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Die Welt vor den Fenstern

Als Buch hier erhältlich:

Eine Familie, die sich ihre eigene Welt in einem einzigen Haus erschaffen hat - bis eine von ihnen an deren Grenzen stößt

Abgeschieden von der Außenwelt lebt die junge Maia mit ihrer Familie in einem großen Haus im Wald, das niemand je verlässt. Das Familienleben folgt seiner ganz eigenen Logik – alle haben ihre Aufgaben und folgen einem strengen Regelwerk, das von der Geschichte ihrer Vorfahren und dem Wissen über Astronomie geleitet wird. Die Sterne geben den Familienmitgliedern Namen und bestimmen in ihrerKonstellation auch das Zusammenleben. Doch Maia genügen die Geschichten irgendwann nicht mehr. Ist die Welt da draußen wirklich so gefährlich, wie es ihr seit ihrer Geburt gesagt wurde? Als die Älteren sich immer sonderbarer verhalten, hinterfragt sie zunehmend die Grenzen des Hauses und der Geschichten ...


»Märchenhaft und beklemmend.« Die Presse


  • Erscheinungstag: 22.03.2022
  • Seitenanzahl: 256
  • ISBN/Artikelnummer: 9783753000633
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

FÜR OMA UND MAMA

EINS

Wenn ich an das Haus denke, fällt mir zuerst die Stille ein. Die Geräuschlosigkeit ergab ein Rauschen, nur gebrochen vom Wind, der gegen die Fenster presste. Manchmal hörte man den Holzboden, wenn Körper sich auf ihm bewegten. Der Boden knarrte, wenn jemand die obere Etage entlanglief. Ab und zu das Klappern von Tellern dazu, das Ausschlagen von Stoffen oder das Knacken von Tante Wegas Fingern. Ich glaube, dass ich das Geräusch von Wegas Fingern eine Weile dem Holzboden zuordnete. Ich stellte mir vor, wie jemand auf eine Bohle trat, die sich knackend gegen die beiden angrenzenden schob. Erst später kam das Bild dazu, wie Tante Wega einen Finger nach dem anderen zu ihrem Handgelenk drückte. Manchmal, wenn der Finger – in die eine Richtung gebogen – kein Geräusch von sich gab, dehnte sie ihn in eine andere. Wenn er auch dann nicht knackte, schüttelte sie die Hände aus und probierte es noch einmal mit mehr Druck und zusammengezogenen Augenbrauen. Wenn man Wega fragte, ob ihr das nicht wehtat, schüttelte sie heiter den Kopf, sodass ihre Locken sprangen.

Ich mochte Tante Wegas Warmherzigkeit und dass sie mich immerzu auf ihren Schoß bat, als Mutter es nur noch selten tat. Wenn ich einen Raum betrat, in dem sich Wega aufhielt, klopfte sie auf ihre Schenkel, sobald sie mich sah, oder warf mir die Arme entgegen. Nur wenn die Nacht den Tag ablöste, bekam Wega etwas Angsteinflößendes, Entrücktes. Ihre Augen wurden stumpf, wenn sie in den Sternenhimmel gesehen hatte, und ich ließ mich nicht mehr gern von ihr in den Arm nehmen. Sie schien außerdem plötzlich nicht mehr zu hören, was um sie herum geschah. Es war, als verlöre sie jeden Bezug zu uns.

Obwohl ich Wega selten im Haus begegnete, ist sie in meinen Erinnerungen sehr präsent. Beinahe vordergründiger als Mutter, die abwesend für mich blieb, selbst wenn sie bei mir war. Dieses Gefühl war nicht immer da gewesen. In den verwaschenen ersten Lebensjahren hatten sich Mutters Kreise nie weit von mir entfernt. Wenn ich auf den Arm wollte, musste ich mich nur an ihre Waden lehnen, die sich meist in unmittelbarer Nähe befanden. Zwischen der Berührung meiner Hand mit Mutters Bein und der Berührung von Mutters Hand mit meinem Kopf lag kaum ein Augenschlag. Sie kraulte mich, wenn sie noch ein Gespräch beendete. Ihr Kraulen war mechanisch, manchmal fast grob, aber es vermittelte mir das Gefühl, dass sie mich registriert hatte. Ich wartete geduldig, denn ich wusste, dass sie sich bei nächster Gelegenheit zu mir herunterbeugen würde. Ich kann mir nicht erklären, weshalb ich dennoch einige Jahre später anfing, mich völlig verloren zu fühlen, mutterseelenallein, als würde weder der Weg von Mutter noch einer der anderen dem meinen gleichen, als wäre mein Weg bestimmt dazu, abseits zu laufen. Ich begann früh, mich zu fragen, ob ich hergehörte; ob der Platz im Haus ausreichen würde für die Distanzen, die sich zwischen mir und Mutter aufbauten.

Es häuften sich Situationen wie jene, in der ich auf dem Sofa saß und einen Keks von einem Teller aß, während Mutter mit dem Rücken zu mir am Esstisch im Wintergarten Platz nahm. Als ich den Keks aufgegessen hatte, stand ich auf und lief zu ihr hinüber, aber genau in dem Moment, in dem ich am Tisch ankam, nahm Mutter den letzten Bissen von ihrem eigenen Keks und erhob sich. Ich verpasste sie, und sie verpasste mich. Manchmal fühlte es sich an, als stieße mich das Gefüge im Haus vor seine Mauern, doch mich umgaben immer nur die Wände, die ich nicht durchdringen konnte.

