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Ein besoffener Bär im Bergwerkswald

Als Buch hier erhältlich:

Finnischer Humor vom Feinsten!

Es stampft, es schnauft, es schwankt - und ganz Schweden rätselt mit: Ist es ein Elch, ein Bär oder ein Elefantenbaby? Nur Schatten sind auf dem verwackelten Handyvideo zu erkennen, das der Sohn des Bürgermeisters aufgezeichnet hat. Doch schon bald lockt das mysteriöse Waldwesen tausende Touristen in das verschlafene Provinzkaff. Endlich können die abgehängten Einheimischen auf den ersehnten Aufschwung hoffen! Jetzt muss Bürgermeister Per Danielsson nur um jeden Preis verhindern, dass die Wahrheit ans Licht kommt.

»Der zweite Roman des finnischen Autors, eine Satire voller Irrwitz und Situationskomik, aber auch mit ernstem Hintergrund, spiegelt die heutige Gesellschaft mit ihren Auswüchsen wider und nimmt sie zugleich auf die Schippe.« ekz Bibliotheksservice

»So lustig wie der Name.« Welt der Frau


  • Erscheinungstag: 03.09.2018
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959677660
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Keiner der in diesem Buch vorkommenden Charaktere basiert auf realen Personen. Beim Schreiben wurden keine Tiere verletzt. Der Leser, der die Gegend Bergslagen kennt wie seine Westentasche, wird vielleicht meinen, ein leicht verschleiertes Norberg im Text wiederzuerkennen. Das ist natürlich falsch. Die Gemeinde in unserer Geschichte ist eine völlig andere. Aber aus Zufall, oder vielleicht aus einem merkwürdigen Versehen heraus, wird der Name nicht genannt werden. Wir müssen uns damit begnügen, dass es sich um eine nicht näher benannte, verhältnismäßig erfundene Gemeinde in den schwedischen Wäldern handelt, ungefähr zwei Autostunden von Stockholm entfernt.

»Ich hab ein Buch geschrieben, das dir gewidmet ist, Yvonne.«

»Und, was kauf ich mir davon?«

Danzig, 6.9.2016

PROLOG

Der Herbst hatte sein breites Hinterteil auf die Landschaft gesetzt, in der unverkennbaren Absicht, dort hocken zu bleiben, bis ihn seine noch kühlere und ungastlichere Cousine Winter ablöste. Die tiefe Dunkelheit, die sich über den Wald gelegt hatte, löste sich ein wenig mit dem morgendlichen Licht. Es verbesserte die Sicht nicht viel, ließ aber eine kleine Lichtung erkennen, die einem Märchen entsprungen zu sein schien und auf der ein undurchdringlicher, zuckerwattedicker Nebel lag. Er war einem Weiher entstiegen, einem kleinen Gewässer, das in einen Felsspalt gezwängt war.

Hinter einem Baum auf der Lichtung konnte man einen Mann erkennen. Nervös spähte der in den zähen Nebel und zuckte zusammen, als dieser sich für einen Augenblick widerstrebend verzog. Waren es vielleicht nur die zufälligen Muster im wabernden Nebel, die seinen Augen einen Streich spielten? Nein: Da bewegte sich wirklich etwas im Wald. Sein Puls stieg, und das Visier des altmodischen Mopedhelms, das sein bärtiges Gesicht bedeckte, beschlug.

Gedämpftes Schnauben und Stöhnen näherte sich. Eine ganze Palette von Gefühlsregungen zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Nervöse Erregung, Angst, vielleicht sogar Schrecken. Er warf hastige, fast paranoide Blicke in alle Richtungen, bevor er wieder auf das Wesen starrte, das sich da im Schutz des Nebels bewegte.

Der Mann stützte eine zitternde Hand gegen den Baumstamm, während er das Visier zurechtrückte, um sein Blickfeld zu erweitern.

»Die neue Zeit … ist hier«, flüsterte er. In seinen Augen brannte ein Furor, hinter dem keinerlei religiöse Überzeugung steckte.

Ein heiseres Brüllen erhob sich aus dem Nebel. Zweige, nein, dicke Äste, zerbrachen, ein Baumwipfel erzitterte, wurde wild geschüttelt, während gespenstische, metallische, gequälte Laute auf einmal in lautes Gedröhn übergingen.

»Nein … nein!«, keuchte der Mann.

Er rannte los.

1. KAPITEL

Per Danielsson stand im zweiten Stock des Rathauses und ließ seinen Blick über die Innenstadt schweifen.

Er war Bürgermeister in der kleinen Ortschaft in Bergslagen, die dank des Bergbaus einst ein wichtiger Ort in der Region gewesen war. Hier hatten die Menschen Arbeit und eine Zukunft gefunden. Als ein Lazarett gebaut werden sollte, wurde es selbstverständlich an diesem Ort errichtet. Hierher kamen die Leute aus den umliegenden Gemeinden, um sich Kopf und Kragen retten zu lassen. Aber heute war es mit seinen gerade mal fünftausend Einwohnern einer der kleinsten Orte des Landes. Die Zukunft glänzte vor allem durch ihre Abwesenheit.

Der Erzpreis war gefallen. Die Löhne waren gestiegen. Die Kosten hatten ein höheres Niveau erreicht, während der Reichtum der Gruben langsam versiegt war. Was auch immer hier vor sich gegangen war – es war alles lange vor Pers Zeit passiert, und auf jeden Fall war es schlimm gewesen, und es wurde noch schlimmer.

Die Straßen dort unten waren verlassen. Da gab es ein paar Pizzerien, ein paar Lebensmittelgeschäfte, ein Hotel, einen Spielsalon, ein verhältnismäßig neues Spirituosengeschäft sowie eine Pension, die von Pers Frau betrieben wurde. Am Horizont konnte er den Dachfirst des leer stehenden Gewerkschaftshauses erahnen. Die Gemeinde bot noch ein paar andere Geschäfte, von denen jedes Jahr wieder einige schließen mussten, um einem weiteren ebenso hoffnungsvollen wie todgeweihten Projekt Platz zu machen, dessen größte Einkommensquelle aus den Fördergeldern des Arbeitsamts bestand. Leicht resigniert stellte Per fest, dass die Leute immer mehr im Internet kauften. Nur die Spielhölle und das Spirituosengeschäft erwiesen sich als einigermaßen robust. Spiele gab es im Internet zwar auch im Überfluss, aber die alte Garde der Bürger war konservativ und hielt an der Gewohnheit fest, ihre Ersparnisse an einem richtigen Spieltisch zu verlieren, wo sie zudem in Gesellschaft waren.

