes weißes Haar war ordentlich zu einem Chignon hochgesteckt, und sie hatte einen weißen, selbst gefertigten Spitzenkragen an ihr schwarzes Kleid geheftet. Madeleine bemerkte einen Schimmer von Rouge auf Lucies Wangen, obwohl ihr fein geschnittenes Gesicht blass war vor Erschöpfung. Sie nahm den Fliederstrauß, den Madeleine ihr hinstreckte und sog dankbar den süßen Duft ein.

»Die sind schön, Madeleine«, sagte sie. »Ich bin froh, dass du da bist. Erst vor ein paar Minuten hat dein Grand-père nach dir gefragt.«

»Er ist also wach?«, fragte Madeleine.

»Es ist so eine Art Wachschlaf. Mal sind seine Augen offen. Dann schließen sie sich wieder. Er redet, dann verstummt er. Aber hab keine Angst, Madeleine. Er scheint keine Schmerzen zu haben.«

»Ich habe keine Angst«, versicherte Madeleine.

Claudes Worte fielen ihr wieder ein. Gefährliche Zeiten, hatte er gesagt. Das Leben, dachte sie traurig, ist wohl beängstigender als der Tod.

Sie nahm die Vase mit dem rot-weiß-blauen Strauß mit in das schwach beleuchtete Krankenzimmer, wo ihr Onkel Pierre am Bett seines Vaters saß.

»Schläft er?«, flüsterte sie und stellte die Vase auf einem kleinen Tisch ab.

»Er ist weder wach, noch schläft er. Ein Fugue-Zustand, meint dein Vater.«

Sie nickte und setzte sich neben ihn. Sie sprachen kein Wort mehr, aber von Zeit zu Zeit trafen sich ihre Blicke, und hin und wieder beugten sie sich vor zu dem kranken Mann, wenn er Worte flüsterte, die keiner von ihnen verstehen konnte. Sie blickten auf, als Lucie hereinkam, und sahen zu, wie sie ihrem Ehemann mit einem feuchten Tuch über die Stirn strich, seine trockenen Lippen mit Eisstückchen befeuchtete und sich dann vorbeugte und seine Wange küsste.

Alfred Dreyfus öffnete die Augen und richtete den Blick auf Madeleine.

»Ma Petite. Ma Madeleine.« Trotz seiner rauen Stimme klang all seine Liebe mit, als er ihren Namen aussprach.

»Chantez. Singt.« Er schloss die Augen und versank wieder in dem eigenartigen Halbschlaf, von dem sie wusste, dass er sehr bald mit dem Tod enden würde.

Sie summte leise, dann erhob sie die Stimme und sang das Wiegenlied, das Großvater ihr so oft gesungen hatte. Stets an ihr Hörproblem denkend, hatte er jedes einzelne Wort deutlich artikuliert, und sie hatte den Text in ihrem Gedächtnis bewahrt. Wie viele Menschen mit einem Hörproblem hatte sie keine Schwierigkeiten mit Musik und mit Melodien.

»Entends-tu le coucou, Malirette? Hörst du den Kuckuck, Malirette?«, sang sie.

Pierre begleitete ihre weiche Altstimme mit seinem kräftigen Tenor. In einem zärtlichen Duett sangen sie Alfred Dreyfus in seinen letzten Schlaf. Ihre Stimmen wurden immer leiser, während sein Atem stieg und fiel und schließlich aufhörte. Lucie kam herein, ging leise durchs Zimmer, legte die Hand auf Alfreds Herz, drückte ihre Wange auf seinen Mund und, als Abschiedskuss, ihre Lippen auf seine bleichen Augenlider.

»Er ist nicht mehr da«, sagte sie mit brechender Stimme. »Er hat uns verlassen.«

Pierre umfing sie mit seinen starken Armen, und sie legte den Kopf an seine Schulter. Stumm standen sie beisammen, vereint in ihrem Leid, in der Ungeheuerlichkeit ihres Verlustes. Madeleine wiederum legte ihrem Großvater drei Blüten, eine rot, eine weiß, eine blau, auf das Herz, das nie mehr schlagen würde.

Durch das offene Fenster hörte sie die Kirchenglocken und zählte die Schläge. Un. Deux. Trois. Quatre. Cinq. Für immer würde sie sich erinnern, dass am zwölften Tag des Monats Juli, um fünf Uhr nachmittags, als die Sonne noch hoch am Himmel stand, der Tod zu ihrem Großvater Alfred Dreyfus gekommen war.

***

Es war Lucie Dreyfus, die darauf bestanden hatte, dass das Begräbnis am Tag der Bastille stattfinden sollte.

»Unser Volk ehrt die Toten, indem es sie so bald wie möglich bestattet«, sagte sie entschieden, und ihre Familie nickte ergeben. Lucies stille Gelassenheit verlieh ihr eine Autorität, die ihre Kinder und Enkel anerkannten und akzeptierten.

»Ich bin froh, dass dein Großvater am Tag der Bastille beerdigt wird«, murmelte Pierre zu Madeleine. »Du weißt, wie sehr er sein Frankreich geliebt hat.«

»Ja«, erwiderte Madeleine, die gerade sorgfältig die französische Flagge auf dem schlichten Kiefernholzsarg arrangierte.

Der Leichenzug verließ die Rue des Renaudes bei Tagesanbruch und schritt langsam von den Champs-Elysées zum Friedhof von Montparnasse auf der anderen Seite der Seine. Selbst zu dieser frühen Stunde waren die Straßen bevölkert mit Menschen, die die Trikolore schwenkten. Rote, weiße und blaue Ballons schwebten durch die Luft. Kinder peitschten ihre Reifen; junge Paare tanzten zur Musik von Wandermusikanten, doch sie hielten respektvoll inne, als der Leichenwagen langsam vorbeirollte.

Am Place de la Concorde unterbrachen Kavalleriesoldaten ihre Übungen und richteten ihre Pferde so aus, dass ihr Blick auf den Wagen gerichtet war, der den Helden von Montmorency zu seiner letzten Ruhestätte brachte.

Auf dem Friedhof standen Madeleine und Simone – beide in einem Kleid aus schwarzem Leinen, einen schwarzen Strohhut auf dem sorgfältig hochgesteckten Haar balancierend – neben Simones Verlobtem Anatol und lauschten, während Rabbi Julien Weill die traditionellen hebräischen Gebete anstimmte. Es war Madeleine, die einen Schritt vorwärts machte, um ihre Großmutter Lucie zu stützen, als diese leicht schwankte; ihre Lippen bewegten sich, während sie lautlos die Liturgie mitsang.

Pierre Dreyfus sang das Trauer-Kaddisch, und Madeleine war tief bewegt vom Rhythmus des Gebets und der melodiösen, kraftvollen Stimme ihres Onkels.

»Amen« sang die kleine Gruppe von Trauernden, als Pierre mit gesenktem Kopf und tränenüberströmtem Gesicht zum Ende kam.

»Amen«, wiederholte Madeleine und fügte ganz leise die Worte hinzu, die Alfred Dreyfus so viel bedeutet hatten: »Liberté, Egalité, Fraternité.« Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Sein Credo, sein Vermächtnis an sie.

Einer nach dem anderen traten Mitglieder ihrer Familien vor, um die Schaufel zu heben, die schwer war von der dunklen Erde, die das helle Holz des Sargs bedecken sollte. Es war eine jüdische Tradition, der letzte Beweis von Liebe und Respekt, den eine Familie einem geliebten Verstorbenen zollte.

»Du bist dran, Madeleine«, sagte ihr Bruder Jean Louis und reichte ihr die Schaufel.

Sie schüttelte den Kopf und ging stattdessen neben dem offenen Grab auf die Knie. Sie hob einen Ballen feuchter Erde und ließ ihn auf den Sarg fallen. »Au revoir, grand-père. Shalom, grand-pére«, murmelte sie. Auf der Rückfahrt in die Rue des Renaudes, wo Lucie Dreyfus jetzt allein leben würde, saß sie neben Simone.

»Geht es dir gut, Madeleine?«, fragte Simone.

