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Dreizehn ist mein Glücksbringer

Alice glaubt nicht an Glück, dazu ist in ihrem Leben schon viel zu viel Schlimmes passiert. Dennoch schenkt sie ihrem besten Freund Teddy, in den sie heimlich verliebt ist, zum Geburtstag einen Lottoschein. Und das Unglaubliche tritt ein - Teddy knackt den 140-Millionen-Jackpot! Was zuerst wie die Erfüllung aller Träume erscheint, verändert alles zwischen ihnen. Teddy droht durch den plötzlichen Geldregen abzuheben und ist nicht mehr der, dem Alice ihr Herz geschenkt hat. Bedeutet das unverhoffte Glück im Spiel für sie Pech in der Liebe?

»Smiths lebendige Charaktere und deren Konflikte werden die Leser fesseln.«
Publishers Weekly

»Dreizehn ist mein Glücksbringer handelt von allem, was mir gefällt: der ersten großen Liebe eines Mädchens, ihrem ersten großen Verlust und ihrem ersten großen Glück.«
Jenny Han, New-York-Times-Bestsellerautorin

»Dreizehn ist mein Glücksbringer beschreibt auf eine intensive und realistische Weise die erste große Liebe. Der Roman ist voller Herzschmerz und Hoffnung.«
Stephanie Perkins, New-York-Times-Bestsellerautorin

»[…] Jennifer E. Smith macht etwas Fantastisches, etwas Tiefgründiges und sprachlich Großartiges aus ihrer Idee […].« Buchkultur

»Die Geschichte kommt ohne spektakuläre Kulisse aus und lebt von den Gefühlen und oft humorvollen Dialogen der Protagonisten, die neben Freundschaft, Liebe und Selbstfindung auch die Frage nach der Rolle des Schicksals und ihrem eigenen Einfluss beschäftigt.« Buchprofile/medienprofile

»Das Buch erinnert daran, wie schön die erste große Liebe ist!« Radio Euroherz


  • Erscheinungstag: 04.06.2018
  • Seitenanzahl: 352
  • Altersempfehlung: 14
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959677738

Leseprobe

Für Andrew, meinen Glücksbringer

Halte inne, wenn du dieses liest, und denke einen Augenblick an die lange Kette aus Eisen oder Gold, aus Dornen oder Blüten, die dich niemals gefesselt hätte, wäre nicht das erste Glied an jenem denkwürdigen Tag entstanden.

Charles Dickens, »Große Erwartungen«

ein warmer Regen (umgangssprachlich: sehr erwünschte, oft unerwartet erfolgende Geldzuwendung)

(Duden.de)

ERSTER TEIL

1. KAPITEL

Ich zögere, als der Mann hinter dem Schalter nach meiner Glückszahl fragt.

»Du hast doch bestimmt eine«, meint er und lässt den Stift über dem Schein mit den Reihen leerer Kästchen schweben. »Jeder hat eine Glückszahl.«

Aber das Ganze hat einen Haken: Ich glaube nicht an Glück.

Höchstens an Pech.

»Meinetwegen auch irgendeine Zahl«, sagt er und beugt sich über den Tresen. »Fünf Zahlen sind alles, was ich brauche. Und jetzt verrate ich dir den Trick, das große Geheimnis. Bist du bereit?«

Ich nicke und tue so, als würde ich das ständig machen, als wäre ich nicht erst vor einigen Wochen achtzehn geworden und als würde ich nicht gerade zum allerersten Mal Lotto spielen.

»Du musst dafür sorgen, dass es echt spitzenmäßige Zahlen sind.«

»Also gut«, erwidere ich lächelnd und selbst erstaunt, dass ich mich auf sein Spiel einlasse. Eigentlich sollte der Computer Zufallszahlen wählen, deren Willkür ich anerkennen würde. Doch jetzt kommt mir eine Zahl so entspannt in den Kopf, dass ich sie, ohne nachzudenken, ausspreche. »Wie wäre es mit der einunddreißig?«

Teddys Geburtstag.

»Einunddreißig«, wiederholt der Mann und rubbelt die passende Blase frei. »Sehr vielversprechend.«

»Und die acht«, fahre ich fort.

Mein Geburtstag.

Hinter mir hat sich eine Schlange von Leuten gebildet, die ebenfalls Lotto spielen möchten, und ich spüre geradezu, wie sie allesamt die Geduld verlieren. Ich werfe einen Blick auf die Leuchtschrift über dem Schalter, wo drei Zahlen hellrot aufleuchten.

»Drei-achtzig-zwei.« Ich zeige auf das Display. »Sollen das Millionen sein?«

Als der Mann nickt, bleibt mir der Mund offen stehen.

»So viel kann man gewinnen?«

»Gewinnen kannst du nur«, weist er mich zurecht, »wenn du weiter Zahlen auswählst.«

»Stimmt.« Ich nicke wieder. »Also, dann die vierundzwanzig.«

Teddys Rückennummer beim Basketball.

»Und die elf.«

Die Nummer seiner Wohnung.

»Und die neun.«

So viele Jahre sind wir schon befreundet.

»Geht doch«, sagt der Mann. »Und die Superzahl?«

»Was?«

»Da fehlt noch die Superzahl.«

Stirnrunzelnd sehe ich ihn an. »Fünf Zahlen, haben Sie gemeint.«

»Stimmt, fünf und die Superzahl.«

Auf dem Schild über dem Schalter geht es klickend weiter nach oben: 383. Die Summe ist so hoch, dass sie praktisch nichts mehr aussagt – eine unglaubliche, total unwahrscheinliche Zahl.

Ich hole tief Luft und stöbere in den Zahlen in meinem Kopf. Aber da erscheint immer nur die gleiche, wie bei einem scheußlichen Zaubertrick.

»Dreizehn«, entgegne ich halb in Erwartung, dass etwas passiert. Dieses Wort steht in meinem Kopf wie unter Hochspannung, weiß glühend und aufgeladen. Doch laut ausgesprochen klingt es wie jede andere Zahl, und der Mann blickt leicht zweifelnd zu mir hoch.

»Wirklich?«, fragt er. »Aber das bringt Pech.«

»Ist doch nur eine Zahl«, antworte ich, obwohl ich genau weiß, dass es nicht stimmt. Obwohl ich es selbst nicht glaube. Ich weiß nur eins: Zahlen sind eine unsichere Sache. Sie erzählen nur selten die ganze Geschichte.

Dennoch – als er mir den Lottoschein rüberschiebt, dieses kleine Rechteck schierer Möglichkeit ohne jede Logik, stecke ich es sorgfältig in meine Jackentasche.

Für den Fall der Fälle.

2. KAPITEL

Leo wartet vor der Tür. Es hat angefangen zu schneien, schwere nasse Flocken, die auf seinem dunklen Haar und dem Schulterstoff seines Mantels liegen bleiben.

»Geschafft?«, fragt er, während er bereits zur Bushaltestelle geht. Als ich ihm nacheile, schlittere ich auf dem frisch gefallenen Schnee.

»Du hast keinen Schimmer, wie viel der Schein wert sein kann, oder?«, frage ich, immer noch in dem Versuch, diese Zahl zu verarbeiten.

Leo zieht die Augenbrauen hoch. »Eine Mio.?«

»Nein.«

»Zwei?«

»Dreihundertdreiundachtzig Millionen«, verkünde ich und füge sicherheitshalber hinzu: »Dollar.«

»Aber nur, wenn man gewinnt«, sagt Leo grinsend. »Die meisten bekommen nur ein Stück Papier.«

Ich taste nach dem Lottoschein in meiner Tasche. »Trotzdem«, erwidere ich, nachdem wir an der von drei Seiten geschützten Bushaltestelle angekommen sind. »Ziemlich irre, nicht wahr?«

Wir setzen uns auf die Bank, und unser Atem dampft in der Luft, ehe er sich auflöst. Der Schnee hat Biss, und der Wind vom See ist eisig und schneidend. Wir schmiegen uns aneinander, damit uns wärmer wird. Leo ist mein Cousin, aber eigentlich fühlt er sich mehr wie ein Bruder an. Ich lebe seit meinem neunten Lebensjahr bei seiner Familie – nachdem meine Eltern im Abstand von einem Jahr gestorben waren.