Per beobachtete, wie sich die Freizeitpolitiker nach ihrer gerade beendeten Sitzung zum Abschied zunickten, ehe sie sich in ihre Autos setzten, die sie vor dem Rathaus geparkt hatten. Zwei Enten spazierten in aller Gemütsruhe über den Marktplatz. Es sah aus, als hätte die Natur Kundschafter ausgeschickt, bevor sie demnächst wieder ganz die Macht übernähme. Die Menschen würden hier wohl nicht mehr lange bleiben.

Das alte Gewerkschaftshaus war ein Sinnbild für das Übel, das diese Gegend getroffen hatte, dachte Per. Das große, einst so prächtige Holzhaus zeugte von vergangner Größe, wie es in den Liedern immer so schön hieß. Inzwischen war sein Verfall so weit fortgeschritten, dass eine Rettung aussichtslos war. Im Internet galt es als Objekt für Liebhaber verwahrloster Gebäude. Da das Dach leckte, war der Boden im Obergeschoss so gut wie weggeschmolzen und gewaltig durchgesackt. Die Wände hingen willkürlich in der Luft, und somit war es offenbar genauso lebensgefährlich wie spannend, nachts in diesem Gebäude herumzuschleichen.

Die letzte Grube hatte Ende der Achtzigerjahre zugemacht. Immerhin war sie keines natürlichen Todes gestorben, indem sie langsam, aber sicher in Unwirtschaftlichkeit dahingesiecht war. Nein, sie hatte sich mit einem ordentlichen Knall verabschiedet: Einer der Arbeiter hatte vergessen, irgendeine Pumpe auszuschalten (oder einen Ventilator oder möglicherweise ein Ventil), und damit eine hundert Meter hohe Stichflamme verursacht, begleitet von einer Explosion, die man noch im Nachbarort gehört hatte.

Na ja, dachte Per, wenn man ehrlich war, war die Flamme vielleicht nur fünfzig Meter hoch gewesen. Oder dreißig. Es hatte sie ja niemand messen können. Aber die war schon ordentlich gewesen, darüber war man sich im Ort rührend einig. Und genau wie bei tollen Fischen, die man gefangen hat, die ja auch im Laufe der Jahre wachsen können, fand es niemand weiter bemerkenswert, dass auch die Flamme mit der Zeit ein paar Meter größer geworden war.

Die Grube war zum Zeitpunkt des Unfalls leer gewesen, sodass kein Mensch zu Schaden kam. Die allgemeine Meinung hielt es für recht und billig, wenn die Grube mit einem fulminanten krönenden Finale zugrunde ging, nachdem man hier immerhin seit dem 14. Jahrhundert von ihr gelebt hatte. Der Mann, der das Ventil, die Pumpe oder was auch immer er abzuschalten vergessen hatte, hatte sich in der örtlichen Bar so manches Bierchen ausgeben lassen, damit er die Geschichte seiner Heldentat noch einmal zum Besten gab. Jeder fand wohl, dass es den gesichtslosen Kapitalisten ganz recht geschehen war, wenn sie eins auf die Nase kriegten, denn sie hätten die Grube ein Jahr später ja sowieso dichtgemacht.

Mittlerweile krebste alles nur noch so dahin. Die Einwohnerzahl, die schulischen Leistungen, die Steuerbemessungsgrundlage.

Wobei das nicht ganz der Wahrheit entsprach, dachte Per. Auf manchen Gebieten nahm man trotz allem eine Spitzenreiterposition ein. Die Wasser- und Fernwärmeabgaben waren, wie auch die Kommunalsteuer, mit die höchsten im Land. Vor einem Jahr hatte sich sogar der Bevölkerungstrend umgekehrt – die Einwohnerzahl war um sieben Personen angewachsen. Es handelte sich um eine Großfamilie aus Mölnlycke, die aus unbekannten Gründen in den Ort gezogen war. Viele staunten über dieses Mysterium, aber niemand wagte zu fragen, denn Verrückte können ja unberechenbar sein.

Die Beamtin Eva Björk stellte sich neben den Bürgermeister und blickte ebenfalls über den Ort. Beide waren schon über fünfzig und leicht ergraut. Aber fünfzig war ja das neue vierzig. Oder? Irgendwas musste es sein, denn vierzig war ja schon das neue dreißig. Sonst wären sie ja irgendwo um was betrogen worden.

Per seufzte. »Jeppson war gestern in der Pension. Die verlagern die Produktion nächstes Jahr nach Ungarn. Das steht jetzt fest.«

»Da fallen siebzehn Arbeitsstellen weg«, bemerkte Eva resigniert.

Jeppson war Inhaber einer lokalen Firma, die Regenrinnen anfertigte. Wie sich herausgestellt hatte, produzierten die Ungarn zu einem unschlagbaren Preis, sogar alle Arbeiten mit verzinktem Blech.

Verdrossen wandte Per sich vom Fenster ab und räumte den Konferenztisch ab.

»Und diese Firmenmesse?«, fragte Eva weiter. »Hat sich da was ergeben?«

Wenn der Ort Rom war, dachte sie, und der wirtschaftliche Niedergang der Brand, dann war Per, der auf Steuerzahlerkosten zu Firmenmessen fuhr, ihr höchsteigener Nero mit der Geige.

Aber nein, das dachte sie natürlich nicht so.

Nero spielte gar nicht Geige, während Rom brannte, in erster Linie deswegen, weil es die damals noch gar nicht gab. Und Per tat gewiss sein Bestes. Es war eben nur alles so hoffnungslos. Sie saß mit einem riesigen geerbten Hof da, der teuer im Unterhalt war und an allen Ecken und Enden dringend renoviert werden musste, während sein Wert auf dem Immobilienmarkt der reinste Witz war. Und zwar so ein ironischer, böser Witz, dass man nicht so wirklich drüber lachen konnte.

»Ja, das war schon ganz nett. Ich hab mehrere Leute getroffen, Vertreter von verschiedenen … Also, unter anderem einen Deutschen, der von Elchscheiße redete.«

»Elchscheiße?«

»Ja. Kannst du dir so was vorstellen?«

»Als Dünger?« Das konnte wirtschaftlich wohl nicht so richtig effektiv sein, dachte Eva. »Oder als Alternativmedizin oder was?«

»Nein, eingeschweißt quasi, als Souvenir. Aber ich weiß nicht – wie groß kann der Markt für so was wohl sein?«

»Auf jeden Fall schon mal größer als überhaupt kein Markt?« Es war so, als würde man versuchen, einen nutzlosen Hof zu verkaufen, dachte sie.

