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Dorf ist Mord

Stella hat sich nach Jahren in Deutschland einen Traum erfüllt: ein Ferienhaus in ihrer Heimat Italien. Ein kleines Dorf im Norden des Landes soll ab sofort ihr zweites Zuhause sein. Zu sehr hat sie den italienischen Lebensstil und die Sonne vermisst. Die Uhren schlagen in Pelati langsamer, und alles, was man wissen muss, erfährt man im Café von Franco. Stella freundet sich mit Marta an, einer Frau aus dem Nachbardorf. Doch plötzlich kehrt diese nicht von ihrer täglichen Bootsfahrt auf dem See zurück. Während einige fest überzeugt sind, dass sie der Seehexe zum Opfer fiel, glaubt Stella an ein Verbrechen. Sie überredet den Dorf-Carabiniere, der einer schönen Frau keinen Wunsch abschlagen kann, mit ihr in diesem geheimnisvollen Fall zu ermitteln


  • Erscheinungstag: 24.03.2020
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959679374
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

CAPITOLO 1

So, das wäre geschafft. Die Fahrt hierher war schon mal nicht schlecht gewesen. Und das war schließlich die Voraussetzung für das Ganze, nicht? Ein gutes Omen sozusagen für die ganze Unternehmung. Sagen wir mal lieber für die unmenschliche Aufgabe, die ich mir ziemlich naiv aufgebürdet hatte. Und das Wetter erst: strahlender Sonnenschein, blauer Himmel, eine leichte Brise, aber wirklich nur leicht, die auf der Wasseroberfläche eine feine Kräuselung hervorrief.

Na also, geht doch, dachte ich, und ließ den Blick über den See mit seinem prominenten Berg in der Mitte schweifen. Der Rest würde sich schon noch fügen. Ich atmete die warme, duftende Luft in gierigen Zügen ein. Schließlich hatten es meine Landsleute in den Jahrhunderten wahrscheinlich auch immer so gehandhabt: Widrige Umstände, negative Vorzeichen und schlechte Erfahrungen hatten sie nicht aufgehalten. Denn dies alles wurde durch einen Blick auf die Landschaft und durch Sonnenstrahlen auf der Haut aufgewogen. Sonne kann in Sachen positives Denken wahre Wunder bewirken, das können Sie mir glauben. Wieso kommt einem sonst ein Problem an einem regnerischen Novembertag viel schlimmer vor, als wenn man über dasselbe am Strand auf beispielsweise Sardinien nachdenkt? Man ist möglicherweise in Sachen Problemlösung kein Stück weitergekommen, und doch ist alles auf einmal gar nicht so schlimm. Und das nur wegen der Sonne. Denn es ist fast so, als würde sie einem sagen: Mach dir keine Sorgen, ich bin für dich da, ich halte dich warm, du kannst dich entspannen!

Positiv beflügelt begab ich mich an den einzigen Ort, der infrage kam, um dieses Abenteuer im sonnigen Gefilde richtig gut zu starten.

»Ciao, Franco«, rief ich in das übliche morgendliche Chaos und geschäftliche Treiben einer normalen italienischen Bar. Wobei Francos Bar genau genommen nur italienisch war, nicht normal.

»La mia ragazza!«, begrüßte mich Franco wie immer theatralisch und warf in ebenso theatralischer Pose die Arme in den Himmel, als hätte er den Messias persönlich gesichtet. Dabei kannte er mich erst seit ein paar Monaten, und großartige Taten wie Fische vervielfältigen oder Tote wieder zum Leben zu erwecken hatte ich bislang nicht geleistet. Maximal einen Cappuccino bestellt und eine Brioche dazu. Ach ja, und einen Orangensaft.

Aber das schien Franco zu reichen, um bei meinem Anblick in Ekstase zu verfallen.

»Ciao Franco«, wiederholte ich also relativ unbeeindruckt und wartete das ab, was unweigerlich kommen würde.

»Allora: Cappuccino mit zusätzlichem Espresso-Shot, frisch gepressten Orangensaft und … lass mich schauen: Die einfachen Brioches sind leider schon aus. Bist auch ein bisschen spät dran, heute …«, ereiferte sich Franco und schaute mich dabei etwas vorwurfsvoll an.

Es wäre sinnlos gewesen, ihm zu erklären, dass ich gerade erst aus Deutschland angekommen war und dass das Missachten von Geschwindigkeitsbegrenzungen, um die letzten nicht gefüllten Brioches bei Franco zu ergattern, selbst bei italienischen Polizisten nicht unbedingt gerne gesehen wird.

Und genauso wenig erfolgsgekrönt wäre der Versuch gewesen, dem lieben Barbesitzer weismachen zu wollen, dass ich nicht prinzipiell und schon gar nicht jeden Morgen einen Cappuccino mit zusätzlichem Espresso-Shot, einen frisch gepressten Orangensaft und eine einfache Brioche zu konsumieren pflegte. Aber das war leider die allererste Bestellung, die ich damals vor circa vier Monaten bei ihm getätigt hatte, und Franco hatte sie sich eingeprägt. Da er viel Wert auf individuelle Betreuung und ein familiäres Klima in seinem Etablissement legte, lernte er die Vorlieben jedes einzelnen seiner Kunden auswendig und tolerierte in der Regel Abweichungen davon nur schlecht. Das hatte ich mittlerweile herausgefunden und mich meinem Schicksal gefügt.

Während Franco sich engagiert »meiner Bestellung« zuwandte, schaute ich mich um. Aha, die üblichen Verdächtigen also, was anderes hatte ich nicht erwartet. An den Tischen saßen die älteren Frauen aus dem Dorf, schlürften ihre Espressi und äußerten abfällige Bemerkungen über die Müllabfuhr, die steigenden Kosten der Fähre und den Pfarrer, der, wie ich mit einem Ohr mitbekam, in letzter Zeit recht seltsam, also strano, geworden war. Die steigenden Kosten für die Fähre interessierten mich nur am Rande, und die Müllabfuhr war in Pelati schon immer ein Problem gewesen. Letzteres wiederum schien mir ein Klischee zu sein und nicht der Rede wert. Dass katholische Pfarrer eines so kleinen Orts wie Pelati komisch sind, ist nichts Besonderes. Denn entweder sind sie es schon immer gewesen, oder sie werden es durch die Kombination katholisch/Pfarrer/Dorfleben spätestens nach ein paar Jahren, also geschenkt.

An der Theke standen die Herren der Schöpfung in nicht mehr einwandfreiem Feinripp unter nachlässig zugeknöpften karierten Hemden, die sich in Anbetracht der bereits fortgeschrittenen morgendlichen Uhrzeit den ersten alkoholischen Drink, auch sozialverträglicher Aperitif genannt, gönnten. Auch sie schienen in angeregte Gespräche vertieft zu sein, die sich jedoch um das vergangene Fußballspiel der beliebten Juventus-Mannschaft und einen zu Unrecht nicht gepfiffenen Elfmeter zu drehen schienen. Seitlich von ihnen stand unser Dorf-Carabiniere Michelotti, also einer jener Gesetzeshüter, die zur alteingesessenen und traditionsreichen italienischen Armee gehören und sich um lokale Belange der Bevölkerung und mehr oder weniger ernste Verstöße gegen das Gesetz kümmern. So wie er mit seiner zugegeben männlich-attraktiven Uniform dastand und mir mit seinem Glas Milch zuprostete, konnte man dem Gedanken verfallen, dass er durchaus ein interessanter Fang sein könnte. Doch diesem Gedanken war die Hälfte der weiblichen Pelati-Bevölkerung ebenfalls verfallen. Auf so was konnte ich getrost verzichten, zumal die andere Hälfte über achtzig und so gut wie blind war, also winkte ich betont gleichgültig mit der Hand und murmelte ein »Carabiniere« als Gruß. Nach dem Motto: Ich weiß, wer du bist, aber bleib mir besser von der Pelle. Das schien Michelotti Aufmunterung genug zu sein, da er sogleich Anstalten machte, meinen Tisch anzusteuern. Ich unterdrückte einen Fluch.

