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Ein Herz und ein Pony

hier erhältlich:

In der Liebe zum Pony liegt die Rettung

Eigentlich wollte Emmie nie wieder reiten, nachdem ihr Vater sie ohne ihr Wissen in einen Dopingskandal verwickelt hat. Doch als ihre Mutter aus Versehen das abgemagerte Pony ersteigert, kann Emmie nicht anders: Sie will die Stute retten. Auf irgendeine unerklärliche Weise fühlt sie sich ihr verbunden und für sie verantwortlich. Aber um einen Pferdeflüsterer zu engagieren, braucht Emmie die Zustimmung beider Eltern und muss wieder mit ihrem Vater sprechen. Können Emmie und ihr Pony sich vielleicht gegenseitig retten?

Wunderschöner Roman für Pferdemädchen

Über Familie, Gemeinschaft und das größte Glück auf Erden

Für Fans von Gina Mayer und Sarah Lark!



  • Erscheinungstag: 24.08.2021
  • Seitenanzahl: 240
  • Altersempfehlung: 10
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783505144363

Leseprobe

1. Kapitel

Emmie zog die Decken vom Gesicht und betrachtete ihren in die kalte Luft aufsteigenden Atem. »Dampf«, sagte sie. Dann zog sie die Decken wieder hoch. »Kondensation«, murmelte sie. Mit leichtem Stirnrunzeln suchte sie nach einem weiteren Wort. Unzufrieden mit ihrer Wahl flüsterte sie schließlich »Nebel« in die Wolldecke.

Draußen vor dem kleinen quadratischen Fenster am Fußende ihres Bettes flitzten die grauen Umrisse von Schwalben vorbei. Die Außenbeleuchtung war angegangen, als Emmies Mum Feuerholz aus dem Carport geholt hatte, und hatte die Vögel aufgescheucht. In Emmies enges Zimmer drang gerade so viel Licht, dass sie auf ihrer Armbanduhr erkennen konnte, wie spät es war. 5 Uhr 35. Um diese Zeit war sie immer zu Reitturnieren aufgestanden – früher. Da wäre sie jetzt losgezogen und hätte Mähne und Schweif ihres Ponys Chet eingeflochten. Sie gestand sich ein Seufzen zu. Wenigstens wusste sie, dass Chets neue Besitzer ihn gut versorgten.

Sie drehte sich auf die Seite und hörte, wie ihre Mutter durchs Haus lief. Die alten Wände waren dünn, und die Geräusche verrieten ihr, wo ihre Mum gerade war und was sie machte. Das schrille Quietschen der Fliegentür und das Klappern der Ofentür bedeuteten: Das Feuer brannte, und bald würde es warm werden in der kleinen Küche.

Unterm Dach hämmerte es. Das heiße Wasser lief durch die kalten Rohre, die sich ausdehnten. Zum Glück war das Wasser über Nacht nicht eingefroren. Emmie wusste die vertrauten Geräusche zu schätzen – es war gut, wieder im eigenen Bett zu liegen. Sie hatte gerade vier Tage mit ihrem Dad Steven und seiner neuen Frau Caroline verbracht. Emmie nannte sie nur Papp-Caroline. Natürlich nicht direkt. Die Frau war total steif und langweilig. Wenigstens musste Emmie da in den nächsten sechs Monaten nicht wieder hin. Ihr Dad würde nämlich wegfahren – mich verlassen, zurücklassen, dachte Emmie –, weil er in Deutschland arbeiten und irgendein großes Geschäft für eine Pharmafirma abschließen sollte. Offenbar war das eine einmalige Chance für ihn.

Sie hörte, wie ihre Mutter in ihren Mokassins den Flur runter schlurfte. Emmie beobachtete den sich drehenden Türknauf, dann erschien das Gesicht ihrer Mutter in dem schmalen Lichtstreifen, der in ihr Zimmer fiel.

»Morgen, Emmie, hast du den Buschkauz gehört? Das ist ein gutes Zeichen«, sagte sie, dabei schlang sie ihr dunkles Haar zu einem losen Knoten im Nacken zusammen. Ihre Augen strahlten.

»Nein«, sagte Emmie, die sich aufsetzte und die Ohren spitzte, um den Ruf des Nachtvogels zu hören. Ihre Mutter glaubte an »Zeichen«, ganz besonders an Zeichen von Vögeln.