»Vielleicht hast du recht. Aber die Deutschen haben ein besseres Angebot bekommen – aus … Hagfors war es, glaub ich. Die haben gleich noch fünfundzwanzig Elchwarnschilder als Bonus oben draufgelegt. Dafür hatte ich einfach nicht das Budget. Die sind sauteuer. Die Deutschen machen Campingtische aus den Dingern.«

Per musterte einen Augenblick das große Kunstwerk aus geschnitztem Holz, das an der Wand hing. Einer der Söhne der Gemeinde, ein bekannter Künstler aus der Arbeiterbewegung, hatte einst das beeindruckende Panorama der Bergbaugegend angefertigt, das fast eine ganze Wand im Konferenzraum einnahm. Der Künstler war inzwischen genauso tot wie der Bergbau im Ort, und die Kunst, mit der man sich heutzutage beschäftigte, sah meistens aus wie illegales Graffiti. Vielleicht war das ja auch große Kunst? Dazu wollte sich Per keine Meinung anmaßen, das war nicht seine Sache. Nur machte er sich so ab und zu seine Gedanken, dass seine politische Tätigkeit später einmal mit dem allgemeinen Niedergang und Verfall in Verbindung gebracht werden würde. Dass sie im gleichen Kontrast zum Goldenen Zeitalter der Gemeinde stehen würde wie diese genuine Holzarbeit zu den nicht entzifferbaren Tags, die die Bushäuschen zierten, um die die Glasscherben verstreut lagen wie nachlässig verteilte Streusel.

»Und, irgendwelche neuen Unternehmen?«, fragte er Eva, in dem Versuch, von seinen düsteren Gedanken wegzukommen.

»Tja … Silas hat da gerade irgend so ein Projekt, für das er Förderung beantragt hat.«

»Ach ja?«

»Ich hab mich einfach mit dem Haushaltsdefizit rausgeredet«, sagte sie. Sie war froh, dass das auch mal zu was nütze war.

»Rausgeredet? Na, das Defizit musstest du dir ja weiß Gott nicht ausdenken.«

»Nein. Hat Reagan nicht mal so was gesagt, dass das Haushaltsdefizit mittlerweile so groß ist, dass man es sich selbst überlassen kann?«

»Ich weiß nicht.« Per überlegte. »Aber auch wenn er es nicht gesagt hat, es hätte auf jeden Fall zu ihm gepasst. Was für ein Projekt hat Silas denn da am Laufen?«

»Das ist wohl irgendein … Apparat oder so was. So ein Ding, das er bauen will.«

»Ein Ding. Na, ein Ding könnten wir schon brauchen.«

»Zum Zapfensammeln.«

»Um … was zu tun?«

»Wie meinst du jetzt?«

»Na ja, was soll man dann mit den Zapfen anfangen, die dieses Ding gesammelt hat? Wozu sollte es überhaupt Zapfen sammeln?«, fragte Per.

»Das war mehr oder weniger das, wofür er dann das Fördergeld haben wollte. Dass er sich ausdenken kann, was er mit den Zapfen machen soll, wenn das Ding sie gesammelt hat.«

»Tja, das wäre schon Beschäftigung für so einige Menschen. Sich da was zu überlegen.«

»Vielleicht einen lokalen Wein?«

Per hielt inne.

»Fichtenzapfenwein?« Er klang nicht überzeugt.

»Ja. Oder von der Kiefer. Zwei Geschmacksrichtungen. Ich weiß nicht, ich trink ja keinen Wein. Ist das eine wahnsinnige Idee?«

»Ich trink auch keinen Wein. Aber doch, ist schon eine Idee.«

»Auch wahnsinnig genug, um zu funktionieren?«

»Ich würde sagen, noch wesentlich wahnsinniger. Aber vielleicht würden sich ja Baumschulen für die Samen interessieren?«

»Ja, müssten sie. Obwohl dieser Apparat die Zapfen ja vom Boden aufhebt. Da sind die Samen dann ja schon rausgefallen.«

»Irgendwie schon, ja.«

Silas Enberg war ein lokaler Erfinder und Denker mit einem beeindruckend kreativen Geist. Nur leider fehlte ihm jeglicher kommerzieller Instinkt. Per verzog das Gesicht. Er hatte immer noch den Geschmack des Brotes auf der Zunge, das Silas einmal gebacken hatte, mit Kaffee statt Wasser. Der Hintergedanke war der, dass man morgens Zeit sparen sollte, indem man Kaffee und Frühstücksbrot gleichzeitig zu sich nahm. Der Gedanke war ja gut, das Brot aber leider nicht.

Er seufzte, trat wieder ans Fenster und blickte über den Ort, den ihm die Bewohner zur Verwaltung anvertraut hatten. Sie hatten ihr Vertrauen in ihn gesetzt, was konnte er jetzt tun?

»Es sieht unbestreitbar so aus, als würden alle … Wie soll ich es sagen?« Als Politiker musste er seine Worte sorgfältig wählen. »Als würden alle nicht geisteskranken Unternehmen diesen Ort meiden.«

»Ja, das ist schon komisch.«

Sie standen nebeneinander am Fenster. Sie betrachteten ihre Gemeinde mit demselben Blick, mit dem man auch den treuen alten Hund anschaut, der ein Teil der Familie geworden ist, mit dem man aber trotzdem den letzten Gang zum Tierarzt antreten muss.

2. KAPITEL

Pers Frau hieß Maja. Sie arbeitete als Kunsthandwerkerin, genauer gesagt machte sie Töpferarbeiten. Sie stellte Gefäße her, die ästhetisch ansprechend, originell und funktional waren, und oft ziemlich farbenfroh. Mal fertigte sie ein Kaffeeservice oder Kuckucksflöten, mal große Pizzateller oder fantasievolle Aschenbecher.

Sie besaß großes Geschick für das, was sie tat. Aber Kleinunternehmer in entvölkerten Landstrichen brauchen oft ein Nebeneinkommen, um wirtschaftlich überleben zu können. Deswegen betrieb sie nebenher die kleine Pension, die die Familie Danielsson in einer alten Schule eingerichtet hatte. Das Gebäude hatten sie damals billig erworben, nachdem die Schule aufgrund sinkender Schülerzahlen hatte schließen müssen. Um finanziell zurechtzukommen, waren die Danielssons auch gleich darin eingezogen.