Die liebe Leserin und der liebe Leser werden sich jetzt arg wundern, dass ich zum einen etwas von Italien, italienischer Kultur und italienischem Wetter, zum anderen aber nichts über mich selbst erzähle. Und da ich natürlich (kulturbedingt) nicht unhöflich sein will, aber vor allem die lieben Leser (egobedingt) für mich gewinnen möchte, kommt hier ein kurzer Exkurs zu meiner Person: Geboren wurde ich gar nicht so weit weg von Pelati, dem Dörfchen, in dem ich mich momentan befinde. Würde man jetzt unbedingt ein Geburtsjahr angeben wollen, würde ich mich bewusst vage halten und circa dreißig Jahre zuvor nennen. Dass ich mich seit einiger Zeit in Deutschland aufhielt, war der miserablen wirtschaftlichen Lage in Italien zuzuschreiben, die zur berühmten und vielfachen bedauerten »Hirnflucht« geführt hat, wie die Auswanderung gut ausgebildeter Italiener ins Ausland von der Presse genannt wurde. In meinem Fall handelte es sich um den Beruf der Krankenschwester, der im deutschen Lande besser bezahlt und mehr respektiert wurde als in meiner Heimat. Und da ich in der Schule Deutsch gelernt, sowie zufällig einen deutschen Mann kennengelernt und grundsätzlich nichts gegen eine bessere Behandlung und Bezahlung meiner Arbeit hatte, stand die Entscheidung eines Tages für mich fest: Ich würde mein Hirn einpacken und nach Süddeutschland ziehen, das immerhin in Auto-Nähe von Norditalien ist. Aber wie das Leben so ist, hat man erst mal eine Entscheidung getroffen und etwas hinter sich gelassen, bemerkt man nach einer Weile, dass früher nicht alles schlecht war, sondern man auch einige Vorzüge genossen hatte, und so fängt man an, mit sich zu hadern und so weiter und so fort, das kennen Sie wahrscheinlich. Jedenfalls sah für mich die Lösung so aus, mir ein zweites Zuhause in einem niedlichen italienischen Dörfchen zu suchen, wo ich meine Ferien verbringen konnte, um mein Heimweh ein wenig zu lindern. Die Wahl war auf Pelati gefallen, weil es ein kleines Dörfchen war, das mich an meine Kindheit und ein bisschen an die Krimis von Agatha Christie erinnerte. Sie wissen schon: wenige Einwohner, alle kennen sich, die Leute plaudern an den Gartenhecken miteinander, der Pfarrer weiß über alle und alles Bescheid, das Gesamtpaket an Nostalgie sozusagen. Eingepackt für diesen Nostalgie-Besuch hatte ich nicht wieder mein Hirn, sondern meine schönen Sommerkleider und meine heiß geliebten Krimis, auch die Klassiker, die ich schon tausendmal gelesen hatte.

Nun stoßen Sie dazu, und ich sitze in Francos Bar und warte, dass der Dorf-Carabiniere seine Meinung ändert und mich doch nicht anspricht, denn zweierlei bin ich seit Deutschland nicht mehr gewohnt: unerwünschte Annäherungen seitens der männlichen Bevölkerung und das Entwickeln von Strategien, um solche abzuwehren. Zeit dafür hatte ich eh keine, denn auf einmal flog die Tür der Bar auf, und Irene hatte ihren Auftritt:

»La peste! La peste! Die Pest weilt unter uns! Bedeckt eure Blöße, sonst wird es Feuer geben!«

»Ach was, du bist mir Pest genug, geh zur Seite«, sagte Franco lapidar, der sie mit seinem Tablett zur Seite schob, um dann mit betretenem Gesicht vor meinem Tisch stehen zu bleiben.

»Stella, was für ein Jammer! Ich habe kein Kakaopulver mehr, um das lächelnde Gesicht auf deinen Cappuccino-Schaum zu zaubern.«

»Äh, das ist nicht so …«, fing ich an, obwohl ich wusste, das würde nichts nutzen.

»Aspetta, warte! Umberto! Lauf sofort zum Supermarkt, und besorge Kakaopulver, aber schnell!«

»Franco, das ist aber wirklich gar kein …«

»Hier, nimm das Geld! Und wenn du schon dabei bist, geh zu Bruno und bringe eine nicht gefüllte Brioche mit, mach schon!«, scheuchte er seinen jungen Gehilfen Richtung Tür.

»Und du! Verpiss dich mit deinem Gerede über die Pest, du bist ja geschäftsschädigend!«, schrie er Richtung Irene, griff zum Besen und machte Anstalten, die alte Frau hinauszufegen.

Die schaute ihn erst kalt an, drehte sich dann um und murmelte etwas, das sich ungefähr anhörte wie: Hätte ich dich bloß nicht zur Welt gebracht! Was sehr seltsam war, selbst für Irene.

Franco schien nichts gehört zu haben und steuerte Richtung Theke, wo er ungerührt die Schälchen mit Knabbereien auffüllte und gleichzeitig eine Nachricht in sein Handy tippte. Schließlich war er wahrscheinlich an Irenes tägliche Auftritte gewöhnt, und sie ließen ihn kalt. Ich hatte hingegen die exzentrische alte Frau mit ihrer klapperdürren Gestalt, den rosafarbenen Haaren und den Levis 501 erst ein paarmal gesichtet. Sie rief jedes Mal irgendwelche düsteren Prophezeiungen aus, die von der frechen Dorfjugend mit Gelächter quittiert wurden, oder lief herum und jubelte über einen angeblichen Lottogewinn.

Um die Zeit bis zu meinem Cappuccino mit lächelndem Gesicht und der nicht gefüllten Brioche totzuschlagen, schnappte ich mir die Lokalzeitung und tat so, als würde ich konzentriert lesen.

»Na, wieder im Lande?«

Prima. Der Gesetzeshüter hatte seinen Annäherungskurs zum erfolgreichen Ende geführt. Ob sich der Drei-Tage-Bart mit seiner seriösen Position als Beamter im Dienste des italienischen Staats vereinbaren ließ?

Ich schaute widerwillig von einem Artikel über die örtlichen Bestimmungen von industrieller Abfallentsorgung und die androhenden Strafen für Zuwiderhandeln hoch und starrte auf das Glas Milch in Michelottis Hand.

»Na, es sieht so aus, oder? Und selbst? Bist du auf Koffeinentzug?«

Er machte ein verdrossenes Gesicht und deutete möglichst unauffällig mit dem Kopf Richtung Franco, der in der Zwischenzeit die Besorgungen von seinem privaten Sklaven entgegengenommen hatte und sich mit meinem Cappuccino künstlerisch verausgabte.

»War vor ein paar Monaten, für meine kleine Nichte«, murmelte er.

Ich nickte wissend und zeigte auf den Plastikstuhl an meinem Tisch. Wenn ich schon mit ihm reden musste, dann lieber auf Augenhöhe als mit seiner Pistole. Waffen haben irgendwas Bedrohliches an sich, auch wenn sie aus dem Halfter eines gutaussehenden Dorfpolizisten hervorschauen.

Michelotti ließ sich das nicht zweimal sagen und nahm Platz.