An vielen Tagen sah ich Mutter nur morgens, wenn sie mich aus dem Bett holte, bei den Mahlzeiten und dem Wäschewaschen, und alle paar Tage, wenn sie mich wusch. Trotz unserer wachsenden Entfernung badete Mutter mich weiterhin selbst, sobald ich sie darum bat, doch sie badete mich kalt. Meine Nägel wurden blau, und meist starrte Mutter an die Wand, weshalb manchmal einer ihrer Finger in meinem Auge landete. Ich denke, sie badete mich kalt, weil sie Großmutter nicht um Streichhölzer bitten wollte. Die Streichhölzer trugen Onkel Naos und Großmutter in den Taschen ihrer Kleidung. Wenn sie liefen, hörte man, wie die Streichhölzer in den Pappschachteln raschelten, und wenn man einen Ofen anmachen wollte, musste man erst Naos oder Großmutter finden. An manchen Tagen blieb Großmutter in ihrer Schlafkammer, die niemand ohne ihre ausdrückliche Erlaubnis betreten durfte. Dann mussten wir Naos darum bitten, das Feuer anzumachen, aber ich fragte lieber Großmutter. Sie nahm einen bei der Hand, ließ sich zum Ofen führen, zog die Streichholzpackung aus ihrer Schürze, und wenn das Holz brannte, ließ sie sie schnell wieder verschwinden. Es machte ein raschelndes Geräusch, wenn die Schachtel in die Schürze fiel, die Glut knackte, und Großmutter hielt meist kurz die Hände vor den Ofen, als könnte sie versehentlich kaltes Feuer gemacht haben. Die Stoffe im Haus waren durchsetzt mit dem Geruch des Qualms, der aus den Öfen stieg, wenn man die kleinen Luken öffnete, um Holz nachzulegen. Er mischte sich mit dem Geruch von Teig, der im Ofen buk, und mit dem schweren Parfum, das Großmutter zu Geburtstagen auflegte. Der Qualm hing in allem, manchmal bildete ich mir ein, sogar in meiner eigenen Haut.

*

Es war meine Aufgabe, die Brüche im Porzellan mit Klebstoff zu kitten. Nachdem Großmutter und Mutter gestritten hatten, saß ich am Küchentisch und hielt Tellerhälften aneinander, bis meine Arme lahm wurden. Meistens quoll etwas Kleber zwischen den Hälften hervor, den ich vorsichtig mit einem Tuch entfernte. Es konnte auf keinen Teller verzichtet werden, weil es im Haus alles nur genau sechs Mal gab. Sechs Teller eines Gedecks, sechs dazu passende Tassen, Untertassen, Schüsseln. Auch das Besteck war abgezählt, und es gab kaum etwas, das überflüssig werden konnte oder nur für Einzelne bestimmt war. Ich verstand meist nicht, worüber sich Mutter und Großmutter stritten, ich hörte sie nur schreien, dass sich Großmutter das zu einfach vorstelle oder dass Mutter nicht helle genug wäre, um diese oder jene Sache zu machen. Die Streitigkeiten entstanden, wenn die beiden sich allein in einem Raum aufhielten. Deshalb kamen Onkel Naos und Wega meist dazu, wenn die beiden zu zweit in der Küche, der Bibliothek oder im Wohnzimmer waren.

Die Räume des Hauses sind in meiner Erinnerung groß, und fast jedes Möbelstück ragte mir über die Schultern. Die Wände waren weiß, und die hölzernen Fensterrahmen und Türen so oft überstrichen, dass sie eins wurden mit den Wänden. An einem Ende der dunklen Diele auf der unteren Etage lag Großmutters Schlafkammer unter der Treppe und am anderen Ende die Besenkammer. Links und rechts von der Besenkammer gingen große Flügeltüren zur Küche und zum Wohnzimmer mit dem gläsernen Wintergarten ab. Ich war es gewohnt, durch die Türen von einem Zimmer in das nächste zu treten, doch einen Weg in die Welt vor den Fenstern gab es nicht. Unser Haus lag mitten auf einer großen Wiese, an dessen Rändern der Wald stand wie eine Wand. Kein Pfad, der daran erinnerte, dass die Welt größer war als das Haus und was man von seinen Fenstern aus sehen konnte. Der Garten vor dem Wohnzimmer war verwildert, denn es war verboten, das Haus zu verlassen. Die Rinden, die wenigen eingegangenen Blumen, die Gräser und Moosflächen vor den Fenstern waren oft mit Frost überzogen, selten mit Schnee. Im Wohnzimmer hatten wir einen Kamin, vor dem sich drei Ledersofas mit je zwei Plätzen befanden. Neben dem Kamin beim Fenster stand ein Sockel mit einer großen Glasglocke darauf, unter die wir unsere Wünsche legten. Im Wintergarten stand ein großer Tisch mit sechs Stühlen. Das Wohnzimmer war klar strukturiert, ordentlich und hell, die Küche aber war zusammengewürfelt und düster. Die paar Stühle um den kleinen Küchentisch passten nicht zusammen, und über die Wände zogen sich lange Regalbretter, auf denen vereinzelte Stapel von blau-weißem Porzellan standen. Der Ofen war von einer alten hölzernen Arbeitsfläche eingefasst, in die eine verrostete Spüle eingelassen war. Auf der Arbeitsfläche ergaben Messerschnitte und Kerben ein unregelmäßiges Muster. Die Gebrauchsspuren sahen aus wie auf einem Schneidebrett; die Kerben waren manchmal so tief, als hätte jemand mit einem groben Messer in das Holz geschlagen.

