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Dreh dich nicht um

Als Buch hier erhältlich:

Gerichtsmedizinerin Sara Linton und ihr Ex-Mann Jeffrey Tolliver werden zu einem neuen Einsatz gerufen. Ein Student hat Selbstmord begangen – so scheint es zunächst. Doch während Sara und Jeffrey die Leiche in Augenschein nehmen, geschieht ganz in der Nähe ein grausames Verbrechen. Saras hochschwangere Schwester wird mit einem Messer attackiert und ringt um ihr Leben. Schnell stellt sich heraus, dass beide Taten zusammenhängen, und als sich ein weiterer Todesfall ereignet, nimmt ein dramatischer Showdown seinen Lauf.

  • »Eine der stärksten Thriller-Autorinnen unserer Zeit.« Tess Gerritsen
  • »Ich würde der Autorin überallhin folgen.« Gillian Flynn

  • Erscheinungstag: 26.04.2022
  • Aus der Serie: Grant County Serie
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 480
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749903863

Leseprobe

Für VS –
als Dank für die Liebe
und Zuneigung

Eins

Sara Linton beobachtete, wie ihre hochschwangere Schwester aus dem Dairy Queen herauskam, in jeder Hand einen Becher Vanilleeis mit Schokoladensoße. Als Tessa den Parkplatz überquerte, frischte der Wind auf, und das fliederfarbene Umstandskleid blähte sich und flatterte hoch bis über die Knie. Verzweifelt versuchte Tessa das Kleid zu bändigen, ohne das Eis fallen zu lassen, und Sara hörte sie fluchen, als sie sich dem Wagen näherte.

Sara versuchte sich das Lachen zu verkneifen. Sie lehnte sich über den Beifahrersitz, um ihr die Tür zu öffnen, und fragte: »Brauchst du Hilfe?«

»Nein«, knurrte Tessa und zwängte sich ins Auto. Sobald sie saß, drückte sie Sara das Eis in die Hand. »Und hör auf zu lachen.«

Sara zuckte leicht zusammen, als ihre Schwester die Sandalen abstreifte und die nackten Füße gegen das Armaturenbrett stemmte.

Ihr BMW 330i war noch keine zwei Wochen alt, und Tessa hatte bereits eine Tüte M & Ms auf dem Rücksitz schmelzen lassen und eine Dose Fanta über den Teppich im Fußraum gekippt. Wäre Tessa nicht im achten Monat schwanger, hätte Sara sie erwürgt.

»Warum hast du so lange gebraucht?«

»Ich musste aufs Klo.«

»Schon wieder?«

»Nein, weißt du, ich gehe nur zum Spaß bei Dairy Queen aufs Klo«, gab Tessa zurück. Sie fächelte sich mit der Hand Luft zu. »Gott, ist das heiß.«

Sara biss sich auf die Zunge und drehte die Klimaanlage auf. Als Ärztin wusste sie, dass Tessa nur das Opfer ihrer Hormone war, doch manchmal hätte sie Tessa am liebsten in eine Kiste gesperrt und erst wieder aufgemacht, wenn sie das Baby schreien hörte.

»Der Laden war rappelvoll«, jammerte Tessa, den Mund voll Schokoladensoße. »Müssten die Leute um die Zeit nicht in der Kirche sein oder so was?«

»Hm«, gab Sara zurück.

»Der Laden ist so ekelhaft. Schau dir nur mal den Parkplatz an.« Tessa fuchtelte mit dem Löffel in der Luft herum. »Die Leute werfen einfach ihren Müll auf die Straße und kümmern sich nicht darum, wer ihn wegräumt. Als würde die Müllfee kommen und alles mitnehmen.«

Sara brummte zustimmend und aß ihr Eis, während Tessa sich in ihrer Schimpftirade erging, angefangen bei dem Mann, der bei Dairy Queen ins Handy geschrien hatte, bis zu der Frau, die zehn Minuten in der Schlange stand und sich an der Theke immer noch nicht entschieden hatte, was sie wollte. Nach einer Weile ließ Sara die Gedanken schweifen, starrte auf den Parkplatz und dachte an die stressige Woche, die vor ihr lag.

Seit ein paar Jahren arbeitete sie nebenbei als Coroner für die örtliche Gerichtsmedizin, um ihren Partner an der Heartsdale-Kinderklinik auszahlen zu können, der in den Ruhestand ging. Normalerweise nahm ihr Amt als Rechtsmedizinerin nicht allzu viel Zeit in Anspruch, aber letzte Woche hatte sie vor Gericht erscheinen müssen, was sie zwei volle Tage in der Klinik gekostet hatte, und die würde sie diese Woche mit Überstunden aufholen müssen.

Die Arbeit in der Leichenhalle griff immer mehr auf ihre Klinikzeiten über, und Sara wusste, irgendwann würde sie zwischen beiden wählen müssen. Und wenn es so weit war, würde ihr die Entscheidung schwerfallen. Die Rechtsmedizin stellte für sie die Herausforderung dar, die ihr im Alltag fehlte, seit sie vor dreizehn Jahren von Atlanta zurück aufs Land nach Grant County gezogen war. Vielleicht fürchtete sie, ihr Grips würde verkümmern, wenn sie nicht mehr mit den Rätseln der forensischen Medizin zu tun hätte. Andererseits war das Heilen von Kindern gut für die Seele, und Sara, die selbst keine Kinder bekommen konnte, würde den Umgang mit ihnen vermissen. Täglich schwankte sie, ob ihr die eine oder die andere Arbeit wichtiger war. Meistens war es so, dass ein mieser Tag in dem einen Job den anderen umso schöner erscheinen ließ.

»Nicht mehr die Jüngste!«, blaffte Tessa laut genug, dass sie bis in Saras Bewusstsein durchdrang. »Ich bin vierunddreißig, nicht fünfzig. So einen Mist muss ich mir als Schwangere doch nicht von einer Krankenschwester anhören, oder?«

Sara sah ihre Schwester an. »Was?«

»Hast du überhaupt zugehört?«

Sara versuchte überzeugend zu klingen. »Ja, natürlich.«

Tessa runzelte die Stirn. »Du denkst an Jeffrey, stimmt’s?«

Sara war verdutzt. Ihr Exmann war ausnahmsweise das Allerletzte, woran sie gerade gedacht hatte. »Nein.«

»Sara, lüg mich nicht an«, erwiderte Tessa. »Die ganze Stadt hat die Schildertussi am Freitag auf der Wache gesehen.«

»Der neue Streifenwagen musste beschriftet werden«, erklärte Sara, doch sie spürte die Röte in ihre Wangen steigen.

Tessa sah sie ungläubig an. »Hat er letztes Mal nicht genau das Gleiche behauptet?«

Sara antwortete nicht. Sie erinnerte sich gut an den Tag, als sie früher von der Arbeit nach Hause gekommen war und Jeffrey mit der Inhaberin vom örtlichen Schilderdienst im Bett erwischt hatte. Ihre Familie war entsetzt, dass Sara vor einiger Zeit wieder etwas mit Jeffrey angefangen hatte. Sie begriff es selbst nicht, aber sie war einfach nicht in der Lage, einen Schlussstrich zu ziehen. Wenn es um Jeffrey ging, versagte ihr logisches Denken.

Tessa warnte: »Du musst vorsichtig sein. Er darf sich nicht zu sicher fühlen.«

»Ich bin ja nicht blöd.«

»Manchmal schon.«

»Du aber auch«, schoss Sara zurück und kam sich albern vor, noch bevor sie es ausgesprochen hatte.

Doch bis auf das Sirren der Klimaanlage war es still im Wagen. Schließlich spottete Tessa: »Gut gekontert.«

Sara versuchte das mit Lachen zu übergehen, aber sie war zu genervt. »Tessie, es geht euch einfach nichts an.«

Jetzt lachte Tessa so laut, dass es Sara in den Ohren wehtat. »Weißt du, Schätzchen, das hat noch niemanden davon abgehalten, seine Nase irgendwo reinzustecken. Marla Simms hing wahrscheinlich schon am Telefon, bevor die Schlampe auch nur den Hintern aus ihrem Truck bewegt hatte.«

»Nenn sie nicht so!«

Tessa fuchtelte wieder mit dem Löffel herum. »Wie soll ich sie denn sonst nennen? Nutte?«

»Weder noch«, sagte Sara ernst. »Nenn sie einfach gar nicht.«

»Ach, ich finde aber, den einen oder anderen Titel hat sie verdient.«

»Jeffrey war es, der mich betrogen hat. Sie hat nur eine günstige Gelegenheit ausgenutzt.«

»Weißt du«, begann Tessa, »zu meiner Zeit habe ich auch eine Menge günstige Gelegenheiten ausgenutzt, aber nie bei einem verheirateten Mann.«

Sara schloss die Augen. Sie wünschte, ihre Schwester würde den Mund halten. Sie hatte keine Lust auf diese Unterhaltung.

Doch Tessa war noch nicht fertig: »Marla hat Penny Brock erzählt, sie wäre fett geworden.«

»Was hast du denn mit Penny Brock zu tun?«

»Verstopfter Abfluss in der Küche«, erklärte Tessa und schob sich schmatzend den Löffel in den Mund. Tessa hatte Vollzeit für die Familienklempnerei Linton und Töchter gearbeitet, bis sie mit ihrem dicken Bauch nicht mehr unters Waschbecken passte, doch die Saugglocke auf den Ausguss drücken konnte sie immer noch. »Penny sagt, sie sieht aus wie ein Walross.«

Sara konnte nichts dagegen tun, sie musste innerlich feixen.

Tessa sagte: »Du lächelst. Ich hab’s gesehen.«

Sara taten die Wangen weh vor Anstrengung, ein ernstes Gesicht zu machen. »Wir sind schrecklich.«

»Wieso?«

»Weil …« Saras Gedanken schweiften ab. »Weil ich mir bescheuert dabei vorkomme.«

»Ach was, du bist, waste bist, wie Popeye sagen würde.« Tessa kratzte theatralisch mit dem Plastiklöffel den letzten Rest Eis aus dem Becher. Sie seufzte herzzerreißend, als hätte der Tag soeben eine schreckliche Wendung genommen. »Krieg ich den Rest von deinem?«

»Nein.«

»Ich bin schwanger!«, heulte Tessa.

»Nicht meine Schuld.«

Tessa kratzte weiter in ihrem Becher. Als Nächstes begann sie sich die Fußsohle an der Holzverkleidung des Armaturenbretts zu kratzen.