»Allora! Ecco qui: frisch gepresster Orangensaft, Cappuccino mit extra Espresso-shot und eine nicht gefüllte Brioche, zwar von Bruno, aber besser als nichts«, verkündete nun Franco, der jede Gelegenheit nutzte, um seinen direkten Mitbewerber, der die Bar schräg gegenüber besaß, schlechtzumachen, mit säuerlicher Miene.

»Allora, du lässt renovieren, habe ich gehört?«, fragte Michelotti, während ich Zucker in meinen Cappuccino gab und dabei versuchte, das Kakao-Gesicht nicht zu zerstören.

»Äh, ja«, antwortete ich auf die rhetorische Frage. Das kannte ich bereits, und mittlerweile störte es mich kaum mehr. In Pelati gab es fast keine Informationen über Personen und deren Vorhaben, die man nicht als Allgemeingut betrachtete. Aus diesem Grund waren Fragen, die man woanders als privat oder persönlich betrachtete, hier einfach nur rhetorischer Natur. Und klar hatte ich mir auch nie der Illusion hingegeben, dass die anstehende Renovierung meines neu erworbenen Häuschens in Pelati eine Angelegenheit zwischen mir und dem Bauunternehmen im Ort bleiben würde. Ganz im Gegenteil, ich hatte mich schon gewundert, dass der Bürgermeister mein Ansinnen nicht an der Pinnwand des Gemeindehauses offiziell bekanntgegeben hatte, so groß schien das Interesse dafür zu sein. Und das war die naive Unternehmung, die ich mir vorgenommen und die ich eingangs erwähnt hatte: Vor fünf Monaten hatte ich, einer spontanen Eingebung folgend, eine ziemlich heruntergekommene Immobilie am Hang gekauft: drei Zimmer, Küche, Bad, eine undefinierte Terrasse, ein Balkon. Der Kaufpreis war sehr günstig gewesen, und ich hatte die Gelegenheit gewittert, mein in Deutschland hart verdientes Geld zukunftsträchtig zu investieren, anstatt es auf einem Konto ein sinnbefreites Leben fristen zu lassen.

Die Immobilienpreise waren zu dem Zeitpunkt in Italien aufgrund der wie zu jedem beliebigen Zeitpunkt in den letzten einhundert Jahren angespannten wirtschaftlichen Lage ziemlich im Keller, und die Tatsache, dass ich mir in oben genannter süddeutscher Großstadt von meinem Ersparten nie mehr als eine Garage leisten könnte, trug zu meinem Entschluss bei. Außerdem strebte ich mittelfristig sowieso die Rückkehr in die Heimat an, also konnte ich genauso gut meine Altersvorsorge in Form einer Immobilie in Hanglage und See-Nähe gestalten. Und da ich den großen norditalienischen See aufgrund massiver touristischer Einflüsse vermeiden wollte (in Italien legte ich nun mal ganz großen Wert darauf, in einem Supermarkt auf Italienisch und nicht auf Deutsch angesprochen zu werden), fiel meine Wahl auf den kleineren See mit dem Berg in seiner Mitte. Er war bei Weitem nicht so bekannt, und man hatte wirklich das Gefühl, in Italien zu sein, mit allen Vorteilen und natürlich auch Nachteilen, denn eine Currywurst war dort beim besten Willen nicht ausfindig zu machen. Aber wer braucht schon eine Currywurst, wenn man in eigentümlichen Lokalen in den Bergen die leckerste Hausmannskost und die feinsten Rotweine der Region bekommen konnte? Die man dann auf Terrassen mit fantastischem Blick auf den See genoss?

Natürlich hatten mir die Schlaumeier der Immobilienagentur im Dorf zuerst die teuersten Objekte gezeigt, mit Seeblick, eigenem Anlegeplatz für das Motorboot oder in exklusivster Lage auf der Seeinsel, durch üppige mediterrane Vegetation vor indiskreten Blicken geschützt. Ganz stolz hatte mich der etwas schmierige Makler mit eng anliegendem Anzug, Krawattennadel und glänzenden Lederschuhen über die unmittelbare Nähe zu einem berühmten Hollywood-Star aufgeklärt. Als wenn es mir was genutzt hätte. Selbst um Zucker auszuleihen, hätte ich mich in ein Ruderboot setzen müssen, um dann damit rechnen zu müssen, dass seine Wachhunde mich zerfleischt hätten, noch bevor ich die Klingel hätte betätigen können.

Nachdem ich also klargestellt hatte, dass die angepriesenen Objekte zwar durchaus ihren Reiz hatten und ich prinzipiell nichts gegen Zwölfzimmer-Residenzen aus der Barockzeit mit direktem und privatem Seezugang hegte, beschloss ich, die Karten auf den Tisch zu legen und die Summe zu nennen, die ich in der Lage war, aufzubringen.

Der angewiderte Blick, mit dem mich der Makler anschließend betrachtete, machte mir klar, dass er auch beschlossen hatte, die Karten auf den Tisch zu legen. Das Spiel war zu Ende. Jedenfalls war von seiner aufgesetzt charmanten Art auf einmal nichts mehr übrig. Er drehte sich widerwillig zu seiner Praktikantin um, die gelangweilt eine SMS in ihr Handy tippte, und fragte nach den »Sekundär-Objekten«.

Und da, in dem speckigen Ordner mit in Folien eingeschweißten Bildern fand ich auf der letzten Seite mein Häuschen. Zwar brauchte ich Fantasie, um mir die rußgeschwärzten Türen und Fenster, den abblätternden Putz und das renovierungsbedürftige Dach im glänzend-erneuerten Zustand vorzustellen, aber an Fantasie hatte es mir nie gemangelt. Dass es noch Abenteuerlust, Mut, Geduld und eine Portion Wahnsinn brauchte, um die Verwandlung geschehen zu lassen, war auch mir klar.

Aus diesem Grund seufzte ich, nachdem ich Michelotti meine Absicht zu diesem wahnwitzigen Vorhaben bestätigt hatte.

»Hättest du mich vorher gefragt. Mein Cousin hat ein Bauunternehmen oben in Ponte Silo«, versetzte er mit beleidigter Miene.

Ja, ja, klar, wieso war ich einfach nicht draufgekommen, den netten Carabiniere zu fragen, ob er zufällig auch einen Cousin mit eigenem Bauunternehmen hatte? Wo doch bislang fast jeder in Pelati mich informiert hatte, über einen solchen zu verfügen. Und natürlich hatte mir jeder besonders gute Konditionen versprochen.

»Äh, ja, das nächste Mal, grazie«, antwortete ich und wusste mit Sicherheit, dass es kein nächstes Mal geben würde. »Und? Was gibt es Neues in Pelati?«, lenkte ich vom Thema ab.

»Ach, das Übliche.«

»Du meinst, nichts bis auf die erhöhten Preise für die Fähre, die Müllabfuhr und den Pfarrer? Ach, und die Pest natürlich«, versetzte ich mit einem Grinsen.

»Dann bist du ja bestens informiert!«

»Ich bin auch schon seit einer halben Stunde hier.«

»Achtunddreißig Minuten, um genau zu sein. Du wurdest Punkt 10:44 Uhr am Ortseingang gesichtet, wenn ich mich nicht täusche«, gab er zurück und grinste nun ebenfalls.

Ich stutzte, fing mich aber schnell wieder.

»Na, du bist aber auch bestens informiert. Habt ihr ein ausgeklügeltes Informationssystem mit Vollbildprojektion auf das Rathausgebäude inklusive digitaler Zeitangabe über die wichtigsten Vorkommnisse im Ort entwickelt?«, fragte ich und war nicht sicher, ob meine Fantasievorstellung so abwegig war.