Auf der oberen Etage befand sich das enge Bad, und zwischen den Türen zu meinem und zu Alrischas Zimmer gab es einen Bogen in der Wand, der in die Bibliothek führte. Dort säumten Bücher über die Astronomie, die Mythologien und Sternzeichen die massiven Regale, und wir bekamen Unterricht an einem kleinen Tisch in der Mitte des Raumes. Auf der anderen Seite des Flures führte eine Tür in einen Nebenflur, an den zwei weitere Zimmer anschlossen. Ich habe diesen Teil der Etage lange nicht betreten, denn die Erwachsenen nannten ihn die kinderfreie Zone, und daran hielt ich mich. Alrischa freute sich darauf, später einmal die kinderfreie Zone betreten zu dürfen, doch ich ging davon aus, dass dahinter einfache Zimmer lagen, wie die anderen Zimmer auch – mit Betten für Mutter, Naos und Wega, kargen Wänden, Schränken voll weißer und schwarzer Stoffe, Garderobenständern und klebenden Kerzentellern.

Mich begleitete früh ein argwöhnisches Gefühl. Manchmal dachte ich, es sei die Ursache dafür, dass die anderen sich seltsam fern anfühlten – weil ich zweifelte und sie nicht. Ich widmete mich den Aufgaben, die mir im Haus aufgetragen wurden, deshalb mit äußerster Sorgfalt, denn sie fügten mich ins Haus ein und machten mich für die anderen unverzichtbar. An manchen Abenden überkam mich eine Erleichterung, wenn ich mich einen ganzen Tag den Aufgaben und dem Gefüge im Haus vollkommen hatte hingeben können. Meine Aufgaben beim Backen brachte mir Großmutter bei. Eines Vormittags bat sie mich in die Küche und hatte auf der Arbeitsfläche eine Reihe großer und kleiner Schüsseln aufgestellt. Darin Pulver in heller und dunkler beiger Färbung, die ein Spektrum von grob zu fein abbildeten. Großmutter erklärte mir, welches Mehl aus Weizen, Dinkel oder Gerste war. Sie zeigte mir Zucker in verschiedener Körnung, Backpulver, Kakao, Natron, Salz, Vanillezucker und Stärke, die quietschte, wenn man den Löffel reinsteckte. Während ich an den Pulvern roch, holte Großmutter eine Flasche Hafermilch und die Butterschale aus dem Vorratsschrank und eine Waage mit Gewichten aus dem Regal. Sie stellte vor jede Zutat ein Gewicht, nahm sie wieder weg und ließ es mich nachmachen. Ich brauchte vier Versuche, um die Gewichte den richtigen Pulvern zuzuordnen, aber Großmutter blieb geduldig. Es wurde meine Aufgabe, die Backzutaten genau abzuwiegen, bevor Großmutter sie zu Teig verarbeitete, der dann von Onkel Naos gebacken wurde. In eine Waagschale legte ich das Gewicht, und auf die andere gab ich vorsichtig die Zutat, bis beide Schalen auf genau gleicher Höhe standen.

Ich war außerdem mit Teilen des Wäschewaschens betraut. Wir mussten jedes Kleidungsstück morgens durch ein frisches ersetzen, wenn wir das nicht taten, geriet der Waschrhythmus aus dem Takt. Wir trugen beinahe nur weiße oder schwarze Kleidung, alle die gleiche Farbe, bis der Korb im Badezimmer voll war. Dann ließ Mutter Wasser in eine große Blechwanne ein, flockte mit einem Messer etwas Kernseife hinzu, das Wasser wurde trüb, und Mutter drückte jedes Teil einzeln unter. Die Stoffe bildeten Luftbeulen, dann erst sackten sie unter der Schwere des Wassers zusammen. Mutter weichte die Stoffe gründlich ein, und eines Tages stellte sie die zweite Blechwanne auf und brachte mir das Bleichen bei. Sie kniete sich auf die Fliesen und deutete auf die Stelle neben sich. Niemand sonst verstand es so wie sie, mit einer einzigen Bewegung glasklare Anweisungen zu geben. Ich hockte mich daneben, wir beugten uns mit krummen Rücken über die Wanne, und Mutter tröpfelte eine Flüssigkeit ins Wasser, die silbrig leuchtete. Sie tauchte jedes weiße Teil einzeln ein, versicherte sich immer wieder mit einem Blick, dass ich wirklich zusah. Wir wrangen die Stoffe danach gemeinsam unter kaltem Wasser aus, bis nur noch klare Flüssigkeit aus dem Stoff trat. Dann nahm ich die Teile und legte sie zum Trocknen über das Treppengeländer. Das Bleichmittel hinterließ einen Film, der meine Hände für ein paar Tage taub machte.

*

Wenn ich mich langweilte, ging ich die Flure des Hauses ab. Ich stellte mich mit der Schulter an eine Wand und setzte einen Fuß vor den anderen, so eng, dass sich die Ferse und die Zehen jedes Mal berührten. So lief ich zwischen den Türen hin und her, bis ich sicher war, dass ich jede Stelle des Bodens betreten hatte. Ich balancierte auf den Türschwellen und drehte meine Haare um die Finger. Manchmal schweifte meine Fantasie ab, und ich stellte mir vor, wie ich meine Füße in die Wiese vor den Fenstern setzte. Einmal fragte ich Mutter, ob sie mir einen Weg zur Wiese zeigen könnte. Sie starrte mich nur an und schlug mir mit der flachen Hand ins Gesicht. Das Klatschen hallte von den Wänden wider und ich sah für den Rest des Tages errötet aus.