Eine volle Minute verging, bis Saras Große-Schwester-Schuldgefühle wie ein Presslufthammer zu arbeiten begannen. Sie versuchte dagegen anzukämpfen, indem sie schneller aß, doch das Eis blieb ihr im Hals stecken.

»Hier, du Riesenbaby.« Sara überreichte ihrer kleinen Schwester den Becher.

»Danke«, flötete Tessa. »Vielleicht können wir uns noch eins holen, für später?«, schlug sie dann vor. »Aber kannst du diesmal reingehen? Ich will nicht, dass sie denken, ich wäre total verfressen, und außerdem …«, sie klimperte mit den Wimpern, »kann sein, dass der Typ hinter der Theke nicht so gut auf mich zu sprechen ist.«

»Woher das wohl kommt!«

Tessa blinzelte unschuldig. »Manche Leute sind einfach furchtbar empfindlich.«

Sara öffnete die Tür, erleichtert darüber, aus dem Wagen rauszukommen. Sie war kaum einen Meter gegangen, als Tessa das Fenster herunterließ.

»Ich weiß«, seufzte Sara. »Extra viel Schokolade.«

»Ja, aber noch was …«, Tessa leckte das Eis von Saras Telefon, bevor sie es ihr durchs Fenster reichte. »Jeffrey ist dran.«

Sara hielt zwischen Jeffreys Wagen und einem Polizeiauto auf dem Kiesufer und nahm resigniert zur Kenntnis, wie die Steinchen gegen den Lack des BMW spritzten. Nur wegen dem Babysitz hatte Sara ihr Zweisitzer-Cabrio gegen das größere Modell eingetauscht. Doch unter der Einwirkung von Tessa und anderen Naturgewalten war der Wagen Schrott, bevor das Baby überhaupt zur Welt kam.

»Ist es hier?«, fragte Tessa.

»Ja.« Sara zog die Handbremse an und blickte in das ausgetrocknete Flussbett. Seit den Neunzigerjahren litt Georgia unter einer Trockenperiode, und der breite Fluss, der sich früher wie eine dicke träge Schlange durch den Wald gewunden hatte, war zu einem dünnen Rinnsal geschrumpft. Zurückgeblieben war das rissige, trockene Flussbett, und die zehn Meter hohe Betonbrücke darüber wirkte fehl am Platz. Sara konnte sich erinnern, dass die Leute früher von dort geangelt hatten.

»Ist da die Leiche?«, fragte Tessa und zeigte auf eine Menschentraube, die im Halbkreis stand.

»Wahrscheinlich«, sagte Sara. Sie überlegte, ob sie sich noch auf College-Gebiet befanden. In Grant County gab es drei Städte: Heartsdale, Madison und Avondale. Heartsdale mit dem Grant Institute of Technology war das Schmuckstück des Bezirks, und jedes Verbrechen, das hier in der Stadt verübt wurde, wog umso schwerer. Ein Verbrechen direkt auf dem Campus wäre ein Albtraum.

»Was ist passiert?«, fragte Tessa neugierig, obwohl sie sich noch nie für diesen Aspekt von Saras Arbeit interessiert hatte.

»Das muss ich erst noch herausfinden«, erklärte Sara geduldig und suchte im Handschuhfach nach dem Stethoskop. Es war eng auf dem Vordersitz. Sie legte eine Hand auf Tessas Bauch und ließ sie einen Moment dort liegen.

»Ach, Schwesterchen«, seufzte Tessa und griff nach Saras Hand. »Ich hab dich so lieb.«

Sara musste lächeln, als sie Tränen in Tessas Augen glitzern sah, und aus irgendeinem Grund hatte auch sie plötzlich einen Kloß im Hals. »Ich hab dich auch lieb, Tessie.« Sie drückte ihrer Schwester die Hand. »Bleib im Wagen. Ich brauche bestimmt nicht lange.«

Jeffrey kam Sara bereits entgegen, als sie die Wagentür zuwarf. Sein schwarzes Haar war ordentlich zurückgekämmt, im Nacken war es noch feucht. Der maßgeschneiderte graue Anzug hatte perfekte Bügelfalten, und an der Brusttasche prangte das goldene Polizeiabzeichen.

Sara dagegen trug eine Jogginghose, die ihre besten Tage lange hinter sich hatte, und ein T-Shirt, das irgendwann in der Reagan-Ära aufgegeben hatte, weiß zu sein. Ihre Füße steckten in Turnschuhen ohne Socken, die Schnürsenkel locker verknotet, sodass sie leicht hinein- und herausschlüpfen konnte.

»Du hättest dich nicht so schick zu machen brauchen«, witzelte Jeffrey, doch sie spürte die Anspannung in seiner Stimme.

»Was ist passiert?«

»Ich bin mir da nicht sicher …« Er warf einen Blick auf ihren Wagen. »Du hast Tessa mitgebracht?«

»Es lag auf dem Weg, und sie wollte unbedingt mitkommen …« Sara unterbrach sich. Was konnte sie sagen, außer dass sie zurzeit alles tat, um Tessa glücklich zu machen – oder zumindest um sie ruhigzustellen.

Jeffrey verstand. »Lieber keine großen Diskussionen, was?«

»Sie hat versprochen, dass sie im Wagen bleibt«, sagte Sara. Im selben Moment hörte sie die Wagentür zuschlagen. Die Hände in die Hüften gestemmt, drehte sie sich um, doch Tessa winkte schon ab.

»Ich geh mal …«, rief sie und zeigte auf den Waldrand hinter sich.

Jeffrey fragte: »Will sie nach Hause laufen?«

»Sie muss aufs Klo«, erklärte Sara, während sie Tessa nachsah.

Beide beobachteten, wie sich Tessa den steilen Abhang zum Waldrand hinaufschleppte, die Hände unter dem Bauch, als würde sie einen schweren Korb vor sich hertragen. Jeffrey sagte: »Darf ich lachen, wenn sie den Hügel runterrollt?«

Statt einer Antwort grinste Sara.

»Meinst du, sie kommt da oben allein zurecht?«

»Bestimmt«, antwortete Sara. »Ein bisschen Bewegung bringt sie nicht um.«

»Bist du sicher?«, fragte Jeffrey, anscheinend doch etwas besorgt.

»Na klar«, versicherte Sara. Jeffrey hatte in seinem Leben noch nie mit einer schwangeren Frau zu tun gehabt. Wahrscheinlich befürchtete er, Tessa könnte Wehen bekommen, bevor sie den Waldrand auf der Anhöhe erreichte. Höchste Zeit wär’s jedenfalls.

Sara schlug den Weg in Richtung Tatort ein, doch sie blieb stehen, als Jeffrey nicht hinterherkam. Sie ahnte, was er wollte.

»Du bist heute Morgen ziemlich früh abgehauen«, sagte er.

»Ich dachte, du brauchst deinen Schlaf.« Sie ging zu ihm zurück und fischte aus seiner Jackentasche ein Paar Latexhandschuhe. »Also, worum handelt es sich hier?«, versuchte sie ihn abzulenken.

»So müde war ich gar nicht«, sagte er in dem leicht vorwurfsvollen Ton, dem sie heute Morgen bewusst aus dem Weg gegangen war.

Sie nestelte an den Handschuhen, während sie überlegte, was sie sagen sollte. »Ich musste die Hunde rauslassen.«

»Langsam könntest du sie wirklich mitbringen.«

Sara warf einen Blick auf den Streifenwagen. »Ist der neu?«, fragte sie mit gespielter Neugier. Grant County war klein. Sara hatte von dem neuen Streifenwagen gewusst, noch bevor er vor dem Revier stand.

»Ist vor ein paar Tagen gekommen.«

»Die Schrift sieht schick aus«, stellte sie sachlich fest.

»Was du nicht sagst«, antwortete er.

Doch Sara ließ ihn nicht so leicht davonkommen. »Da hat sich jemand richtig ins Zeug gelegt.«

Jeffrey sah sie blauäugig an. Sara hätte ihm seine Unschuld abgenommen, wenn er die gleiche Miene nicht auch beim letzten Mal aufgesetzt hätte, als er ihr beteuert hatte, er würde sie nicht betrügen.

Sie lächelte verkniffen und wiederholte: »Also, was ist hier passiert?«

Er schnaubte. »Schwer zu sagen. Sieh es dir selbst an«, sagte er und machte sich auf den Weg zum Fluss.

Sara eilte hinter ihm her. Sie spürte, dass er sich ärgerte, doch sie hatte sich noch nie von seinen Launen einschüchtern lassen.

Sie fragte: »Ist es ein Student?«

»Wahrscheinlich«, sagte er kühl. »Wir haben in seinen Taschen nachgesehen. Er hatte keinen Ausweis dabei, aber diese Seite des Flusses gehört zum Campus.«

»Na, großartig«, seufzte Sara. Es würde wohl nicht lang dauern, bis Chuck Gaines auftauchte, der neue Sicherheitschef des College, und zu allem seinen Senf dazugab. Für sie war Chuck nur eine Nervensäge, doch Jeffrey, als Polizeichef von Grant County, hatte Anweisung, nett zu den College-Leuten zu sein. Das wusste Chuck, und er nutzte es aus, wann immer er konnte.

Sara bemerkte eine blonde junge Frau, die auf einem Stein saß. Neben ihr stand Brad Stephens, ein junger Polizist, den Sara noch vor ein paar Jahren in der Kinderklinik behandelt hatte.

»Ellen Schaffer«, erklärte Jeffrey. »Sie war im Wald joggen. Hat den Toten entdeckt, als sie die Brücke überquerte.«

»Wann hat sie ihn gefunden?«

»Ungefähr vor einer Stunde. Sie hat uns übers Handy verständigt.«

»Sie nimmt ihr Telefon mit zum Joggen?« Sara wunderte sich, warum sie das so überraschte. Die Leute nahmen ihr Telefon heutzutage schließlich auch mit aufs Klo.

Jeffrey sagte: »Ich werde später noch mal versuchen, mit ihr zu sprechen, wenn du dir die Leiche angesehen hast. Vorhin war sie zu durcheinander. Vielleicht schafft es Brad, sie zu beruhigen.«

»Hat sie das Opfer gekannt?«

»Sieht nicht so aus«, sagte er. »Wahrscheinlich war sie einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort.«

Die meisten Zeugen hatten dieses Pech. Sie bekamen für ein paar Sekunden etwas zu sehen, was sie den Rest ihres Lebens verfolgen würde. Anscheinend war das Mädchen hier aber noch glimpflich davongekommen, nach dem, was Sara von der Leiche unten im Flussbett bislang sehen konnte.