»No, no, das nicht, aber du wurdest geblitzt. Hübsches Bild, übrigens. Mit digitaler Zeitangabe, versteht sich. Du siehst darauf so konzentriert aus, so vollkommen vertieft in dein Telefongespräch. Hast du das neue i-Phone?«, fragte er interessiert.

Ich wurde geblitzt? Mit Telefon in der Hand?? Und Michelotti interessierte sich nur für das Handymodell! Ganz klar, Italiener durch und durch. Ich hingegen interessierte mich brennend genau für das Bild, das man von mir geschossen hatte. Am Steuer telefonieren konnte in Italien das Entziehen des Führerscheins bedeuten.

»Natürlich habe ich den Strafvorgang vernichtet«, grinste er.

Aha, Strafvorgang vernichtet also. Ich wusste gar nicht, dass so etwas überhaupt geht, also legal, meine ich.

Ich seufzte erleichtert auf. Immerhin brachte mir dieses Dorfleben zusätzlich zur unfreiwilligen Offenlegung meiner Privatsphäre auch Vorteile.

Während mich Michelotti von der Seite anstarrte, versuchte ich krampfhaft, seinen Blick zu ignorieren. Was würde mich nun diese Strafvorgangsvernichtung kosten?

»Bist du … äh … alleine hier? Tutta sola?«, fragte er mich mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Was ist das? Eine rhetorische Frage? War das auf dem Bild nicht zu erkennen?«, erwiderte ich trotzig.

»Ich frage nur so«, verteidigte er sich.

Da hatten wir es: Eine Frau, die alleine verreist, alleine ein Café besucht und alleine ein Haus renovieren lässt, ist in Italien eine solche Besonderheit, dass der Umstand mindestens ein Hochziehen der Augenbrauen verursacht, wenn nicht gleich im Rathaus gemeldet wird. In Deutschland hingegen wäre es nicht mal eine Erwähnung wert. Der Feminismus war in Italien nun mal nicht so weit fortgeschritten.

»Du, ich muss jetzt leider …«

Weiter kam ich nicht. Michelotti sprang ebenfalls auf, ging schnell zur Theke, zahlte für uns beide und lächelte mich breit an.

»Sì, lo so, ich weiß: Davide wartet auf dich. Lass uns gehen.«

Die Wahl des Bauunternehmers für die Renovierung meines Häuschens war aus Loyalitätsgründen auf Davide, den Cousin meines direkten Nachbarn Angelo, gefallen. Es war die einfachste Lösung, denn vor meinem inneren Auge hatte ich Angelo täglich mit einem fachmännischen Gesichtsausdruck an der Baustelle stehen und bei jedem Griff des Konkurrenten seines Cousins abfällig den Kopf schütteln sehen. Auf so etwas hatte ich keine Lust. Mir reichte der normale Bau-Stress auch so.

Von Francos Bar bis zu meinem Haus waren es nur dreißig Meter. Zwei massive Gewölbe aus dem Mittelalter führten zu einem Innenhof mit dem antiken Charme des Vergänglichen, wenn man das so nennen will. Denn charmant war die kleine Burg schon. Nur das mit dem Vergänglichen machte mir Sorgen, denn manchmal blickte ich hoch zu den Gemäuern und hoffte, dass sich nicht irgendwelche Steine aus dem Mauerwerk lösen würden, just in dem Moment, in dem ich mich darunter befand. Das Häuschen an sich sah in dem jetzigen Zustand nicht besonders ansprechend aus. So ziemlich alles war renovierungsbedürftig. Doch nach Ansicht von Davide, mit dem ich schon ein paar Mal gesprochen hatte, war alles machbar. Nur eine Frage des Geldes, fügte er dann immer grinsend hinzu. Das war dann der Zeitpunkt, an dem ich mich beeilte, ihm zu versichern, dass ich zwar in Deutschland lebte und arbeitete, doch deswegen nicht zu Reichtum gekommen war. Darauf reagierte Davide mit einem Achselzucken und Abwinken, das mir klarmachte, dass meine Botschaft nicht bei ihm angekommen war.

»Ciao, bella! Carabiniere!«, rief Davide aus, der auf seiner Vespa saß und eine Nachricht in sein Handy tippte. Er stieg ab, gab mir zwei Küsschen auf die Wangen und Michelotti die Hand. Dabei schaute er ihn skeptisch an und überlegte offensichtlich, ob er dienstlich oder privat zugegen war. Ordnungskräfte werden in Italien nur ungerne auf Baustellen oder sonstigen Orten, wo Geld den Besitzer wechselt, gesehen.

»Äh, er ist nur so mitgekommen, er wollte … äh … was genau wolltest du eigentlich?«

»Dir helfen, natürlich. Baustellen sind einfach keine Frauensache«, sagte er lachend und klopfte Davide auf die Schultern, der nur zu gerne in sein Lachen einstimmte. Toll, dass sich die beiden so prächtig verstanden. Aber das Geld darf am Ende doch von der Frau kommen, nicht?

»Also, Davide, wollen wir loslegen?«, fragte ich mit genervtem Gesichtsausdruck.

»Ah, sì«, rief er und riss sich zusammen. »Allora, hier habe ich eine Auflistung für alle Arbeiten, die anfallen. Natürlich weiß man am Anfang nicht, was vielleicht sonst noch gemacht werden muss.«

Natürlich. Schon beim Kauf des Häuschens hatte ich einiges nicht gewusst, zum Beispiel, dass das Dach an einer Stelle nur provisorisch von ein paar Brettern zusammengehalten wurde, und dass die Wasserversorgung über den unfreundlichen Nachbarn auf der rechten Seite lief. Dieser wiederum wollte mir den Zugang zu seiner Wasserversorgung nur dann ermöglichen, wenn ich den Renovierungsauftrag an seinen Cousin, der natürlich ebenfalls ein Bauunternehmen hatte, vergab. Selbstverständlich ließ ich mich nicht erpressen und ließ unter großem Aufwand eine eigene Wasserleitung legen, die mich Zeit, Nerven und Geld gekostet hatte. Immerhin war der unfreundliche Nachbar Alfredo mittlerweile so beleidigt, dass eine Einmischung von seiner Seite auf der Baustelle nicht zu erwarten war.

»Gehen wir rein!«, schlug Davide vor.

Wir machten uns auf den Weg zur Treppe, denn das Häuschen war eine Art Doppelhaushälfte, nur in vertikal, eine seltsame Konstruktion aus der Zeit, wo Baubehörden in Italien nur dazu da waren, um Familienmitgliedern Sondergenehmigungen für Bauvorhaben zu erteilen. Nicht dass es jetzt sehr viel anders war. Eine überdachte Terrasse mit abblätterndem Putz und mittelalterlicher Säule führte zu einer Treppe, über die man auf den Balkon gelangte und von dort zur Eingangstür. Ich nestelte mit dem Schlüssel herum, als Davide mir zuvorkam und mit einem gezielten Stoß die marode Tür aufstieß.

»Permesso! Gestattet!«, sagte Davide beim Eintreten ganz höflich und tat sogar so, als würde er sich die Füße abstreifen.

»Permesso!«, sagte auch Michelotti.

In Anbetracht der momentanen Erscheinung der Wohnung war diese Höflichkeitsfloskel ein Witz, aber so war das nun mal in Italien, wenn man ein fremdes Zuhause betrat, Baustelle hin oder her.

»Allora, die elektrischen Leitungen müssen komplett neu gemacht werden«, begann Davide die Aufzählung und zog an einer herunterhängenden Stromdose.

»Hm, klar.«

»Und natürlich darf man die Wände nicht so krumm lassen«, sagte er und klopfte fachmännisch gegen die zugegebenermaßen schiefe Mauer.