Stundenlang muss ich gelangweilt die Flure abgelaufen sein, aber es kam selten vor, dass jemand durch den Flur kam oder mich von meiner Langeweile erlöste, indem mein Name gerufen und ich um etwas gebeten wurde. Ich sehnte mich nach Sätzen wie »Maia, komm, ich zeig dir, wie man den Teig knetet« oder »Maia, es ist Zeit für eine Geschichte«. Es blieb still im Haus, und manchmal war es, als lebte niemand außer mir.

Die meisten Zusammenkünfte außerhalb der Mahlzeiten verpasste ich. Immer wenn im Haus etwas Besonderes passierte, war ich nicht dabei. Ich erfuhr erst später davon, wenn ich mich zu Alrischa aufs Bett setzte, sie sich eine Kerze vors Gesicht hielt und erzählte, was Onkel Naos für ein peinliches Tänzchen hingelegt hatte. »Du hättest sehen sollen, wie er die Beine geworfen hat, es sah aus, als hätte er einen Anfall«, flüsterte Alrischa kichernd und blickte sich um, als hätte sie die Befürchtung, den großen, breiten Onkel Naos im Zimmer übersehen zu haben.

Alrischa war meine Cousine und vier Jahre, zwei Monate und dreizehn Tage älter als ich. Als ich noch klein war, konnte sie alles besser als ich und legte besonderen Wert darauf, dass es jeder mitbekam. Auch Tante Wega wurde nicht müde, vor Mutter zu betonen, was Alrischa im Vergleich zu mir schon konnte. Irgendwann verlangsamte sich Alrischas Entwicklung aber, als hätte ein Teil ihrer Persönlichkeit zu lahmen angefangen. Sie kleckerte beim Essen auf ihre Kleider, ihr Schriftbild nahm keine Beiläufigkeit an, und sie hatte Angst, wenn sie nachts allein im Bett lag. Wenn Alrischa von der Angst befallen wurde, kam sie in mein Zimmer geschlichen. Mondlicht fiel durch die Scheiben auf die Daunendecke, sie steckte den Kopf durch die Tür und fragte: »Bist du auch noch nicht müde?« Sie tapste zu mir, ich rückte etwas näher an den Rand der Matratze, und wenn sie sich neben mich gelegt hatte, streifte ich eine Hälfte der Bettdecke über ihren langen Körper. Dann flüsterte sie: »Die Zwillinge haben recht, wir sollten Astronauten werden.«

»Argonauten, Alrischa, nicht Astronauten. Castor und Pollux nahmen an der Argonautenfahrt teil.« Das wusste ich aus der Sage, die Großmutter uns oft vorlas. Castor und Pollux sind die Hauptsterne im Sternbild Zwilling. Es wunderte mich, dass Alrischa das nicht wusste, weil sie vom Sternbild Zwilling besonders hingerissen war. Aber Alrischa zuckte mit den Schultern und schmiegte sich stumm an meinen Arm. Wir schwiegen beide, schauten durch die Scheibe in den Himmel, und manchmal, wenn Alrischa anfing, unregelmäßig zu atmen, sagte ich: »Weißt du, selbst die Sonne ist nur ein Stern, ein ziemlich durchschnittlicher sogar. Wichtig für die Erde, aber unbedeutend für den Weltraum. Es gibt 200 Milliarden Sonnen in unserer Galaxie, und unsere Galaxie ist eine von vielen Milliarden.« Ich erzählte Alrischa von den Sternen, bis sie einschlafen konnte.

Ich überholte Alrischa, wurde ihre Beschützerin, und je stiller sie wurde, desto mehr sah man mich als diejenige an, die schon Verantwortung übernehmen konnte. Trotzdem fühlte ich mich ihr nicht überlegen, denn sie hatte etwas, das mir unerreichbar schien. Sie hatte einen Vorsprung in der Nähe zu ihrer Mutter, den ich nie aufholen würde. Manchmal wurde ich eifersüchtig, dass Wega Alrischas Mutter war und nicht meine. Es erschien mir logisch, dass Wega auch meine Mutter hätte sein sollen, denn sie war offensichtlich besser dazu in der Lage als Mutter selbst. Wenn es dazu kam, dass Wega mich ins Bett brachte, sagte ich zu ihr: »Wollen wir spielen, dass ich das Baby wäre und du wärst die Mutter und ich würde ganz doll weinen und du müsstest mich trösten?« Dann nahm Wega mich auf ihren Schoß, ich kugelte mich so klein ich konnte, und sie wiegte mich in ihren Armen, bis ich einschlief.

Wenn Alrischa und Tante Wega nebeneinandersaßen und sich unterhielten, konnte ich manchmal nicht hinsehen, denn sie teilten sich eine Zahnlücke. Sie war nicht zu übersehen, wenn sie lachten oder redeten, ein großer, glücklicher Schlitz zwischen ihren gelben Schneidezähnen. Einmal nahm ich mir eine Nagelfeile und versuchte, mir auch eine zu machen. Ich stülpte die Lippe nach oben und setzte an den großen, mittigen Zähnen an. Dann rieb ich, so fest ich konnte, doch statt einer Zahnlücke bekam ich einen halb abgebrochenen Schneidezahn. Es schmerzte schrecklich, und ich konnte lange nur lauwarmes Essen zu mir nehmen. Statt der Zahnlücke, die mich mit Wega und Alrischa verbunden hätte, bekam ich ein Merkmal, das nur mir gehörte und um das mich niemand beneidete.