»Hier.« Jeffrey nahm Saras Arm, als sie an die Böschung kamen. Das Gelände war hügelig und fiel zum Fluss hin steil ab. Der Regen hatte einen Pfad in den Abhang gegraben, doch die Erde war locker und rutschig.

Sara schätzte das Flussbett auf mindestens fünfzehn Meter breit, doch das würde Jeffrey später nachmessen lassen. Der Boden unter ihren Füßen war ausgetrocknet, Staub wirbelte auf. Sie fühlte, wie Steinchen und Lehm in ihre Turnschuhe rutschten. Vor zwölf Jahren hätten sie an dieser Stelle bis zum Hals im Wasser gestanden.

Auf der Hälfte des Weges blieb Sara stehen und sah zur Brücke hinauf. Es war eine einfache Betonkonstruktion mit niedrigem Geländer. Darunter ragte ein Sims hervor, und zwischen Sims und Geländer hatte jemand in schwarzen Buchstaben gesprayt: STIRB, NIGGER, daneben ein großes Hakenkreuz.

Sara hatte einen unangenehmen Geschmack im Mund. »Hübsch.«

»Nicht wahr?« Jeffrey schnitt eine Grimasse. »Der ganze Campus ist voll davon.«

»Seit wann geht das schon so?«, fragte Sara. Das Graffito war verblasst, mindestens einige Wochen alt.

»Wenn ich das wüsste«, sagte Jeffrey. »Im College haben sie sich noch nicht mal dazu geäußert.«

»Wenn sie sich äußern würden, müssten sie auch was dagegen tun«, stellte Sara fest. Sie blickte sich um und versuchte Tessa auszumachen. »Weißt du, wer dahintersteckt?«

»Studenten«, sagte er abfällig, als sie den Weg fortsetzten. »Wahrscheinlich ein paar durchgeknallte Kids aus dem Norden, die es lustig finden, hier unten auf Südstaatler zu machen.«

»Ich hasse Hobbyrassisten«, murmelte Sara. Dann setzte sie ein Lächeln auf, um Matt Hogan und Frank Wallace zu begrüßen.

»Hallo, Sara«, sagte Matt. Um den Hals trug er eine Polaroidkamera, mehrere Fotos hatte er schon gemacht.

Frank, Jeffreys rechte Hand, erklärte: »Wir sind eben mit den Fotos fertig geworden.«

»Danke«, sagte Sara und zog sich die Gummihandschuhe über.

Das Opfer lag, mit dem Gesicht nach unten, direkt unter der Brücke. Die Arme waren seitlich ausgestreckt, Hose und Unterhose bauschten sich um seine Knöchel. Der relativ schmale und unbehaarte Rücken ließ darauf schließen, dass es sich um einen jungen Mann handelte, wahrscheinlich um die zwanzig. Das blonde Haar reichte ihm bis auf die Schultern und teilte sich am Hinterkopf. Es sah aus, als schliefe er – wenn man einmal von dem Brei aus Blut und Gewebe absah, der aus seinem Anus austrat.

»Uff«, stöhnte sie. Sie wusste jetzt, was Jeffrey meinte.

Der Form halber kniete sich Sara hin und hielt dem toten Jungen das Stethoskop auf den Rücken. Seine Rippen bewegten sich unter der Berührung. Einen Herzschlag gab es nicht.

Sara klemmte sich das Stethoskop um den Hals und untersuchte die Leiche. »Keine der üblichen Anzeichen von Gewalteinwirkung, die man in solch einem Fall erwarten würde. Keine Hämatome, keine Fleischwunden.« Sie sah sich seine Hände und Handgelenke an. Der linke Arm war verdreht, und sie bemerkte eine hässliche rosa Narbe, die quer über den Unterarm lief. Wie es aussah, war die Verletzung nicht älter als sechs Monate. »Gefesselt war er auch nicht.«

Der junge Mann trug ein dunkelgrünes T-Shirt, Sara hob es auf der Suche nach weiteren Verletzungen an. Im unteren Rückenbereich war ein langer roter Kratzer, der jedoch nicht bis aufs Blut ging.

»Was ist das?«, fragte Jeffrey.

Sara antwortete nicht, doch auch sie hatte das Gefühl, dass der Kratzer irgendwie nicht ins Bild passte.

Sie wollte das rechte Bein des Jungen anheben, doch sie hielt inne, als sich der Fuß nicht mitbewegte. Von unten griff sie in das Hosenbein. Knöchel, Schien- und Wadenbein fühlten sich an wie ein mit Haferschleim gefüllter Ballon. Beim anderen Bein war es das Gleiche. Die Knochen waren nicht einfach gebrochen, sie waren pulverisiert.

Vom Parkplatz hörten sie das Zuschlagen von Autotüren. Jeffrey flüsterte: »Scheiße.«

Kurze Zeit später kam Chuck Gaines die Böschung herunter. Das Hemd seiner Uniform spannte über seinem Bauch, als er sich einen Weg bahnte. Sara kannte Chuck seit der Grundschule; damals hatte er sie wegen allem Möglichen gehänselt, wegen ihrer Größe, wegen ihrer guten Noten, wegen ihrem roten Haar, und sein Erscheinen löste bei ihr dieselbe Begeisterung aus wie damals, wenn er auf dem Spielplatz aufgetaucht war.

Begleitet wurde Chuck von Lena Adams, auch in der braunen Uniform der Campus-Polizei, allerdings war die Montur für ihren kleinen Körper mindestens zwei Nummern zu groß. Nur der Gürtel hielt ihre Hose, und mit der Fliegerbrille und der Baseballkappe sah sie aus wie ein kleiner Junge, der sich verkleidet hatte – erst recht, als sie den Halt verlor und den Rest des Abhangs auf dem Hintern herunterrutschte.

Frank schickte sich an, ihr zu helfen, aber Jeffrey warf ihm einen warnenden Blick zu. Lena war Polizistin gewesen, sie hatte zum Team gehört – bis vor ungefähr sieben Monaten. Dass sie gegangen war, hatte Jeffrey ihr noch nicht verziehen, und er sorgte dafür, dass das auch kein anderer unter seinem Kommando tat.

»Verdammt«, sagte Chuck, der die letzten Meter gejoggt war. Es war nicht besonders warm, doch von dem beschwerlichen Abstieg hatte sich ein Schweißfilm auf seiner Oberlippe gebildet, und sein Gesicht war rot. Chuck war untersetzt und sah irgendwie ungesund aus. Er schwitzte immer, und seine Haut war wie aufgequollen. Er hatte ein Mondgesicht und weit auseinanderstehende Augen. Sara wusste nicht, ob es von den Steroiden oder von falschem Krafttraining kam, jedenfalls sah er aus wie ein wandelnder Herzinfarkt.

Jetzt zwinkerte er Sara zu und rief: »Hallo, Rotkäppchen!« Dann streckte er Jeffrey die fleischige Hand entgegen. »Alles paletti, Chief?«

»Chuck«, grüßte Jeffrey und schüttelte ihm widerwillig die Hand. Er warf Lena einen flüchtigen Blick zu, dann drehte er sich wieder zu der Leiche um. »Die Meldung ging vor ungefähr einer Stunde ein. Sara ist gerade gekommen.«

Sara sagte: »Hallo, Lena.«

Lena nickte ihr zu, doch durch die dunkle Sonnenbrille konnte Sara ihren Blick nicht genau deuten. Jeffreys Unmut über die kleine Vertraulichkeit der beiden Frauen war nicht zu übersehen. Sara hätte ihm am liebsten gründlich die Meinung gesagt.

Chuck klatschte in die Hände, um seine Autorität zu unterstreichen. »Was haben wir denn da Schönes, Doc?«

»Sieht aus wie Selbstmord«, antwortete Sara und überlegte, wie oft sie Chuck wohl schon gesagt hatte, er solle sie nicht »Doc« nennen. Nur »Rotkäppchen« war schlimmer.

»Ach, wirklich?« Chuck reckte den Hals. »Findest du nicht, dass es aussieht, als hätte jemand an ihm rumgemacht?« Chuck deutete auf die untere Körperhälfte der Leiche. »Ich finde, dass es sogar sehr danach aussieht.«

Sara antwortete nicht. Sie sah Lena an und fragte sich, wie es ihr ging. Vor fast genau einem Jahr hatte Lena ihre Zwillingsschwester verloren; bei den Ermittlungen war sie dann selbst in die Falle des Mörders getappt und durch die Hölle gegangen. Auch wenn Lena Adams alles andere als Saras beste Freundin war, Chuck Gaines als Chef hätte Sara nicht einmal ihrer schlimmsten Feindin gewünscht.

Chuck merkte, dass ihn niemand beachtete. Er klatschte noch einmal in die Hände und bellte: »Adams, sehen Sie sich mal in der Umgebung um. Vielleicht finden Sie was.«

Überraschenderweise gehorchte Lena, ohne zu murren, und machte sich auf den Weg den Fluss hinunter.

Sara beschirmte die Augen gegen die Sonne und sah noch einmal hinauf zur Brücke. »Frank, würdest du mal da raufgehen und nach einem Abschiedsbrief oder so was suchen?«

»Ein Abschiedsbrief?«, wiederholte Chuck.

Sara wandte sich an Jeffrey. »Ich schätze, er ist von der Brücke gesprungen«, sagte sie. »Und auf den Füßen gelandet. Man sieht die Schuhabdrücke im Staub. Der Aufprall hat ihm die Hose heruntergerissen und die Knochen von Füßen und Beinen gebrochen.« Sie las die Größe auf dem Etikett hinten an den Jeans. »Die Jeans sind riesig, und aus der Höhe ist die Fallgeschwindigkeit ziemlich hoch. Das Blut stammt von inneren Verletzungen. Hier sieht man es, ein Teil des Rektums wurde ausgestülpt und aus dem Anus herausgedrückt.«

Chuck pfiff durch die Zähne. Sara sah, wie sich seine Lippen bewegten, als er die rassistische Schmiererei auf der Brücke las. Dann schenkte er ihr ein dreistes Lächeln und fragte: »Wie geht’s deiner Schwester?«

Jeffrey knirschte mit den Zähnen. Devon Lockwood, der Vater von Tessas Kind, war schwarz.