In der nebelhaften Zeit nach diesen schrecklichen Ereignissen wurde ich aus San Francisco herausgerissen – der einzigen Heimat, die ich bis dahin gekannt hatte – und auf der anderen Seite des Landes bei meiner Tante und meinem Onkel in Chicago abgesetzt. Leo hat mich damals gerettet. Als ich ankam, war ich noch vollkommen außer mir und wie gelähmt von der Ungerechtigkeit einer Welt, die mir beide Elternteile mit solch erbarmungsloser Präzision geraubt hatte. Doch Leo hatte sich vorgenommen, sich um mich zu kümmern, und selbst mit neun Jahren nahm er das sehr ernst.

Wir waren ein ungleiches Paar. Ich war zart und blass, hatte das Haar meiner Mutter geerbt, so blond, dass es in einem bestimmten Licht rosig schimmerte. Leo dagegen hatte die schwimmenden braunen Augen und den dunklen Wuschelkopf seiner Mutter. Er erwies sich als lustig und lieb und unglaublich geduldig, während ich still, tieftraurig und ein wenig zurückgezogen war.

Doch von Anfang an waren wir ein Team: Leo und Alice.

Und Teddy natürlich. Nach meiner Ankunft hatten mich die beiden, die seit frühester Kindheit unzertrennlich waren, unter ihre Fittiche genommen. Seitdem waren wir ein Trio.

Als der Bus kommt, dessen Scheinwerfer den wirbelnden Schnee in nebliges Licht tauchen, steigen wir ein. Ich rutsche zum Fenster durch, und Leo streckt neben mir seine langen Beine in den leeren Gang, wo sich sofort eine Pfütze unter seinen nassen Stiefeln bildet. Ich hole die Geburtstagskarte aus der Tasche, die ich für Teddy gekauft habe, strecke wortlos die Hand aus, und Leo reicht mir automatisch seinen schweren Füllfederhalter, den er immer mit sich herumträgt.

»Übrigens habe ich deine Idee übernommen«, sagt er und holt eine Zigarettenschachtel heraus. Er dreht sie zufrieden in den Fingern. »Noch ein Vorteil, wenn man endlich achtzehn ist. Er raucht nicht, ich weiß, aber das ist allemal besser als der Gutschein für eine Umarmung, den er mir geschenkt hat.«

»Eine Umarmung?«, frage ich und sehe ihn an. »Ich habe einen für ein Eis bekommen, das ich auch noch selbst bezahlen musste.«

Leo lacht. »Das passt zu ihm.«

Ich drücke die Karte gegen den Vordersitz und versuche, sie ruhig zu halten, obwohl der Bus so schaukelt. Doch als ich die leere Innenseite betrachte, beginnt mein Herz zu rasen. Als Leo merkt, dass ich zögerlich über den Sitz rutsche, rückt er noch mehr zum Gang, damit ich in Ruhe schreiben kann. Einen Augenblick schaue ich auf seinen Rücken und frage mich, ob er nur höflich ist oder ob er mich endlich durchschaut hat. Bei der Vorstellung brennen meine Wangen.

Seit fast drei Jahren bin ich jetzt in Teddy McAvoy verliebt.

Und obwohl mir bewusst ist, dass ich es wahrscheinlich nicht besonders gut verborgen habe, glaube ich – aus reiner Selbsterhaltung – die meiste Zeit daran, dass es mir recht ordentlich gelingt. Mein einziger Trost ist, dass Teddy mit einiger Sicherheit keine Ahnung hat. Er hat wirklich viele liebenswerte Eigenschaften, aber seine Beobachtungsgabe lässt schon unter idealen Umständen zu wünschen übrig. Was mir in diesem Fall ausnahmsweise gut in den Kram passt.

Ich war selbst überrascht, als ich mich in Teddy verliebt habe. Er war schon so lange mein bester Freund gewesen, mein lustiger, charmanter, oft durchgeknallter bester Freund, der mich nicht selten in den Wahnsinn trieb.

Und von einem Tag auf den anderen war plötzlich alles anders.

Wir waren in der Neun, und Teddy hatte sich einen Hotdog-Trip zu den besten Würstchenbuden an der North Side ausgedacht. An diesem Frühlingsmorgen war es kühl gewesen, aber im Laufe des Tages wurde es mir in meinem Sweatshirt zu warm, und ich knotete es mir um den Bauch. Erst an unserem vierten Halt, wo wir uns an einem Picknicktisch niederließen und mühsam die letzten Hotdogs verdrückten, merkte ich, dass es mir unterwegs heruntergefallen sein musste.

»War es nicht eins von deiner Mom?«, hatte Leo mit besorgter Miene gefragt. Ich nickte. Es war nur ein altes Kapuzenshirt mit Stanford-Aufdruck, das an den Bündchen bereits Löcher hatte. Aber die Tatsache, dass es meiner Mutter gehört hatte, machte es unbezahlbar.

»Das finden wir wieder«, versprach Teddy, während wir den Weg zurückgingen, doch ich war mir da nicht so sicher, und die Vorstellung, es für immer verloren zu haben, schnürte mir die Kehle zu. Als es anfing, wie aus Eimern zu schütten, hatten wir erst den halben Weg geschafft und gaben die Suche überstürzt auf.

Aber später an diesem Abend leuchtete eine SMS von Teddy auf meinem Handy auf: Ich bin vor deiner Tür. Als ich im Schlafanzug nach unten schlich und die Haustür öffnete, stand er dort im Regen, mit tropfnassem Haar und triefender Jacke, und hielt das Sweatshirt wie einen Fußball unterm Arm. Ich konnte nicht fassen, dass er es gefunden hatte. Und schon gar nicht, dass er extra deswegen noch mal zurückgegangen war.

Bevor er etwas sagen konnte, schlang ich die Arme um ihn und drückte ihn fest an mich. Gleichzeitig spürte ich, wie etwas in mir zum Leben erwachte, als wäre mein Herz ein Radio, das die ganze Zeit gerauscht hatte und nun auf einmal einwandfrei sendete.

Vielleicht hatte ich ihn schon lange davor geliebt. Möglicherweise war es mir aber erst in dem Augenblick bewusst geworden, als ich an jenem Abend die Tür öffnete. Oder es war von Anfang an so bestimmt gewesen – ein schlotternder Junge vor meiner Tür, der mir ein nasses Sweatshirt reichte – und so unausweichlich, wie der Tag zur Nacht und wieder zum Tag wird.

Einfach war es nicht gewesen, ihn zu lieben. Mehr wie ein dumpfes Pochen, beständig und hartnäckig wie Zahnschmerzen, doch ohne Aussicht auf Heilung. Drei Jahre lang habe ich nunmehr einen auf besten Kumpel gemacht und zugesehen, wie er sich in andere Mädchen verknallte. Ich hatte die ganze Zeit Angst, es ihm zu sagen.

Blinzelnd betrachte ich die Glückwunschkarte und spiele mit dem Stift. Draußen vor der Fensterscheibe ist die Welt in Weiß gehüllt, und der Bus bringt uns weiter aus dem Stadtzentrum heraus.

Vielleicht liegt es an der Dunkelheit oder an den wirbelnden Schneeflocken, die sich gegen die Windschutzscheibe werfen, jedenfalls fühle ich mich plötzlich mutig.

Ich hole tief Luft und schreibe: Lieber Teddy.

Und bevor ich es mir noch anders überlege, schreibe ich weiter, rase mit dem Stift über die Seite, schütte rasch und kopflos mein Herz aus, so verwegen, waghalsig und wahnsinnig dämlich, dass mir das Blut in den Ohren rauscht.

Danach greife ich zu dem Umschlag.

»Vergiss den Lottoschein nicht«, sagt Leo. Ich hole ihn aus der Tasche. Er ist zerknittert und hat einen kleinen Riss in einer Ecke, aber ich streiche ihn auf meinem Hosenbein glatt. Als Leo sich vorbeugt, um ihn besser betrachten zu können, werde ich schon wieder rot.

»Teddys Geburtstag?«, fragt er nach einem Blick auf die Zahlen. Seine Brille ist beschlagen, weil es im Bus so warm ist. »Auffälliger geht’s nicht …«

»Ich fand, es passt.«

»Und dein Geburtstag. Teddys Trikotnummer.« Er hält inne. »Was ist mit der Elf?«

»Das ist eine Primzahl.«

»Witzig«, sagt Leo, aber dann leuchten seine Augen verständnisvoll auf. »Verstehe, seine Wohnungsnummer. Und die Neun?«

»So viele Jahre …«

»Seid ihr jetzt Freunde, genau«, sagt er und wendet sich der letzten Zahl zu. Ich mustere ihn, als er sie sieht – diese grässliche, auffällige Dreizehn –, und wie er das Kinn hochreißt, seine dunklen Augen hellwach und voller Sorge.