»Natürlich.«

»Das Bad und die Küche: Totalrenovierung! Und dann das Dach, logicamente.«

»Logicamente.«

»Türen, Fenster, alles wird neu.«

»Alles«, bestätigte ich und schluckte.

Vor meinem geistigen Auge summierten sich die Beträge zu exorbitanten Zahlen, während Michelotti ebenfalls einen fachmännischen Gesichtsausdruck machte, Pflicht eines jeden Mannes auf einer Baustelle. Würde ich das alles bezahlen können? Und würde Davide alles hinbekommen? Ohne dass größere Katastrophen im Laufe der Umbauphase geschehen würden? Man las so einiges über Pfusch auf Baustellen.

Davide in seiner Natur als Mann und in seiner Rolle als beauftragter Bauunternehmer hatte natürlich keine Zweifel.

»Mach dir keine Sorgen, das kriegen wir schon hin. Nessun problema, alles reine Routine.«

»Aha, Routine also?«

»Certo, es ist alles machbar, nur eine Frage des Geldes.«

Da hatten wir es!

»Davide! Das Ausgeben von mehreren Tausend Euro ist für mich eben keine Routine, ich schwimme nicht in Geld!!«, versetzte ich mit sich überschlagender Stimme.

Davide lachte laut und beängstigend auf.

»Es wird bestimmt ganz toll, ich habe schon ganz andere Bruchbuden auf Vordermann gebracht!«

Na, das baute mich jetzt richtig auf.

»Und was ist mit dem Dachboden über der Küche?«, fragte nun Michelotti, der auch etwas sagen wollte.

»Was ist mit dem Dachboden?«, fragte ich verdutzt.

»Na, den kann man wunderbar ausbauen! Dann hättest Du einen zusätzlichen Raum.«

»Aber da ist gar kein Dachboden!«, begehrte ich auf.

»Sì, sì, ich meine den Platz zwischen Dach und Küchendecke!«

Wir stiegen alle auf den Balkon und schauten nach oben, und tatsächlich konnte ich die Lücke nun sehen.

»Vero, Michelotti, bravo! Daran habe ich gar nicht gedacht.« Davides Augen leuchteten auf, sicherlich zählte er innerlich bereits die zusätzlichen Euro, die er einstreichen würde.

Na prima, die beiden hatten tolle Ideen, gratulierten sich gegenseitig mit kräftigen Schulterklopfern, und ich durfte zahlen.

»Un momento, was würde so ein Dachbodenausbau denn kosten?«, fragte ich.

»Ma niente!«

»Nichts?«

»No, also, schon ein bisschen, aber nicht die Welt.«

»Das sagst du immer!«

»Na ja, es ist schon einiges zu tun, aber bedenke eins: Alles kann man an einer Immobilie verändern, nur eine Sache nicht: die Lage!«

Ja, das stimmte wohl. Die Lage hatte ich in der Tat sehr gut gewählt. Das Häuschen lag wie jedes Haus in Pelati am Hang, doch in südlicher Ausrichtung, somit schien ab Mittag die Sonne durch die Fenster. Im Hochsommer müsste ich dann zum Schutz die Jalousien herunterlassen. Das machte jeder in Italien, das kannte ich aus meiner Kindheit in der nächstgrößeren Stadt nahe Pelati, und momentan hatte ich nicht vor, eine moderne Klimaanlage einzubauen. Nach den deutschen Wintern, in denen das Thermometer teilweise zweistellige Minusgrade erreichte, kamen mir die norditalienischen Sommer wie das Paradies vor.

»Ich würde nicht darauf wetten, aber möglicherweise hättest du von deinem Dachzimmer aus eine schöne Aussicht auf den See.«

Aussicht auf den See? Aussicht auf den See? Das änderte natürlich alles! Die Vorstellung war der absolute Wahnsinn! Schon sah ich mich auf einer Chaiselongue aus hellem Leinen und Rattan liegen, in der Hand einen Martini, und die Augen durch die großen Scheiben auf den See gerichtet. Wenn das nicht Erholung pur war! Mal abgesehen von den Mahnbriefen der Bank auf dem Couchtisch natürlich.

»Stella?«

»Sì?«

»Hast du meine Frage gehört?«

»Äh, nein, ich war in Gedanken versunken.«

»Ich fragte, ob du die Fliesen für Küche und Bad selbst aussuchen willst, oder ob du es mir überlässt.«

Das war ein Witz, oder?

»Das ist ein Witz, oder?«, fragte ich ungläubig.

Zwei Paar Männeraugen starrten mich verständnislos an.

Netter Versuch, dachte ich bei mir. Als würde es dir irgendeine italienische Frau überlassen, ihre Kacheln auszusuchen. Da kannte er mich aber schlecht.

»Natürlich suche ich sie mir selbst aus!«

Davide seufzte. Dass Frauen immer so schwierig sein müssen! Es wäre ihm tausendmal lieber gewesen, wenn ich ihm freie Hand gelassen hätte. Er hätte einfach die hässlichsten Kacheln genommen, die sonst keiner will, und dafür einen Sonderrabatt beim Fabrikanten herausgeholt, von dem ich jedoch als Endkundin nicht profitiert hätte. Dafür würde ich jahrelang auf ockerfarbene Fliesen mit kackbraunem Blättermuster starren und eine Depression bekommen. Nicht mit mir. Auf so etwas war ich vorbereitet. Meine Mutter hatte sich vor vielen Jahrzehnten bei der Küchenrenovierung eine hochmoderne Armatur für das Spülbecken andrehen lassen, die angeblich der Renner war. Die Frau des Installateurs hatte sie anscheinend auch und war damit sehr zufrieden. Meine Mutter war damals skeptisch gewesen, denn die angeblich so leichte Technik des Bedienens hatte ihr nicht eingeleuchtet. Doch der Installateur hatte nicht lockergelassen, und sie hatte am Ende zugestimmt, hauptsächlich weil mein Vater sie mit diesem Dass-Frauen-immer-so-schwierig-sein-müssen-Blick angeschaut hatte. Das verriet sie mir Jahre später. Jedenfalls verging seitdem kein Tag in meiner Kindheit, an dem meine Mutter beim Handhaben der Armatur nicht geschimpft hätte. Das hinterließ tiefe Spuren in meiner fragilen Kleinmädchenseele, und schon damals hatte ich mir fest vorgenommen, mich von so einem Männerblick nicht beirren zu lassen.

»Okay, dann lass uns morgen gemeinsam hinfahren. Marta Bagliocchi ist eine Freundin von mir, sie produziert selbst, ihre Firma ist oben am Berg, allerbeste Qualität, Ceramica del lago heißt sie«, sagte Davide.

»Ja, super!«, freute ich mich. »Bis morgen dann! Ciao a tutti.«

Ich grinste und wandte mich zum Gehen.

Ich musste dringend meine Bleibe für die nächsten sechs Wochen aufsuchen.

»Warte auf mich«, hörte ich es nach ein paar Metern hinter mir, dann wurde ich am Ellenbogen gepackt.

»Äh, Carabiniere, noch hier?«, fragte ich irritiert und leicht genervt. Schließlich waren wir in Pelati und erregten langsam, aber sicher die Aufmerksamkeit der älteren Leute, die, wie ich wusste, in Ermangelung einer vernünftigen Beschäftigung in das Verhalten anderer Leute gerne Dinge hineininterpretierten. Meine Oma hatte früher auf bestimmte Männer und Frauen im Ort hingewiesen, die miteinander redeten, und dabei vieldeutig die Augenbrauen hochgezogen.

»Darf ich mit dir mitkommen?«

»Ich gehe aber nur einkaufen, und das ist, wie du selbst zugeben musst, eindeutig Frauensache!«, gab ich spontan von mir.