Die Levy-Schwestern hatten von früher Kindheit an stets die Stimmung der anderen erspürt. Als beste Freundinnen, einander zärtlich liebende Schwestern, wollten sie sich gegenseitig beschützen. Sie teilten die gleichen Interessen und Neigungen und das Bedürfnis, für die vom Schicksal weniger Begünstigten tätig zu werden. Simone war im Begriff, ihr Studium der sozialen Arbeit abzuschließen, und Madeleine, die gerade das Lycée Molière beendet hatte, würde dieses Studium ebenfalls aufnehmen.

»Nein. Noch nicht. Aber das wird schon wieder«, antwortete sie.

»Ja. Gewiss«, stimmte Simone zu.

Die Schwestern machten sich in der Küche ihrer Großmutter zu schaffen, arrangierten Platten mit hart gekochten Eiern und runden Gebäckstücken, den traditionellen Speisen, die nach einem Begräbnis die Kontinuität des Lebens, selbst im Angesicht des Todes, symbolisierten.

Madeleine trug ein Tablett ins Speisezimmer, ging von dort ins Arbeitszimmer und schloss die Tür hinter sich. Die Fenster des halbdunklen, von Bücherregalen gesäumten Raumes, in dem sie so viele glückliche Stunden mit ihrem Großvater verbracht hatte, waren fest verschlossen, die Luft schwer von der Sommerhitze. Sie öffnete die Fenster, und eine duftende Brise, gesättigt von Primelduft, strich über ihre Wangen. Sie blickte hinab auf die Straße, in der es von Feiernden wimmelte, die in rührender Spontanität drauflos sangen. Unter dem Vordach des Hauses teilte sich eine Gruppe tanzender Kinder, um Besucher durchzulassen, die den Trauernden ihr Beileid bekunden wollten. Wie befremdlich, dachte Madeleine, aber auch wie wundervoll, dass die Freude der tanzenden Kinder und das Leid derer, die gerade einen schweren Verlust erlitten hatten, einfach so miteinander verschmelzen können. Das war ihr schon am Morgen bewusst geworden, als sie und ihre Großmutter den Tisch für die Mahlzeit des Trostes gedeckt hatten, die auf die Bestattung folgen würde.

Lucie hatte sie ermahnt, sorgfältig mit den goldumrandeten Serviertellern aus Sèvres umzugehen.

»Mein allererstes Hochzeitsgeschenk«, hatte sie erklärt. »Ich hatte Angst, sie anzufassen. Ich war ja so ein unwissendes Ding. Eine Braut, mit neunzehn. So glücklich, so verliebt. So alt wie Simone jetzt. Und Alfred war vielleicht ein Jahr älter als Simones Anatol. Wir konnten nicht aufhören zu lächeln, Alfred und ich.«

Madeleine hatte genickt und sich gewundert, dass ihre Großmutter sich an diesem traurigen Tag daran erinnerte, wie sie und Alfred vor Freude gestrahlt hatten. »Simone hat eine kluge Entscheidung getroffen«, hatte Lucie noch gesagt. »Findest du nicht, Madeleine?«

»O ja.«

Es war eine ehrliche Antwort gewesen. Sie fand es wundervoll, dass Simone in Anatol, einem brillanten Jurastudenten, ihr Glück gefunden hatte, doch sie selbst sehnte sich nach dem Abenteuer eines eigenständigen Lebens, nach einer Karriere mit einer Art von Bedeutung, die, auf irgendeine bescheidene Art, die Welt zu einem besseren Ort machen würde. Sie wollte herausgefordert, geprüft werden vom Leben.

Sie nahm die gerahmte Zeichnung des von einem Birnbaum beschatteten Dreyfus’schen Familienanwesens in Mulhouse zur Hand. Das Bild war die Arbeit eines unbekannten Wanderkünstlers, aber Alfred Dreyfus hatte es gehütet wie einen Schatz. Madeleine betrachtete es, hob es ans Licht, und gerade in dem Moment öffnete sich die Tür, und Claude Lehmann trat ein. Wortlos hielt sie ihm die Zeichnung hin, und er lächelte. Aufgrund eines seltsamen Zufalls kam auch er aus Mulhouse, und seine Familie und die Dreyfus waren Nachbarn gewesen.

»Ah, der Birnbaum. Wie oft bin ich den hinaufgeklettert. Im Sommer habe ich oft in den Zweigen gesessen, eine Birne gepflückt und den Saft herausgesaugt.«

»Ich bin auch an ihm hinaufgeklettert, wenn wir im Sommer zu Besuch waren«, erwiderte sie. »Vielleicht hast du dich damals in den Zweigen versteckt, und ich habe dich nicht gesehen.«

»Vielleicht.«

Er lächelte, dieses liebenswerte Lächeln, das ihr bei ihrer ersten Begegnung aufgefallen war, als sie noch neu gewesen war bei den éclaireurs Israélites. Er hatte mit dieser seltenen Mischung aus leidenschaftlichem Ernst und einer wehmütigen Art von Belustigung geredet.

»Das Pfadfindertum ist eine großartige Tradition«, hatte er gesagt. »Wir lernen dabei Eigenständigkeit und Respekt für die Natur in all ihrer Schönheit und mit all ihren Herausforderungen. Und wir, die jüdischen Pfadfinder, werden bald mit Situationen konfrontiert sein, die all unseren Mut und all unsere Fähigkeiten erfordern. Was den jüdischen Pfadfindern in Deutschland, den Blau-Weißen, passiert, wird vielleicht bald auch hier in Frankreich passieren, und wir als Pfadfinder müssen auf so eine Gefahr vorbereitet sein.«

Noch während er redete, hatte sich gemurmelter Protest erhoben.

»Frankreich ist nicht Deutschland. Was dort geschieht, könnte hier niemals geschehen«, hatte ein hochgewachsener Junge trotzig gerufen.

Claude hatte gelächelt, dieses wundervolle, nachsichtige Lächeln.

»Das wollen wir hoffen«, hatte er gesagt. »Aber es schadet nichts, sich auf etwas vorzubereiten, das möglicherweise geschehen könnte.«

Dann hatte er vor den versammelten, begeistert mit einfallenden Pfadfindern die »Marseillaise« angestimmt, gefolgt vom »Hatikvah«, der Hymne des jüdischen Volkes.

Danach war Claude auf Madeleine zugekommen und hatte die Hand ausgestreckt.

»Ich hoffe, meine Worte haben dich nicht erschreckt«, hatte er gesagt.

»Nein. Ich hoffe, dass wir nie solchen Gefahren ausgesetzt werden, aber ich stimme zu, dass wir vorbereitet sein müssen. Wir dürfen uns nicht von der Angst lähmen lassen«, hatte sie in ernstem Ton erwidert.

»Ich glaube, dir macht nichts so schnell Angst.«

»Und dir auch nicht, schätze ich.«

Dieser erste Wortwechsel war zum Grundstein ihrer engen Freundschaft geworden. Ihre Blicke waren miteinander verschmolzen in gegenseitigem Anerkennen und Verstehen.

Simone, mit ihrem stets wachen Einfühlungsvermögen gegenüber ihrer Schwester, hatte die Nähe zwischen ihnen bemerkt.

»Claude und du, seid ihr vielleicht mehr als nur Freunde?«, hatte sie Madeleine geneckt und dabei von dem Zeichenblock aufgeblickt, auf dem sie Skizzen für ihre Hochzeitseinladungen machte.

Madeleine hatte sich vorgebeugt, um die kunstfertigen kalligrafischen Buchstaben ihrer Schwester zu bewundern, und dabei den Kopf geschüttelt.

»Claude und ich sind gute Freunde, mehr nicht«, hatte sie aufrichtig versichert.

Seine Freundschaft war ihr wichtig, doch er war nicht das Zentrum ihres Universums. Das Leben lag vor ihr, eine unerforschte, sonnenbeschienene Straße, die in eine unbekannte und nicht vorhersehbare Zukunft führte.