»Es hat nichts zu sagen«, erkläre ich rasch, drehe den Lottoschein um und drücke ihn mit der Hand flach. »Ich hatte keine Zeit, lange darüber nachzudenken. Und dann …«

»Du musst dich nicht rechtfertigen.«

Ich zucke die Achseln. »Weiß ich.«

»Ich verstehe das«, sagt er, und ich weiß, dass das stimmt.

Das ist das Beste an Leo.

Er sieht mich noch länger an, als wollte er sichergehen, dass wirklich alles in Ordnung ist. Dann lehnt er sich zurück, sodass wir beide nach vorn sehen, stur geradeaus, während der Bus durch den Schnee schaukelt, der in dichten Flocken auf die Windschutzscheibe fällt. Als er im nächsten Augenblick seine Hand auf meine legt, lehne ich mich an ihn und schmiege den Kopf an seine Schulter. So fahren wir die restliche Strecke.

3. KAPITEL

In Teddys Wohnung ist es warm und ein bisschen klamm, weil darin zu viele Menschen auf engstem Raum zusammen sind. Zu laut ist es auch. Neben der Tür zischt und rattert eine altmodische Heizung, während aus dem Schlafzimmer so laute Musik dröhnt, dass Teddys Schulfotos an den Wänden wackeln. Das einzige Fenster in der Kochnische ist bereits beschlagen, und jemand hat Teddy McAvoy ist ein daran geschrieben. Das letzte Wort wurde wieder weggewischt, sodass niemand weiß, was er nun angeblich sein soll.

Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und versuche, mir einen Überblick zu verschaffen.

»Ich finde ihn nicht«, sage ich, ziehe den Mantel aus und werfe ihn auf einen schludrigen Haufen, der sich auf dem Boden türmt. Leo bindet einen seiner Ärmel daran, sodass es aussieht, als würden unsere Mäntel Händchen halten.

»Ich fasse es nicht, was er hier macht«, sagt er. »Seine Mutter bringt ihn um.«

Das ist noch nicht alles. Teddy hat seine Gründe, warum er normalerweise niemanden einlädt, obwohl seine Mutter nachts als Krankenschwester arbeitet. Die Wohnung hat nur zwei Zimmer, oder drei, wenn man das Bad mitzählt. Die Küche besteht eigentlich nur aus einem kleinen gefliesten Bereich in der Ecke, und Teddy nutzt das einzige Schlafzimmer. Seine Mutter schläft auf einem Ausziehsofa, während er in der Schule ist, was allein schon beweist, dass sie nicht so viel Geld haben wie die meisten anderen in unserer Stufe.

Doch ich bin immer gern hier gewesen. Nachdem Teddys Vater die Familie verlassen hatte, mussten sie aus der großen Wohnung mit zwei Schlafzimmern im Viertel Lincoln Park ausziehen und konnten sich nur noch diese hier leisten. Katherine McAvoy, die sich alle Mühe gegeben hat, die kleine Wohnung gemütlich einzurichten, hat das Wohnzimmer so strahlend blau gestrichen, dass man sich wie in einem Swimmingpool fühlt. Das Badezimmer leuchtet in einem fröhlichen Pink, und in Teddys Zimmer hat jede Wand eine andere Farbe: rot, gelb, grün und blau – es sieht aus wie in einem Fallschirm.

Heute ist es hier jedoch weniger gemütlich als vielmehr brechend voll, und als ein Grüppchen jüngerer Mädchen an uns vorbeikommt, fragt eines ungläubig: »Es gibt wirklich nur ein Schlafzimmer?«

»Unvorstellbar, oder?«, fragt ein anderes mit großen Augen. »Wo schläft denn seine Mutter?«

»Ich wusste ja, dass sie nicht reich sind, aber dass er so arm ist, hätte ich jetzt auch nicht gedacht.«

Ich spüre Leos gereizte Reaktion. Genau deswegen lädt Teddy außer uns niemanden zu sich ein. Und deshalb ist es auch so merkwürdig, dass sich unsere Mitschüler an diesem Abend zu Dutzenden in jedes Eckchen zwängen. Auf dem Sofa sitzen fünf Mädchen so gedrängt nebeneinander, dass man sich nicht vorstellen kann, wie sie je wieder hochkommen sollen, und in dem kurzen Flur vor Teddys Zimmer steht fast das gesamte Basketball-Team. Während wir noch unschlüssig stehen bleiben, rennt ein Spieler an uns vorbei – den Becher über dem Kopf, aus dem es auf sein Hemd schwappt – und schreit die ganze Zeit auf dem Weg zur Küche: »Alter! Alter! Alter!«

»Alter«, sagt Leo und bringt mich zum Lachen, weil wir uns unabhängig von der Saison und davon, ob gerade Fußball, Basketball oder Baseball gespielt wird, unter Teddys Mannschaftskameraden stets ein wenig fehl am Platz fühlen. Zeitweise könnte man denken, er würde zwei Leben führen. In dem einen gelingen ihm freitagabends vor der gesamten Schülerschaft spielentscheidende Treffer, in dem anderen sieht er sich samstagnachts mit Leo und mir lustige Filme an. Weil er unser Freund ist, gehen wir zu jedem Spiel und danach zu jeder Party, aber schöner ist es, wenn wir unter uns sind.

»Da ist er«, sagt Leo, und ich schließe kurz die Augen, so sehr brennt mir die Glückwunschkarte in der Tasche, ein Geheimnis, das voller Möglichkeiten steckt, wie eine Knospe kurz vorm Aufblühen.

Es ist nur Teddy, ermahne ich mich, doch dann drehe ich mich blitzschnell um, da er plötzlich mit seinem fetten Grinsen hinter uns steht und uns zu sich heranwinkt.

Im Grunde hat Teddy McAvoy nichts Außergewöhnliches an sich. Wenn ich ihn beschreiben sollte, wäre es schwierig, ihm gerecht zu werden. Er ist durchschnittlich groß, ein bisschen größer als ich und ein bisschen kleiner als Leo. Und er hat ganz normale braune Haare mit einer ganz normalen Frisur. Seine Ohren und seine Nase sind unauffällig und seine Augen schlicht und einfach braun, doch insgesamt betrachtet ist er schön.

»Hey«, sagt er und freut sich, als wir uns an den Mädchen vorbeiquetschen, die sich am Eingang zur Küche postiert haben. »Ihr seid spät dran.«

Bevor ich etwas sagen kann, egal, was, schließt er mich wie üblich so in die Arme, dass meine Füße von dem klebrigen Linoleumboden abheben und mir das Herz in die Kehle hüpft. Als er mich wieder absetzt, blinzele ich ihn an.

»Willst du mir nicht zum Geburtstag gratulieren?«, fragt er und wackelt mit den Augenbrauen. Sein scherzhafter Tonfall bringt mich in die Wirklichkeit zurück.

»Das hättest du wohl gern«, sage ich grinsend. »Dabei habe ich heute schon tausendmal ›Herzlichen Glückwunsch‹ gesagt.«

»Das stimmt, aber das war in der Schule und nicht auf meiner Party.«

»Na, dann«, sage ich und verdrehe die Augen. »Herzlichen Glückwunsch. Wird langsam Zeit, dass du uns einholst.«

Ohne Vorwarnung legt er einen Arm um meinen Hals und zieht mich in einen freundschaftlichen Schwitzkasten. »Nur weil du schon ewig achtzehn bist …«

»Seit ein paar Wochen«, verbessere ich ihn und versuche, mich zu befreien.

»… heißt das noch lange nicht, dass du einen auf alt und weise machen darfst.«

»Als ob ich nur so tun würde.« Jetzt muss ich auch lachen, und er lässt mich los.

»Schon hart, der Jüngste zu sein«, behauptet er übertrieben seufzend. »Vor allem, da ich offensichtlich so viel reifer bin als ihr.«

»Ganz offensichtlich«, sage ich und schüttele den Kopf.

Leo nimmt sich eine Handvoll M&M’S aus einer Schüssel auf der Arbeitsplatte. »Ich dachte, das Ganze sollte bei Marty stattfinden.«

»Seine Eltern konnten nicht in Urlaub fliegen, weil der Flug wegen Schneefalls gestrichen wurde«, sagt Teddy, »und etwas anderes ging nicht. Deshalb dachte ich, könnten wir die Party auch zu mir verlegen.«

Er lächelt, aber es wirkt aufgesetzt. Selbst nach sechs Jahren schämt er sich noch für das schäbige Haus, das eine Schlafzimmer und die Abwesenheit seines Vaters.