Manchmal dachte ich, dass das Universum sich getäuscht haben musste, dass Wega nicht auch meine Mutter und mir keine Zahnlücke angeboren war. Es ließ mich daran zweifeln, dass die Dinge ihre Richtigkeit hatten. An manchen Tagen verwandelten sich die Zahnlücken in Alrischas und Wegas Gesichtern zu Fratzen. Sie wurden unwirklich, absurd beinahe. Genauso war es mit den Geschichten, die die Erwachsenen uns erzählten, oder mit den Dingen, die Großmutter Alrischa und mich an den Vormittagen lehrte. Die Worte im Haus verwandelten sich in eine Sprache, die ich nicht mehr verstand. Ich entfremdete mich schlagartig von ihnen, wie wenn ich meinen eigenen Namen ganz oft vor mich hinsagte, bis er mir nicht mehr wie mein eigener vorkam.

Wenn das entfremdete Gefühl in mir zu stark wurde, erinnerte ich mich selbst daran, dass die Form meines Körpers der von Wegas ähnelte. Klein und weich, nicht hoch und hager wie die Körper von Mutter, Alrischa und Großmutter. Großmutter und Mutter teilten sich den strammen Gang, den Dutt und den Perfektionsdrang, Naos und Wega die raue Stimmfarbe und die Gelassenheit, und Alrischa und ich das Dasein als Kind. Manchmal, wenn ich diese Gedanken lange genug wiederholt hatte, verstand ich die Sprache im Haus wieder, und mein Name klang für mich wieder wie mein eigener.

*

Eine Sache, die sich für mich nie veränderte, war das Verhältnis zu meiner Puppe Electra. Großmutters Geburt lag am weitesten zurück, dann die von Onkel Naos, Mutter, Wega und Alrischa. Meine Geburt war die letzte gewesen, und manchmal fragte ich mich, ob ich deshalb etwas verloren war, am Ende der Alterskette, nicht eingefasst von zwei Personen. Dafür trug ich Electra immer bei mir. Sie hatte grobes Haar aus dicker gelber Wolle, Knopfaugen, und trug eine blaue Hose mit einem weißen Hemd, keine Schuhe oder Socken. Ihre Wangen waren zwei kleine rote Kreise und der Mund war als ein Lächeln genäht worden. Ich gab Electra auch nicht her, nachdem sie zerschlissen wurde und ein Auge verloren hatte. Als Electra ihr Auge verlor, saß ich mit ihr auf der Bank am Küchentisch, und wir beobachteten Mutters Silhouette vor den milchigen Scheiben. Ich ließ meine kleinen Füße gegen die Schubladen unter der Bank knallen, die Schüsseln darin klirrten, aber Mutter schien es nicht zu hören, als säßen Electra und ich unter einer Glocke. Ich begann, an Electras Knopfaugen herumzuknibbeln, meine Haut fast so rau wie ihre beige Haut aus Stoff. Plötzlich löste sich ein Auge, fiel unter den Tisch und kullerte über den Dielenboden fast bis zu Mutter. Wo vorher das Auge gewesen war, waren nur noch stumpfe Fäden.

Als ich Mutter sagte, dass Electra kaputtgegangen war, antwortete sie: »Wenn du eine neue willst, musst du Electra abgeben. Du kannst nur einen eigenen Gegenstand besitzen, wie wir alle.« Es war eine der ersten Regeln, die ich über unser Leben lernte. Mutter besaß einen besonderen Füllfederhalter aus Silber, Onkel Naos gehörte das Grammophon im Wohnzimmer, und Tante Wega hatte eine Sonnenbrille. Ich hatte Electra, Großmutter eine Polaroid-Kamera, und Alrischa wechselte ihren Gegenstand ständig. Dafür schrieb sie einen Brief und legte ihn unter die Glasglocke im Wohnzimmer neben dem großen Fenster. Bald darauf verschwand der alte Gegenstand aus dem Haus und der neue tauchte irgendwo auf. Zwischen den Laken hervorguckend, hinter den Sofas im Wohnzimmer liegend, an einer Wand lehnend. Auf die Frage, wie die Gegenstände auftauchten, bekam ich keine Antwort.

Wenn die Zutaten für unser Essen sich leerten, stellten wir die Aufbewahrungsgläser auf kreisrunde Stellen, die über den ganzen Küchenboden verteilt waren. Wir mussten vorsichtig sein, sie nicht umzuwerfen, bis sie nach einer Weile wieder voller wurden. Wenn die Zutat sich schon gegen den Deckel drückte, stellte Naos sie zurück in den Vorratsschrank.