Trotzdem, an diesem traurigen Tag des Begräbnisses ihres Großvaters war sie dankbar, dass Claude bei ihr war und ihr unaufdringlich seine Unterstützung anbot, sein stummes Verständnis für ihren Kummer.

Er nahm ihr die Zeichnung aus der Hand und betrachtete sie eingehend.

»Vielleicht werden wir eines Tages gemeinsam auf diesen Birnbaum klettern, Madeleine«, sagte er. »Wir werden die Baumkrone erreichen, auf das Tal hinabblicken und genug Birnen pflücken, um süßes Elsässer Kompott zu machen. Es wird ein glücklicher Tag sein.«

»Werden wir jemals glücklich sein, Claude?«

Die Frage kam unaufgefordert und erfüllte sie mit Scham, aber sie überraschte ihn nicht. Er lächelte dieses wundervolle, eigenartige Lächeln, nahm ihre Hand und streichelte sie, zärtlich und sanft; er tröstete sie mit der Sanftheit seiner Berührung. Er verstand sie. Er verstand den Grund dieser plötzlichen Traurigkeit; er hatte die gleichen Ängste und Hoffnungen im Hinblick auf die Zukunft wie sie. An diesem Tag des Verlustes bot er ihr Kraft und Trost.

Sie gingen zum Fenster und sahen der Sonne bei ihrem langsamen Abstieg zu. Der Tag der Bastille ging zu Ende. Ganz Paris war eingetaucht in die azurne Melancholie der Heure bleue, der magischen Stunde zwischen Dämmerung und Dunkelheit. Sie wandten sich einander zu und erkannten wortlos, dass dieser Tag der Traurigkeit zu Ende war und ein neuer Anfang wartete.

1. KAPITEL

Dreißig Tage waren vergangen, und jeder Tag machte deutlich, dass die Familie Dreyfus in einer neuen Wirklichkeit lebte. Alfred war fort. An diesem dreißigsten Tag, in der hebräischen Sprache bekannt als Shloshim, versammelte sich die Familie erneut, um die alte jüdische Tradition der zweiten Trauerphase zu begehen.

Pflichtbewusst, wenn auch zögerlich, versammelte sich die Familie in der Wohnung in der Rue des Renaudes, wo Lucie sie mit ihrer üblichen heiteren Gelassenheit begrüßte. Der Duft ihres berühmten Lammeintopfs wehte von der Küche her. Madeleine, die sich wegen des Vorstellungsgesprächs im Institut für Soziale Arbeit verspätet hatte, betrat den überfüllten Raum und spürte die Wärme und Herzlichkeit, als sie von der Familie begrüßt wurde. Auch im Angesicht des Todes waren die Dreyfus vereint, lebendig, unerschütterlich.

Der Raum war erfüllt von dem gemurmelten Singsang der Erinnerungen. Ihre Cousins und Cousinen plapperten fröhlich über die glücklichen Sonntage, die sie gemeinsam im Salon zugebracht hatten. Aline Dreyfus, Pierres jüngere Tochter, erinnerte daran, wie Alfred ihnen die temperamentvolle Tanzette a la Schellette beigebracht hatte. Sie ergriff Etiennes Hand und vollführte fröhlich mit ihm die Sprünge dieses schnellen Elsässer Tanzes.

»Grand-père hat gelächelt, als er uns diesen Tanz beibrachte«, bemerkte Jean Louis. »Ich erinnere mich daran, weil er nicht oft gelächelt hat, nicht wahr, Madeleine?«

»Nein, das hat er nicht«, stimmte sie zu. »Er war oft sehr traurig.«

»Er hatte jeden Grund, traurig zu sein. Frankreich, sein geliebtes Frankreich, hatte ihn enttäuscht. Weil er ein Jude war, verletzlich und ungeschützt«, brummte Pierre.

Die Verbitterung in der Stimme ihres Onkels überraschte Madeleine. Pierre Dreyfus, selbst ein Held von Verdun und Mitglied der Ehrenlegion, war immer ein lautstarker Patriot der République gewesen.

Die Zeiten hatten sich geändert. »Frankreich schätzt und beschützt jetzt seine Juden. Unsere Kinder werden niemals Furcht und Hass kennenlernen«, versicherte ihr Vater.

Pierre zuckte mit den Schultern.

»Könnte ich dir doch glauben, Pierre Paul«, sagte er bitter. »Aber ich glaube, dass der Fluch des Antisemitismus immer noch sehr lebendig ist in den Herzen und Köpfen vieler unserer Mitbürger. Bald, allzu bald wird der Hass, von dem Deutschland infiziert ist, über unsere Grenze schwappen, und die, die meinen Vater verfolgt haben, werden alle Juden verfolgen. Du bist Arzt, und du weißt, dass Krebs nicht leicht einzudämmen oder gar zu heilen ist. Antisemitismus ist ein Krebs, und wir haben bereits seine Symptome erlebt. Erst letzte Woche gab es anti-jüdische Demonstrationen auf dem Grand Boulevard. Solche Demonstrationen werden sich ausbreiten. Eine Mitose irrationalen Hasses. Eine Kundgebung diese Woche. Zwei Kundgebungen nächste Woche. Eine Epidemie des Bösen.«

Er füllte sich ein großes Glas mit Brandy und trank ihn mit geschlossenen Augen.

Madeleine blickte zu Simone, die warnend den Kopf schüttelte. Sie sagten nichts, wollten ihrem Vater nicht widersprechen, obwohl sie die Wahrheit in den Worten ihres Onkels erkannten. Erst wenige Tage zuvor hatten sie die Aufführung eines neuen Theaterstücks mit dem Titel Die Dreyfus-Affäre besucht. Der Theaterkritiker von Le Monde hatte es eine mitfühlende Darstellung von Alfred Dreyfus’ Unschuld und seiner ungerechtfertigten Tortur genannt. Sie hatten sich bei den Händen gefasst, als die Schauspielerin, die Lucie spielte, geseufzt hatte: »Unsere Kinder können einem leidtun.«

Diese »Kinder«, das waren Jeanne, ihre Mutter, und Pierre, ihr Onkel. Simone und Madeleine hatten geweint, waren jedoch durch die feindliche Reaktion des Publikums aus ihrem Mitgefühl aufgeschreckt worden. Eine Kakophonie des Zorns war in dem Theater ausgebrochen.

»Kein Mitleid für diese Dreyfus-Kinder. Hatte der jüdische Verräter Mitleid mit Frankreich?«

»Nieder mit den Juden!«

Simone und Madeleine hatten rasch das Theater verlassen und waren vor dem Chor der Ignoranz und des Hasses geflohen. Jetzt, da sie im Salon ihrer Großmutter saßen, wurde die Angst, die sie an jenem Abend empfunden hatten, wieder lebendig.

Pierre ging zum Fenster und blickte düster hinab auf die Straße. Ihr Vater blieb grimmig schweigend sitzen.

Endlich sagte Jeanne Levy etwas. Sie drehte sich zu ihrem Bruder um, ihr Ton war halb flehend, halb bestimmend.

»Pierre, du weißt doch bestimmt, dass alles besser wird. In unserem Land herrscht gerade eine große wirtschaftliche Unsicherheit, deshalb suchen die Menschen nach einem Sündenbock. Aber sobald die Wirtschaft sich erholt und der Franc wieder stark ist, wird alles gut«, sagte sie.

Ihr Gesicht war fleckig. Nervös verschränkte sie die Finger und löste sie wieder, als ob sie versuchte, sich selbst vom Wahrheitsgehalt ihrer Worte zu überzeugen. Pierre seufzte. Es war für Geschwister schwierig, sich gegenseitig etwas vorzumachen, wie Madeleine wusste. Als Pierre seiner Schwester antwortete, war sein Blick weich, aber seine Worte nicht.