»Na gut«, sagt er und klatscht in die Hände. »Da keiner von euch mich heute Morgen mit Luftballons begrüßt hat – was übrigens eine echte Enttäuschung war – und es auch keinen Konfettiregen gab, als ich mein Schließfach aufgeschlossen habe, weiß ich einfach, dass ihr mir heute Abend etwas mitgebracht habt.«

»Das hört sich voll so an, als würde es nicht ausreichen, dass wir hier sind«, ärgert ihn Leo.

»Ernsthaft, wo ist mein Geschenk?« Teddy blickt von einem zum anderen. »Moment, wartet, ich will raten. Leo schenkt mir bestimmt etwas Computeriges …«

»Das Wort gibt es nicht.«

»Vielleicht einen Comic über die Abenteuer von Teddy McAvoy? Oder ein verpixeltes Porträt? Oder eine eigene Homepage?«

»Logo.« Leo nickt. »Du findest sie unter www.TeddyIstEinIdiot.com.«

»Und Al«, sagt Teddy und wendet sich mir zu. »Wetten, dass du dich selbst übertroffen und mir etwas ganz Tolles besorgt hast, das du dann aber direkt jemand anderem geschenkt hast, der es dringender braucht?«

»Also, eins kann ich dir sagen«, erwidert Leo grinsend. »Sie war heute Abend in der Suppenküche.«

»Und wahrscheinlich auch im Altersheim.«

»Sicher hat sie auch den Müll im Park aufgesammelt.«

»Und ist mit Hunden aus dem Tierheim Gassi gegangen.« Teddy lacht. »Bestimmt hat sie mein Geburtstagsgeschenk einem Hund gegeben. War es wenigstens ein cooler Hund? Ein Dobermann oder ein Basset? Sag jetzt bitte nicht, dass du es an einen Pudel oder Chihuahua weiterverschenkt hast.«

Ich verdrehe die Augen, genervt von beiden. »Schlimmer als ihr geht überhaupt nicht.«

»Bitte schön«, sagt Leo, holt das Päckchen Zigaretten aus der Hosentasche und reicht es Teddy, der die Schachtel in seiner Hand verständnislos betrachtet.

»Was soll ich damit?«

»Du bist jetzt achtzehn. Das ist nur einer von vielen Vorteilen.«

»Was?«, witzelt Teddy und zieht eine Augenbraue hoch. »Kein Playboy

»Ich dachte, damit wärst du bereits gut versorgt.«

Er lacht und wendet sich an mich. »Und was bekomme ich noch?«

Direkt hinter ihm steht der Kühlschrank mit tausend Fotos aus seiner Kindheit, auf denen er zum Beispiel lächelt, um eine neue Zahnlücke zu zeigen, oder halb unter einem Laubhaufen begraben ist. Ich versuche, mich zu erinnern, wie es damals mit ihm war, als ich ihn ansehen konnte, ohne mich so zu fühlen, ohne ihn so verzweifelt zu lieben. Fast wäre es mir gelungen, wie früher zu empfinden – ohne Erwartungshaltung, entspannt und unkompliziert –, doch als ich den Blick hebe, sieht er mich erwartungsvoll an. Ich gebe es auf.

Jetzt ist es eben anders, und es gibt kein Zurück.

Als ich die Glückwunschkarte aus meinem Rucksack hole, merke ich plötzlich, dass meine Hand zittert, und kapiere erschrocken, dass ich das nicht machen kann. Wie in aller Welt bin ich bloß darauf gekommen?

In diesem Umschlag, dem kleinen dünnen Rechteck aus gefaltetem Papier, wiegen Hoffnung und Vorfreude schwer. Mein ganzes Herz habe ich dort hineingesteckt. Auf keinen Fall kann ich danebenstehen, wenn er ihn öffnet. Nicht hier. Nicht jetzt. Vielleicht nie.

Doch bevor ich meine Meinung ändern oder eine Ausrede erfinden und ihn wieder einstecken kann, reißt Teddy ihn mir aus der Hand.

»Für mich?«, fragt er entzückt. »Danke, Al.«

Außer ihm nennt mich niemand so, und er hat es immer schon getan. Doch als ich ihn jetzt höre, werde ich dermaßen von Panik geschüttelt, dass ich kurz davor bin, mich auf ihn zu stürzen, um den Brief zurückzubekommen.

»Nein«, erwidere ich mit leicht erstickter Stimme und greife nach dem Umschlag. Doch Teddy hält ihn mit seinem langen Arm hoch, ohne meine entsetzte Miene zu beachten. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Leo begreift und zu meiner großen Erleichterung auf die Glückwunschkarte zeigt.

»Ich glaube auch, das ist die falsche«, sagt er. Teddy lässt sie verwirrt sinken.

»Aber da steht mein Name drauf.« Er streicht mit dem Finger unter meiner winzigen Handschrift entlang. »Da, oder? Ted. Dy. Bär

Das ist mein alter Spitzname für ihn, den ich allerdings seit Jahren nicht benutzt habe. Mir wird ganz anders, als ich ihn dort geschrieben sehe, auf dem Umschlag in seiner Hand.

»Ich habe vergessen zu unterschreiben«, sage ich und bemühe mich, nicht panisch zu klingen, doch er hört gar nicht mehr zu. Er ist zu sehr damit beschäftigt, den Brief aufzureißen.

Ich werfe Leo einen Blick zu, der hilflos mit den Achseln zuckt. Als ich mich wieder Teddy zuwende, schlägt er bereits die Glückwunschkarte auf. Ich bin so nervös wegen der Dinge, die ich geschrieben habe, dass ich den Lottoschein ganz vergessen habe, der meine Worte verdeckt – meine grauenhaften, unangebrachten, peinlichen Worte. Doch Teddy hält lächelnd den Lottoschein in die Höhe.

»Hey, super«, sagt er. »Ich werde reich.«

»Richtig reich«, sagt ein Baseballspieler, ein riesiger Typ mit Fliege, ironisch gemeint oder nicht, während er sich an uns vorbeidrängt, um sich noch einen Drink zu holen. »Das kam in den Nachrichten. Heute geht es um einen Monster-Jackpot.«

Während er sich weiter zu der provisorischen Bar durchkämpft, stößt er Leo an, der gegen Teddy fällt, der wiederum die Glückwunschkarte fallen lässt. Einen kurzen, erstarrten Moment lang, in dem all das in Zeitlupe zu geschehen scheint, beobachte ich, wie sie Teddy aus der Hand segelt, zu Boden schwebt und mit der Anmut und Zielgerichtetheit eines Papierflugzeugs unter den Kühlschrank gleitet.

Überrascht blicken wir auf die Stelle, wo die Karte verschwunden ist.

»Volltreffer«, sagt Leo mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Sorry«, sagt der Typ und entfernt sich rückwärts vom Tatort.

»Ups«, sagt Teddy und geht auf allen vieren.

Stumpf sehe ich zu, wie er auf den Fersen sitzend die Hand in den schmalen Spalt zwischen Fliesen und Kühlschrankboden steckt.

»Kann mir mal einer eine Gabel oder so was geben?«, fordert er immer noch vornübergebeugt.

»Eine Gabel?«, fragt Leo. »Willst du vom Fußboden essen, oder was?«

»Nein, ich dachte, es wäre einfacher …«

»Macht doch nichts«, sage ich und lege ihm die Hand auf den Rücken. »Echt nicht, da stand nichts Wichtiges drin.«

Mit besorgter Miene springt Teddy wieder auf. »Sicher?«

»Ja.« Diesmal ist es die Erleichterung, die ich mir nicht anmerken lassen will.

Er wischt sich die Hände an der Jeans ab und bückt sich, um den Lottoschein aufzuheben, der neben meinem Schuh liegen geblieben ist. »Na, besser die Karte als der Schein, was?«

»Stimmt.« Leo muss lachen. »Beinahe hätte dir der Kühlschrank den Jackpot verdorben.«

4. KAPITEL

Teddy muss nicht Geburtstag haben, um im Mittelpunkt zu stehen. Deshalb ist es heute aber geradezu unmöglich, ihn auch nur eine Minute lang für sich zu haben. Er ist umringt von Freunden, und es scheint, als würden am Rand immer noch weitere darauf warten, ihn zu begrüßen oder zu umarmen.