»Es geht ihr gut, Chuck«, antwortete Sara beherrscht. Auf den Köder würde sie nicht anspringen. »Warum fragst du?«

Er grinste noch einmal und versicherte sich, dass sie sah, wohin sein Blick gerichtet war. »Ach, nur so.«

Sara konnte sich nur wundern, wie wenig Chuck Gaines sich seit der Highschool verändert hatte.

»Die Narbe auf seinem Arm«, meldete sich Jeffrey zu Wort, »sie sieht frisch aus.«

Sara zwang sich, den Arm des Opfers zu begutachten, doch der Ärger war ihr anzumerken, als sie sagte: »Ja.«

»Ja?«, wiederholte Jeffrey mit einem deutlichen Fragezeichen dahinter.

»Ja.« Sara wollte ihm klarmachen, dass sie ihre Kämpfe selbst ausfechten konnte. Sie atmete tief ein, dann sagte sie: »Ich tippe, er hat sich die Wunde selbst zugefügt, sauber die Arteria radialis aufgeschlitzt. Wahrscheinlich war er im Krankenhaus damit.«

Plötzlich schien sich Chuck für Lenas Fortschritte zu interessieren. »Adams!«, schrie er. »Da lang!« Er wies von der Brücke weg in die entgegengesetzte Richtung.

Sara griff mit beiden Händen an die Hüften des toten Jungen und bat Jeffrey: »Kannst du mir helfen, ihn umzudrehen?«

Während sich Jeffrey Latexhandschuhe überzog, suchte sie den Waldrand nach Tessa ab. Es war keine Spur von ihr zu sehen. Ausnahmsweise war Sara froh, Tessa in ihrem Wagen zu wissen.

»Fertig«, sagte Jeffrey und packte den Jungen bei den Schultern.

Sara zählte bis drei, und dann drehten sie die Leiche des Jungen so vorsichtig wie möglich um.

»O Scheiße«, quiekte Chuck wie ein Teenager im Stimmbruch. Er sprang zurück, als wäre die Leiche in Flammen aufgegangen. Auch Jeffrey zuckte zurück. Matt drehte sich würgend weg.

»Aha«, sagte Sara. Etwas anderes fiel ihr nicht ein.

Der untere Teil des Penis war fast vollständig gehäutet. Ein zehn Zentimeter langer Hautlappen hing lose von der Eichel, eine Reihe von hantelförmigen Piercing-Steckern durchbohrte in regelmäßigen Abständen das Fleisch.

Sara kniete sich hin, um die Verletzung näher zu betrachten. Hinter ihr atmete einer der Männer scharf durch die Zähne ein, als sie die Haut zurück an ihre ursprüngliche Position brachte und den gezackten Rand der Stelle untersuchte, wo das Fleisch vom Glied abgerissen war.

Jeffrey fand als Erster die Sprache wieder. »Was zum Teufel ist das?«

»Body-Piercing«, sagte Sara. »Die sogenannte Frenum-Ladder.« Sie zeigte auf die Metallstecker. »Die Dinger sind ziemlich schwer. Durch den Aufprall haben sie die Haut abgezogen wie einen Strumpf.«

»Scheiße«, murmelte Chuck noch einmal, als er die Wunde unverhohlen anstarrte.

Jeffrey schüttelte den Kopf. »Hat er sich das selbst angetan?«

Sara zuckte die Schultern. Intimschmuck war nicht unbedingt die Regel in Grant County, aber Sara hatte in der Klinik immer wieder Jugendliche mit entzündeten Piercings behandelt. Sie wusste, was es da draußen alles gab.

»Mannomann«, flüsterte Matt und scharrte im Staub. Er hatte sich noch nicht wieder umgedreht.

Sara zeigte auf den feinen Goldring im Nasenflügel des Jungen. »Dort ist die Haut dicker, daher ist sie nicht ausgerissen. Und die Augenbraue …« Sie suchte den Boden ab und entdeckte einen weiteren Goldring, der im Lehm steckte. »Vielleicht hat er sich beim Aufprall geöffnet.«

Jeffrey deutete auf die Brust. »Was ist damit?«

Eine feine Blutspur endete etwa eine Handbreit unter der Brustwarze, die aufgerissen war. Aufs Geratewohl suchte Sara im Hosenbund. Zwischen dem Reißverschluss und den Boxershorts steckte ein dritter kleiner Ring. »Gepiercte Brustwarze«, sagte sie und hob den Ring auf. »Hast du eine Tüte dafür?«

Jeffrey holte einen Plastikbeutel heraus und hielt ihn ihr angewidert hin. »Ist das alles?«

»Wahrscheinlich nicht«, sagte sie.

Sie drückte dem jungen Mann mit Daumen und Zeigefinger den Mund auf. Vorsichtig griff sie hinein.

»Wahrscheinlich ist die Zunge auch gepierct«, erklärte sie, während sie den Muskel abtastete. »Die Spitze ist gespalten. Genaueres weiß ich, wenn ich ihn auf dem Tisch habe, aber ich gehe davon aus, dass der Zungenstecker noch im Rachenraum ist.«

Noch in der Hocke zog sie die Handschuhe aus. Sie musste versuchen, das Opfer als Ganzes zu sehen und nicht als Summe seiner gepiercten Teile. Er war ein durchschnittlich gut aussehender Junge – abgesehen von dem Blut, das ihm als dünnes Rinnsal aus der Nase rann und sich um seine Lippen sammelte. Am rundlichen Kinn wuchs ein flaumiges rotblondes Ziegenbärtchen, die Koteletten waren lang und dünn und umrandeten das Gesicht wie ein glänzendes Band.

Chuck trat einen Schritt vor, um besser sehen zu können. Sein Unterkiefer klappte auf. »O Scheiße. Das ist …verdammt …« Stöhnend schlug er sich mit der Hand auf die Stirn. »Mir fällt der Name nicht ein. Seine Mutter arbeitet im College.«

Sara sah, wie Jeffrey die Schultern hängen ließ. Der Fall war soeben zehnmal komplizierter geworden.

Oben von der Brücke rief Frank herunter: »Hab einen Brief gefunden.«

Obwohl sie Frank selbst auf die Suche geschickt hatte, war Sara überrascht. Sie hatte eine Menge Selbstmorde gesehen, und an diesem hier war irgendetwas nicht ganz sauber.

Jeffrey sah sie aufmerksam an, als versuchte er ihre Gedanken zu lesen. »Glaubst du immer noch, dass er gesprungen ist?«

Sara ließ sich nicht festlegen. »Sieht so aus, oder?«

Er überlegte einen Augenblick, dann sagte er laut: »Wir suchen die ganze Umgebung ab.«

Chuck wollte seine Hilfe anbieten, doch Jeffrey stellte ihn kalt. »Chuck, können Sie hier bei Matt bleiben und ein Foto von dem Gesicht des Jungen machen? Ich möchte es der Frau zeigen, die ihn gefunden hat.«

»Äh …« Anscheinend wollte Chuck sich rausreden – nicht, weil er nicht bleiben wollte, sondern weil er sich von Jeffrey nicht herumkommandieren ließ.

Zu Matt, der sich endlich umgedreht hatte, sagte Jeffrey: »Mach ein paar Fotos.«

Matt nickte steif. Sara fragte sich, wie er, ohne das Opfer anzusehen, die Fotos zustande bringen würde. Chuck dagegen schien sich nicht sattsehen zu können. Wahrscheinlich hatte er noch nie eine Leiche gesehen. Sara kannte ihn zu gut, daher überraschte sie seine Reaktion nicht. Für Chuck war all das hier wie besseres Fernsehen.

»Komm.« Jeffrey half Sara auf die Füße.

»Ich habe Carlos angerufen.« Carlos war Saras Assistent im Leichenschauhaus. »Er sollte gleich hier sein. Nach der Obduktion wissen wir mehr.«

»Gut.« Jeffrey wandte sich noch einmal an Matt: »Versuch, ein gutes Bild von seinem Gesicht zu machen. Wenn Frank wieder hier unten ist, sag ihm, dass ich mich am Auto mit ihm treffe.«

Matt salutierte stumm. Es hatte ihm die Sprache verschlagen.

Sara stopfte sich das Stethoskop in die Hosentasche, als sie und Jeffrey zurück durch das Flussbett marschierten. Sie spähte hinauf zu ihrem Wagen, um nach Tessa zu sehen. Die Sonne spiegelte sich in der Windschutzscheibe.

Jeffrey wartete, bis sie außerhalb von Chucks Hörweite waren, dann fragte er: »Du hast nicht alles gesagt, oder?«

Sara schwieg, sie wusste nicht, wie sie ihre vagen Vermutungen in Worte fassen sollte. »Irgendwas ist faul an der Sache.«

»Vielleicht ist es nur wegen Chuck.«

»Nein«, sagte sie. »Chuck ist ein Arschloch. Aber das weiß ich seit über dreißig Jahren.«

Jeffrey musste lächeln. »Was ist es dann?«

Sara sah sich noch einmal nach dem Jungen um, der auf dem Boden lag, dann warf sie einen Blick hoch zur Brücke. »Der Kratzer auf seinem Rücken. Woher kommt er?«

Jeffrey konnte nur raten: »Vom Brückengeländer vielleicht?«

»Wie das? So hoch ist das Geländer nicht. Wahrscheinlich ist er einfach drübergestiegen.«

»Das Sims unter dem Geländer«, überlegte Jeffrey weiter. »Vielleicht hat er sich im Fallen den Rücken daran aufgeschürft.«

Sara starrte immer noch zur Brücke hoch. Sie versuchte sich vorzustellen, was passiert war. »Also, wenn ich gesprungen wäre, ich hätte keine Lust gehabt, mir unterwegs noch irgendwo wehzutun. Ich hätte mich aufs Geländer gestellt und wäre so weit wie möglich von der Brücke weggesprungen. Weg von allem.«

»Vielleicht ist er erst aufs Sims geklettert und hat sich dabei den Rücken aufgeschürft.«

»Lass deine Leute nach Hautpartikeln suchen«, schlug Sara vor, doch aus irgendeinem Grund bezweifelte sie, dass man welche finden würde.

»Und dass er auf den Füßen gelandet ist?«

»Nicht so ungewöhnlich, wie man denkt.«

»Meinst du, er hat es freiwillig getan?«

»Das Springen?«

»Die Geschichte da.« Jeffrey deutete auf seinen Unterleib.