»Sieh der Wahrheit ins Auge, Jeanne. Frankreich ist ein Pulverfass. Ein paar Funken des Hasses von der deutschen Grenze, und das Feuer des Antisemitismus wird wieder auflodern. Die Juden von Frankreich, die Juden von Europa sind eine gefährdete Spezies. Es wird nicht besser werden. Nein. Es wird schlimmer werden. Viel schlimmer.«

»Pierre. Es reicht. Das ist jetzt nicht der richtige Moment, um zu streiten. Nicht der richtige Moment, um über unsere Pläne zu reden.«

Marie Dreyfus legte ihrem Mann beruhigend die Hand auf die Schulter. Er nickte stumm, wandte sich jedoch seiner Mutter zu, als deren zitternde Stimme das unbehagliche Schweigen beendete.

»Pierre, du denkst doch wohl nicht daran, Frankreich zu verlassen? Wie kannst du daran denken auszuwandern? Du und deine Familie, ihr seid hier sicher. Du bist ein Held der Republik, ein dekorierter Veteran. Würdest du mich verlassen? Sieh dich im Zimmer um. Würdest du Jeanne und ihre Familie verlassen und deine Cousins und Cousinen, alle, die dir lieb und teuer sind?«

Pierre trat zu seiner Mutter und umarmte sie.

»Es tut mir leid, Maman, aber ja, wir werden Frankreich wahrscheinlich verlassen. Nicht sofort, aber wenn die Deutschen einmarschieren, werden wir nicht zögern. Ich war schon bei der amerikanischen Botschaft und habe Visaanträge besorgt für meine Familie und für dich und für Jeanne und ihre Familie. Vorerst sind diese Visa nur eine Absicherung, aber wir werden sie benutzen, wenn es sein muss«, sagte er.

Madeleine, stets um Frieden bemüht, war entschlossen, der Spannung im Raum, dem angespannten Schweigen ein Ende zu setzen. Mit einem um Zustimmung heischenden Lächeln verkündete sie ihre Neuigkeit.

»Ich möchte, dass ihr alle wisst, dass ich offiziell am Institut für Soziale Arbeit aufgenommen bin. Wenn Simone ihren Abschluss macht, werde ich mit meiner Ausbildung anfangen.«

Ihre Augen strahlten, ihre Wangen waren vor Stolz gerötet.

»Mazel Tov!«

Lucie Dreyfus umarmte ihre Enkelin. »Das ist wundervoll. Du und Simone habt euch für so einen wichtigen Beruf entschieden. Euer Großvater wäre so stolz auf euch.«

Der Frieden war wiederhergestellt. Sie entspannten sich und versammelten sich um den elegant gedeckten Esstisch, wo sie ihre Teller mit Lucies duftendem Eintopf füllten und Familien-Erinnerungen austauschten.

Pierre wandte sich an seine Schwester. »Erinnerst du dich, Jeanne, wie wir uns immer vor der Tür dieses Zimmers versteckt und gelauscht haben, wenn Maman und Papa Versammlungen des Comité de Bienfaisance, des jüdischen Wohltätigkeits-Komitees, abhielten?«, fragte er sie.

»Ich weiß noch, wie ich husten musste wegen dem Rauch von Monsieur Rothschilds Zigarren.« Jeanne lächelte. »Du musstest die ganze Nacht das Fenster offen lassen, um den Geruch loszuwerden, Maman.«

Lucie lachte. »Ich habe Baron Rothschild das verziehen und seine Zigarren toleriert, weil er uns sehr große Schecks ausgestellt hat für die Unterstützung der Leute, die vor den entsetzlichen Pogromen in Osteuropa geflohen sind. Dein Großvater war sehr überzeugt von dem, was er als ›aktive Barmherzigkeit‹ bezeichnete. Das hat er auch in seinen Tagebüchern geschrieben.«

Sie deutete auf den kleinen Stapel mit Englischleder bezogener Notizbücher, die sie neben ihrem Teller platziert hatte, und öffnete eines davon an der Stelle, an der sie ein Band zwischen die Seiten gelegt hatte.

Sie reichte es weiter an Madeleine, die den markierten Absatz laut vorlas. »Wohltätigkeit allein reicht nicht aus. Was vor allem gebraucht wird, ist eine Offenheit des Herzens, ganz konkrete Handlungen.«

Ihre Stimme brach, und Tränen liefen ihr über die Wangen. Der Auftrag ihres Großvaters war ihr Vermächtnis.

»Und das ist genau der Grund, weshalb Madeleine und ich als Sozialarbeiterinnen arbeiten wollen«, sagte Simone und schaute Lucie an. »Wir glauben, so wie er, an die Tat. Als kleine Mädchen sind wir mit dir und Maman zum Pletzl gegangen, dem alten jüdischen Viertel im Marais, und haben Essen und Kleidung an die armen jüdischen Flüchtlinge aus Osteuropa verteilt. Aktive Wohltätigkeit. Konkrete Hilfeleistung.«

Lucie lächelte traurig.

»Und jetzt gehen wir ins Marais und nach Belleville, um jüdischen Familien zu helfen, die aus Deutschland fliehen. Es sind andere und sogar noch gefährlichere Zeiten, und unsere Hilfe ist bitter nötig«, sagte sie.

Madeleine wandte sich an ihren Onkel. »Siehst du, Onkel Pierre, es gibt so viel für uns zu tun für unsere Leute hier in Frankreich. Sie brauchen unseren Beistand, unseren Schutz.«

Simone nickte heftig.

Pierre Dreyfus blickte seine jungen Nichten an, gerührt von ihrer Schönheit und ihrem Mut. Er war stolz auf sie, und er hatte Angst um sie. Sorgfältig wählte er seine Worte. Er wollte nicht den Groll seiner Schwester oder die Angst seiner Mutter neu entfachen, jedoch auch nicht seine Absichten verleugnen.

»Jeder von uns muss der Stimme seines Herzens folgen, seines Gewissens, Madeleine. Meine Familie und ich, wir müssen unseren Weg wählen, und du musst deinen wählen. Wünschen wir uns gegenseitig bonne chance, viel Glück und viel Erfolg. Wir alle brauchen sehr viel Glück in den dunklen Zeiten, die uns bevorstehen.«

Auf seine unheilvollen Worte hin verfielen sie in starres Schweigen. Es war seine Frau, die die ernste Stimmung wieder in eine fröhliche verwandelte.

»Aber es gibt so viel, auf das wir uns freuen können. Simone, wie gehen deine Hochzeitspläne voran? Und wo ist dein gut aussehender Anatol?«

»Er ist auf einem wichtigen Treffen führender Pfadfinder, aber ich hoffe, dass er rechtzeitig fürs Dessert hier ist«, antwortete Simone und wurde rot, wie immer, wenn sie von Anatol redete.

»Das hoffe ich sehr. Ich habe meinen Apfelstrudel gemacht, weil ich weiß, dass er den am liebsten isst«, sagte Lucie. Sie berührte sacht Pierres Wange. Ihr Sohn jagte Schatten, die sich vielleicht niemals manifestieren würden. Deutschland würde nicht wagen, Frankreich anzugreifen.

Es klopfte an der Tür, und Simone beeilte sich, sie zu öffnen. Anatol und Claude kamen herein, die Gesichter gerötet vom Abendwind, die blau-weißen Halstücher der jüdischen Pfadfinder lose um den Hals geknotet. Anatol hielt eine weiße Rose, die er Simone gab.

Ihre Familie klatschte, und sie lächelte und schob sie sich hinters Ohr. Etienne glitt von seinem Stuhl neben Madeleine und nickte Claude zu, der grinste und seinen Platz übernahm.

Dr. Pierre Paul Levy drückte die Hand seiner Frau an seine Lippen. »Unsere Mädchen sind sehr schön«, flüsterte er.

Jeanne nickte. »So schön und so jung.«

Er bemerkte die Traurigkeit und die Angst in ihrer Stimme. »Alles wird gut«, sagte er leise. »Wir sind in Paris, der Stadt der Liebe, der Stadt des Lichts.«

»Dunkelheit kann Licht verdrängen«, erwiderte sie, doch sie hob ihr Glas, als Pierre Dreyfus einen Toast auf seinen Vater sprach, dessen Andenken zu ehren sie sich versammelt hatten, und auf die République, die sie alle so liebten.