»Äh, sì, das schon, aber … sehen wir uns nachher?«

Himmel, konnte der hartnäckig sein. Macho und hartnäckig, die klassische Kombination, würde ich sagen, wenn ich nicht prinzipiell ein Problem mit Klischees hätte, mit denen ich in Deutschland oft konfrontiert wurde. Ich blickte nach oben, wo eine meiner Nachbarinnen wie immer auf ihrem hübsch bepflanzten Balkon saß und so tat, als würde sie häkeln. Dabei wusste ich, dass die alte Rosa gerade mehr mit Ohrenspitzen als mit Maschenzählen beschäftigt war. Das Teil, an dem sie angeblich arbeitete, sah über Tage und Wochen immer gleich aus. Sie hatte bestimmt mitbekommen, dass Michelotti und ich miteinander redeten.

»Okay, später zum Aperitivo?«, lenkte ich leise ein, mit einem vorsichtig prüfenden Blick nach oben.

»Ich hole dich um sieben Uhr ab.«

»Va bene, ich wohne bei …«

»Signora Inzini, ich weiß, bis nachher! Und park den Wagen um, später hat Cesare Schicht, und du weißt …«

Ja, ja, ich wusste, Cesare, natürlich.

CAPITOLO 2

Leider stand Cesare schon an meinem Auto und schob gerade einen Strafzettel unter meinen Scheibenwischer.

»Buongiorno, vigile!«, begrüßte ich ihn mit der Bezeichnung »Wachtmeister«, wobei er genau genommen nur ein Helfer war und die Bezeichnung nicht verdiente. Aber es war einen Versuch wert.

»Du stehst zwei Meter hinter der Kurve und direkt vor der Eingangstür von Don Vincenzo. Du hast noch Glück gehabt, dass ich dich nicht habe abschleppen lassen.«

»Dai, Cesare, ich bin gerade erst aus Deutschland angekommen. Wo hätte ich denn parken sollen? Da war nichts frei, und ich war auch so schon zu spät bei Franco.«

»Keine einfache Brioche mehr?«, grinste er dämlich.

»No. Und ich bin auch schon geblitzt worden«, versuchte ich es auf die Mitleidstour.

»Habe ich gesehen. Wie läuft es mit deiner Renovierung?«, fragte er dann sprunghaft.

»Gut, also, das heißt, wir haben noch nicht angefangen. Aber Davide musste ich schon mal wegen meines Nachbarn Angelo engagieren, das verstehst du doch, oder?«

Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen verstand er das nicht.

»Aber sollte ich mit ihm nicht zufrieden sein, komme ich gerne auf deinen Cousin zurück, danke für den Tipp!«, fügte ich erbärmlich hinzu.

Cesare nickte gnädig und wandte sich zum Gehen.

»Hey, der Strafzettel!«

»Senti, mehr als einen Strafvorgang am Tag können wir dir nicht gutschreiben, das verstehst du doch, oder?«, grinste er wieder und war kurz darauf verschwunden.

In dem Moment ging das Tor auf, und Don Vincenzo trat hinaus, wobei er einen Bogen um meinen Wagen machen musste. Vom Sehen kannte ich ihn natürlich bereits. Katholische Pfarrer werden mit ihren schwarzen, langen Soutanen und schweren Kreuzanhängern auf der Brust selten übersehen. Oft hatte ich ihn im von der Straße einsehbaren Hof der kirchlichen Jugendfreizeitstätte gesichtet, wie er in den Taschen seiner Soutane nach Bonbons für die Kinder wühlte. Die Kinder hatten natürlich ihrerseits die Taschen voll mit Süßigkeiten, aber sie taten so, als wenn sie sich über die milde Gabe freuten. Gut erzogene Kinder. Don Vincenzo war nun mal ein älterer Herr der Nachkriegsgeneration und trotz seiner siebzig Jahre immer noch ein gut aussehender Mann; groß, markante Gesichtszüge und dichte graue Augenbrauen, unter denen schöne blaue Augen strahlten.

Mit ebenjenen Augen schaute er mich nun mit einer Mischung aus Strenge und Milde an, typisch für Vertreter seiner Spezies, die sich an ihre untreuen Schäfchen wandten, nach dem Motto:

Ich weiß genau, dass du die Messe nicht besuchst (Gott sieht alles), das finde ich nicht gut (siehe Sonntagsgebot), aber du bist ein Kind Gottes, und ich habe dich trotzdem lieb oder muss zumindest so tun als ob. Und dennoch blockierst du meinen Ausgang.

Da ich nicht besonders katholisch, aber dafür zu Demut erzogen worden war, schaute ich beschämt zu Boden und tat so, als würde ich in meinen Taschen nach irgendetwas suchen, in vollem Bewusstsein, dass ich in allen Anklagepunkten schuldig war.

»Buongiorno«, gab ich kleinlaut von mir.

»Buongiorno!«, tönte der Diener Gottes und schien im Großen und Ganzen mit meiner demütigen Reaktion zufrieden zu sein, schließlich hatte die katholische Kirche in den letzten Jahren ihre Erwartungen herunterschrauben müssen. Dann entfernte er sich fröhlich pfeifend Richtung Kirche, die sich zwanzig Meter die Straße runter befand und für ein Dörfchen wie Pelati viel zu groß und herrschaftlich geraten war, aber sie war nun mal in ganz anderen Zeiten errichtet worden.

Ich parkte das Auto ein paar Meter weiter, riss meinen großen Rollkoffer an mich und den Strafzettel von der Windschutzscheibe und ging das Gässchen an der Kirche vorbei hinunter Richtung See, um meine Herberge für die nächsten Wochen aufzusuchen.

Der Weg war an Romantik nicht zu überbieten. Kaum breiter als ein Auto, deshalb eigentlich nur für Fußgänger geeignet, wurde er von antiken brusthohen Steinmauern gesäumt, an denen alle möglichen Kletterpflanzen mit weißen und magentafarbenen Blüten zwischen grünem Efeu emporrankten. In den Rissen der Mauer tauchten kleine Eidechsen auf, die genauso schnell wieder verschwanden. Die Sonne schien noch mild und wärmte langsam, aber stetig den Steinboden auf. Am Nachmittag würde man die Hitze durch die Sandalen hochsteigen spüren. Wie ich das in Deutschland vermisste! Die zwei, drei Wochen schönes Wetter im Sommer waren mir eindeutig nicht genug, wir Italiener brauchten ganze drei Monate Hitze, sonst bekamen wir Probleme mit dem Vitamin-D-Spiegel, das hatte ich irgendwo gelesen.

Am Wegesrand standen kleine, zarte Fliederbäumchen, die in einer runden Aussparung im Kopfsteinpflaster eingelassen waren, die lilafarbenen Blüten bogen die dünnen Ästchen Richtung Erde. Ich hob die Hand, um eine dieser duftenden Blütentrauben zur Nase zu führen, als die Kirchenglocken laut ertönten und den romantischen Moment zunichtemachten. Punkt zwölf Uhr, und wenn ich mich nicht ganz täuschte, hörte sich das Läuten wie Hallelujah von Leonhard Cohen an. Don Vincenzo in musikalischer Bestform. Ja, ich hatte Pelati vermisst.

La signora Inzini wartete bereits auf mich. Natürlich hatte sie den genauen Zeitpunkt meiner Ankunft im Dorf erfahren und sich sofort an den Herd gestellt, um für mein Mittagessen zu sorgen.

»Stella, wie ich mich freue, dass ich die nächsten Monate nicht mehr alleine sein werde!«, begrüßte sie mich wie immer warmherzig und ein bisschen zu gefühlsbetont.