»Das Piercing?«, fragte Sara. »Das hat er wahrscheinlich schon länger. Es ist gut verheilt.«

Jeffrey schüttelte sich. »Warum tut man sich so was an?«

»Angeblich erhöht es die sexuelle Erregbarkeit.«

Jeffrey machte ein skeptisches Gesicht. »Für den Mann?«

»Und für die Frau«, ergänzte Sara schaudernd.

Dann sah sie zu ihrem Wagen. Von hier aus konnte sie den Parkplatz gut überblicken. Außer Brad Stephens und der Zeugin war niemand in Sicht.

Jeffrey fragte: »Wo ist Tessa?«

»Keine Ahnung«, antwortete Sara nervös. Sie hätte Tessa heimfahren sollen, anstatt sie mitzunehmen.

»Brad«, rief Jeffrey dem Polizisten zu, als sie bei den Autos ankamen. »Ist Tessa noch nicht zurückgekommen?«

»Nein, Sir«, antwortete er.

Sara warf einen Blick auf den Rücksitz des Wagens. Vielleicht hatte sich Tessa dort zu einem Nickerchen eingerollt. Doch der Wagen war leer.

»Sara«, sagte Jeffrey.

»Ist schon in Ordnung«, murmelte Sara. Vermutlich hatte Tessa, als sie schon auf dem Rückweg war, noch einmal pinkeln müssen. In den letzten Wochen hatte das Baby auf ihrer Blase Stepptänze aufgeführt.

»Willst du, dass ich sie suchen gehe?«, bot Jeffrey an.

»Sie hat sich wahrscheinlich irgendwo hingesetzt, um zu verschnaufen.«

»Sicher?«, fragte Jeffrey.

Sie winkte ab, dann machte sie sich auf den Weg und kraxelte den Hügel hinauf. Der Wald umgab die halbe Stadt, und die Studenten benutzten die Wege zum Joggen. Gut anderthalb Kilometer weiter im Osten befand sich die Kinderklinik. Im Westen kam der Highway, und in nördlicher Richtung landete man irgendwann auf der anderen Seite der Stadt, wo die Lintons wohnten. Falls Tessa beschlossen hatte, nach Hause zu laufen, ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen, würde Sara sie umbringen.

Der Hang war steiler, als Sara gedacht hatte, und oben angekommen, musste sie Halt machen, um Atem zu schöpfen. Alles war voll mit Müll, Bierdosen lagen unter den Bäumen verstreut wie Herbstlaub. Sie blickte zurück zum Parkplatz, wo Jeffrey gerade die Frau befragte, die die Leiche gefunden hatte. Brad Stephens winkte, und Sara winkte zurück. Wenn sie schon vom Aufstieg außer Atem war, musste Tessa erst recht gekeucht haben. Vielleicht hatte sie eine Pause gemacht. Vielleicht war sie von einem Tier angegriffen worden. Vielleicht hatten die Wehen eingesetzt. Bei dem letzten Gedanken wandte sich Sara wieder um und folgte einem ausgetretenen Weg in den Wald. Dort angekommen, sah sie sich um.

»Tess?«, rief Sara und versuchte, nicht wütend zu klingen. Wahrscheinlich war Tessa einfach losgelaufen und hatte die Zeit vergessen. Sie trug seit ein paar Monaten keine Uhr mehr, weil ihre Handgelenke zu dick für das Metallarmband geworden waren.

Sara lief tiefer in den Wald und rief lauter: »Tessa?«

Trotz des sonnigen Tages war es dunkel im Wald, die Äste der hohen Bäume griffen ineinander und ließen kaum Licht durch. Sara beschirmte die Augen, als ob ihr das helfen würde, besser zu sehen.

»Tess?«, versuchte sie es wieder, dann zählte sie bis zwanzig.

Keine Antwort.

Der Wind raschelte im Laubwerk, und Sara spürte ein unangenehmes Kribbeln im Nacken. Sie rieb sich die nackten Arme, dann lief sie weiter den Weg entlang. Nach knapp zehn Metern traf sie auf eine Weggabelung. Sara überlegte, welche Richtung sie einschlagen sollte. Beide Wege sahen gleich ausgetreten aus, und auf beiden sah sie die Abdrücke von unzähligen Turnschuhen. Sie kniete sich hin, um nachzusehen, ob sie zwischen den gezackten Profilabdrücken die glatten Sohlen von Tessas Sandalen entdeckte, als sie hinter sich ein Geräusch hörte.

Sie zuckte zusammen. »Tess?« Doch es war nur ein Waschbär, der von der unverhofften Begegnung genauso überrascht war wie Sara. Sekundenlang starrten sie einander an, dann rannte der Waschbär zurück ins Unterholz.

Sara stand auf und klopfte sich die Erde von den Händen. Sie lief nach rechts, dann ging sie zurück und malte mit dem Absatz einen einfachen Pfeil in den Boden, der die Richtung wies. Sie fühlte sich albern, aber über die übertriebene Vorsicht konnte sie später immer noch lachen, wenn sie Tessa nach Hause fuhr.

»Tess?« Sie brach einen herabhängenden Zweig ab und lief weiter. »Tess?«, rief sie wieder, dann hielt sie wartend inne, doch es kam keine Antwort.

Weiter vorn sah Sara, dass der Weg eine leichte Biegung machte und sich dann erneut verzweigte. Sie überlegte, ob sie Jeffrey holen sollte, entschied sich aber dagegen. Wieder kam sie sich albern vor, doch die Angst tief in ihrem Innern konnte sie nicht ganz unterdrücken.

Sara lief weiter und rief dabei immer wieder Tessas Namen. Bei der nächsten Abzweigung blieb sie stehen. In einem spitzen Winkel trennten sich die beiden Wege, der rechte machte nach ungefähr dreißig Metern eine scharfe Biegung. Der Wald war noch dunkler hier, und Sara musste sich anstrengen, um überhaupt noch etwas zu sehen. Sie wollte gerade ein Zeichen auf den linken Weg malen, als eine Alarmglocke in ihr zu schrillen begann. Es war, als hätten ihre Augen eine Weile gebraucht, um das Bild an den Kopf weiterzugeben. Sara suchte noch einmal den rechten Weg ab und entdeckte einen seltsamen flachen Stein kurz vor der scharfen Biegung. Nach ein paar Schritten begann sie zu laufen – der Stein war eine von Tessas Sandalen.

»Tessa!«, schrie sie, packte den Schuh und drückte ihn an sich, während sie voller Panik weiterrannte. Dann ließ sie den Schuh fallen. Ihr schwindelte. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Das Unbehagen, das sie unterdrückt hatte, wurde zu blankem Entsetzen. Vor ihr auf der Lichtung lag Tessa, eine Hand auf dem Bauch, die andere seitlich abgewinkelt. Ihr Kopf war unnatürlich verdreht, die Lippen leicht geöffnet, die Augen geschlossen.

»Nein …« Sara stöhnte und rannte zu ihrer Schwester. Die zehn Meter dehnten sich wie Kilometer. Eine Million Möglichkeiten schossen Sara durch den Kopf, aber keine davon bereitete sie auf das vor, was sie fand.

»O Gott«, stöhnte sie und sank mit weichen Knien zu Boden. »O nein …«

Jemand hatte Tessa mit einem Messer angegriffen. Sie hatte mindestens zwei Stichwunden im Bauch und eine in der Brust. Überall war Blut, Blut färbte das Violett von Tessas Kleid schwarz. Sara sah ihrer Schwester ins Gesicht. Ein Teil ihrer Kopfhaut war abgerissen und hing ihr ins linke Auge, das rote Fleisch leuchtete in krassem Kontrast zu ihrer blassen Haut.

Sara schrie: »Nein … Tess … nein …!« Sie berührte Tessas Wange, versuchte sie dazu zu bringen, die Augen zu öffnen. »Tessie? O Gott, was ist passiert?«

Tessa reagierte nicht. Sie rührte sich auch nicht, als Sara das Stück abgerissene Kopfhaut zurück an seinen Platz schob und Tessas Lider anhob, um ihre Pupillen zu untersuchen. Sara versuchte den Puls zu messen, doch sie zitterte so stark, dass sie nur ein makabres Muster blutiger Fingerabdrücke an Tessas Hals hinterließ. Sie drückte das Ohr auf Tessas Brust, der feuchte Stoff klebte ihr an der Wange, als sie versuchte, Lebenszeichen zu finden.

Während sie lauschte, sah sie zu Tessas Bauch hinunter, zu Tessas Baby. Blut und Fruchtwasser rannen aus der unteren Stichwunde wie aus einem undichten Wasserhahn. Ein Stück Darm quoll aus dem großen Schnitt im Kleid. Sara schloss die Augen und hielt die Luft an, bis sie endlich das schwache Schlagen von Tessas Herz spürte und das fast unmerkliche Heben und Senken ihres Brustkorbs.

»Tess?«, flüsterte Sara. Sie setzte sich auf und wischte sich mit dem Arm das Blut vom Gesicht. »Tessie, bitte wach auf.«

Hinter ihr trat jemand auf einen Zweig, und Sara drehte sich mit hämmerndem Herz um. Dort stand Brad Stephens und sperrte den Mund auf. Sprachlos starrten sie einander an. Sara brachte kein Wort heraus. Sie wollte schreien, er solle Jeffrey holen, etwas tun, doch es kam nichts heraus.

»Ich hole Hilfe«, stammelte Brad, seine Schritte klangen dumpf auf dem Waldboden, als er den Weg zurückrannte.

Sara sah ihm nach, bis er hinter der Biegung verschwunden war, dann wandte sie sich wieder Tessa zu. Das hier war nicht die Wirklichkeit. Sie befand sich in irgendeinem schrecklichen Albtraum, und bald wachte sie auf, und alles war vorbei. Das war nicht Tessa – ihre kleine Schwester, die Sara, seit sie klein war, immer und überall hinterherlief. Tessa hatte nur einen kleinen Spaziergang gemacht, sich ein Plätzchen gesucht, um ihre Blase zu entleeren. Sie lag nicht blutend hier auf dem Boden, wo Sara nichts anderes tun konnte, als ihre Hand zu halten und zu weinen.

»Alles wird gut«, sagte sie und griff nach Tessas Hand. Irgendetwas klebte zwischen ihren Fingern. Als Sara nachsah, fand sie in ihrer Hand einen weißen Plastikfetzen.

»Was ist das?«, fragte sie. Jetzt schloss Tessa die Hand um die ihrer Schwester. Sie stöhnte.