Mit entschuldigender Miene sagte ihre Mum: »Er ist weg, ich habe ihn erschreckt, als ich Holz geholt habe. Ich dachte, davor hättest du ihn vielleicht gehört – und, so leid es mir tut, es ist Zeit aufzustehen. Wieder mal erwartet uns ein großes Abenteuer, eine Expedition, eine Forschungsreise. Komm mit und zieh dich in der Küche an, da ist es schön warm.« Sie drehte sich um und ging den Flur wieder hoch, dabei trällerte sie fröhlich: »Und ich finde, Abenteuer, Expedition, Forschungsreise hat die dreifache Punktzahl verdient. Also, ich mein ja nur.« Sie schien höchst zufrieden mit sich zu sein.

»Kann sein, aber ich bin ja noch nicht mal wach!«, rief Emmie. Sie schwang die Beine aus dem Bett, sog scharf die Luft ein und murmelte: »Eisig, frostig, arktisch.«

»Für meine Ohren klingst du wach, Emmie-Esperanza-Hope!«, rief ihre Mutter zurück, die nun nicht nur die lange spanische Version ihres Namens benutzt hatte, sondern auch noch den Kosenamen ihres Vaters für sie.

»Na gut«, sagte Emmie. Sie schnappte sich ihre Sachen und huschte den Flur entlang. »Aber Emmie, Hope und Esperanza lasse ich nicht gelten, Namen zählen nicht, und kein Mensch nennt mich Hope, außer Dad und Papp-Caroline.«

»Einverstanden«, sagte ihre Mum mit einem Lächeln. »Aber vielleicht solltest du lieber bei ›Caroline‹ bleiben.«

»Mach ich, sobald sie mich Emmie nennen.« Sie grinste zurück. Sie hatte kein Interesse daran, irgendwas über Caroline zu wissen oder über sie zu reden, und sie war sich sicher, dass das auf Gegenseitigkeit beruhte.

Francesca, Emmies Mum, hatte das »3-für-1«-Wörterspiel vor zwei Jahren erfunden, auf der langen Fahrt zu Emmies Dad. Damals waren sie das erste Mal seit der Scheidung voneinander getrennt gewesen, und Emmie hatte das kleine Häuschen, das sie gemeinsam bewohnten – diese Hütte, wie ihr Vater gern sagte –, verlassen, um ihn in seiner modernen Wohnung in der Stadt zu besuchen. Sie war nervös gewesen, und ihre Mum hatte sie mit der Herausforderung, jeweils drei Wörter für eines zu finden, ablenken wollen. Die ersten drei Wörter, die Emmie damals in den Sinn kamen, waren »reisekrank, übel, zum Kotzen« gewesen. Kurz darauf hatte sie Letzteres in die Tat umgesetzt, als ihr Lieferwagen sich auf dem Weg zur Küste die Blue Mountains hinaufgeschlängelt hatte. Trotz des etwas unglücklichen Starts hatten sie an diesem Spiel festgehalten.

»Tut mir leid, dass ich dich so früh aus dem Bett hole«, sagte ihre Mum, während sie das Feuer schürte, dass die Funken durch die Luft tanzten. Emmie spürte die Hitze im Gesicht und nuschelte ein »Ist okay«, während sie sich den dicken braunen Pullover über den Kopf zog.

Den hatte sie auf der Rückreise von Sydney in einem Second-Hand-Laden gefunden. Unten um den Saum herum war ein wollweißes Pferdemuster eingestrickt. Emmie liebte diesen Pullover. Allerdings hatten sie ihn drei Mal waschen müssen, bis der Geruch nach Mottenkugeln verschwunden war. Das hatte ihren Entschluss, ihre Kleider nur noch in Wohltätigkeitsläden zu kaufen, ins Wanken gebracht. Ihr Dad dachte ohnehin, dass sie das nur machte, um ihn zu nerven, weil er nämlich eine Vorliebe für neue, funkelnde Sachen mit fetten Logos hatte. Aber das war es nicht, jedenfalls nicht so ganz. Emmie fuhr mit dem Finger am Pulloversaum entlang. Die Doku über die Textilverschwendung auf der Welt, die enorme Müllberge hervorbrachte, fiel ihr wieder ein. Nach diesem Film hatte sie eine Woche lang Albträume gehabt.

Mit bitterem Lächeln zog Emmie den Gürtel durch die Schlaufen der Jeans. Sie dachte an das jüngste Angebot ihres Vaters. In der letzten Woche hatte er versucht, sie zum Besuch eines Internats zu überreden. Er war überzeugt davon, dass Francesca Emmies Leben ruinierte, indem sie sie mit aufs Land genommen hatte, wo sie weit weg war von allem, was in seinen Augen zu einer »erstklassigen« Ausbildung gehörte.