»A la France. A la famille Dreyfus.« Ihre Stimmen klangen kräftig, ihre Augen glänzten verdächtig, Angst mischte sich mit Hoffnung.

Später am Abend gingen Claude und Madeleine durch die stillen Straßen. Claude erzählte von einem wichtigen Treffen der jüdischen Pfadfinder. »Viele leitende Pfadfinder finden, wir sollten uns den Tzofim anschließen, den Pfadfindern von Palästina«, sagte er.

»Und was meinst du?«, fragte Madeleine.

Er antwortete nicht, sondern blieb still, als eine Gruppe von Studenten vorbeiging, die »La Marseillaise« sangen. Madeleine stimmte mit ein.

»Und mein Onkel Pierre will, dass wir nach Amerika auswandern«, entgegnete Madeleine mit leiser Stimme. »Ach, Claude«, sagte sie. »Wie sollen wir denn unser Frankreich verlassen?«

»Wir müssen beten, dass Frankreich nicht uns verlässt«, erwiderte er, und bei diesen Worten erinnerte sie sich an die lärmenden Stimmen im Theater und daran, wie sie und Simone vor diesem unerwarteten Chor des Hasses geflohen waren. Sie schauderte.

»Dir ist kalt«, sagte Claude und legte ihr zärtlich seinen blau-weißen Schal um die Schultern.

2. KAPITEL

Madame Danier, die Dekanin des Instituts für Soziale Arbeit, blickte kurz auf die Aktenmappe auf ihrem Schreibtisch und dann lächelnd zu der dunkelhaarigen jungen Frau, die vor ihr stand.

»Guten Morgen, Mademoiselle Levy. Bitte setzen Sie sich.«

»Danke«, sagte Madeleine, froh, dass die Dekanin laut und deutlich redete. Sie setzte sich ganz vorne auf die Kante des Stuhls und beugte sich vor, den Blick auf Madame Daniers Gesicht gerichtet. Ihr Gehör war nur leicht beeinträchtigt, aber sie übte trotzdem das Lippenablesen, eine Vorsichtsmaßnahme, so sagte sie sich, die hoffentlich niemals notwendig wäre.

»Ich habe hier die Unterlagen über Ihre Kursarbeiten und Prüfungen. Ich gratuliere zu Ihren exzellenten Leistungen.« Madame Danier strahlte vor Stolz über ihre hervorragende Studentin.

Madeleine wurde rot.

»Ich habe sehr hart gearbeitet und gelernt, Madame«, erwiderte sie bescheiden.

»Ich stelle außerdem fest, dass heute Ihr Geburtstag ist.«

»Ja. Mein zwanzigster.«

Madeleine entspannte sich und nestelte an dem karmesinroten Halstuch, das heute neben ihrem Frühstücksteller gelegen hatte. Es war natürlich eine Handarbeit ihrer Großmutter. Madeleine hatte sich darüber gefreut, war jedoch nicht überrascht gewesen. Lucie Dreyfus vergaß niemals einen Geburtstag.

»Es ist reiner Zufall, dass Sie heute das hier bekommen. Betrachten Sie es als wohlverdiente, ganz besondere Geburtstagsüberraschung«, sagte Madame Danier.

Sie hielt ihr einen gefütterten weißen Umschlag hin. Madeleine griff danach, ihre Hände zitterten, als sie ihn sehr vorsichtig öffnete und eine geprägte Urkunde herauszog. Ihre Augen wurden feucht, während sie las.

»Mein Zeugnis!«, rief sie. »Ich habe nicht erwartet, dass ich es so früh bekommen würde.«

»Sie haben in Rekordzeit all Ihre Prüfungen bestanden und Ihre Hausarbeiten erledigt. Sie dürfen sich jetzt Assistante Sociale nennen, qualifizierte Sozialarbeiterin.«

Madame Danier griff über ihren Schreibtisch hinweg nach Madeleines Hand und hielt sie fest.

»Ich bin nicht überrascht. Ich wusste von dem Augenblick, als Sie mit dem Studium anfingen, dass Sie erfolgreich sein würden. Sie und Ihre Schwester Simone sind unsere eifrigsten und erfolgreichsten Studentinnen.«

Der Ton der Dekanin war ruhig und beherrscht. Sie war keine Frau, die leichtfertig Komplimente verteilte, aber die Levy-Schwestern hatte sie mit großer Bewunderung beobachtet. Madeleine war stets einsatzbereit, und Simone hatte anspruchsvolle Aufgaben erfüllt, trotz der gefährlichen Krankheit ihres Ehemanns und der Bedürfnisse ihrer kleinen Tochter.

»Es war für uns ein Privileg, hier studieren zu können, besonders in Zeiten wie diesen«, erwiderte Madeleine ruhig.

»Ja. Ihre Ausbildung wird eine große Rolle spielen, wenn die Ereignisse weiterhin so einen schrecklichen Verlauf nehmen.«

Ein paar Augenblicke saßen sie schweigend da. Es waren weiter keine Worte nötig. Sie waren von grauenvollen Nachrichten verfolgt worden, Woche für Woche, Monat für Monat, denn Adolf Hitlers teuflische Maßnahmen waren immer schneller aufeinander gefolgt und hatten die Welt in Angst und Schrecken versetzt. Frankreich hatte die Auswirkungen des Nazi-Regimes zu spüren bekommen, denn verängstigte deutsche Juden flohen über die Grenze, suchten Schutz vor der Sturzflut aus Brutalität und Hass in ihrem Heimatland. Konventionelle Mittel waren bald erschöpft, doch das Institut für Soziale Arbeit und die französische Gemeinschaft der Juden stellten rasch Hilfsprogramme auf die Beine.

Madeleines Vater und ihr Bruder Jean Louis, selbst Medizinstudent, leiteten eine Klinik im Marais, in der sie Unterernährung, Rachitis, durch bösartige Prügelaktionen verursachte Narben sowie entstellte Gliedmaßen, die nach Knochenbrüchen nicht richtig kuriert worden waren, kostenlos behandelten.

»Wir fragen nicht, woher die Narben und Frakturen kommen«, sagte Dr. Levy müde. Er sprach von Deutschland nicht mehr als dem Land Beethovens und Schillers.

Madeleine und Simone hatten Zeit abgezweigt, um ihre Mutter und Großmutter beim Verteilen von Essen und Kleidung zu unterstützen.

»Wie kommt Simone zurecht?«, erkundigte sich die Dekanin zögernd. »Wir haben von der Krankheit ihres Mannes gehört.«

»Ja, Anatol hat Meningitis, aber meine Schwester ist sehr stark«, erwiderte Madeleine. »Sie ist eine wundervolle Mutter, und wir tun unser Bestes, um ihr zu helfen. Meine Mutter, meine Großmutter, ich selbst.«

Madame Danier nickte.

»Natürlich. Es ist bekannt, dass die Frauen der Familie Dreyfus stark sind. Stark und tapfer.«

»Ich danke Ihnen«, sagte Madeleine.

Sie nahm sich vor, diese Worte nie zu vergessen. Sie würde sie an Simone und vielleicht an ihre Mutter und ihre Großmutter weitergeben. Solch eine Ermutigung war hilfreich in dieser traurigen Zeit des Beobachtens und Abwartens, während Anatol zwischen Leben und Tod schwebte. Madeleine seufzte und wünschte brennend, sie könnte selbst an ihre Kraft, an ihren Mut glauben.

Madame Danier beugte sich zu ihr vor. Ihr Ton war eigenartig zögernd.

»Mademoiselle Levy, ich habe einen besonderen Auftrag für Sie. Ein Notfall ist eingetreten, der einen sofortigen Hausbesuch erfordert. Eine Lehrerin im Pletzl hat berichtet, dass eine neu aus Deutschland angekommene jüdische Familie sich in einer großen Notlage befindet. Die drei Kinder sind dermaßen unterernährt, dass sie um ihr Leben fürchtet. Wir wollen ihnen Unterstützung aus dem Sonderfonds anbieten, den die jüdische Gemeinschaft gegründet hat, aber das können wir erst, nachdem eine akkreditierte Sozialarbeiterin eine Einschätzung der Situation vorgenommen hat. Außer Ihnen steht niemand zur Verfügung. Könnten Sie das heute noch tun?«

»Natürlich«, antwortete Madeleine sofort. »Schließlich bin ich ja jetzt eine assistante sociale. Das wird mein erster Fall.« Sie lächelte stolz.