»Tessa?«, rief Sara und vergaß den Plastikfetzen. »Tessa, sieh mich an.«

Ihre Augenlider flatterten, doch sie öffneten sich nicht.

»Tess? Tess, bleib bei mir. Sieh mich an.«

Langsam öffnete Tessa die Augen und stöhnte: »Sara …« Dann flatterten ihre Lider wieder und schlossen sich.

»Tessa, nicht die Augen zumachen!«, befahl Sara, dann drückte sie Tessas Hand. »Spürst du das? Rede mit mir. Spürst du, wenn ich deine Hand drücke?«

Tessa nickte und öffnete die Augen, als wäre sie gerade aus einem tiefen Schlaf erwacht.

»Kannst du richtig atmen?«, fragte Sara. Ihre Stimme war schrill. Sie versuchte sich zusammenzureißen, denn sie wusste, alles würde nur schlimmer, wenn sie sich die Panik anmerken ließ. »Hast du Schmerzen beim Atmen?«

Kaum merklich schüttelte Tessa den Kopf.

»Tess?«, fragte Sara weiter. »Wo tut es weh? Wo tut es am meisten weh?«

Tessa antwortete nicht. Zögernd fuhr sie sich mit der Hand über den Kopf und berührte die Stelle, wo die Kopfhaut lose auflag. Ihre Lippen zitterten, und ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauchen, als sie fragte: »Was ist passiert?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Sara. Sie musste Tessa jetzt unbedingt wach halten.

Tessa fasste sich an den Kopf, doch Sara griff nach ihrer Hand. Tessa fragte wieder: »Was …« Dann verlor sich ihre Stimme.

Neben ihr, in der Nähe ihres Kopfes, lag ein großer Stein, an dem Blut und Haare klebten. »Hast du dir beim Fallen den Kopf aufgeschlagen?« So musste es gewesen sein.

»Ich weiß nicht …«

»Hat dich jemand mit einem Messer angegriffen, Tessa?«, fragte Sara. »Erinnerst du dich daran, was passiert ist?«

Tessas Gesicht war angstverzerrt, als sie sich mit der Hand über den Bauch fuhr.

»Nein«, sagte Sara. Wieder nahm sie Tessas Hand.

Dann knackte es hinter ihnen, und jetzt rannte Jeffrey auf sie zu. Er sank an Tessas anderer Seite auf die Knie und fragte atemlos: »Was ist passiert?«

Jetzt konnte Sara die Tränen nicht mehr zurückhalten.

»Sara?« Doch vor Schluchzen konnte sie nicht antworten. »Sara«, wiederholte Jeffrey. Er packte sie an den Schultern und befahl: »Sara, reiß dich zusammen. Hast du gesehen, wer das getan hat?«

Sara sah sich um, erst jetzt wurde ihr bewusst, dass der Angreifer vielleicht noch in der Nähe war.

»Sara?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts … ich weiß nicht …« Jeffrey klopfte ihre Taschen ab, fand das Stethoskop und drückte es ihr in die schlaffe Hand. »Frank hat den Krankenwagen gerufen.« Seine Stimme war so weit weg, es kam Sara vor, als müsste sie ihm die Worte von den Lippen ablesen.

»Sara?«

Sie war wie gelähmt und konnte keinen Gedanken fassen. Ihr Blickfeld wurde eng, und alles, was sie sah, war Tessa, voller Blut, voller Schmerzen, die Augen schockgeweitet. Jeffrey wiederholte noch einmal: »Sara?«, und legte den Arm um sie. Dann kam ihr Hörvermögen zurück, rauschend wie Wasser, das durch einen Damm brach.

Jeffrey drückte ihr den Arm so fest, dass es wehtat. »Was soll ich tun?«

Endlich war sie zurück in der Gegenwart. Ihre Stimme zitterte noch, als sie verlangte: »Zieh das Hemd aus. Wir müssen die Blutung stillen.«

Jeffrey zog Jackett und Krawatte aus, dann riss er sich das Hemd auf. Allmählich arbeitete ihr Gehirn wieder. Sie wusste, was hier zu tun war. Und sie würde es tun können.

Er fragte: »Wie schlimm ist es?«

Sara antwortete nicht, denn sie spürte, das Unglück zu benennen, würde ihm noch mehr Macht verleihen. Stattdessen drückte sie sein Hemd auf Tessas Bauch, dann legte sie Jeffreys Hand darauf. »So«, sagte sie und zeigte ihm, wie viel Druck er ausüben musste.

»Tess?« Sara versuchte, ruhig und stark zu klingen. »Ich will, dass du mich ansiehst, okay, Süße? Sieh mich an, und sag mir Bescheid, wenn du irgendeine Veränderung bemerkst, in Ordnung?«

Tessa nickte, ihre Augen wanderten zu Frank, der hinter Sara auftauchte.

Frank hockte sich neben Jeffrey hin. »In knapp zehn Minuten ist der Helikopter da.« Auch er begann sich das Hemd aufzuknöpfen. In diesem Moment kam Lena Adams auf die Lichtung, gefolgt von Matt Hogan, der sich die Seite hielt.

»Er muss in die Richtung geflüchtet sein.« Jeffrey deutete auf den Weg, der tiefer in den Wald führte. Ohne ein weiteres Wort rannten die beiden los.

»Tess«, flüsterte Sara, während sie die Wunde in der Brust untersuchte. Der Winkel des Einstichs war gefährlich nah am Herz. »Ich weiß, es tut weh, aber du musst jetzt durchhalten. Okay? Tu es für mich.«

Tessa nickte gequält, ihr Blick schweifte ab.

Sara hörte Tessas Brustkorb mit dem Stethoskop ab, ihr Puls raste wie Trommelfeuer, ihre Atmung ging stoßweise. Saras Hand zitterte, als sie das Stethoskop gegen Tessas Bauch drückte, um die Herztöne des Babys zu suchen. Der Stich in den Bauch konnte leicht den Fötus getroffen haben, und Sara war nicht überrascht, keinen zweiten Herzschlag zu finden. Fruchtwasser war aus der Wunde getreten, und damit war die Schutzhülle des Babys zerstört. Wenn das Messer das Baby nicht verletzt hatte, der Verlust von Blut und Fruchtwasser war auf jeden Fall lebensbedrohlich.

Sara spürte Tessas bohrenden Blick, die Frage, die Sara nicht beantworten wollte. Wenn Tessas Adrenalinspiegel stieg, würde ihr Herz das Blut nur noch schneller aus den Wunden pumpen.

»Schwach«, sagte Sara. Sie hatte das Gefühl, unter dem Gewicht der Lüge drehte sich ihr Magen um. Sie zwang sich, Tessa in die Augen zu sehen, ihre Hand zu nehmen und zu sagen: »Der Puls ist schwach, aber ich kann ihn hören.«

Als Tessa die Hand hob, um sich den Bauch abzutasten, stutzte Jeffrey.

»Was hast du da?«, fragte er. »Tessa, was hast du in der Hand?«

Sie sah verwirrt aus, als sie das Stück Plastik im Wind flattern sah.

»Hast du das von ihm?«, fragte Jeffrey. »Von dem, der dich angegriffen hat?«

»Jeffrey«, flüsterte Sara. Das Hemd auf Tessas Bauch war durchtränkt von Blut. Er begann das Unterhemd auszuziehen, doch stattdessen griff sie nach seinem Jackett, weil es schneller ging

Tessa stöhnte, als sich kurzzeitig der Druck auf ihrem Bauch veränderte.

»Tess?« Sara griff wieder nach ihrer Hand. »Hältst du es noch aus?«

Tessa nickte schwach mit zusammengepressten Lippen. Ihre Nasenflügel bebten, während sie versuchte, regelmäßig zu atmen. Sie drückte Saras Hand so fest, dass Sara ihre Knochen spürte.

»Du kannst atmen, oder?« Tessa antwortete nicht, doch ihr Blick war wach und ging zwischen Sara und Jeffrey hin und her. »Atmest du gut?«

Wenn Tessa Probleme beim Atmen bekam, wäre Sara völlig hilflos.

Jeffreys Stimme war gepresst. »Sara?« Seine Hand drückte immer noch auf Tessas Bauch. »Es fühlt sich an wie eine Wehe.«

Sara schüttelte den Kopf und legte die Hände neben Jeffreys. Doch auch sie konnte die Kontraktion fühlen.

Sie hob die Stimme. »Tessa? Hast du Schmerzen im Unterleib?«

Tessa antwortete nicht, ihre Zähne klapperten.

»Hör zu: Ich taste den Muttermund ab, okay?«, warnte Sara, dann schob sie Tessas Rock hoch. Blut und andere Körperflüssigkeiten klebten als schwarzer Film an Tessas Schenkeln. Sara schob die Finger in Tessas Scheide. Der Körper reagiert auf jede Art von Trauma, indem er sich anspannt, und genau das tat Tessa jetzt. Sara hatte das Gefühl, ihre Hand steckte in einer Schraubzwinge.

»Versuch dich zu entspannen«, bat sie und tastete sich zum Gebärmuttermund vor. Saras Geburtshilfe-Praktikum war Jahre her, und selbst an das, was sie in letzter Zeit in Vorbereitung auf die Geburt des Babys gelesen hatte, konnte sie sich nicht erinnern.

Doch sie beruhigte Tessa: »Alles in Ordnung. Alles wird gut.«

Jeffrey sagte: »Ich habe es schon wieder gefühlt.«

Sara brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. Auch sie hatte die Kontraktion gespürt, aber es gab nichts, was sie tun konnten. Selbst wenn es noch eine Chance gab, dass das Baby am Leben war, einen Kaiserschnitt hier draußen würde Tessa nicht überleben. Wenn das Messer ihren Uterus erwischte, würde sie verbluten, bevor sie das Krankenhaus erreichte.

»Das machst du gut«, sagte Sara und nahm Tessas Hand. »Der Muttermund ist noch nicht geweitet. Alles in Ordnung. Wie fühlst du dich, Tess? Alles ist in Ordnung.«

Tessas Lippen bewegten sich, doch zu hören war nur das gepresste Keuchen ihrer Atmung. Sie hyperventilierte, und der Sauerstoffmangel konnte zum Schock führen.

»Ganz ruhig, Süße.« Sara legte ihr Gesicht an das ihrer Schwester. »Versuch ruhig zu atmen, ja?«

Sara machte es ihr vor, sie atmete tief ein und langsam aus und dachte daran, wie sie dasselbe letzte Woche in der Geburtsvorbereitung getan hatten.