Emmie durchschaute ihn mühelos. Wenn er seine Tochter auf eine Privatschule schickte, war das ein Zeichen seines Erfolges. Wie sah das denn auch aus, wenn die Kinder seiner Mitarbeiter auf alle möglichen feinen Privatschulen gingen und die Tochter von Shiny Steve auf eine öffentliche Schule in einer Kleinstadt auf dem Land? Sein letzter Bestechungsversuch hatte darin bestanden, Emmie anzubieten, ein Internat mit dem Schwerpunkt Reiten zu besuchen und ihr ein neues Pferd zu kaufen. Ihr beinahe nagelneuer Hänger, sagte er, sei ja immer noch eingelagert. Emmie hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, ihrer Mum davon zu erzählen.

Für ihren Dad war Gewinnen alles. Emmie lief es eiskalt den Rücken runter, als sie daran dachte, wie er sich auf einigen ihrer Dressurturniere verhalten hatte. Grob zu den Veranstaltern, unhöflich zu den Reitern. Emmie hatte doch nur mitmachen wollen mit ihrem Pony. Klar hätte sie genauso gern gewonnen wie alle anderen, aber eigentlich war sie schon glücklich, wenn es einfach nur gut lief oder sie was Neues lernte. Das hatte Shiny Steve nie begriffen. Ihm war weder aufgefallen, wie willig Chet gegangen war, noch hatte er verstanden, dass es Emmie reichte, einfach dabei zu sein, Spaß zu haben und das Gefühl, dass die harte Arbeit sich gelohnt hatte. Für Steven musste mindestens eine Schleife herausspringen, sonst galt der Tag als verschwendet.

Dann war das große Turnier des Pony-Dressurclubs gekommen. Drei Tage vor der Veranstaltung hatte Chet ein wenig gelahmt, nicht schlimm, doch so ganz in Ordnung war er nicht. Er hatte sich auf der Weide eine Zerrung geholt. Der Tierarzt hatte geraten, ihm eine Woche Ruhe zu gönnen und dann zu schauen, wie es ihm ging. Emmie war enttäuscht gewesen, aber das Ende der Welt war das nicht gewesen. Schließlich würde Chet wieder gesund werden. Aber Steven hatte endlos lamentiert, weil Emmie es jetzt nicht in die Nationalmannschaft schaffen würde usw. Dabei hatte Emmie sich keinerlei Illusionen gemacht, so etwas erreichen zu können. Steven hatte sich aufgeführt, als ob er der Reiter wäre.

Doch dann, nach nur zwei Tagen, war Chet wieder fit gewesen. Emmie war verblüfft. Sie hatte allerdings nicht geahnt, dass Steven dem Pony heimlich die Schmerzmittel verabreicht hatte, die nach einer früheren Verletzung übrig geblieben waren. Emmie hätte das auch nie erfahren, wenn sie bei dem Turnier nicht zufällig zu einem Dopingtest herausgezogen worden wäre. Chet war positiv – und Emmie wurde für zwölf Monate von allen Turnieren ausgeschlossen. In den sozialen Medien war die Hölle los gewesen. Selbst jetzt grauste es Emmie noch, wenn sie an all das zurückdachte, das über sie gesagt worden war: Sie sei eine Betrügerin, sie denke nur ans Gewinnen und nicht an ihr Pferd. Das Schlimmste war, dass viele von den gemeinen Kommentaren von Leuten kamen, die sie für ihre Freunde gehalten hatte.

Seitdem war Emmie nicht mehr geritten. Als Steven vorgeschlagen hatte, Chet zu verkaufen und ein größeres Pferd anzuschaffen, war Emmie einverstanden gewesen. Sie war aber fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass sie niemals ein anderes Pferd finden würde. Was ihr Vater getan hatte, hatte ihr das Reiten verleidet. Sie konnte es nicht ertragen, wieder zurück auf den Platz zu gehen, wenn die Leute über sie redeten. Und jetzt war sowieso alles anders …

»Wie fühlst du dich heute?«, fragte ihre Mum und holte sie damit wieder zurück in die Gegenwart.

»Ganz okay, glaube ich«, sagte Emmie. »Zumindest tut mir nichts weh.«

Sie spielte mit der Mütze herum, ehe sie die auf den Kopf stülpte, die langen glatten Haare ließ sie über die Ohren hängen.