»Wo kommt das neue Mehl her?«, fragte ich ihn einmal. Er antwortete: »Das Mehl dringt aus dem Boden in die Gläser. Ganz langsam dringen die Zutaten herein, und nur dann, wenn sie genau auf den Kreisen stehen.« Ich konnte Naos nicht recht glauben und legte mich immer wieder flach neben einem Glas auf den Küchenboden. Ich versuchte zu erkennen, wie die Menge darin wuchs, doch nichts passierte. Einmal versuchte ich eine Markierung auf das Glas zu malen, doch kein Stift hielt auf der glatten Oberfläche, und wenn ich einen Finger an die Füllhöhe der Zutat hielt, wurde mein Arm bald schwer. Ich verlor die Geduld und wurde unsicher, ob die Menge nun noch gleich war oder nicht. Wenn meine Ungeduld zu groß wurde, verließ ich die Küche, und wenn ich das nächste Mal nachschaute, war das Glas sichtlich voller; wie Naos es gesagt hatte. Den Vorgang niemals mit meinen eigenen Augen beobachtet zu haben hinterließ ein beklommenes Gefühl in mir. Als ich einmal Mehl neben einem der Gläser auf dem Boden entdeckte, fragte ich: »Wie kommt das Mehl dahin?«

Großmutter antwortete: »Wächst dir manchmal ein Haar an einer Stelle, wo sonst kein einziges Haar wächst?«

Ich dachte an das kleine borstige Haar, das sich an meinem Hals befand, weit entfernt vom Haaransatz, und nickte.

»So ist es auch beim Mehl, das aus dem Boden dringt. Manchmal dringt es an einer ungewöhnlichen Stelle hervor.«

Im unteren Flur stapelte sich das Holz, das wir in den Öfen verbrannten. Es überragte meinen Kopf und schrumpfte nicht, so viel wir auch heizten. »Der Boden arbeitet, das Holz wächst und quillt an dieser Stelle quasi über. Es wachsen die Holzscheite daraus, verstehst du?«

Manche Dinge leerten sich gar nicht. Die schweren Tintenfässer standen voll, es war niemals ein Unterschied in ihrer Füllmenge erkennbar. Die Papierstapel behielten ihre Höhe, die Scheren und Messer wurden ab und zu von Naos an einem Stein scharf geschliffen. In der Bibliothek passten alle Bücher, wenn man sie korrekt nach Titel sortierte, genau auf die Böden, keines mehr und keines weniger. Es kam immer die gleiche Menge Wasser aus den Hähnen, abgebrannte Kerzenstummel wurden in eine Box gelegt, in der sie nachwachsen konnten. Sie wuchsen unregelmäßig, manche waren nach zwei Nächten wieder so groß, dass sie kaum noch in die Box passten, andere brauchten viele Nächte dafür. Auch die Eier hatten einen Kasten auf dem Boden, durch den der Boden uns frische gab. Die Kernseife, die wir für das Geschirr, die Wäsche und unsere Körper verwendeten, gedieh in einem Holzkasten im Flur, den man nur alle sechs Nächte öffnen durfte, wenn die Seife fertig war, denn jede Helligkeit während des Wachstums der Seife hätte sie zerstört.

Das Haus und sein Eigenleben hatten etwas Magisches, und ich befürchtete, dass etwas kaputtgehen würde, wenn ich hinter die Raffinessen und Erzählungen schauen würde. Es schien, als hätten sich die anderen nie dafür interessiert, wie das Haus funktionierte. Manchmal waren sie genervt davon, Fragen gestellt zu bekommen, und antworteten formelhaft und knapp. Manchmal fragte ich mich, ob die vieldeutigen Blicke der Erwachsenen beschwören wollten, dass ich eines Tages die genau gleichen Antworten auf diese Fragen sprechen würde. An manchen Tagen sah man wohl auch in meinen Augen den Glanz, den die Magie des Hauses auslösen konnte, wenn man ihr nur glaubte.

*

Je älter ich wurde, desto mehr fielen mir Merkmale auf, die jede für sich allein hatte. Großmutter hatte die grauen Haare für sich, Onkel Naos den Bart und das schüttere Haar, Mutter trug am liebsten die schwarze Kleidung und Tante Wega die weiße. Alrischa bastelte jeden Tag etwas, ich hatte Electra, Mutter lachte nicht, und Großmutter gab die Antworten auf jede Frage vor.

Eines hatten alle Erwachsenen gemeinsam, sie konnten gut zudecken. Sie schüttelten die Decke über einem aus und ließen sie so sinken, dass sie genau auf einem lag und kein Fingerchen hervorlugte. Dann steckten sie die luftige Decke fest um die Füße und, wenn man wollte, den gesamten Körper entlang. Sogar Onkel Naos konnte gut zudecken, der sonst wenig Feingefühl besaß. Einmal wollte Naos Wega seine Kinderliebe demonstrieren und kitzelte mich so lange, bis ich schrie und japste. Er hörte erst auf, als Wega ihn darum bat: »Maia kriegt keine Luft mehr, Naos, lass gut sein.« Sonst saß Naos meist lesend auf dem Sofa, blieb unbeteiligt an Gesprächen oder hielt Nickerchen. Ich habe keine frühen Erinnerungen an ihn. Vielleicht, weil er sich wenig um mich als Kleinkind geschert hatte. Ich fand ihn immer etwas merkwürdig und vermied es, mit ihm allein zu sein. Auch der Schwefelgeruch aus seinem Mund ließ mich einen gewissen Abstand halten.