Sie war verwitwet und verkraftete das Alleinsein schlecht, obwohl, wie sie immer wieder klarstellte, ihre Ehe alles andere als glücklich gewesen war.

»Ein Sklaventreiber war Mario, jawohl, wenn das Essen nicht Punkt zwölf auf dem Tisch stand, konnte ich mir einiges anhören!«, hatte sie mir oft erzählt. Nun konnte sie es kaum erwarten, Punkt zwölf für mich das Essen fertig auf dem Tisch zu haben. Gewohnheiten sind schwer zu brechen. Jedenfalls vermietete Signora Inzini das obere Stockwerk ihres Hauses an Touristen und Personen wie mich, die für eine Weile eine Bleibe in Pelati suchten. Und natürlich hatte ich davon bei Franco erfahren. Ich hatte mich nur an die Theke stellen und in die Runde fragen brauchen: »Senti Franco, weißt du von einer netten und günstigen Übernachtungsmöglichkeit hier in Pelati für die Zeit meiner Renovierungsarbeiten?«

Und schon überboten sich die Gäste mit netten und günstigen Übernachtungsmöglichkeiten bei den verschiedenen Tanten, Schwägerinnen und Ex-Frauen im Dorf. Francos Bar war ein regelrechter Basar. Einer hatte mir sogar angeboten, in seinem Haus unterzukommen. Seine Frau wäre gerade ausgezogen, und er hätte viel Platz, vor allem im Schlafzimmer. Doch seine Kumpels hatten ihn prompt mit Erdnüssen beworfen und mir eine gepfefferte Erwiderung erspart.

Am Ende hatte ich mich für Signora Inzini entschieden, die auf mich den nettesten Eindruck gemacht hatte. Und natürlich auch aufgrund der einmaligen Lage ihres Hauses, das direkt am See lag. Von ihrem Garten hatte man einen fantastischen Blick auf die Insel in der Seemitte, Isolarocca, die größte bewohnte Binnenseeinsel Italiens, und auf beeindruckende Seeuntergänge. Das Ehepaar Inzini stammte ursprünglich aus Isolarocca und musste in den Achtzigerjahren berufsbedingt nach Pelati ziehen. Aus diesem Grund hatten sie damals auf unmittelbare Seenähe und Blick auf die Insel bestanden. Das kam mir entgegen. Außerdem war das Haus vor Kurzem komplett renoviert worden, im oberen Stockwerk hatte ich ein eigenes Bad und sogar eine kleine Kochnische. Jetzt musste ich Signora Inzini nur wieder an ihr ehemaliges Sklavendasein mit ihrem despotischen Ehemann erinnern, womit die Chancen, dass ich ab und zu selbst kochen konnte, stiegen.

Das Essen war absolut köstlich, wie nicht anders zu erwarten. Nach den obligatorischen spaghetti al pomodoro des ersten Gangs folgten die ortstraditionellen, getrockneten Sardinen aus dem See mit gebratenen Artischockenherzen. Dazu ein Tomatensalat und das köstliche Brot aus der sizilianischen Bäckerei im Ort, aus Weizenmehl mit Olivenöl. Pappsatt ging ich nach oben, räumte meine Einkäufe in den kleinen Kühlschrank, die Kleidungsstücke in den Schrank und legte mich eine Weile hin. Doch dann entschied ich mich anders, nahm einen Krimi aus meiner Reisetasche und ging in den Garten, wo ich mich auf einen Liegestuhl legte. Die Sonne brannte nun auf der Haut, und ich war froh, von Olivenbäumen umgeben zu sein, die ein wenig Schatten spendeten. Die Insel sah mächtig und geheimnisvoll aus. Ich nahm mir vor, ihr demnächst einen Besuch abzustatten, und vertiefte mich in meinem Buch. Es war ein Krimi von Agatha Christie und handelte von jener berühmten, netten, älteren Dame im Tweed-Kostüm, die in einem kleinen Dorf lebt und durch ihre unfehlbare Menschenkenntnis alle Mordfälle löst, die ihr in die Finger kommen. Angeblich erinnerten sie alle Menschen in ihrer Umgebung an andere Menschen, die sie früher gekannt hatte, und so konnte sie auf deren Charakterzüge schließen und schnell zur Lösung des Falls kommen. Wie ich sie beneidete. Hätte ich diese Fähigkeit besessen, hätte ich mir im Laufe meines Lebens einiges an Fehltritten erspart, hauptsächlich in Bezug auf die Männerwahl. Denn so wie Miss Marple ihre Verdächtigen in Charaktergruppen einteilte und bestimmte Schlussfolgerungen hinsichtlich ihres Verhaltens ziehen konnte, so hätte ich mir beispielsweise denken können, dass das akribische Teilen der Rechnung beim ersten Date nicht die beste Voraussetzung für eine warmherzige und innige Beziehung war. Aber Schwamm drüber, oder vielleicht später etwas dazu, sollte es die Leser interessieren.

Nach einer Weile kam Signora Inzini mit einer Schüssel voller Erbsenschoten in den Garten. Sie setzte sich an den Tisch unter der Weinrebe und machte sich daran, die Erbsen aus den Schoten zu drücken. Natürlich konnte ich mich augenblicklich nicht mehr auf mein Buch konzentrieren. Wie lange hatte ich das nicht mehr gesehen? Zwanzig Jahre? Länger? Ich hatte als junges Mädchen oft meiner Oma dabei geholfen. An ganz faulen Tagen ihr nur dabei zugesehen. Dabei war diese Tätigkeit wie Meditation, nur, dass man dabei nicht nur etwas für die eigene Entspannung tat, sondern auch etwas zu dem Abendessen beitrug. Ich konnte mich noch gut an das Gefühl erinnern, die prallen Schoten in den Händen zu halten und die Naht zum Platzen zu bringen. An die Befriedigung, wenn die kleinen grünen Kügelchen die Hülse verlassen und die große Schale bereichern. An das unbeschreibliche Glücksgefühl, wenn man die Hände in die volle Schale taucht und immer wieder durch die Erbsen fährt. Meine Oma hatte immer geschimpft, dass das nicht hygienisch wäre, aber damals war Hygiene für mich nur ein abstraktes Wort gewesen, das nach Spielverderben klang.

Eine Weile beobachtete ich die Signora, wie sie engagiert die Schoten traktierte, und dachte dabei, dass ich kein einziges Mal in meinem Leben meine Oma beim Nichtstun erlebt hatte. Immer hatte sie gearbeitet, entweder geputzt, gewaschen oder gekocht, und selbst wenn sie mal unter der Weinrebe gesessen hatte, hatte sie etwas für das Abendessen geschnippelt, ein Huhn gerupft oder Maiskörner für die Hühner gezupft. Wieso konnten diese alten Frauen sich nicht einfach mal ausruhen? Anstatt jungen Frauen wie mir ein schlechtes Gewissen beim Faulenzen zu machen?

»Ist das für das Abendessen?«, fragte ich geistlos.

»Sì, aber ich weiß, dass du nicht da sein wirst«, lächelte sie.

Klar wusste sie das, wie der Rest der Pelati-Bewohner auch.

»Nur ein Aperitivo mit dem Carabiniere«, beeilte ich mich überflüssigerweise zu sagen. Wenn Signora Inzini dasselbe über die Beziehung zwischen Mann und Frau dachte wie meine Oma, war ich mit Michelotti schon so gut wie verheiratet.

»Un bell’ uomo, il Carabiniere«, fügte sie hinzu.