»Dann bleibt mir nur, Ihnen bonne chance zu wünschen«, sagte die Dekanin und reichte Madeleine die dünne Mappe, die alle Angaben zu dieser Familie sowie ein Bewertungsformular enthielt.

»Und alles Gute zum Geburtstag«, fügte sie hinzu, doch Madeleine eilte schon hinaus, hatte den Kopf abgewendet und drehte sich nicht um, um sich für die guten Wünsche zu bedanken.

Zu spät erinnerte Madame Danier sich daran, dass ihre frisch qualifizierte Studentin ein leichtes Hördefizit hatte. Sie zuckte mit den Achseln.

Kein Problem. So eine Behinderung würde Madeleine Levy nicht bremsen in ihrer Entschlossenheit und ihrem Mitgefühl.

***

In einem überfüllten Waggon der Metro gelangte Madeleine zum Pletzl, wo der Duft von frisch gebackener Baguette sie daran erinnerte, dass sie hungrig war, sehr hungrig. Sie umklammerte ihre Aktentasche und bereute, nicht daran gedacht zu haben, neben ihren Papieren und Belegen ein Croissant einzupacken. Sie hatte keine Zeit fürs Mittagessen gehabt, und sie bezweifelte, dass sie zum Abendessen zu Hause sein würde, denn zu der Zeit war ein wichtiges Treffen der Pfadfinder angesetzt. Als sie die Metro verließ, stellte sie erleichtert fest, dass in der Rue des Rosiers eine füllige ältere Frau, die über ihrem schweren dunklen Wintermantel eine fettverschmierte weiße Schürze trug, neben einem Kohlenbecken stand und die Vorzüge der Crêpes hinausschrie, die sie zum Kauf anbot.

»Crêpes, délicieuses. Fraises du bois. Pommes. Fromage! Crêpes délicieuses. Erdbeermarmelade, Apfelmus. Käse!«, brüllte sie und wärmte sich die großen Hände über den glühenden Kohlen.

Madeleine eilte hinüber, deutete auf eine Erdbeer-Crêpe und reichte der Verkäuferin eine Franc-Note.

Die mollige Frau lächelte, gab die Crêpe in eine aus einem fettigen Stück Zeitungspapier gedrehte Tüte und streute eine großzügige Portion Staubzucker darauf.

Ein kleines Mädchen – ihr blondes Haar war verfilzt, die schmerzhaft dünnen Ärmchen stakten aus den Ärmeln ihres mehrfach geflickten karierten Mantels hervor, sie trug Knabenstiefel und dicke, schlammbespritzte Strümpfe – stellte sich neben den Verkaufswagen und starrte sehnsüchtig auf die ausgelegten Crêpes. Ihre Lippen waren trocken, und in ihren Augen konnte man den Hunger sehen.

»Würden Sie mir für drei Centimes eine halbe Crêpe verkaufen?«, fragte sie scheu.

Die Verkäuferin wandte den Blick ab, doch Madeleine zog eine weitere Franc-Note aus ihrem Geldbeutel.

»Möchtest du Erdbeere oder Blaubeere?«, fragte sie das Kind.

»Blaubeere.« Die Antwort wurde geflüstert, aber die Kleine lächelte, als sie in die süße Köstlichkeit hineinbiss.

»Danke, Fräulein«, murmelte sie und korrigierte sich dann schnell. »Merci, Mademoiselle«, sagte sie mit lauterer Stimme.

»Guten Appetit«, sagte Madeleine. »Aber vielleicht kannst du mir helfen. Ich suche die Rue Lascin.«

»Aber das ist meine Straße«, antwortete das Kind. »Ich wohne in der Rue Lascin. Ich bringe Sie dorthin.«

Madeleine ging neben ihr her, während sie ihre Crêpes kauten. Sie gingen durch ein Gewirr aus heruntergekommenen Häusern zu einer engen von überquellenden Mülleimern übersäten Gasse. Zerlumpte Kinder hüpften in eifrigem Spiel zwischen den Abfällen herum und verständigten sich schreiend in Französisch, Deutsch, Jiddisch und Polnisch.

»Das ist die Rue Lascin«, verkündete das Mädchen wichtigtuerisch. »Sie müssen mir sagen, zu welcher Hausnummer Sie wollen.«

Madeleine blickte auf das Informationsblatt.

»Dix. Nummer zehn.«

»Aber da wohne ich. In der Nummer zehn«, erwiderte das Mädchen.

»Kennst du die Familie Hofberg?«

Das kleine Mädchen straffte die schmalen Schultern und lächelte zum ersten Mal.

»Ich bin Anna Hofberg«, sagte sie stolz und führte Madeleine in den dunklen, muffigen Flur des Mietshauses.

Langsam stiegen sie die enge Treppe hinauf. Kinder mit großen Augen versammelten sich auf jedem Treppenabsatz. Eine Mischung aus Karbol und verkochtem Kohl drang aus offenen Wohnungstüren. Über dem Treppengeländer hingen feuchte Unterwäsche, vom vielen Tragen dünn gewordene Unterhemden und Hemden, geflickte und gestopfte Hosen und ausgeblichene Kleider.

»Wir wohnen ganz oben«, sagte Anna entschuldigend. »Meine Mutter sagt, das ist gut, weil wir dann nicht hören, wie andere Familien über unseren Köpfen herumlaufen. Daran sind wir nicht gewöhnt. In Berlin hatten wir unser eigenes Haus. Ein großes Haus. Ich hatte mein eigenes Zimmer. Und meine Brüder auch. Die Decke auf meinem Bett war rosa, und die Vorhänge an meinem Fenster hatten die gleiche Farbe. Meine Mutter hatte ein Nähzimmer und mein Vater ein Arbeitszimmer. Ich vermisse meine Bettdecke und meine Vorhänge. Es war ein schönes Haus.«

Ihre Stimme zitterte, und Madeleine befürchtete, sie könnte anfangen zu weinen. Unwillkürlich griff sie nach der Hand des Kindes.

»Das war es bestimmt, Anna. Aber es war klug von deinen Eltern, es zu verlassen. Ein Haus ist nur ein Haus. Deine Sicherheit ist wichtiger als irgendein Haus. Und Deutschland ist nicht sicher für unser Volk. Nicht jetzt. Vielleicht nie mehr.«

»Aber woher sollen wir wissen, ob wir hier in Paris sicher sind? Woher sollen wir wissen, ob wir jemals irgendwo sicher sind?«, klagte Anna.

Madeleine blieb stumm. Es war die gleiche Frage, die Pierre Dreyfus am Abend zuvor gestellt hatte, als er seine Entscheidung offenbarte, seine Familie nach Amerika zu bringen.

»Woher sollen wir wissen, dass wir in Paris sicher sind? Oder sonst irgendwo in Europa? Ich bin sicher, es wird Krieg geben, und ich will Sicherheit für meine Kinder.« Seine Stimme hatte düster geklungen vor Kummer, und seine warnenden Worte hatten sich in Madeleines Gedächtnis eingebrannt.

Hier, im Treppenhaus dieses maroden Wohnhauses wurde ihr klar, dass dieses heimatlose kleine Mädchen dieselben Vorahnungen, dieselbe verzweifelte Angst hatte wie ihr Onkel. Wie konnte die kleine Anna sich darauf verlassen, sicher zu sein in Paris oder, ja wirklich, irgendwo sonst in einem vom Nazi-Regime bedrohten Europa? Madeleine berührte sacht Annas Schulter und zwang sich zu einem Lächeln, während sie nach Worten suchte, um sie zu beruhigen.