Großmutter sah Naos hingegen als einen Verbündeten. Sie bildeten eine Einheit, Naos sprang für Großmutter ein, wenn sie einen schwachen Tag hatte, sie gaben die Abläufe vor und hatten meist das letzte Wort, wenn Entscheidungen zu treffen waren. Großmutter ließ sich am liebsten von Naos stützen, wenn sie lange gesessen hatte und ihre Hüfte schmerzte. Sie übersah Naos’ Fehler großzügig und besserte sie aus, ohne Wirbel darum zu machen. Ähnlich wie Naos genossen Wega und ich die Nachsicht von Großmutter; zu Mutter und Alrischa war sie allerdings harsch und fordernd. Wenn Alrischa beim Wischen des Bodens eine Stelle vergessen hatte, fuhr ein Schrei durch das Haus. Großmutter lief in den Flur und rief die Treppe hoch: »Alrischa, herrje, es ist nicht ordentlich gewischt!« Meist verstrich ein Moment absoluter Stille, bis in Alrischas Zimmer der Boden knarrte und leise die Tür aufging.

Ich fand es mit Großmutter gemütlich. Sie wandte sich mir mehr zu, je älter ich wurde. Es schien mir, als sähe sie mich zunehmend als gleichwertiges Gegenüber. Ab und zu setzte sie mich in den großen Ohrensessel in der Bibliothek, stieg die kupferfarbene Leiter hinauf, die an den hohen Regalen lehnte, und nahm von den Regalböden dicke Bücher, die Tante Wega eigenhändig in Papier geschlagen hatte. Dann drückte sie sich neben mich in den Sessel und las mir vor. Sie las vor, dass Maia zum Sternbild Stier gehörte, das auch mein Geburtszeichen war; dass die Sterne so weit weg waren, dass sie für uns auch dann noch leuchteten, wenn es sie längst nicht mehr gab; dass Electra und Maia zum Plejaden-Nebel gehörten; und dass sich Sterne dann zum ersten Mal bewegten, wenn sie unter der eigenen Schwerkraft kollabierten. Ich lernte, dass Maia ein schwacher Stern war und dann zu sehen, wenn der Himmel transparent war. Fast alles, was ich über die Sterne weiß, hat mir Großmutter anhand der Bücher in der Bibliothek beigebracht. Sie lernte mit mir die hellsten Sterne im Plejaden-Nebel auswendig. Maia, Electra, Pleione, Atlas, Alcyone, Asterope, Merope, Celaeno und Taygeta. Sie las mir vor, dass in der griechischen Mythologie die Plejaden Nymphen und die Begleiterinnen der Artemis gewesen waren, die sich in Tauben verwandelten und sich als Nebel in den Himmel setzten. Großmutter sagte mir oft, dass ich die schlauste im Haus war und dass wir daraus etwas machen sollten. Sie hielt unseren Einzelunterricht geheim, und wenn Alrischa und ich alle paar Tage gemeinsam von Großmutter unterrichtet wurden, wirkte es so, als sei sie genervt davon, dass Alrischa auch dabei war. Alrischa und ich saßen ordentlich gekleidet und mit gekämmten Haaren am Unterrichtstisch in der Bibliothek, und Großmutter nahm meist im Sessel Platz. Ganz am Anfang lernten wir Lesen und Schreiben von ihr, und als wir es beherrschten, lernten wir zunächst die zwölf Tierkreiszeichen – Widder, Stier und Zwillinge; Krebs, Löwe und Waage; Jungfrau, Skorpion und Schütze; Steinbock, Wassermann und Fische. Wir lernten, sie zu schreiben, auf Abbildungen zu erkennen und sie schließlich auf Millimeterpapier in exakter Verkleinerung nachzuzeichnen. Jeden Tag holte Großmutter ein anderes Buch aus den Regalen. Als wir die Tierkreiszeichen durchgenommen hatten, hörten wir die Geschichten aus der Mythologie, die mit den Sternzeichen in Verbindung standen – die Sage um die Zwillinge Castor und Pollux und die Argonauten; um den Stier von Kreta; um Demeter und Persephone. Wir lernten sie auswendig, Großmutter berichtigte jede Wortabweichung, und als wir sie schließlich fehlerfrei wiedergaben, studierten wir weitere Sternzeichen, die nicht zu den Geburtszeichen gehörten, und deren Mythologien. Wir lasen die Sagen um Sisyphus, Achill und Herkules und kamen über die Dioskuren schließlich bei der Astronomie an, sprachen über Galaxien, Lichtjahre und darüber, wie Sterne entstanden und vergingen. Großmutter runzelte die Stirn, während sie durch die Bücher blätterte und sich die nächsten Fragen für uns überlegte.

»Wie viele Sonnen gibt es in unserer Galaxie?«, fragte sie. Ich lehnte mich auf die Tischplatte, stützte den Arm, mit dem ich mich meldete, und schnipste, denn ich wollte unbedingt, dass Großmutter mich drannahm. Aber Alrischa wartete oft nicht, bis sie dran war, und so antwortete sie: »200 Milliarden. Ungefähr.«

Großmutter nickte. »Du warst aber nicht dran, Alrischa.«

Sie fragte weiter: »Wie heißt unsere Galaxie?« Ich ließ meine Hand sinken. »Milchstraße!«, antwortete ich schnell. Großmutter lächelte und wandte sich mir zu. »Nenn mir ein paar veränderliche Sterne.«

Ich antwortete grinsend: »Maia! Und Mira, Algol, Elthor … Es gibt Unmengen.«

»Und was heißt das, veränderlicher Stern?«

»Sie schwanken in ihrer Helligkeit, zum Beispiel durch Luftunruhen der Erdatmosphäre oder durch Veränderungen der Leuchtkraft, die nicht erklärt werden können.«

»Nenn mir ein paar Doppelsterne!«, forderte Großmutter dann Alrischa auf, deren Augen aufleuchteten. »Alrischa und Castor! Und …«

Sie stockte kurz, aber Großmutter wollte nicht warten.