Ich beobachte ihn vom anderen Ende des Zimmers, wie er den Kopf beugt, um mit seiner Exfreundin Lila zu reden. Sie sind erst seit wenigen Wochen getrennt, nachdem sie ungefähr drei Monate zusammen waren, was so ungefähr das übliche Muster ist. Teddys Wahnsinn hat Methode, wenn es um Mädchen geht: Nachdem er sie von sich überzeugt hat, gehen sie eine Weile aus, aber wenn er eigentlich so weit wäre, die Dinge voranzutreiben, zeigt er sich plötzlich so distanziert, so frustrierend unerreichbar und komplett unzugänglich, dass normalerweise die Mädchen mit ihm Schluss machen.

»Du bist schrecklich«, habe ich in den Weihnachtsferien gesagt, als er mir erzählte, dass Lila es schließlich aufgegeben hätte.

»Oder ein Genie«, hat er mit seinem typischen Grinsen gesagt.

Ich habe keinerlei Ähnlichkeit mit der Reihe von selbstbewusst munteren Mädchen, die sonst auf ihn stehen. Eigentlich müsste ich mich in jemanden wie Nate aus meinem Analysis-Kurs für Fortgeschrittene verlieben, der nächstes Jahr aufs MIT geht, oder in David, der wie ich ehrenamtlich im Altenheim aushilft, oder in Jackson, der so schöne Gedichte schreibt, dass ich Herzrasen bekomme, wenn er sie im Englischunterricht vorliest.

Teddy McAvoy ist also gar nicht mein Typ. Er ist ein bisschen zu glatt, zu selbstgefällig, zu eingebildet. Im Grunde ist er ein bisschen zu sehr … Teddy.

Dennoch sehe ich traurig zu, wie Lila sich auf Zehenspitzen stellt, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Er wirft den Kopf in den Nacken und lacht schallend.

»Also, normalerweise«, sagt Leo, der meinem Blick gefolgt ist, »würde man sich bei Gelegenheiten wie diesen jetzt eigentlich unterhalten.« Ich will schon antworten, als er die Hand hebt. »Ich meine, nicht mit mir.«

»Weiß ich«, sage ich und reiße mich von Teddys Anblick los. »Tut mir leid, ich weiß nicht, was mit mir los ist. Meine Laune wird gleich besser, versprochen.«

»Bleiben wir realistisch«, scherzt er und tätschelt meine Schulter. »Es würde schon reichen, wenn du ein wenig gesprächiger wärst oder mir grundsätzlich mehr Aufmerksamkeit schenken würdest.«

»Wie war das?«, fragt Teddy hinter uns. »Noch mehr Geschenke?«

Ich verdrehe die Augen.

»Ich gehe raus und sehe mir den Schnee an«, sagt er. »Kommt ihr mit?«

»Zu kalt«, sagt Leo, wofür ich ihm im Stillen dankbar bin, als ich mich mit einem betont lässigen Achselzucken an Teddy wende.

Er reicht mir den Arm. »Sollen wir?«

Kaum haben wir die Wohnung verlassen, fühlt sich die Party ganz weit weg an. Die Musik ist nur noch gedämpft zu hören, als Teddy am Ende des trübe beleuchteten Flurs die schwere Tür zur Feuertreppe aufdrückt. Eisiger Wind schlägt uns entgegen. Draußen schneit es immer noch heftig, und der Wind verweht die Flocken wie Konfetti. Ich stecke die Hände in die Ärmel meines Sweatshirts und gehe zum Geländer.

Von hier oben gibt es außer den Fenstern in den umliegenden Häusern, die um diese Uhrzeit fast alle dunkel sind, nicht viel zu sehen. Am Boden zieht sich eine einsame Fußspur durch den Schnee, und selbst die wird wieder zugeschneit. Es ist fast Mitternacht, und die Welt ruht.

Teddy bückt sich und knetet mit bloßen Händen einen perfekten Schneeball. Dann richtet er sich auf, stellt sich breitbeinig hin und sieht auf die Straße hinaus, als wollte er ihn über die Feuertreppe werfen. Im letzten Moment dreht er sich um und wirft ihn auf mich.

»Hey«, sage ich mit gespielter Entrüstung und wische den Schnee ab, doch er lächelt nur.

»Das musste sein«, sagt er und stellt sich neben mich ans Geländer. Er beugt sich vor und stupst mich sanft mit der Schulter an. »Schon aus Tradition.«

Das bringt mich zum Lächeln, ob ich will oder nicht. Mein Gesicht brennt bereits vor Kälte, und meine Hände sind eisig. Da ich das vor Teddy verbergen möchte, stecke ich sie in die Hosentaschen. Denn ich möchte keinesfalls wieder hineingehen, fort von dem Schnee und der Dunkelheit und der Stille. Unter uns geht die Haustür auf und zu, als Menschen leise sprechend das Gebäude verlassen. Im Lichtkegel der Straßenlaterne rieseln stetig die Flocken, und Teddy dreht sich zu mir um. Sein Lächeln verblasst.

»Tja«, sagt er. »Er hat nicht angerufen.«

Ich schüttele den Kopf. »Echt jetzt …«

»Bevor du dich aufregst …«

»Ich rege mich nicht auf«, unterbreche ich ihn. »Ich bin supersauer. Und das solltest du auch sein.«

»Du kennst ihn doch.«

»Das trifft es auf den Punkt«, sage ich. »Ich kenne ihn. Seit Jahren tut er dir das an, und es nervt. Wenn er an den anderen dreihundertvierundsechzig Tagen untertauchen will, meinetwegen. Aber am Geburtstag seines Sohnes könnte er gefälligst …«

»Al.«

Ich zucke die Achseln. »Ich meine ja nur.«

»Schon klar«, sagt er und mustert mich beinahe amüsiert. »Nichts dagegen.«

»Nun ja, wetten, dass er heute an dich denkt, egal, wo er ist?«

»Ja, klar«, sagt Teddy und lacht bitter. »Wahrscheinlich zwischen zwei Pokerspielen.«

»Das kannst du nicht wissen«, sage ich, aber er wirft mir einen strengen Blick zu.

»Machen wir uns doch nichts vor. Wahrscheinlich merkt er nächste Woche, dass er es vergessen hat, und schickt mir irgendwas Albernes, um es wiedergutzumachen. Und wenn seine Glückssträhne zu Ende ist, soll ich es dann zurückgeben, damit er seine Schulden bezahlen kann. Wir wissen beide, wie es läuft.«

»Vielleicht ist es ein gutes Zeichen«, sage ich, weil ich es nicht ertragen kann, ihn so niedergeschlagen zu sehen. »Weißt du noch, letztes Jahr, als er dir den in Honig gebackenen Schinken geschickt hat?«

»Jep«, sagt er stirnrunzelnd. »Und im Jahr davor das Messerset.«

»Genau. Er schickt dir immer nur etwas, wenn das Spiel gut für ihn läuft«, sage ich in Erinnerung an unsere Kindheit, wenn Charlie McAvoy gerne mit Tüten voller Geschenke hereinstürmte und Katherine gegenüber behauptete, er hätte sich seine Überstunden als Elektriker auszahlen lassen. Erst viel später fanden sie heraus, dass er sich damals hauptsächlich auf der Rennbahn aufhielt. »Also bedeutet das möglicherweise, dass es ihm besser geht. Dass ihm geholfen wird.«

Teddy wirkt wenig überzeugt, was ich ihm nicht verübeln kann. Es ist sechs Jahre her, seit Charlie im Zuge einer dreitägigen Sauftour in Vegas alle Rücklagen der Familie verspielt hat. Seitdem hat er sich nicht mehr blicken lassen.

»Trotzdem.« Ich schüttele den Kopf. »Es ist total ungerecht.«

Teddy hebt die Schultern. »Ich habe mich dran gewöhnt.«

»Teddy«, sage ich und drehe mich um, weil ich ihm in die Augen sehen möchte, um mich zu vergewissern, dass er es verstanden, wirklich verstanden hat, wie berechtigt sein Ärger ist. Er muss nicht immer so tun, als wäre alles in Ordnung. »Das macht es nicht besser.«

»Weiß ich«, sagt er leise.

Im Wirbel der Schneeflocken und dem verschwommenen Licht hat Teddy fast etwas Verträumtes an sich. Seine Augen strahlen, weiß fällt der Schnee auf sein Haar, und in seinem Blick auf mich liegt eine gewisse Ruhe. Wir stehen dicht voreinander, und wenn ich zittere, dann nicht, weil mir kalt ist. Die Kälte spielt gerade keine Rolle. Ich zittere wegen meiner verrückten, chaotischen Gedanken, die mir plötzlich sagen, ich soll ihm von der Glückwunschkarte erzählen. Ich will ihm all das sagen, was dort steht, und wie ernst ich es meine.