»Frankreich ist nicht Deutschland. Die Franzosen sind gute Menschen. Wir glauben an Liebe, nicht Hass. Hier bist du sicher, Anna. Wir werden dich beschützen«, sagte sie. »Das verspreche ich.«

Ein törichtes Versprechen, das wusste sie, aber sie würde versuchen es zu halten.

Sie kamen im obersten Stockwerk an. Eine magere Frau mit blondem Haar stand in einer offenen Tür und klopfte ungeduldig mit der Fußspitze auf den Boden. Ihre Lippen waren zusammengepresst, ihr Blick drückte Angst aus.

»Anna, wo warst du? Ich habe mir solche Sorgen gemacht.«

Sie redete Deutsch; Barschheit und Besorgtheit mischten sich in ihrem Ton, doch als sie Madeleine sah, wechselte sie zu dem gestelzten, rudimentären Französisch der Neuankömmlinge.

»Sie müssen mir verzeihen, Mademoiselle. Ich habe mir Sorgen gemacht um meine Tochter«, sagte sie entschuldigend.

»Ich verstehe. Anna war so nett, mich zu begleiten, als ich ihr sagte, dass ich den Auftrag habe, die Familie Hofberg zu besuchen«, erklärte Madeleine, vorsichtig darauf bedacht, leise und ruhig zu sprechen.

»Sind Sie sicher, dass es die Familie Hofberg ist, die Sie suchen?«, fragte Annas Mutter.

Ihre Frage klang zögernd, ängstlich. Madeleine verstand, dass ein Besuch für sie in diesem neuen Land etwas Unerwartetes war. Unerwartet und bedrohlich.

»Ja. Ich bin sicher. Darf ich hineinkommen und erklären, weshalb ich hier bin?«

»Sie ist eine nette Dame. So freundlich«, flüsterte Anna.

Ihre Mutter zögerte, schließlich nickte sie, und Madeleine folgte ihr in die Wohnung. Der nackte Fußboden war sauber geschrubbt, und kahle Matratzen lehnten an der abblätternden Wand. Die vorhanglosen Fenster glänzten. Aus einem Holzbrett und Zementblöcken war ein behelfsmäßiger Tisch erstellt worden, aber eine schöne Kristallvase mit einer einzelnen gelben Rose stand auf der gesplitterten Holzplatte. Die kleine Anna kauerte auf einem abgenutzten Sofa, aus dessen verblichenen Polstern mit Blumenmuster die Füllung herausquoll.

»Frau Hofberg, erlauben Sie, dass ich mich vorstelle«, begann Madeleine. »Mein Name ist Madeleine Levy, ich bin Sozialarbeiterin, assistante sociale

Sie nannte ihre Berufsbezeichnung mit unterdrücktem Stolz und wartete einen Moment, bevor sie weiterredete.

»Eine Lehrerin an der Schule Ihres Sohnes hat das Institut für soziale Arbeit kontaktiert. Ihr Sohn hat zu ihr gesagt, dass er hungrig ist und sich schwach fühlt, weil er nichts gegessen hat und es bei ihm zu Hause nichts zu essen gibt. Die Lehrerin ist um seine Gesundheit besorgt und hat sich an uns gewendet. Wir möchten Ihnen Unterstützung anbieten aus einem Fonds der Jüdischen Gemeinde von Paris, der Kehillah

Frau Hofberg nickte verstehend, als sie das hebräische Wort für Gemeinde hörte, doch ihre Stimme zitterte, als sie mit einer Mischung aus Stolz und Verlegenheit antwortete.

»Ich danke Ihnen, aber wir benötigen keine Almosen. Eine freundliche Nachbarin hat uns Geld geliehen für Brot und Milch. Wir werden es ihr selbstverständlich zurückzahlen, sobald mein Mann Arbeit gefunden hat. Er versteht sein Geschäft. Polsterei. Niemand ist krank bei uns. Ich halte alles sehr, sehr sauber.«

Die Worte strömten in einem Mischmasch aus Deutsch und Französisch aus ihr heraus. Frau Hofbergs Augen glänzten, und ihre Wangen waren gerötet. Anna griff nach der Hand ihrer Mutter, und die beiden Jungen rannten herbei und stellten sich beschützend neben sie. Ihre blassen Gesichter und die Wachsamkeit in ihren Augen machten Madeleine traurig.

»Das sind meine Brüder«, erklärte Anna. »Samuel und David.«

Madeleine streckte die Hand aus, und als die Kinder sie berührten, spürte sie die Zerbrechlichkeit ihrer Finger, die Knochen zeichneten sich unter der dünnen Haut ab. Unterernährt, hatte die Lehrerin in ihrem Bericht geschrieben. Madeleine würde dies ändern in Hunger leidend, wenn sie ihren eigenen Bericht schrieb.

Sie wandte sich ihrer Mutter zu.

»Frau Hofberg. Unsere Unterstützung ist kein Almosen. Die jüdische Gemeinde ist eine große Familie, und in Familien hilft man sich gegenseitig. Also möchte die französische jüdische Kehillah Ihnen helfen, so wie Sie bestimmt uns helfen würden, wenn die Situation umgekehrt wäre.« Madeleine zog Anna unwillkürlich an sich und tätschelte ihren Kopf.

Die Geste war an Annas Mutter nicht verschwendet. Ihr Ausdruck wurde weicher. Sie setzte sich auf das Sofa und bedeutete Madeleine, sich neben sie zu setzen.

»Natürlich. In Deutschland, bevor die schlimmen Zeiten kamen, hat unsere Familie getan, was sie konnte, für die Mitglieder unserer Gemeinde, die Hilfe brauchten«, sagte sie.

»Davon bin ich überzeugt«, versicherte Madeleine. »Dann verstehen Sie sicher, warum ich hier bin. Darf ich fragen, wie und warum Sie nach Paris gekommen sind?«

Sie kannte die Antwort, aber sie brauchte diese Informationen für ihren Bericht. Sie machte sich keine Notizen, sondern hörte zu, während die erschöpfte Frau seufzte und mit sehr leiser Stimme redete. In jedem Wort drückte sich ihr Kummer aus: »Der Name ›Hofberg‹ ist in Berlin nicht unbekannt. Die Familie meines Mannes lebt dort seit Generationen. Wir besaßen eine gut gehende Polsterei mit vielen Angestellten, jüdischen und nichtjüdischen. Mein Mann ist Veteran der deutschen Wehrmacht und wurde im großen Krieg mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet. Unser Leben war schön, bis Hitler an die Macht kam.

Alles hat sich geändert in dieser finsteren Zeit. Alle Fröhlichkeit und Leichtigkeit ist aus unserem Leben verschwunden. Nichtjüdische Freunde und Nachbarn haben uns gemieden. Samuel und David wurden, wie alle jüdischen Kinder, von der Schule ausgeschlossen und wurden von Banden der Hitlerjugend terrorisiert. Hakenkreuze wurden an die Fenster unseres Geschäfts geschmiert. Wir haben sie abgewaschen. Wir waren entschlossen, geduldig zu bleiben und abzuwarten, bis diese Zeit des Hasses vorbei wäre. Wir waren sicher, dass uns keine Gefahr drohte, dass bald alles wieder besser würde. Wir legten das Eiserne Kreuz meines Mannes in das vordere Fenster unserer Wohnung in der Goethestraße. Konnte es Grausamkeit und Bedrohung geben in einer Straße, die nach Goethe benannt war?«

Frau Hofberg lachte bitter und fuhr fort.

»Dann kam ›die Nacht der Glassplitter‹, die Kristallnacht. Die großen Schaufenster unseres Geschäfts wurden zerschlagen, die Waren geplündert. Wir haben uns im Keller unserer Wohnung versteckt und zugesehen, wie die Scherben des vorderen Fensters wie ein Wasserfall auf das Pflaster der Goethestraße regneten. Das Eiserne Kreuz wurde aus der roten Samtschatulle gerissen, die Schatulle auf die Straße geworfen. Mein Sohn David ist hinausgerannt und hat sie aufgehoben, so verschmutzt wie sie war, und ein Mann mit einem Hakenkreuz-Armband hat ihn gejagt und geschrien: ›Morgen geht es noch weiter. Morgen wird jeder Jude tot sein, und unser Deutschland wird judenrein sein, frei von Juden.‹ Wir haben den Morgen nicht abgewartet. Wir sind noch in derselben Nacht nach Paris abgereist.