»Maia, hilf ihr.« Ich antwortete: »Alpha Centauri A und B, Wega, Mira, Antares – zum Beispiel.«

»Und in welche Kategorien gliedern sich die Doppelsterne?«

»Physische und optische«, antwortete Alrischa schnell. »Du warst nicht dran!«, tadelte Großmutter. »Maia?«

»Und geometrische.« Großmutter nickte zufrieden.

Wir lernten, dass nicht jede von uns nach einem Stern im eigenen Sternzeichen benannt sein musste, so wie Alrischa und ich. »Das Sternzeichen Leier, in dem Wega steht, und das Sternzeichen Fuhrmann, in dem mein Stern steht, sind nicht unsere Geburtszeichen, wie ihr wisst«, erklärte Großmutter, und wir nickten. Unsere eigene Astrologie richtete sich nicht nach den Geburtstagen, sondern nach unseren Namenssternen. Sie zeichneten uns, formten uns und ordneten uns zueinander ein. Es war, als hielten wir genau bemessene Abstände zueinander ein, und gleichzeitig waren wir aneinander gebunden, so als existierten unsichtbare Fäden zwischen uns. Je mehr ich unseren Namenssternen auf den Grund ging, umso logischer erschien es mir, dass Großmutter und Tante Wega so stark waren, so zufrieden und sicher, leicht, aber entschieden, denn sie waren helle Sterne. Mutters Stern Spika hingegen war etwas schwächer und stand für drei Monate im Jahr mit Wegas und Großmutters Stern Kapella am Himmel. Es kam mir vor, als konkurrierten Großmutter und Mutter zu dieser Zeit besonders miteinander; als lägen alle Stärken von Mutter in noch deutlicherer Form bei Großmutter vor und als kehrten sich Mutters Schwächen bei Großmutter in Stärken um. Großmutter überstrahlte Mutter im Grunde. Es war, als akzeptierte Großmutter, dass Wega mit ihr am Himmel stand, weil sie ohnehin beide gut sichtbar waren, nicht aber, wenn Mutters Spika es auch tat. Spika stellt im Sternbild Jungfrau die Kornähre dar. In der sumerischen Mythologie schickte Inanna, die mit dem Sternbild Jungfrau verbunden wird, den Stier auf die Erde, um Gilgamesch und Enkidu zu bestrafen. Auch am Himmel geht mit dem Aufgang des Sternbildes Jungfrau das Sternbild Stier unter, zu dem Maia gehört. Vielleicht verpassten Mutter und ich uns deshalb im Haus, funktionierten wie gegenpolige Magneten, genauso wie sich die Sternbilder Jungfrau und Stier am Himmel verpassten. Alrischa war wie Maia ebenfalls kein besonders starker Stern, nur stand er allein im Sternbild Fische und nicht in einem Nebel wie Maia mit Electra und vielen anderen Sternen, die zwar immer noch Lichtjahre voneinander entfernt waren, von der Erde aus aber ein gemeinsames Bild ergaben. Ich fragte mich, ob Alrischa sich noch einsamer fühlte als ich und ob sie deshalb ständig ihren Gegenstand wechselte – weil nichts zu ihr zu passen schien, so wie Electra zu mir passte. Wenn man die Sterne im Sternbild Fische durch Linien miteinander verbindet, gehen von Alrischa zwei deutliche Wege ab. Es war, als stünde der Stern Alrischa an der Gabelung zweier Wege, die stark auseinanderstrebten, und manchmal dachte ich, meine Cousine Alrischa könne sich nicht entscheiden, welchem Weg sie folgen wollte – ob sie erwachsen werden oder Kind bleiben wollte –, und blieb deshalb einfach stehen. Alle Sterne im Sternbild Fische sind schwach, es ist von düsteren Sagen umgeben, und plötzlich dachte ich, dass es gut war, dass Alrischa Wega zur Mutter hatte, die deutlich und hell am Himmel stand. Ich verstand auch, warum Großmutter Naos mit Nachsicht behandelte und ihn als Verbündeten sah, denn sein Stern stand besonders kurz am Himmel, genau dann, wenn Kapella es nicht tat. Sie ergänzten sich perfekt, einer von beiden Sternen war immer da, und doch hatte Kapella deutlich Überhand.

Teile dieser Erkenntnisse sprach ich im Unterricht aus und besprach sie mit Großmutter. Ich sagte: »Wega und du, ihr seid genauso stark, wie eure Sterne es sind!« Und: »Inanna schickt den Stier auf die Erde; am Himmel geht mit dem Aufstieg der Jungfrau der Stier unter; und so betreten und verlassen Mutter und ich oft die Räume im Haus.« Oder: »Deshalb kann Alrischa sich nicht für einen Gegenstand entscheiden. Alrischa steht in ihrem Sternbild an der Gabelung zweier Wege.«

»Gut beobachtet«, antwortete Großmutter. »Du heißt nicht ohne Grund wie ein Stern. Es ist tatsächlich so: Wir funktionieren genau wie die Sterne. Ähnlich wie die Mythologie in ihren Geschichten die Bewegungen am Himmel aufgreift – wie mit dem Untergang von Spika der Stier aufgeht –, so wiederholen auch wir diese Geschichten in unserem Gefüge.«

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