»So ist es gut«, lobte Sara, als Tessas Atmung ruhiger wurde. »Ganz ruhig.«

Für einen Moment war Sara erleichtert, doch dann spannten sich plötzlich Tessas Muskeln. Tessas Kopf begann zu zittern, und Sara nahm die Schwingung auf wie eine Stimmgabel. Von Tessas Lippen kam ein Gurgeln, Speichel sickerte ihr aus dem Mund. Ihre Augen waren glasig, der Blick war leer und kalt.

Flüsternd fragte Sara Frank: »Wann kommt der Hubschrauber endlich?«

»Kann nicht mehr lange dauern«, sagte Frank.

»Tessa.« Saras Ton war streng, drohend. Sie hatte nicht mehr so mit ihrer Schwester gesprochen, seit Tessa zwölf gewesen war und einen Salto vom Hausdach machen wollte. »Tessa, halt durch. Halt noch ein kleines bisschen durch. Hör mir zu. Halt durch. Du musst auf mich hören …«

Plötzlich ging ein Ruck durch Tessas Körper, sie biss die Zähne aufeinander und rollte mit den Augen. Aus ihrer Kehle kamen gutturale Laute. Der Krampf war mit erschreckender Heftigkeit gekommen und fuhr durch Tessas Körper wie ein Stromstoß.

Sara versuchte, Tessa mit ihrem Körper zu schützen, damit sie sich nicht noch mehr verletzte. Tessa zitterte heftig, grunzte, verdrehte die Augen. Ihre Blase entleerte sich, es roch säuerlich nach Urin. Die Kiefer waren so fest geschlossen, dass die Muskeln an Tessas Hals wie Stahlseile hervortraten.

Sara hörte das Dröhnen eines Motors aus der Ferne, dann das unverwechselbare Schwirren der Rotoren. Als der Helikopter über ihnen schwebte, schossen Sara die Tränen in die Augen.

»Schnell«, flehte sie. »Bitte, macht schnell.«

Zwei

Jeffrey beobachtete Sara hinter der Scheibe, als der Helikopter abhob. Sie hatte Tessas Hand an sich gedrückt, den Kopf wie zum Gebet gesenkt. Weder Sara noch er waren besonders religiös, aber auch Jeffrey betete jetzt für Tessa – wer immer ihn erhören wollte. Er sah Sara nach, als der Helikopter einen weiten Halbkreis über den Baumwipfeln flog. Je weiter er sich entfernte, desto holpriger wurde Jeffreys Fürbitte, und als der Hubschrauber in Richtung Atlanta abdrehte, fühlte Jeffrey nur noch Wut und Hilflosigkeit.

Jeffrey betrachtete den weißen Plastikfetzen, den er in Tessas Faust entdeckt hatte. Bevor sie in den Helikopter geschoben wurde, hatte er ihn ihr aus der Hand genommen in der Hoffnung, er würde vielleicht einen Hinweis auf den Angreifer liefern. Doch jetzt stieg eine Welle der Hoffnungslosigkeit in ihm auf. Sowohl er als auch Sara hatten das Beweisstück angefasst. In dem Blut fanden sich keine sichtbaren Fingerabdrücke. Sie konnten nicht einmal mit Bestimmtheit davon ausgehen, dass es überhaupt etwas mit dem Angriff zu tun hatte.

»Chief?« Frank hielt Jeffrey das Jackett und das Hemd hin, beides war blutdurchtränkt.

»Lieber Himmel«, seufzte Jeffrey, als er die Polizeimarke und die Brieftasche aus der Jackentasche rettete, beide ebenfalls voller Blut. Er versiegelte das Stück Plastik in einem Beutel. »Was zum Teufel ist hier passiert?«

Wortlos zuckte Frank die Schultern.

Aus irgendeinem Grund ärgerte Jeffrey die Geste, doch er verbiss sich einen Kommentar; es war nicht Franks Schuld, was Tessa Linton zugestoßen war. Wenn überhaupt, war es Jeffreys Schuld. Er hatte weniger als hundert Meter entfernt gestanden und Däumchen gedreht, während Tessa überfallen wurde. Er hatte geahnt, dass etwas nicht in Ordnung war, als Tessa nicht im Auto saß – er hätte darauf bestehen müssen, sich mit Sara auf die Suche zu machen.

Er steckte die Tüte ein und fragte: »Wo sind Lena und Matt?«

Frank zückte sein Handy.

»Nein«, unterbrach ihn Jeffrey. Das Schlimmste, was sie tun konnten, war, Matts Handy im Wald klingeln zu lassen. »Gib ihnen zehn Minuten.« Er sah auf die Uhr, doch er wusste nicht, wie viel Zeit bereits vergangen war. »Wenn sie bis dahin nicht zurück sind, gehen wir sie suchen.«

»Alles klar.«

Jeffrey ließ die triefenden Kleider auf den Boden fallen und legte Brieftasche und Polizeimarke obenauf. »Und ruf im Revier an. Sie sollen sechs Streifenwagen herschicken.«

Während Frank die Nummer einzutippen begann, fragte er: »Sollen wir die Zeugin gehen lassen?«

»Nein«, sagte Jeffrey. Dann lief er ohne ein weiteres Wort den Hang hinunter und ging zu den geparkten Autos.

Auf dem Weg versuchte er seine Gedanken zu ordnen. Sara hatte das Gefühl gehabt, irgendwas sei faul an dem Selbstmord. Dass Tessa in unmittelbarer Nähe angegriffen worden war, machte das nur noch wahrscheinlicher. Falls der Junge im Flussbett ermordet worden war, war es möglich, dass Tessa Linton den Täter im Wald überrascht hatte.

»Chief«, sagte Brad mit schüchterner Stimme. Hinter ihm sprach Ellen Schaffer in ihr Mobiltelefon.

Jeffrey funkelte Brad an. Binnen zehn Minuten würde jeder auf dem Campus wissen, was hier passiert war.

Brad zuckte zusammen, er verstand, dass er einen Fehler gemacht hatte. »Tut mir leid.«

Ellen Schaffer verfolgte die Szene und murmelte ein hastiges »Muss aufhören« ins Telefon, bevor sie die Verbindung unterbrach.

Sie war ein attraktives Mädchen, blond, mit haselnussbraunen Augen, sprach aber mit einem für Jeffrey unerträglichen Yankee-Akzent. Sie trug eine Radlerhose und ein hautenges kurzes Lycra-Top. Um die Hüften hatte sie einen Gürtel mit einem CD-Player, und um ihren Bauchnabel war ein verschnörkelter Sonnenaufgang tätowiert.

Jeffrey begann: »Ms. Schaffer …«

»Kommt sie durch?« Ellen Schaffers Stimme klang noch schriller als vorhin.

»Ich denke, ja«, sagte Jeffrey, doch sein Magen verkrampfte sich. Tessa war bewusstlos, als sie auf die Trage gelegt wurde. Es war ungewiss, ob sie wieder zu sich kommen würde. Er wollte jetzt bei ihr sein – bei Sara –, aber es gab nichts, was Jeffrey im Krankenhaus hätte tun können, außer zu warten. Hier konnte er vielleicht ein paar Antworten für Saras Familie finden.

Jeffrey fragte: »Können Sie mir erzählen, was passiert ist?«

Ellen Schaffers Unterlippe zitterte.

Er kam ihr zu Hilfe. »Haben Sie die Leiche von der Brücke aus entdeckt?«

»Ich war joggen. Ich gehe jeden Morgen joggen.«

Er sah wieder auf die Uhr. »Immer um die gleiche Zeit?«

»Ja.«

»Immer allein?«

»Meistens. Manchmal.«

Jeffrey musste sich bemühen, höflich zu bleiben. Am liebsten hätte er das Mädchen an den Schultern gepackt und geschüttelt. »Joggen Sie meistens allein?«

»Ja«, antwortete sie. »Tut mir leid.«

»Ist das Ihre gewohnte Strecke?«

»Ja«, antwortete sie. »Ich jogge über die Brücke, dann hinauf in den Wald. Im Wald ist ein Weg …« Sie brach ab, als ihr einfiel, dass er den Weg gesehen haben musste.

»Also«, sagte er, um ihr auf die Sprünge zu helfen, »Sie joggen jeden Tag dieselbe Strecke?«

Ellen nickte hastig. »Normalerweise mache ich nicht bei der Brücke Halt, aber irgendwas war komisch heute. Ich weiß nicht, warum ich angehalten habe.« Sie presste die Lippen zusammen, während sie darüber nachdachte. »Normalerweise hört man die Vögel, Naturgeräusche. Es war zu still. Wissen Sie, was ich meine?«

Jeffrey verstand. Er hatte die gleiche unheimliche Wahrnehmung gehabt, als er durch den Wald gelaufen war auf der Suche nach Sara und Tessa. Das einzige Geräusch waren seine Schritte auf dem Waldboden gewesen und, vielleicht noch lauter, das Pochen seines Herzens.

Ellen fuhr fort: »Ich habe angehalten, um zu dehnen, und dann habe ich über das Geländer gesehen – und da lag er.«

»Und Sie sind nicht runtergegangen, um nachzusehen?«

Sie sah verlegen aus. »Nein … Hätte ich das tun sollen?«

»Nein«, sagte er, und um nett zu sein, fügte er hinzu: »Es ist gut, dass Sie den Tatort nicht betreten haben.«

Sie wirkte erleichtert. »Ich habe ja gesehen, dass …« Jetzt blickte sie auf ihre Hände und begann leise zu weinen.

Jeffrey warf einen Blick auf den Waldrand, es beunruhigte ihn, dass Matt und Lena noch nicht zurück waren, vor allem nach dem Lärm, den der Helikopter gemacht hatte. Sie in den Wald zu schicken, war wahrscheinlich keine so glänzende Idee gewesen.

Ellen Schaffer unterbrach seine Gedanken. »Musste er leiden?«

»Nein«, beruhigte er sie, obwohl er keine Ahnung hatte. »Wir glauben, er ist von der Brücke gesprungen.«

Sie wirkte überrascht. »Ich hätte nicht gedacht …«

Doch er ließ sie nicht zu Wort kommen. »Sie haben ihn also gesehen. Sie haben die Polizei gerufen. Was geschah dann?«

»Ich habe auf der Brücke gewartet, bis der Beamte kam.« Sie deutete auf Brad, der verlegen grinste. »Dann kamen die anderen, und ich bin hier oben bei ihm geblieben.«

»Haben Sie sonst noch jemanden gesehen? Im Wald vielleicht?«

»Nein. Niemanden«, antwortete sie und blickte über Jeffreys Schulter zum Waldrand. Als er sich umdrehte, sah er Matt und Lena aus dem Wald kommen. Lena humpelte und hatte die Arme seitlich ausgestreckt, um die Balance zu halten. Matt bot an, ihr den Abhang hinunterzuhelfen, doch sie winkte ab.