Doch im Laufe der Zeit nahmen Majas Töpferwaren immer mehr Raum ein, sowohl im Haus als auch in der Pension, wobei die Führung Letzterer mehr Zeit beanspruchte als das Töpfern. Die Produktion hatte den Verkauf lange überstiegen, weswegen sich das Aufstellen der Stücke an »verkaufsträchtigen« Stellen in der Pension zu einem komplizierten Schachspiel entwickelt hatte, in dem Per fast jeden Tag unerwartete und kreative Schachzüge zu sehen bekam – auch wenn nichts Neues produziert und nichts Altes verkauft worden war. Das war nicht Majas handwerklichen Fähigkeiten zuzuschreiben, sondern dem Umstand, dass die der Zahl die Gäste, die sie hätten kaufen können, verschwindend gering war.

Als Per nach Hause kam, war Maja in irgendwelchen Papierkram vertieft.

»Hallo! Na, wie war eure Besprechung?«

»Na ja, ziemlich … Sie war deprimierend.«

»Also wie immer.«

»Im Großen und Ganzen, ja.«

»Wie gut, dass wir bald hier wegziehen.«

Die Partei hatte Per signalisiert, dass er nächsten Herbst vielleicht auf einen Sitz im Reichstag hoffen konnte. Freilich konnte man schlecht spekulieren, wie die Meinung in einem Jahr aussehen würde, und er musste seine Karten jetzt richtig spielen. Doch man hatte ihm zu verstehen gegeben, dass er im Gespräch war und gute Chancen hatte, was er so interpretierte, dass er einfach weitermachen sollte wie bisher und größere Fehler vermeiden. In Debatten war er deshalb inzwischen doppelt vorsichtig, denn so ein verbaler Ausrutscher passierte schnell mal. Und wenn dieser dann im Netz landete, war es vorbei, denn das Internet war grausam. Das Internet vergaß nichts und verzieh nichts. Sollte das Internet einem jemals noch die andere Wange hinhalten, dann war es sicher nur die Arschbacke, da war Per ganz sicher. »Aber es fühlt sich wirklich so an, als würden wir Verrat begehen. Ich meine – wieder eine Familie, die einfach abhaut«, meinte er.

»Es war nicht unsere Schuld, dass du das Angebot bekommen hast. Du hast nicht darum gebeten. Und die Pension steht mittlerweile nur noch leer.«

»Ja. Oder nein.«

»Und du kannst von dort ja auch Einfluss nehmen und dich für die verlassenen Landstriche einsetzen. Wir brauchen jemanden da unten in Stockholm, der wirklich weiß, wovon er spricht und wie es uns hier geht.«

»Stimmt.«

»Ach, apropos: Wir haben eine Reservierung reingekriegt! Drei Personen. Nächste Woche.« Maja trommelte vergnügt mit dem Stift auf ihr Rechnungsbuch.

»Echt? Das können doch noch keine Elchjäger sein, oder? Sind es Touristen?«

Nachdem er das gesagt hatte, fiel Per selbst auf, wie lächerlich es klang. Touristen schienen ihren Ort zu meiden wie die Pest.

»Nein, das sind die Leute, die den Kalhällgård abreißen sollen.«

»Was sollen sie abreißen?«

»Anscheinend hat jemand den Hof gekauft. Sie tragen ihn Stück für Stück ab und bauen ihn irgendwo anders wieder auf.«

»Aber das ist doch das älteste Haus im ganzen Ort.«

»Tja, hättet ihr mal unter Denkmalschutz stellen sollen. Jetzt ist es zu spät.«

»Für so was ist kein Geld da. Dann muss die Gemeinde herhalten und den Unterhalt zahlen. Was soll denn danach daraus werden?«

»Na ja, da wird wohl eine Leerfläche zurückbleiben, oder? Oder was meinst du jetzt?«

Per ließ sich resigniert auf einen Stuhl plumpsen. Selbst wenn man meint, den Boden erreicht zu haben, überrascht einen dieser manchmal, indem er auch noch unter einem wegbricht.

Am Samstag darauf fuhren die Danielssons raus ins Grüne. In Mårgårda, einem Waldgebiet etwas außerhalb der Ortschaft, konnte man wunderbar Pilze sammeln. Es war vielleicht ein bisschen überraschend, dass auch ihr fünfzehnjähriger Sohn Emil dabei war. Normalerweise kam er auf solche Ausflüge nicht mit beziehungsweise mochte es generell nicht, wenn er seinen Computer verlassen sollte. Natürlich hatte er zum Ausgleich ein Smartphone dabei, er war ja schließlich kein Wilder.

Nach anfänglichem respektablem Einsatz, bei dem er den Boden eines Eimers mit Pilzen bedeckt hatte – von denen der eine oder andere sogar essbar war – war Emil der Sache überdrüssig geworden und hatte angefangen, an seinem Handy rumzufummeln. Er schrieb und empfing irgendwelche Textnachrichten, während gleichzeitig ein Spiel wie Candy Crush (oder etwas ähnlich Piepsendes und Flimmerndes) lief. Langsam brach die Abenddämmerung an.

»Dann gehen wir mal nach Hause, oder?«, schlug Maja vor. »Wir können die Pilze ja kaum noch erkennen.«

»Ich muss noch zu Henrik. LAN-Party«, bemerkte Emil sachlich.

»LAN-Party? Was meinst du, was das heißen könnte?«, fragte Per seine Frau.

»Keine Ahnung. Aber es ist bestimmt wichtig.«

Die beiden wussten natürlich, dass er sich dazu bei einem Freund traf und sie zusammen Computer spielten. Aber sie übertrieben gerne, wie altmodisch sie im Gegensatz zu ihrem Sohn waren, damit seine Teenagerrebellion nicht so extrem ausfiele wie bei anderen Jugendlichen.

Man könnte sagen, dass sie aus Erfahrung klug geworden waren. Ihre Tochter Mira, das Marzipanröschen der Familie und Emils große Schwester, war militante Veganerin geworden. Sie war zwar sonst eine verhältnismäßig nette Jugendliche, aber dank ihr wurde die Zubereitung der Familienmahlzeiten ziemlich stressig. Alles musste pflanzlich sein, bio, mit Fair-Trade-Siegel und am besten handgepflückt von einem peruanischen Bauern mit eigenem Grundbesitz.

Maja stand auf und schlug nach einer Mücke. Per reckte sich und stemmte eine Hand in den Rücken.

»Schaut mal!« Er deutete über die Lichtung auf den nächsten Weiher, einen von vielen in der Gegend. »Ist das schön.«

»Pah«, schnaubte Emil.