Ich seufzte. Als wenn ich keine Augen im Kopf hätte. Ein schöner Mann war er schon, daran zweifelte ich auch nicht, doch reichte das für eine Beziehung? Nach den Bildern im Haus zu urteilen war der verstorbene Ehemann der Signora auch ein stattlicher Mann gewesen, aber eine glückliche Ehe hatten sie deshalb nicht geführt. Im Gegenteil: Dass er ein schöner Mann war, bemerkten auch andere Frauen …

»Senta, Signora, Irene war heute bei Franco«, wechselte ich geschickt das Thema.

»Ah, Irene«, lächelte sie und nickte.

»Sie sprach von der Pest und … äh … von Feuer und ganz anderen Dingen.«

»Sì, sì, sie ist nicht mehr dieselbe, früher war sie so eine intelligente Frau …«

»Aber warum ausgerechnet die Pest? Ich meine, ist das nicht ein wenig anachronistisch?«

Sie lachte.

»Certo, und sie bringt auch etwas durcheinander. Du weißt, dass im September unsere legendäre Festa dei Fiori auf Isolarocca stattfinden wird?«

Ich nickte. Natürlich kannte ich die Tradition. Jedes fünfte Jahr wurde auf der Seeinsel ein fantastisches Blumenfest gefeiert. Die größte der fünf Gemeinden auf der Insel wurde mit Tausenden von Blumen geschmückt. Die Besonderheit: Die Blumen waren aus Papier und sahen verblüffend echt aus. Es handelte sich um Handarbeit, die Technik wurde von Generation zu Generation weitergegeben, und die Frauen saßen Monate an der Fertigung dieser tollen Einzelstücke.

»Was du vielleicht nicht weißt, ist, wie diese Tradition entstanden ist.«

»No, das weiß ich in der Tat nicht«, antwortete ich und machte mich auf eine spannende Geschichte gefasst.

Die Signora, die von sich aus gerne erzählte, legte die Schote beiseite und fing an: »Es ist bekannte Tatsache, dass die Pest im 19. Jahrhundert in dieser Gegend besonders unbarmherzig war und Tausende Opfer forderte. Besonders in der größten Gemeinde auf Isolarocca war die Zahl der Toten groß. Und so wandte sich die Bevölkerung an die Santissima Croce und bat um Gnade. Als Gegenzug wollten die Bürger jedes fünfte Jahr ein großes Fest zu ihrer Ehre ausrichten. Jedenfalls verschwand in dem Jahr plötzlich die Pest von der Insel. Und nun wird jedes fünfte Jahr das Fest gefeiert.«

»Und wieso das Feuer?«, fragte ich.

»Das ist eine andere Legende um den See und betrifft den 14. Juli.«

In dem Moment klingelte das Telefon, und die Signora verschwand im Haus.

Nach ungefähr einer halben Stunde, in der sie laut mit irgendjemandem über Gerichte und Blumenarrangements diskutiert hatte, beschloss ich ebenfalls reinzugehen und mich für eine Weile hinzulegen. Das Nichtstun konnte ganz schön anstrengend sein.

CAPITOLO 3

»Du hättest schon auf mich warten können.«

»Wieso?«

»Dann hättest du nicht alleine hier sitzen müssen.«

»Ich bin ganz gerne mal alleine. Kein Problem«, erwiderte ich. Es war vergebene Mühe, Michelotti zu erklären, dass es für eine Frau keine Schande ist, alleine auf der Terrasse eines Lokals zu sitzen und etwas zu trinken. Allerdings hatte ich auch die mitleidigen Blicke der jungen Frauen bemerkt, die vorbeigekommen waren und denken mussten, ich sei versetzt worden. Ja, das hier war Italien, nicht Deutschland, und ein kleines Dorf, keine Großstadt.

»Michelotti, wer ist dieser Mann, der mit einer Aktentasche herumläuft? Der ist mir schon heute Nachmittag aufgefallen. Der ist sicherlich nicht aus Pelati«, sagte ich und zeigte mit dem Glas auf einen Herrn, der in einem spießigen grauen Anzug an der Bar vorbeilief und sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn wischte.

»Ach, der? Er kommt von einer Behörde und macht Kontrollen. Es geht um die neue Regelung für das Abwasser, glaube ich.«

»Was kann ich euch bringen?«, fragte die Bedienung und fixierte Michelotti mit ihrem Blick. Technisch gesehen war es auch in Ordnung, denn ich hatte bereits etwas zu trinken. Nur dass ihr Lächeln zu breit war und ihr Blick zu stark auf Michelottis Oberkörper geheftet. Mir fiel auf, dass der Carabiniere auch ohne Uniform sehr gut aussah. Seine gebräunte, olivfarbene Haut setzte er durch das weiße, eng anliegende Hemd sehr gut in Szene. Und auch das strahlende Lächeln, das er der Bedienung zuwarf, hatte seinen Reiz. Nur mit der Bestellung rückte er nicht heraus.

»Äh … Michelotti?«, drängte ich. Denn selbst, wenn das kein Date war, war es mir unangenehm, dass er mit der Bedienung so unverschämt flirtete, wo doch so gut wie jeder im Dorf davon ausging, dass wir demnächst heiraten würden.

»Ah sì, un Franciacorta«, gab er sich einen Ruck, und die junge Frau mit Piercing und rosafarbenen Haaren musste wohl oder übel verschwinden.

»Könntest du mich vielleicht anders nennen?«, fragte er mich mit säuerlicher Miene. Ich stutzte.

»Anders als Michelotti? Wäre dir maresciallo lieber?«

»No, ich meine mit meinem Vornamen.«

»Und der wäre?«

»Michele.«

Ich verkniff mir ein Lachen. Michele Michelotti, wenn das kein perfekter Name für einen Ermittler in einem italienischen Krimi war! Ich fragte mich, was Miss Marple von Michelotti gehalten hätte, denn ein Klischee war er aus meiner Sicht allemal.

»Sag mal, kommst du ursprünglich aus Pelati?«, fragte ich ihn.

»Sì, hier geboren und aufgewachsen. Das da war meine Grundschullehrerin«, antwortete er stolz und wies mit dem Finger auf eine ältere Dame, die mit einer Freundin auf einer Bank am See saß und plauderte. Typisch für ältere Damen, fächelten sie sich Luft mit einem Fächer zu und beschwerten sich gestenreich über die Hitze. Selbst aus der Entfernung konnte ich das sehen.

»Dann habe ich eine Frage an dich: Was hat es eigentlich mit dem 14. Juli auf sich? Die Signora Inzini erzählte etwas von einer Legende«, fragte ich.

»Ja, es stimmt«, erwiderte er ernst.

»Was stimmt? Komm, erzähl schon!«

»Va bene. Es heißt, dass jedes Jahr am 14. Juli das Wasser des Sees sich blutrot färbt und eine Hexe die Badenden an den Beinen packt und in die Tiefe zieht. Die Leute werden nie wieder gesehen.«

»Das ist ja eine hirnrissige Geschichte!«, lachte ich auf.

»Trotzdem: Tatsache ist, es haben sich über die Jahre an dem Tag so viele Badeunfälle gehäuft, dass es jetzt verboten ist, am 14. Juli im See zu baden.«

»Ach komm, du willst mich auf den Arm nehmen!«, rief ich.

Doch Michelotti blieb ernst.

»Meinst du das ernst? Wirklich kein Scherz?«

Michelotti nickte nur und schaute in die Ferne.

»Ein Onkel von mir ist auch vor ungefähr zwanzig Jahren im See verschwunden.«

»Und nicht wiederaufgetaucht?«

»Nie wieder.«

»Noch nicht mal die … äh … Leiche?«

Michelotti schüttelte den Kopf.

Ich dachte nach. Bis zum 14. Juli war es gar nicht mehr so weit hin, nur noch zehn Tage. Ich beschloss, mich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass das Ganze nur Hokuspokus war.

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