Doch dann geht hinter uns die Tür auf, und das Flurlicht scheint auf eine Gruppe kichernder Zehntklässlerinnen in ihren stylischen Mänteln und Stiefeln. »Hi, Teddy«, sagt ein Mädchen, sowie sie sich auf die Feuertreppe schieben. »Was dagegen, wenn wir auch rauskommen?«

Er zögert, nur einen Augenblick, bevor er sich von mir losreißt, und schon ist der Zauber gebrochen. »Aber nein«, sagt er und lächelt sie an. Ehe er noch ein Wort sagen und mein Herz noch mehr in Bedrängnis stürzen kann, räuspere ich mich.

»Ich sehe mal nach, was Leo macht«, sage ich, doch Teddy ist längst abgelenkt, interessiert sich bereits für etwas anderes. So, wie es schon immer gewesen ist.

So wie es immer sein wird.

5. KAPITEL

Drinnen stolpere ich auf der Suche nach Leo in der Nähe der Küche über einen Müllsack. Automatisch hebe ich ihn auf und zerre ihn durch die Gäste in den leeren Hausflur. Ich bleibe kurz stehen und betrachte die schmutzigen Linoleumböden und die flackernden Deckenlampen. Links liegt Apartment Nr. 13, von dessen verbogenen Messingziffern an der Tür ich mich schon immer beobachtet gefühlt habe, und rechts liegt die Feuerschutztür. Teddy ist noch mit den Mädchen draußen.

Ich hätte etwas über die Glückwunschkarte sagen sollen, bevor sie uns unterbrochen haben. Ich hätte mir etwas einfallen lassen sollen, damit er mich gesehen hätte, so wie ich bin, und zu Verstand gekommen wäre und gemerkt hätte, dass er mich ebenfalls liebt. Manchmal habe ich das Gefühl, wenn ich es mir nur sehnsüchtig genug wünschen würde, könnte es wahr werden. Natürlich weiß ich, dass es so nicht funktioniert. Das Leben ändert sich nicht, nur weil man es gern hätte. Und man kann auch keine Schulden bei ihm eintreiben. Nur weil die Welt mir etwas genommen hat, schuldet sie mir noch lange nichts. Und nur weil ich einen Haufen Pech hatte, wartet nicht automatisch etwas Gutes auf mich.

Dennoch fühlt es sich nicht an, als wäre es zu viel verlangt: Dass der Junge, den ich liebe, mich auch liebt.

Seufzend hieve ich den Müllsack über den Müllschlucker und lausche, wie er scheppernd durch die anderen Stockwerke nach unten fällt. Als ich wieder reingehe, entdecke ich Leo in Teddys Zimmer, wo er in einer Ecke über sein Handy gebeugt in einem alten Ledersessel sitzt. Er hat sein grünes Sweatshirt ausgezogen und trägt darunter das Superman-T-Shirt, das ich ihm zu Weihnachten geschenkt habe. Mit seinen dicken Brillengläsern sieht er allerdings wie eine ziemlich runtergefahrene Version von Clark Kent aus.

Ich zeige mit dem Kopf auf sein Handy. »Max?«

Er schüttelt den Kopf, lächelt aber wie immer, wenn der Name seines Freundes fällt. Sie waren erst ein gutes halbes Jahr zusammen, als Max im letzten Herbst an die Uni in Michigan gewechselt ist, aber dann ging es ganz schnell von Ich finde dich toll über Das könnte etwas werden zu Ich liebe dich über alles. Und während dieser Zeit habe ich mich sozusagen mit in Max verliebt, so wie es passieren kann, wenn man dabei ist, wenn jemand all die wunderbaren Eigenschaften einer Person entdeckt, die ihm viel bedeutet.

»Nein«, antwortet Leo und blickt zu mir hoch. »Nur Mom.«

»Lass mich raten? Ausraster wegen Schnee?«

Meine Tante Sofia hat sich nie richtig an die Winter in Chicago gewöhnt. Bevor sie als Achtjährige mit ihren Eltern nach Florida zog, hatte sie ihre Kindheit in Buenos Aires verbracht, und ein Wetter wie heute ist ungefähr das Einzige, was ihre Energie bremsen kann und sie in eine Art Winterschlaf versetzt.

»Sie macht sich Sorgen wegen der Straßen«, erklärt Leo. »Wir sollen hier schlafen, meint sie.«

Es ist schon eine Weile her, seit wir zuletzt hier übernachtet haben. Früher haben wir es dauernd gemacht, zu dritt. Als wir jünger waren und noch jemand auf Teddy aufpassen musste, wenn seine Mutter nachts gearbeitet hat, konnten wir Mrs. Donohue, die alte Dame von nebenan, oft überreden, uns nicht nach Hause zu schicken. Während sie auf dem Sofabett schnarchte, legten wir zwei Schlafsäcke auf den Boden, und dann hing Teddy über dem Rand des Bettes, sein Gesicht über unserem, und wir redeten, bis uns die Worte ausgingen und die Augen zufielen.

»Ich kann schlecht sagen, dass alle anderen auch nach Hause fahren«, sagt Leo betreten grinsend, »weil sie doch denkt, außer uns wäre keiner hier. Deshalb …«

»Deshalb …«, erwidere ich und schaue mich in dem Zimmer um, blicke von dem Klamottenhaufen über die Bücherstapel auf der Kommode zu der einsamen Socke, die unter dem schmalen Bett hervorlugt.

Teddys Bett, in dem er jede Nacht schläft.

Ich muss schlucken. »Tja, dann bleiben wir wohl hier.«

Und darum machen wir uns, Stunden später, auf eine Art Zeitreise.

Teddy hat mir sein Bett angeboten, was ich nicht angenommen habe, sodass wir nach all diesen Jahren wieder einmal in der alten Formation daliegen. Teddy blickt bäuchlings, das Kinn in die Hände gestützt, über die Bettkante auf mich und Leo, wie wir es uns unter einem Haufen Decken gemütlich gemacht haben.

»Ach, Leute«, sagt Teddy lachend. »Leute, Leute, Leute.«

Das hatte er mit zwölf andauernd gesagt, und als ich es jetzt aus seinem Mund höre, werde ich so nostalgisch, dass mir ein wenig schwindelig wird.

Leo reagiert auf seine charakteristische, leicht erschöpfte Art. »Ja, Theodore?«

»Weißt du noch, wie wir dich bequatscht haben, für uns eine Wand zu bemalen?« Teddy schlägt mit der Faust an die Wand neben seinem Bett, die früher weiß war – die perfekte Leinwand, fanden wir mit elf – und jetzt dunkelblau ist. »Ich habe dich mit Lutschern bezahlt.«

»Der beste Auftrag aller Zeiten«, sagt Leo. »Obwohl wir am nächsten Tag drüberstreichen mussten.«

»Die Umrisse der Pinguine in der Ecke kann man immer noch sehen«, sage ich lächelnd. »Und den Fisch, den du auf die Tür gemalt hast.«

Nachdem Teddy einen Augenblick still war, durchbricht seine Stimme ungewöhnlich zögerlich die Dunkelheit. »Und, was meint ihr, ist das heute gut gelaufen?«

»Super«, antwortet Leo gähnend. »Du hast mit Sicherheit den Weltrekord für die meisten Leute auf so engem Raum aufgestellt.«

»Es war ein bisschen zu voll«, gesteht Teddy ein. »Glaubt ihr, alle haben gemerkt, dass wir nur ein Schlafzimmer haben?«

»Nein«, behaupte ich steif und fest. »Die hatten viel zu viel Spaß.«

»Irgendwer hat die Vase meiner Mutter kaputt gemacht«, sagt er. »Hoffentlich merkt sie es nicht. Ich kann ihr frühestens eine neue kaufen, wenn ich im Sommer wieder anfange zu arbeiten.«

»Wir können dir was leihen, damit du direkt Ersatz besorgen kannst«, biete ich an. Und bevor er etwas dagegen sagen kann, was er mit Sicherheit tun möchte, füge ich hinzu: »Du kannst es später zurückzahlen.«

»Ich nehme Visa, MasterCard und Lutscher«, sagt Leo.