»Eins kann ich dir versichern, in anderen Gemeinden bezahlen die Leute Unsummen für Seegrundstücke. Ganz zu schweigen von den Deutschen, die haben ja fast keine Seen. Die erzählen ihren Kindern Märchen über Seen, so wie wir in Schweden Märchen von Prinzessinnen und Drachen erzählen.«

»Es gibt keine Drachen in Schweden.«

»Nein, aber Prinzessinnen. Mehrere. Ungefähr so viele, wie Deutschland Seen hat, und damit ist die Analogie völlig korrekt.« Per seufzte. »Ich kapier ja nicht, warum die Leute auf die Kanaren fliegen und sich da gegenseitig auf die Füße treten müssen, wenn sie stattdessen hier Urlaub machen können. Es ist billiger. Besser. Und …«

»Die fliegen dorthin, um zu saufen, die Sau rauszulassen und sich zu sonnen. Und Mücken gibt’s da unten auch keine«, erklärte Emil und klatschte sich in den Nacken, ohne den Blick von seinem Handy zu nehmen.

Maja trat neben ihren Mann, legte ihm den Arm um die Hüfte und schaute auch auf den Weiher hinab. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter. Die kleine Lichtung, auf der sie standen, hatte fast etwas Disney-artiges.

»Es ist wirklich schön.«

Stille. Das Summen eines Insekts. Eine Wasseroberfläche, die ganz leicht von einem Fisch gekräuselt wird.

Sie dachten sich, wie schön das Leben doch war. Dass sie sich liebten. Trotz aller Fehler, Mühseligkeiten und Meinungsverschiedenheiten hatten sie letztlich doch eine tolle Familie. Und die Gemeinde, in der sie wohnten, war ein schöner Ort. Er wurde nur seltsam unterschätzt von der Unternehmerschaft des Landes, oder der ganzen Welt. Und von den Touristen. Eigentlich von der Menschheit ganz allgemein, konnte man sagen.

Während sie sich gegenseitig aufzubauen versuchten, bevor sie in die Großstadt umzogen, hatten sie beide tatsächlich um einiges enthusiastischer geklungen, als sie wirklich waren. Per war überhaupt nicht überzeugt, dass es nur gut war, so eine schöne Gegend zu verlassen. Nötig vielleicht, aber nicht gut.

Als sich ihre Gedanken schließlich so ineinander verschlungen hatten wie zwei Kletterpflanzen, die ihr Gegenüber mit einem stabilen Baum verwechselt hatten, wurden sie von ihrem Sohn unterbrochen. »Schaut mal da …«, flüsterte Emil.

Per schüttelte den leichten Trancezustand ab, der ihn angesichts der Wunder der Natur befallen hatte. Ihr Sohn hatte seinen Blick vom Handy losgerissen, es musste also etwas wirklich Außergewöhnliches passiert sein.

»Da drüben ist ein Elch.«

»Was? Wo?«

Die Eltern schauten in die Richtung, in die Emil zeigte. In den letzten Minuten war es viel dunkler geworden, und im ersten Moment konnten sie nichts erkennen. Dann hörte man Zweige und Baumtriebe knacken, als sich etwas näherte. Etwas Großes. Der König des Waldes.

»Das«, flüsterte Per begeistert, »ist jetzt ein richtig echtes Naturerlebnis! Passt gut auf und genießt es. Für so was würde ein Deutscher blechen, dass ihm die Euros nur so aus den Ohren purzeln! Auf dem freien Markt wäre das mehrere Tausender wert. Denk dran«, sagte er zu seinem Sohn, »wenn Weihnachten kommt.«

»Ach, das denkst du dir doch bloß aus!«

»Überhaupt nicht! Die Deutschen sind besessen von Elchen. Wisst ihr, dass die sich Elchscheiße einschweißen?«

»Wozu das denn?«

»Na ja, damit sie nicht so stinkt, würd ich sagen, oder?«

»Die laufen im Wald rum und sammeln Elchscheiße zum Einschweißen? Damit sie nicht so stinkt? Ich glaube, du hast ein sehr komisches Bild von den Deutschen und ihren Beschäftigungen.« Maja wollte ja nicht so sein, aber diese Behauptung konnte sie nun wirklich nicht ganz unkritisch stehen lassen.

»Pscht!«

Hinter einem Dickicht kam etwas Dunkles, Großes hervor. Es schaukelte von einer Seite auf die andere, warf den Vorderkörper vor und näherte sich schnaubend und prustend. Per erstarrte. Das war kein Elch.

»Das ist ein Bär.«

Er fasste seine zwei Familienmitglieder und zog sie langsam hinter sich, um sie zu schützen.

»Was soll man noch mal machen, wenn sich ein Bär nähert?«

Per spürte seinen Pulsschlag bis in die Lippen. Was hier passierte, war überhaupt nicht gut.

»Man sollte nicht zwischen die Bärin und ihre Jungen kommen«, flüsterte Maja fast unhörbar.

»Ha!«, rief Per, in der Hoffnung, das Tier zu verscheuchen.

»Soll man sich nicht tot stellen?«

»Oder man stirbt, wenn man sich so aufführt wie Papa und nicht davonrennt«, meinte Emil, der hartnäckig weiter auf seinem Smartphone herumtippte. Per konnte nur hoffen, dass er googelte, was man in so einem Notfall zu tun hatte.

Das Tier näherte sich mit seltsam pendelnden Bewegungen, wobei es immer wieder zornig schnaubte. Jetzt wurde Per klar, dass die Situation noch schlimmer war als gedacht. Der Bär war verletzt. Angeschossen. Es konnte nicht anders sein, seine Bewegungen waren zu unnatürlich. Wahrscheinlich hatte ihn irgendein ebenso verantwortungs- wie gewissenloser Wilderer erwischt, woraufhin das Tier jetzt auf die Welt im Allgemeinen und auf die Menschheit im Besonderen wütend war. Die Natur, auf die Per eben gerade noch sein himmlisches Loblied gesungen hatte, drohte jetzt plötzlich ihre Hölle zu werden.

»Ist er krank?«, fragte Maja, die wie angewurzelt hinter Per stand.

War er wohl so übel zugerichtet, dass sie davonrennen konnten? Auf einen Baum klettern kam nicht infrage, denn Bären waren ja als erstklassige Kletterer bekannt.

Wenn das Tier einen von ihnen angriff, würden die anderen beiden davonkommen. Per hatte nicht vor, sich auf einen von altnordischer Epik inspirierten heroischen Nahkampf einzulassen, beschloss aber auf jeden Fall, am langsamsten zu laufen, in der Hoffnung, damit immer noch schneller zu sein als der verletzte Bär.