Wir haben nicht gewagt, zur Bank zu gehen und unser Geld abzuheben. Wir haben nur mitgenommen, was wir in unsere Koffer und Rucksäcke packen konnten. Ich habe meinen Schmuck in die Säume unserer Mäntel genäht. Was wir an Bargeld im Haus hatten, haben wir für die Zugfahrkarten verbraucht, und dann hier in Paris. Wir haben den Schmuck verkauft, um die Miete zu zahlen und Lebensmittel zu kaufen. Aber ich habe noch eine kleine Kristallvase, die meiner Mutter gehörte, in meine Tasche gepackt. Ich kaufe jeden Morgen eine Blume und stelle sie in diese Vase. Verrückt, so ein Luxus, denke ich, aber eine Rose kostet nur einen Centime, und sie erinnert mich an das Leben, das wir verloren haben. Sie erinnert mich daran, dass es Schönheit gibt auf der Welt. Wir haben nur noch wenige Schmuckstücke, deshalb kaufe ich nur sehr wenige Lebensmittel. Sie haben recht. Unsere Kinder haben Hunger. Und ja, sehr bald werden sie krank werden. Ich bin eine Mutter, die mit ansehen muss, dass ihre Kinder hungrig zu Bett gehen. Ich bin eine Mutter, die um das Leben ihrer Kinder fürchtet.«

»Ihre Kinder werden nicht mehr hungern, Frau Hofberg. Und sie werden nicht krank werden«, erwiderte Madeleine. »Ich finde nicht, dass Sie verrückt sind. Ich finde, Sie und Ihr Ehemann haben sehr mutig das Leben Ihrer Kinder gerettet.«

Sie öffnete ihre Aktentasche und zog ein Bündel Gutscheine vom Verband der jüdischen Gesellschaften heraus.

»Damit können Sie auf dem großen Markt in der Rue des Rosiers Lebensmittel kaufen. Der koschere Metzger und der Gemüsehändler an der Ecke werden sie ebenfalls annehmen, und ich werde Ihnen noch mehr davon geben, wenn Sie sie brauchen. Meine Großmutter und meine Mutter werden Sie besuchen und Ihnen bringen, was Sie an Kleidung für die Kinder benötigen. Der jüdische Verband wird Ihnen helfen, eine Anstellung für Ihren Ehemann zu finden. Das ist es, was wir Juden für unsere Familien tun, für alle, die in Not sind. Dasselbe würden Sie für uns tun, nicht wahr?«

Tränen der Dankbarkeit strömten über Frau Hofbergs Wangen.

»Das ist das erste Mal, dass wir Freundlichkeit erleben, seit der Kristallnacht«, murmelte sie.

Madeleine nickte.

Sie wusste von der Nacht des splitternden Glases.

Sie hatte an einer Kundgebung teilgenommen, bei der ihr Onkel Pierre eine Rede gehalten und das Nazi-Regime wegen seiner Zerstörung von jüdischem Eigentum, seiner Angriffe auf jüdisches Leben verurteilt hatte. Seine leidenschaftliche Anklage war unterbrochen worden durch ein paar Strolche, die antisemitische Parolen brüllten, doch Pierre hatte sich nicht beirren lassen. Belohnt worden war er durch einen mutigen Leitartikel in der weit verbreiteten Zeitung Ordre unter der Überschrift »Sohn von Hauptmann Dreyfus verurteilt scharf Verfolgung durch Nazis«.

Wer in Frankreich wird sich noch gegen die Grausamkeit der Deutschen aussprechen, wenn mein Onkel nach Amerika abgereist ist? fragte sich Madeleine.

Bedrückt blickte sie auf ihre Armbanduhr. Sie wollte sich nicht verspäten für das für diesen Abend angesetzte Treffen der jüdischen Pfadfinder.

»Darf ich Ihnen ein Glas Wasser anbieten, Mademoiselle?«, fragte David, der Ältere der beiden Hofberg-Brüder.

Als Madeleine zustimmend nickte, kam ihr eine Idee.

»Frau Hofberg, vielleicht könnten Ihre Söhne mich begleiten. Ich gehe zu einem Treffen der éclaireurs Israélites, der jüdischen Pfadfinder. Von denen haben Sie vielleicht schon mal gehört?«

Die Antwort kam von David.

»Natürlich haben wir schon von ihnen gehört. Samuel und ich waren Mitglieder bei den Blau-Weißen, den jüdischen Pfadfindern von Deutschland«, erzählte er stolz.

Frau Hofberg zögerte.

»Ich weiß nicht, ob das für die beiden sicher genug ist. Meine Söhne haben keine Papiere. Ich will nicht, dass sie Schwierigkeiten bekommen, wenn sie von Gendarmen angehalten werden. In Berlin haben sich die jüdischen Pfadfinder heimlich getroffen, und trotzdem sind viele von ihnen verhaftet und ins Konzentrationslager geschickt worden.«

»In Frankreich gibt es keine Konzentrationslager«, versicherte ihr Madeleine. »Es wird keine Probleme geben. Die Gendarmen von Paris machen kleinen Jungen keine Schwierigkeiten. Ich bin selbst jüdische Pfadfinderin und meine kleinen Brüder auch. Hier in Paris müssen wir uns nicht heimlich treffen. Wir sind einfach junge Menschen, die etwas über unser jüdisches Erbe und die wundervolle Welt der Natur lernen wollen. Wir machen Wanderungen und Ausflüge. Wir singen, wir tanzen. Jüdische Pfadfindergruppen gibt es überall in Frankreich – in Lyon, in Marseille, in Toulouse. Es gab sogar Pfadfinderstaffeln im Elsass. Aber das war natürlich davor.«

Davor. Sie sagte das Wort in einem bedauernden Flüsterton. Es musste nicht erklärt werden. Frau Hofberg verstand, dass ihre Welt sich in ein Davor und ein Danach geteilt hatte. Vor der Machtergreifung Hitlers. Nach dem Beginn seiner Terrorherrschaft.

Madeleine würde sich immer an die glücklichen Tage davor erinnern, als sie und Claude sich mit einer Gruppe Pfadfinderanführer nach Mulhouse aufgemacht hatten. Es war interessant gewesen, die Stadt zu sehen, die einmal die Heimat ihrer beiden Familien gewesen war. Sie hatten sich von der Gruppe weggestohlen und waren auf den Birnbaum gekletterte, der sowohl ihr als auch ihm während der Kindheit so oft als Versteck gedient hatte. Sie hatten in den dicht belaubten Zweigen gesessen und auf die idyllische Waldlandschaft hinabgeblickt, die so weit entfernt war von einem Paris, das seit Neuestem von der Angst vor dem Krieg heimgesucht wurde. Madeleine hatte Claude angeblickt und zögernd eine Frage gestellt, so naiv, dass die Verlegenheit über ihre eigene Unwissenheit sie erröten ließ.

»Ist das Glücklichsein, Claude? Du und ich, wie wir hier auf dem Baum sitzen, während uns die Sonne aufs Gesicht scheint?«

Wie zittrig ihre Stimme geklungen hatte und wie zärtlich seine Antwort.

»Ja. Ich glaube, das muss es wohl sein«, hatte er erwidert und sich eine Strähne ihres Haars um den Finger gewickelt.

Keiner von ihnen hatte etwas über die düsteren Vorboten gesagt, über ihre uneingestandenen Ängste, dass diese wenigen Stunden die einzige Glückserfahrung ihres Lebens sein könnten.

Madeleine seufzte und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die jungen Hofbergs.

»Bitte, Mama. Wir möchten so gerne gehen.«

Sie redeten gleichzeitig, und Anna warf sich auf den Schoß ihrer Mutter.

»Ich auch. Ich will Pfadfinder sein. Ich will singen und tanzen«, bettelte sie.

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