Das bringt Teddy zum Lachen. »Danke, ihr seid echt die Besten.«

Leo gähnt noch lauter, und wir kommen zur Ruhe. Ich blicke zu den Kunststoffsternen, die in vertrauter Konstellation an der Decke kleben. Das trübe Licht, das durch die Fenster dringt, ist bläulich, und draußen schneit es weiter. Als ich nach wenigen Minuten höre, dass Leo mit einem leisen Pfeifen gleichmäßig atmet, nehme ich ihm sanft die Brille ab und lege sie zwischen uns auf den Boden. Teddy sieht mir von seiner erhöhten Position aus zu.

»Hey«, sagt er, »weißt du noch, wie …«

Doch ich lege den Finger auf den Mund. »Weck ihn nicht.«

»Dann komm hoch, damit wir weiter reden können«, schlägt er vor. Die Decken rascheln, als er auf eine Seite des Bettes rutscht. »Ich habe immer noch Geburtstag und bin überhaupt nicht müde.«

»Also, ich schon«, sage ich, obwohl das nicht stimmt.

Ich war noch nie im Leben so wach.

»Jetzt komm«, sagt Teddy und klopft auf das Bett, doch ich liege wie gelähmt auf dem Boden und komme mir dumm vor, weil ich zögere. Teddy will schließlich nur mit seiner besten Freundin quatschen, so wie früher.

Ich stehe auf, ganz vorsichtig, damit Leo nicht wach wird, und klettere zu Teddy ins Bett. Es ist eng, weil es nicht für zwei gedacht ist, aber wenn wir auf der Seite liegen und uns ansehen, reicht der Platz so gerade.

»Hi«, sagt er und grinst mich im Dunkeln an.

»Hi«, sage ich mit klopfendem Herzen.

Sein Atem riecht minzig nach Zahnpasta, und er ist so nah, dass ich mich nur jeweils auf einen Teil seines Gesichts konzentrieren kann, weil sonst alles verschwimmt: seine Nase, seinen Mund oder seine Augen. An ihnen bleibe ich hängen, weil er mich neugierig ansieht.

»Ist was?«, fragt er.

Ich schüttele den Kopf. »Nein, nichts.«

»Erkennst du mich etwa nicht mehr, seit ich achtzehn geworden bin?«

»Kann schon sein«, antworte ich und suche nach einer witzigen Erwiderung wie in den schnellen Wortgefechten, die wir gewohnt sind. Doch mir fällt nichts ein. Seine Nähe bringt mich durcheinander, und in meiner Brust sitzt ein Schmerz, tiefer als Liebe, einsamer als Hoffnung.

Teddy, denke ich und blinzele ihm zu, während es mich die größte Anstrengung kostet, es nicht zu sagen, wie ich es in meinen Gedanken förmlich höre, wie einen Seufzer oder eine Frage oder einen Wunsch.

»Hattest du einen schönen Abend?«, fragt er, und ich nicke, abgelenkt von meinen Haaren, die von seinem Kissen knistern. »Ich fand alles gut. Also, nicht wie an meinem sechzehnten, aber wer bringt so was schon zweimal?«

»Alter Mann«, sage ich leise, und er lacht.

»Ich fühle mich schon irgendwie so«, gesteht er. »Achtzehn. Mann.«

»Ist dir eigentlich klar, dass wir uns jetzt unser halbes Leben lang kennen?«

»Total verrückt.« Er schüttelt den Kopf. »Und auch wieder nicht. Es ist noch seltsamer, sich eine Zeit vorzustellen, in der wir uns nicht kannten.«

Ich schweige. Es tut immer noch zu weh, an die Zeit davor zu denken, an die erste Hälfte meines Lebens, als ich mit meinen Eltern in San Francisco gelebt habe und wir gemeinsam gefrühstückt haben. Als sie mir Gutenachtgeschichten vorlasen und wir eine ganz normale Familie waren. Wenn ich versuche, mich daran zu erinnern, fühlt es sich an, wie wenn ich zu lange in die Sonne sehe. Glühend heiß mit Blitzen, und auch ein halbes Leben später brennt es wie die Hölle.

Teddy legt mir eine Hand auf den Arm. Er hat mir ein Sweatshirt geliehen, doch selbst durch den Stoff fühle ich seine Wärme. »Sorry«, sagt er, »ich wollte nicht …«

»Nein«, erwidere ich und hole Luft. »Alles gut, das ist es nicht, woran ich gedacht habe.«

Er sieht mich skeptisch an. »Du weißt, dass du immer mit mir reden kannst.«

»Ja, ich weiß«, sage ich automatisch.

Er schüttelt den Kopf. Als er sich anders hinlegt, streift er mit seinem Fuß über meinen. »So wie mit Leo, meine ich«, sagt er mit großen Augen, ohne zu blinzeln. »Du sprichst viel offener mit ihm über diese Sachen. Aber das kannst du auch mit mir tun.«

Ich beiße mir auf die Lippe. »Teddy …«

»Ich weiß, dass es richtig wehtut«, prescht er vor. »Und ich will dich auch nicht drängen. Aber du denkst, bei mir wäre alles nur oberflächlich und lustig, das merke ich. Als wäre ich nicht ernst genug. Und als könnte ich nicht für dich da sein, wenn es um diese Dinge geht. Aber so ist das nicht.«

»Glaubst du das echt?«

»Ja, schon«, antwortet er. »So war es ja von Anfang an. Wenn es um deine Erinnerungen geht, wendest du dich an Leo. Und an mich, wenn du sie vergessen willst.«

Ich sehe ihn eindringlich an. In seinen Worten liegt eine Wahrheit, auf die ich nie gekommen wäre.

»Ich will ja nur sagen, dass ich auch für dich da sein kann, wenn du mich lässt.«

»Ich weiß.«

»Ich kann auch ein guter Typ sein.«

»Bist du doch schon.«

»Nein«, sagt er. »Aber für dich möchte ich es werden. Für dich.«

Die Worte schweben in der Dunkelheit, und ich kneife die Augen zusammen, will ihm entgegenkommen und wünschte, es wäre einfacher, ihn an mich heranzulassen. Teddy sucht meine Hand und schließt seine Finger um sie.

»Manchmal«, sage ich nach einer kurzen Pause, »habe ich das Gefühl, dass ich sie vergesse.«

»Kann nicht sein«, flüstert er.

»Wenn ich jetzt an sie denke, kommt es mir vor, als würde ich den Film einer glücklichen Familie sehen. Aber echt fühlt es sich nicht mehr an.«

»Das liegt daran, dass du immer das große Ganze vor Augen hast«, sagt er. »Das überfordert dich jedes Mal. Du musst es dir stückweise vornehmen.« Er macht eine Pause. »Mein Dad hat zum Beispiel immer Smileys mit Zahnpasta auf den Badezimmerspiegel gemalt.«

»Wirklich?«, frage ich leise. Er nickt.

»Und er hat kurze Nachrichten geschrieben, etwa Heute ist dein Tag! und Welt, ich komme!«

Wie er das sagt – traurig und feierlich und ein wenig wehmütig –, könnte man meinen, sein Vater wäre ebenfalls nicht mehr da. Was ja auch stimmt, nur anders eben. Doch in diesem Augenblick erkenne ich da eine gemeinsame Erfahrung, die der Rest der Welt nicht nachvollziehen kann, und ich drücke Teddys Hand.

»Na ja«, sagt er kleinlaut, »also nur an den Tagen, wenn er nicht in einem schäbigen Casino auf einem Flussschiff gefrühstückt hat. Trotzdem. Hin und wieder denke ich daran.«

Ich hole tief Luft, weil ich ihm auch etwas von mir erzählen möchte. »Mein Dad hat sonntags herzförmige Pfannkuchen gebacken«, sage ich schließlich. Die Erinnerung gibt mir einen Stich. »Unten waren sie immer schwarz, und trotzdem mag ich sie so bis heute am liebsten. Und meine Mom …« Ich verstumme und beiße mir auf die Lippe. »Meine Mom hat beim Spülen immer gesungen. So was von schief.«

»Da hast du es.« Teddy sieht mich immer noch unverwandt an. »Es sind die kleinen Geschichten.«

Mittlerweile schweben unsere Gesichter dicht voreinander, wir haben die Hände verschränkt, und unsere Füße berühren sich in den warmen Socken. Wir sind uns so nah, dass ich seinen Atem auf meinem Gesicht spüre. Sekundenlang bleiben wir so und sehen uns nur an. Ich weiß nicht genau, was hier geschieht, und ich bin zu durcheinander, um es zu verstehen. Teddy ist einfach mein Freund. Er ist für mich da. Er ist ein guter Typ. Mehr nicht.