Die Dunkelheit ließ das Tier noch furchterregender erscheinen. Hätte es sich nicht so merkwürdig bewegt, wäre es schwer gewesen, es überhaupt zu erkennen.

»Also, ich renn jetzt weg«, verkündete Emil. »Der Bär ist scheißwütend!«

Wie auf ein Signal rannten sie alle drei gleichzeitig Richtung Auto. Keine Sekunde zu früh. Hinter sich hörten sie, wie sich der Bär in wilder Raserei über ihre Pilzsammeleimer hermachte.

Der Lauf zurück auf dem schmalen Pfad verlangte Per alle Selbstdisziplin ab. Es war nicht ganz leicht, den Fluchtreflex zu unterdrücken und seine langen Schritte so zu zügeln, dass er die beiden vor sich nicht umrannte. Das Tier konnte ihm jeden Moment von hinten einen Tatzenhieb verpassen und ihn umwerfen, bevor es ihm mit seinen Kiefern den Rest gab. Aber Per behielt stoisch seine Position als Letzter bei.

Sein Herz hämmerte, er atmete keuchend und rannte hektisch und mit lauten Schritten. Deswegen konnte er auch schlecht hören, ob ihnen das Tier auf den Fersen war oder nicht. Bären sind ja ein Teil der Natur – Tier zu sein ist ihr Beruf. Jeder professionelle Bär muss sich daher schnell und lautlos durch den Wald fortbewegen können. Dass Per dessen Bewegungen nicht hören oder die Wärme seines stinkenden Atems nicht im Nacken spüren konnte, war also keine Garantie dafür, dass er sich nicht doch direkt hinter ihnen befand. Bären hatten sicher noch den einen oder anderen Ninja-Trick im Ärmel, da war er ganz sicher.

Keuchend erreichte die Familie das Auto. Per schloss auf, und sie stürzten hinein. Die Türen wurden zugeknallt, die Zentralverriegelung schloss sich mit einem Klicken.

»War das wirklich ein Bär?«

»Was denn sonst?«

Sie hörten, wie in der Dunkelheit des Waldes Zweige knackten – da war etwas unterwegs. Ein Etwas mit gebleckten Zähnen, bösartiger Laune und einer offenen Rechnung mit der Menschheit.

»Vielleicht sollten wir lieber abhauen, bevor wir es herausfinden!«, rief der sonst recht phlegmatische Emil vom Rücksitz.

Aber sobald die Türen nun ordnungsgemäß und nach allen Regeln der Kunst verriegelt waren, sobald Per den Schlüssel ins Zündschloss gesteckt hatte und der Motor wirklich angesprungen war, als die Scheinwerfer angingen und einen Tunnel in die Dunkelheit warfen, der ihnen den Weg zurück in die Geborgenheit der Zivilisation wies, wurden sie innerhalb von Sekundenbruchteilen von dem furchterregenden Urerlebnis, ein Beutetier zu sein, wieder ins ruhige, beherrschte und kontrollierte moderne Leben zurückversetzt.

Per verspürte den Impuls, noch zu bleiben. Er wollte das Tier aus dem Wald stürmen sehen, auf die Straße. Bevor sie wegfuhren, wollte er dem Blick des Bären begegnen. Aber nicht, um zu triumphieren und zu unterstreichen, dass sie gesiegt hatten, sondern weil zwischen ihnen ein seltsames Band entstanden war. Der Bär jagte sie nicht, weil er böse war. Der Bär war ein Bär.

Bei näherer Überlegung erkannte Per, dass dabei ihr Auto beschädigt werden könnte, was am Ende noch eine teure Lackierung nach sich ziehen würde. Die reine, unverfälschte Todesangst hatte sich prompt in die Sorge um Selbstbeteiligung und Schadenfreiheitsrabatt verwandelt. Aber das sind ja ebenfalls ernste Fragen. Per fuhr davon.

»Das war …« Er lachte kurz auf und schüttelte ungläubig den Kopf. »Das war ja surreal.« Sein Puls beruhigte sich wieder, das einzige, was das Erlebnis hinterlassen hatte, waren die Erinnerung und der stechende Panikschweiß unter den Achseln.

Und einen Film, wie sich herausstellte.

Als Per glaubte, dass Emil auf Wikipedia nach dem entscheidenden Trick suchte, eine Familie vor einem rasenden Bären zu retten, nach raschen Methoden für geschickte Menschen, Blutungen aus offenen Pulsadern zu stillen und Schädelbrüche provisorisch zu fixieren, hatte er stattdessen mit dem Rückenmarksreflex des modernen Menschen das Tier gefilmt. Denn wo man früher handelte, Feuer löschte, Säuglinge über Wasser hielt oder Wiederbelebungsmaßnahmen ergriff, reagierte man heute nicht weniger instinktiv damit, dass man die Ereignisse mit seinem Handy filmte. Und das ist ja auch nicht weiter überraschend. Könnte ja sein, dass eine Boulevardzeitung den Clip kaufen will, und dann wird man weltberühmt, fünfzehn Minuten lang und im ganzen Internet.

O tempora, o mores, wie alte Männer seit Ciceros Zeiten ausgerufen haben.

3. KAPITEL

Emil streckte sein Smartphone zwischen den Vordersitzen hindurch und zeigte seinen Eltern, was er gefilmt hatte. Die Aufnahme war nicht besonders gut, die Verhältnisse waren nicht die besten gewesen. Was man sah, war im Grunde nur ein dunkler Klumpen. Man hörte zwar das wütende Schnauben zwischen ihren eigenen erschrockenen Rufen, aber was den Film rettete, war Emils wacklige Kameraführung, durch die das Tier zwar stellenweise aus dem Bild geriet, die aber überraschend gut den dramatischen Charakter des Erlebnisses einfing.

»Der muss sich an vergorenem Fallobst einen Rausch geholt haben. Deswegen benimmt er sich so komisch«, tippte Maja.

»Ich glaube, er war verletzt«, meinte Per. »Vielleicht angeschossen.«

Schweigend fuhren sie eine Weile dahin. Emil schaute seltsam fasziniert immer wieder seinen Film an. Als sie jetzt in Sicherheit waren, dachte sich Per, dass das Erlebnis für ihren Sohn vielleicht ganz gut gewesen war. Bei dieser ganzen Cybergewalt, in der die Jugend von heute mariniert wird, war es vielleicht doch ganz gut, wenn nicht sogar richtig lehrreich, wenn er ein bisschen ins Nachdenken gebracht wurde. So konnte echte Gewalt aussehen. Und das war kein schöner Anblick, daran war nichts Unterhaltsames.