Jeffrey sagte zu Ellen Schaffer: »Ich spreche morgen noch einmal mit Ihnen. Vielen Dank für Ihre Hilfe.« Dann zu Brad: »Sorg dafür, dass sie sicher nach Hause kommt.«

»Ja, Sir.« Doch Jeffrey war schon auf dem Weg den Hügel hinauf.

Jeffreys Slipper rutschten auf dem Boden, als er Matt und Lena entgegenlief, doch alles, woran er denken konnte, war, dass er noch eine Frau in Gefahr gebracht hatte, indem er Lena in den Wald geschickt hatte. Als er Lena erreicht hatte, schob er eine Hand unter ihren Arm und half ihr, sich zu setzen.

»Was ist passiert?«, fragte er. Er kam sich vor wie ein Papagei. Die Frage stellte er wohl zum tausendsten Mal heute, und er hatte noch keine befriedigende Antwort erhalten. »Ist alles in Ordnung mit dir?«

»Ja«, sagte Lena und schüttelte ihn so heftig ab, dass sie nach hinten umfiel. Frank versuchte ihr zu helfen, doch sie wehrte sich. »Herrgott, es ist alles in Ordnung«, rief sie, doch sie zuckte zusammen, als sie den Fuß aufsetzte.

Die drei Männer standen wie versteinert um sie herum und sahen zu, wie sie sich den Schnürsenkel aufband. Jeffrey wusste, dass die anderen dasselbe dachten wie er. Als er aufsah, erntete er von Matt und Frank vorwurfsvolle Blicke. Lena hätte im Wald alles Mögliche passieren können, und Jeffrey trug die Verantwortung für sie.

Lena brach den Bann, indem sie sagte: »Er war noch da.«

»Wo?« Jeffreys Puls ging schneller.

»Das Schwein hat sich im Gebüsch versteckt und in aller Ruhe zugesehen.«

Frank zischte ein ärgerliches »Verdammt«. Jeffrey wusste nicht, ob er ihn meinte oder den Täter.

»Ich bin ihm hinterher.« Lena schien die Spannung nicht zu bemerken, oder vielleicht ignorierte sie sie einfach nur. »Ich bin gestolpert. Über einen Baumstumpf. Ich weiß nicht. Ich kann euch zeigen, wo er sich versteckt hatte.«

Jeffrey versuchte, daraus schlau zu werden. War der Täter geblieben, um sicherzugehen, dass Tessa geholfen wurde? Oder hatte er sich an ihrem Leiden aufgegeilt?

Franks Stimme klang barsch, als er Matt fragte: »Und wo warst du die ganze Zeit?«

Matt antwortete mit gleicher Schroffheit. »Wir hatten uns aufgeteilt, um ein größeres Gebiet abzudecken. Ein paar Minuten später habe ich den Kerl wegrennen sehen.«

Frank murrte: »Du hättest sie nicht allein lassen dürfen.«

Matt schimpfte zurück: »Ich hab mich an den Ablauf gehalten.«

»Hey, ihr beiden«, rief Jeffrey, »wir haben keine Zeit für so was.« Er wandte sich wieder an Lena. »Wie nah war er am Tatort?«

»Nah«, sagte sie. »Hinter den Bäumen, vielleicht fünfzig Meter. Ich bin wieder zurückgegangen, weil ich dachte, wenn er noch da ist, ist er in der Nähe, um was sehen zu können.«

Jeffrey fragte: »Konntest du ihn erkennen?«

»Nein«, erklärte sie. »Er hatte mich entdeckt, bevor ich ihn gesehen habe. Er hockte hinter einem Baum. Vielleicht hat er sich bei Saras Zusammenbruch einen runtergeholt.«

»Ich wollte keine Spekulationen hören«, fuhr Jeffrey sie an. Er mochte die Art nicht, wie sie von Sara sprach. Lena und Sara hatten sich nie besonders gut verstanden, aber jetzt war nicht der Zeitpunkt für Seitenhiebe, vor allem nicht nach dem, was Tessa passiert war.

»Du hast den Typ gesehen. Und dann?«

»Ich habe ihn nicht gesehen«, schnappte sie wütend zurück. Jeffrey merkte, dass er sich im Ton vergriffen hatte. Er sah Frank und Matt Hilfe suchend an, doch ihre Gesichter waren ebenso verschlossen wie Lenas.

»Erzähl weiter«, sagte Jeffrey.

Lena wurde einsilbig. »Ich habe irgendwas gesehen. Eine Bewegung. Er ist aufgestanden und abgehauen. Ich bin ihm gefolgt.«

»Welche Richtung?«

Lena ließ sich Zeit, suchte nach dem Stand der Sonne. »Westen, wahrscheinlich Richtung Highway.«

»Schwarz? Weiß?«

»Weiß«, sagte sie, dann fügte sie schnippisch hinzu: »Vielleicht.«

»Vielleicht?«, bohrte Jeffrey nach, obwohl er wusste, dass er Öl ins Feuer goss.

»Habe ich doch gesagt«, giftete sie. »Er hat sich umgedreht und ist abgehauen. Was hätte ich tun sollen, ihn bitten anzuhalten, damit ich seine ethnische Zugehörigkeit feststellen kann?«

Jeffrey hielt einen Moment inne und versuchte sein Temperament zu zügeln. »Was hatte er an?«

»Irgendwas Dunkles.«

»Eine Jacke? Jeans?«

»Jeans, vielleicht eine Jacke. Es war dunkel.«

»Mantel oder Jackett?«

»Eine Jacke … glaube ich.«

»War er bewaffnet?«

»Konnte ich nicht sehen.«

»Haarfarbe?«

»Weiß ich nicht.«

»Du weißt es nicht?«

»Ich glaube, er trug eine Mütze.«

»Du glaubst?« Plötzlich brach der ganze Frust aus ihm heraus, der sich aufgestaut hatte, seit er Tessa halb tot hatte daliegen sehen. »Herrgott noch mal, Lena, wie lange bist du Polizistin gewesen?«

Lena starrte ihn wütend an, in ihrem Blick loderte der gleiche Hass, den er von Verdächtigen beim Verhör kannte.

»Du jagst einen Verdächtigen und kannst nicht mal sagen, ob er eine Mütze trug oder nicht? Was zum Teufel hast du da eigentlich gemacht, Blumen gepflückt?«

Lenas Augen funkelten, sie biss die Zähne aufeinander, um nicht zu sagen, was sie sagen wollte.

»Wir haben verdammt noch mal Glück gehabt, dass er nicht auf dich losgegangen ist, sonst hätten wir zwei Mädchen einliefern können statt nur eins.«

Sie zischte: »Ich kann gut auf mich selbst aufpassen.«

»Du glaubst, das kleine Messer, das du an der Wade trägst, hilft dir?« Ihr überraschter Blick widerte ihn an, vor allem, weil sie es besser hätte wissen müssen. Schließlich war sie in seine Schule gegangen! Den Messergurt an ihrer Wade hatte Jeffrey gesehen, als sie auf dem Hintern die Böschung hinuntergeschlittert war.

»Ich sollte dich anzeigen wegen Tragens versteckter Waffen.«

Sie hielt seinem Blick stand.

»Starr mich lieber nicht so an.«

Lena hatte die Zähne so fest zusammengebissen, dass ihre Worte kaum zu verstehen waren. »Ich arbeite nicht mehr für dich, Arschloch

»Chief …« Frank legte besänftigend die Hand auf Jeffreys Schulter. Jeffrey machte einen Schritt zurück, er wusste, dass er sich nicht normal verhielt. Er sah seine blutigen Kleider auf dem Boden, Tessas Blut. Auf einmal schien alles über ihm zusammenzubrechen, die Tränen auf Saras Gesicht, die ihr über die blutverschmierten Wangen rannen. Tessas Arme, die schlaff von der Trage baumelten, als sie sie hochhoben.

Jeffrey wandte sich ab, damit die anderen sein Gesicht nicht sahen. Er nahm die Brieftasche und seine Marke auf, polierte sie mit einem Zipfel seines Unterhemds und versuchte, sich dabei zu beruhigen.

In diesem Moment kam Brad Stephens dazu, er drehte die Mütze in der Hand. »Was ist los, Chief?«, fragte er.

Der Ärger schlug Jeffrey auf die Stimme. »Ich habe doch gesagt, du sollst Ellen Schaffer nach Hause bringen.«

»Sie hat ein paar Freundinnen getroffen«, sagte Brad und wurde blass. »Sie wollte mit ihnen gehen.« Seine hellen blauen Augen huschten ängstlich hin und her, er stotterte: »I-i-ich hab gedacht, bei ihren Freundinnen ist sie sicher. Sie wohnen bei ihr auf der Etage. Keyes House. Ich wusste nicht, dass …«

»Schon gut«, unterbrach Jeffrey. Er würde alles nur noch schlimmer machen, wenn er den Ärger jetzt an Brad ausließ. Zu Frank sagte er: »Schick ein paar deiner Leute zum Highway. Sag ihnen, wir suchen einen Fußgänger. Irgendeinen Fußgänger. Vielleicht mit Jacke, vielleicht ohne.« Er sah Lena nicht an, doch ihr war sicherlich bewusst, dass jetzt alles von einer Personenbeschreibung abhing.

Frank sagte: »Die Streifenwagen sind gleich da.«

Jeffrey nickte. »Ich will eine Rasterfahndung, ausgehend von der Stelle, wo Lena den Täter gesehen hat. Wir suchen nach einem Messer. Irgendwas, was nicht hierhergehört.«

»Er hatte was in der Hand«, sagte Lena triumphierend. »Eine weiße Tüte.«

Brad Stephens schnappte nach Luft, dann wurde er rot, als ihn alle anstarrten.

Jeffrey fragte: »Was ist?«

Erst jetzt schien er die Tragweite seiner Beobachtung zu begreifen. »Ich habe gesehen, wie Tessa auf dem Weg den Hügel hoch so Zeug aufgesammelt hat.«

»Was für Zeug?«

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