Doch dann rückt er noch ein kleines Stückchen näher, und ich habe das Gefühl, in mir zündet ein Kurzschluss nach dem anderen. Ich wünsche mir so sehr, dass er mich küsst, gleichzeitig habe ich schreckliche Angst vor dem, was dann passiert. Ich befürchte, dass sich alles verändert, und befürchte gleichzeitig, dass sich doch nichts verändert. Ich habe Angst, dass wir uns morgen, wenn es hell wird, nicht mehr in die Augen sehen können, dass alles ein einziger Fehler ist und neun Jahre Freundschaft den Bach runtergehen.

Als Teddy sich vorbeugt, bis sich unsere Nasen streifen, ist es wie bei einem Zoom, wenn die Welt am Rand verschwimmt. Hier und jetzt gibt es nur noch uns. Draußen fällt der Schnee aufs Fenstersims, alles ist still und gedämpft, während sich der Sturm legt. Drinnen, in unserem ureigenen Iglu, ist es gemütlich und warm.

Unsere Nasen berühren sich wieder – als Auftakt, als Prolog –, und mein Herz taumelt ihm entgegen, verzweifelt gefolgt von meinem übrigen Ich. Doch kurz bevor sich unsere Lippen finden können, knackt es laut, dann knirscht es, und als wir beide gleichzeitig hochschießen und über die Bettkante schauen, entdecken wir Leo, der zerrupft und noch halb schlafend nach seiner kaputten Brille greift.

6. KAPITEL

Als ich am nächsten Morgen die Augen aufschlage, begrüßt mich der Anblick herumliegender roter Plastikbecher. Jenseits davon dringt die Sonne gerade erst durch das vereiste Fenster ins Zimmer, das noch in Blautönen schimmert. Nachdem ich ein paarmal geblinzelt habe, fällt mir wieder ein, wo ich bin und warum ich auf dem Sofa liege. Gähnend richte ich mich auf.

Erst im nächsten Moment setzt auch mein Gedächtnis wieder ein.

Teddys Gesicht, so nah an meinem. Seine Nase an meiner. Unser Herzschlag laut in meinen Ohren.

Und wie Leo sich die Augen rieb und fragte, wie spät es sei, und wie ich peinlich berührt aus dem Bett sprang und Teddy wie ein Schlafwandler wirkte, den man brutal geweckt hatte.

Ich schließe die Augen wieder.

Es ist nichts passiert. Nicht wirklich. Aber in diesem Augenblick der Verwirrung, des langsamen und verblüfften Erinnerns, habe ich den Blick gesehen, den er mir quer durch den dunklen Raum zugeworfen hat. Es war – jedenfalls für ihn – gerade noch mal gut gegangen.

Das Schlimmste ist, dass er mit seiner Erleichterung wahrscheinlich ganz richtigliegt. Weil ich nicht nur auf diesen Kuss aus war. Ich sehnte mich nach so viel mehr. Er sollte sich in mich verlieben. Doch das ist einfach nicht Teddy.

Als hinter mir seine Zimmertür aufgeht, hole ich tief Luft und wappne mich, ehe ich mich umdrehe. Doch es ist nur Leo.

»Morgen«, sagt er. Ohne Brille sieht er viel jünger aus, schlurft aber wie ein alter Mann mit halb zusammengekniffenen Augen durch den Flur. Seine Schneestiefel hält er in einer Hand und lässt sie vor dem Sofa fallen. Dann winkt er mich zu sich. Ich rutsche rüber, während ich auf einen Kommentar zur letzten Nacht warte, doch Leo schnürt nur gähnend seine Stiefel.

»Gehst du?«, frage ich, und er nickt.

»Ich brauche eine neue Brille. Oder ich muss zumindest meine alte finden. Außerdem habe ich tausend Sachen zu erledigen.«

»Design und so?«

Er schüttelt den Kopf. »Bewerbungen.«

»Welche?«

»In Michigan«, antwortet er, ohne mich anzusehen. »Die Frist läuft Montag ab.«

Das ist ein heikles Thema. Seit sich Leos Zeichenkunst von seinen Notizbüchern in seinen Computer verlagert hat, träumt er von dem Grafikdesign-Studiengang an der Kunsthochschule hier bei uns in Chicago. Doch da Max nun in Michigan lebt, hat sich sein Blickwinkel verändert.

»Ja, also«, sage ich in einem Tonfall, der viel zu schrill klingt. »Das finde ich gut.«

Ich habe versucht, mich bei diesem Thema zurückzuhalten, da er die Entscheidung allein treffen muss. Aber wir kennen uns einfach zu gut, und meine Missbilligung ist trotz meiner Bemühungen deutlich erkennbar.

»Nein, findest du nicht«, sagt Leo. »Aber das macht nichts. Ich halte mir nur alles offen.«

»Das weiß ich.«

»Es ist auch gar nicht so, dass ich nicht mehr auf die …«

»Ich weiß.«

»Aber ich vermisse ihn eben …«

Ich lächele. »Das weiß ich auch.«

Wir schweigen kurz.

»Okay.« Leo steht auf. »Kommst du mit?«

Ich schaue mich um. Es sieht aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Überall liegen Becher und angebrochene Chipstüten verstreut, eine offene Flasche steht auf der Arbeitsplatte, und die Limo rinnt immer noch an den Schränken herunter. Jede freie Fläche ist mit klebrigen runden Glasabdrücken übersät, und neben dem überquellenden Mülleimer liegen eingedrückte Dosen und zerknüllte Servietten.

»Ich fürchte, ich muss ihm beim Aufräumen helfen, bevor seine Mutter nach Hause kommt«, sage ich nach einem Blick auf die Uhr. Es ist gleich acht, und das heißt, dass sie bald zurück ist. »Damit er seinen neunzehnten Geburtstag auch noch erlebt.«

»Keine Sorge«, sagt Teddy und trottet hinter uns in den Flur. Ich drehe mich zu ihm um, doch dann wende ich nervös den Blick ab, als mir alles wieder einfällt. Er trägt nur eine graue Jogginghose und hat ein grünes T-Shirt über die Schulter geschlungen. Der Anblick seiner nackten Brust gibt mir an diesem Morgen beinahe den Rest. »Meine Mom hat gerade angerufen und gesagt, dass sie auch die Frühschicht übernehmen muss. Wahrscheinlich bringt der Schnee alles durcheinander.«

»Das beste Geburtstagsgeschenk aller Zeiten«, sagt Leo und schnappt sich seinen Mantel.

Teddy zieht das T-Shirt über, schlappt in die Küche und nimmt die Alufolie von dem Kuchen, den seine Mutter ihm gebacken hat. Sie haben gestern Abend miteinander gefeiert, bevor sie zur Arbeit gegangen ist, und die Überreste wurden auf der Party gegessen. Doch Teddy kratzt den letzten Zuckerguss aus der Form und lässt sich dann neben mich aufs Sofa fallen.

Nach einer Sekunde nehme ich den Mut zusammen, ihn von der Seite anzusehen. Ich möchte unbedingt wissen, was er denkt. Aber als Leo die Hand auf die Türklinke legt, gerate ich bei der Vorstellung, mit Teddy allein zu sein, in Panik und beschließe, dass ich es lieber doch nicht wissen möchte.

»Willst du nicht noch ein bisschen bleiben?«, frage ich leicht gestresst. »Die Straßen sind sicher noch nicht geräumt, und du hast nicht einmal deine Brille.«

»Das schaffe ich schon.« Leo dreht sich um, stößt gegen die Garderobe, hält sich daran fest und wirft ihr im Scherz einen verwirrten Blick zu. »Teddy?«

»Gar nicht lustig«, sage ich, als er sich verbeugt. Dann winkt er uns zu und geht hinaus in den Hausflur. Und schon sind wir allein.

7. KAPITEL

Während wir in der Küche Plastikbecher in den Müllsack werfen, reden wir nicht über das, was letzte Nacht geschehen ist. Dennoch schwebt es in der Luft.

»Hier«, sagt Teddy und hebt eine Serviette auf, die ich gerade selbst ins Visier genommen hatte. Dann wirft er sie mit einem übertrieben beflissenen Lächeln in den Müllsack. »Schon erledigt.«

»Danke«, murmele ich und konzentriere mich auf eine andere Zimmerecke, doch gleich ist er wieder neben mir, folgt mir überallhin und bietet an, die einfachsten Aufgaben zu übernehmen. Er weicht mir nicht von der Seite, will helfen und übertreibt es in jeder erdenklichen Weise.

Das macht alles nur noch schlimmer.

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