Trotzdem schien Emil es tatsächlich unterhaltsam zu finden, und bald hatte er seinen Clip zehn Mal angeschaut.

»Ich glaube, davon erzählen wir lieber niemand, oder?«, schlug Per vor.

»Warum nicht?«, fragte Maja.

»Es ist vielleicht dumm von mir, aber … Na ja, das Bild, das ich dann in den Medien abgebe. Als Politiker sollte man ja am besten gar nicht in irgendwelche seltsamen Vorfälle verwickelt werden.«

»Wie meinst du das?«

»Ein Reichstagskandidat, der von einem angeschossenen Bären gejagt wird. Wenn es gerade nichts Nennenswertes zu berichten gibt, kann ein Chefredakteur durchaus finden, dass man daraus eine lustige kleine Nachricht machen kann. Die Leute würden sich hinterher aber nur noch dran erinnern, dass da irgendwas mit mir und einem angeschossenen Bären passiert war. Hab ich da gewildert, oder wie war das noch gewesen? Und so weiter.«

»Jetzt übertreibst du aber, meinst du nicht?«, sagte Maja.

»Vielleicht. Aber es kann nicht schaden, vorsichtig zu sein. Es ist wichtig, in den Medien ein klares Bild abzugeben. Ein ganz klares Bild. Und dieser Vorfall hier hat etwas sehr Undeutliches.«

»Tatsächlich? Ich fand den Bären ziemlich deutlich.«

»Ja, aber es ist ja trotzdem unklar, was eigentlich passiert ist. War es wirklich ein Bär? Da herrscht eine nicht ganz unwesentliche Unklarheit. Und Unsicherheit ist nie gut, wenn man in den Reichstag will. Da kann man nicht plötzlich Wichtel und Trolle im Wald sehen, verstehst du?«

»Jetzt wirst du aber wirklich langsam paranoid, oder?« Maja musterte ihren Mann leicht skeptisch.

»Ja«, sagte Emil, »und ist das gut, wenn man einen Sitz im Reichstag will?«

»Das ist keine schlechte Eigenschaft. Denk an Stalin. Das war ein Mann, der seine Paranoia ernst genommen hat, und der hat es bis ganz nach oben geschafft.«

In dem Moment, als er es gesagt hatte, bereute Per es auch schon wieder. Genau solche unbedachten Witze musste er sich abgewöhnen, wenn er demnächst eine Rolle in den Medien spielte und jeder mit einem kleinen Aufnahmegerät in der Hosentasche rumrannte. Mittlerweile musste nur ein verirrter kleiner Kommentar irgendwie in die Weiten des Internets geraten, und schon war alles vorbei.

Per warf einen raschen Blick zum Rücksitz, um festzustellen, ob Emil seinen Stalin-Kommentar aufgenommen hatte, doch er war beruhigt, als er sah, dass sein Sohn völlig mit dem Video beschäftigt schien.

»Aber ich hab den Bären doch auf Film, oder?«

»Ja, und?«

»Dann gibt es ihn auch wirklich. Pictures or it didn’t happen – das weiß doch jeder. So war das schon immer. Aber das hier ist passiert.« Emil zeigte auf das Display. »Das sieht man ja hier.«

»Du hast einen Film mit einem betrunkenen Bären. Das hast du.«

»Ja, aber so was haben doch sicher nicht viele, oder? Wenn man sich ein paar nette Sprechblasen ausdenkt und lustige Musik einspielt, könnte das auf Youtube schon funktionieren.«

»Also wirklich, Emil …«

»Ja, denk doch mal nach!«, mischte Maja sich ein.

»Was denn?«

»Du hast einen Schatten, der sich bewegt, und den schnaubenden Bären. Wenn du Musik einspielst, verschwindet doch der Ton, und dann hat man überhaupt keine Ahnung mehr, was das sein soll. Oder?«

»Stimmt schon. Aber wenn man ihn ›Bear on beer‹ betitelt oder so? Dann kapieren die Leute das doch, oder nicht? Das ist echt supercool.«

Per ließ die beiden über Filmkunst diskutieren, während er selbst über Majas Theorie nachdachte, dass der Bär sich an vergorenen Beeren oder Fallobst berauscht haben könnte. Das war besser als sein erster Gedanke, dass das Tier von einem Wilderer angeschossen worden sein könnte. Denn bei Majas Variante wurde kein Verbrechen begangen. Und wenn ihre Tochter etwas von einem verletzten Bären im Wald hörte, würde sie zusammen mit der örtlichen Abteilung der Tierschutzorganisation, in der sie sich engagierte, Himmel und Hölle in Bewegung setzen, damit das Tier ärztlich versorgt wurde, ohne jede Rücksicht auf ihre eigene Sicherheit. Hatte der Bär jedoch nur einen wohlverdienten Kater, würde sie sicher mit ihm leiden, ihn aber letztlich doch sich selbst überlassen.

»Der ist ja total besoffen«, sagte Emil bewundernd. Er konnte den Blick nicht von seinem Handy losreißen, sein Gesicht wurde vom Licht des Displays beleuchtet. »Wie bei der Schulabschlussfeier, als …« Er verstummte.

»Als was?«, bohrte Maja alarmiert nach und hob den Kopf, um ihn im Rückspiegel anzusehen.

»Nichts, nichts, da war bloß ein Freund, der hat erzählt, dass sein Vater …« Er zuckte mit den Schultern.

Ihr Sohn sank wieder auf dem Sitz zusammen und konzentrierte sich voll auf seinen Film. Per fuhr auf die Überlandstraße. Gleich waren sie wieder zu Hause. Das war auf jeden Fall ein Vorteil des Landlebens: Auch wenn die Distanzen manchmal größer waren, kam man doch schneller voran, weil sich einem nicht überall Leute in den Weg stellten, die alle eine U-Bahn nach Rågsved erwischen mussten oder so was.

»Wie gesagt, es rentiert sich nicht, mit so einer Sache auf sich aufmerksam zu machen. Ein betrunkener Bär. Das klingt doch wie ein Zirkustrick. Das ist ganz einfach nicht seriös.« Per rückte den Rückspiegel zurecht und blickte auf die dunkle Masse von Wald, die sie hinter sich gelassen hatten und in der jetzt das unglückliche Tier sein Leid beklagte. »In einer Studie wurde festgestellt, dass die Leute sehr wenig Vertrauen in Spinner haben, hab ich neulich gelesen.«

»Wirklich?«

»Ja. So diskriminierend und hart sieht die Wirklichkeit aus. Also behalten wir das Ganze am besten für uns, ja?«

»Ein betrunkener Bär?«, echote Eva am Montagmorgen im Büro, als die beiden vor der Kaffeemaschine standen.

»Ja. Der muss irgendwie vergorene Äpfel gefressen haben oder so was«, erklärte Per. »Elche können auch betrunken werden. Richtig tollkühn werden die dann. Ich hab mal ein Video von einem Elch gesehen, der versucht hat, auf einen Apfelbaum zu klettern und dabei stecken geblieben ist. Muss der nachher einen Kater gehabt haben! Und im Fernsehen gab es eine Sendung über Bienen, wenn die ihre Bauarbeiten am Bienenstock abgeschlossen haben, dann wird keine mehr reingelassen. Dann fliegen sie stattdessen durch die Gegend und fressen verschiedene vergorene Beeren und dann sind sie stockbesoffen und …«

Eva musterte ihn zweifelnd.

»Ganz im Ernst. Im Naturprogramm vom Schwedischen Fernsehen kam das. Der Rausch kommt in der Natur anscheinend öfter vor, als man denkt. Man hört nur nicht so viel davon, weil die Tierwelt das so elegant löst. Allerdings hab ich auch schon von einem Bären gelesen, der auf einem Campingplatz eingefallen ist, sechsunddreißig Bier getrunken hat und eingeschlafen ist. Das war natürlich nicht so elegant.«

»Sechsunddreißig Bier?«

»Ja. Dosenbier. Kein Witz. Interessanterweise hat er eine ganz bestimmte Marke ausgesucht. Es gab auch noch billigeres Bier, aber das hat er nur gekostet und dann links liegen lassen. Wahrscheinlich wusste er, von welchem er keinen Kater bekommt. Als sie ihn verjagen wollten, kletterte er auf einen Baum und blieb vier Stunden dort sitzen. In den USA ist das passiert.«

Per schaute Eva an und meinte einen gewissen Argwohn in ihrem Blick zu entdecken.

»Du kannst es ja nachlesen, wenn du willst. Baker Lake Resort hieß der Ort, wo das passiert ist.«

»Wenn du das sagst. Aber hör mal, ich hab drüber nachgedacht, was wir am Freitag besprochen haben.«

»Was denn?«

»Was man hier anfangen könnte. In unserem Ort.«

Per war aufrichtig neugierig, was für eine Lösung es für ihr Problem geben könnte – und sei sie auch noch so theoretisch – die ihm noch nicht eingefallen wäre. Denn er hatte wirklich das Gefühl, mittlerweile jeden Stein umgedreht zu haben. Die Kommunalsteuer noch weiter zu erhöhen war auch keine Alternative.

»Wenn man einfach aufgeben würde? Die ganze Gemeinde aufgeben?«, sagte Eva.

»Was?«

»Man stellt an der Landstraße ein Schild auf, mit der Aufschrift ›Geschlossen‹. Und dann machen wir hier dicht.«

»Das kann man doch nicht machen.«

»Warum nicht?«

»Na, also ein gewisses Vertrauen in die Zukunft muss man doch haben, oder?«

»Muss man das?«

»Ja.«

»Wer sagt das?«

Per überlegte. Ja, wer sagte das eigentlich? Warum konnten sie nicht einfach dichtmachen, wenn alles schon völlig hoffnungslos war? Es hatten schon größere Orte das Handtuch geworfen. Detroit in den USA zum Beispiel. Mit welchem Recht bildeten sie sich eigentlich ein, dass ihre kleine Gemeinde besser war als diese einst so mächtige Industriestadt?

»Denn es geht eben nicht mehr. Das ist einfach so. Und das ist eine Tatsache, keine Meinung.«

Per drückte noch einmal auf die Kaffeemaschine. Warum kam da kein Kaffee raus, was war los mit dem Ding? Eva hatte so eine Technik, leicht horizontal mit dem Zeigefinger über den Knopf zu fahren. Er musste mit beiden Daumen drücken und mit Gewalt die Flüssigkeit aus der Maschine pressen, als würde er eine widerspenstige Orange schälen. Er drückte, bis ihm die Daumen wehtaten. Jetzt stand »Filterelement« auf dem Display, und der Automat weigerte sich stur, überhaupt noch irgendwas von sich zu geben.

Eva hätte an ihm vorbeigreifen und ihm mit ihrem magischen Zeigefinger ein dampfendes Getränk rauslassen können. Doch das machte sie nicht. Sie war zu beschäftigt mit ihrer Idee, den Ort dichtzumachen. Oder war es ein ganz bewusstes Signal an ihn?

Es war zwecklos, auf eine wundersame Rettung zu hoffen, in Form von Servicepersonal, das auftauchte und das Filterelement wechselte, was auch immer das sein mochte.

Die Gemeinde hatte nämlich ein gebrauchtes Gerät gekauft, statt eines zu leasen, bei dem der Kundendienst gleich inklusive war. In erster Linie deswegen, weil das eine ziemlich bescheidene Investition bedeutete, im Vergleich zu den laufenden Kosten für einen Leasingvertrag. Aber auch weil der Verbrauch von Wasser, Kaffee und Strom gleich wesentlich niedriger ausfiel, wenn die Maschine nicht funktionierte. Welcher Trottel hatte diese Entscheidung eigentlich getroffen? Per ahnte, dass er das selbst gewesen sein könnte. Aber er fand, dass er trotzdem das Recht hatte, sich über den Wahnwitz der gesichtslosen Bürokratie aufzuregen.

Methodisch begann er, sämtliche Knöpfe für die verschiedenen Kaffeearten zu drücken, einen nach dem anderen. Es war Montagmorgen. Einer von ihnen musste doch funktionieren. Es gab keine Alternative.

»Das kann doch nicht dein Ernst sein?«, sagte er im Versuch, Evas Aufmerksamkeit von seiner drohenden Niederlage abzuwenden. »Würde der Staat da nicht mit einer Art Zwangsverwaltung eingreifen?«

»Na, viel Glück sag ich da nur! Das können sie brauchen.«

Sie nickte ihm zu und schien den Raum verlassen zu wollen. Per schaute gedankenverloren aus dem Fenster und ergriff dann das Wort. Sekunden später war ihm klar, dass er die Klappe hätte halten sollen. Nicht nur, weil er dann mit der Kaffeemaschine allein geblieben wäre und eine härtere Gangart hätte anschlagen können, sondern auch weil seine von den Familienfinanzen schwer bedrängte Kollegin einen für sie ganz ungewöhnlichen Ausbruch hatte.

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