Emmie erholte sich gerade vom Pfeifferschen Drüsenfieber. Das Virus war nach drei Wochen verschwunden, aber die starke Müdigkeit schleppte sie immer noch mit. Der Arzt hatte gesagt, sie dürfe noch einen Monat nicht zur Schule. Emmie lernte, wenn sie konnte, und schlief viel, aber heute ging es ihr so weit gut.

»Sollen wir das große Abenteuer für eine Frühstückspause mit heißem Kakao unterbrechen?« Ihre Mum lächelte und stellte die Thermobecher auf die Sitzbank.

»Sicher, definitiv, aber so was von.« Emmie lächelte sie an.

Sie wusste, dass ihre Mutter die Fahrt »großes Abenteuer« nannte, damit es sich nach Spaß anhörte. Aber sie hätte sich keine Sorgen machen müssen, für Emmie war es wirklich in Ordnung, sie zu begleiten.

Sie waren unterwegs zu einer Haushaltsauflösung auf einer Farm. Francesca kaufte gebrauchte Möbel bei Auktionen und Entrümpelungen und restaurierte jedes Stück in ihrem eigenen extravaganten und ziemlich farbenfrohen Stil. »Spanische Vorfahren«, sagte sie immer, wenn Leute sie fragten, woher ihre Inspiration komme. Emmie war sich nicht sicher, ob sie überhaupt spanische Vorfahren in der Familie hatten, aber den Leuten gefiel die Geschichte. Manchmal waren die Möbel für Emmies Geschmack ein bisschen zu wild gemustert, aber die Leute liebten die verrückten Sessel und bunten Sofas und kauften sie in den Läden in der Stadt, die sie verlassen hatten.

Vor zwei Jahren hatten sie noch in Sydney gelebt, wo alles in ihrem Leben so leicht, hell und glänzend gewirkt hatte. Sie hatten nicht weit vom Strand in einem weißen Haus gewohnt, mit weißen Möbeln und hellem Holz überall. Alles war ordentlich und an seinem Platz gewesen. Verklemmt, fand Emmie, wenn sie jetzt darüber nachdachte.

Ihr Dad hatte einen Topjob als Verhandlungsführer bei Abschlüssen internationaler Firmen, er machte große Geschäfte und war oft unterwegs auf Geschäftsreisen. Und wenn er heimkam, mochte er sie und das Haus genau so, wie sie waren. Seine freien Wochenenden verbrachte er mit Emmie, die er zu Reitturnieren oder Reitstunden begleitete. Pferde waren nie Francescas Ding gewesen, sondern das von Emmie und ihrem Dad.

Und der war eines Tages ohne Gepäck von einer Geschäftsreise heimgekehrt.

Er sei nach Hause gekommen, hatte er gesagt, um ihnen mitzuteilen, dass er nicht wieder nach Hause kommen würde. Er würde sie verlassen, ausziehen. Emmie erinnerte sich noch deutlich an seine Silhouette im grellen Sonnenschein von Sydney, als er jenes letzte Mal aus der Haustür gegangen war. Und dann, einfach so, verschwand er für sechs Monate aus ihrem Leben. Der Kontakt zu ihm bestand nur noch aus Briefen vom Anwalt und gelegentlichen unbeholfenen Telefongesprächen. Vor diesen Anrufen fürchtete Emmie sich noch immer, und sie war ziemlich sicher, dass es ihm genauso ging. Sie fragte sich, ob sie wohl jemals wieder so miteinander reden würden wie damals auf den Autofahrten früh morgens auf dem Weg zu Turnieren, mit dem Hänger im Schlepp, nur sie beide. Doch wenn er das nicht vermisst, dachte sie, dann tue ich das auch nicht.

»Hast du alles, was du brauchst, Emm?« Francesca schnappte sich Handy und Laptop und schlang sich einen knalligen Schal um den Hals. Sie trug ein Stirnband aus Kunstpelz. Eigentlich hätte das lächerlich aussehen müssen, aber wegen ihrer olivfarbenen Haut und den dunklen Haaren hatte es Stil. Francesca sah aus wie eine Künstlerin und passte damit perfekt in ihr buntes, chaotisches Haus, das vollgestopft war mit Möbeln, von denen sie sich nicht trennen konnte – beziehungsweise alten, abgewrackten Stücken, die darauf warteten, durch Francescas Liebe wieder zu früherer Schönheit erweckt zu werden. So sah Emmie sich und ihre Mum nämlich manchmal: wie Möbelstücke, die Steve hatte stehen lassen und die Francesca mit ihrer Liebe ins Leben zurückgeholt hatte.

Emmie schüttelte den Kopf und rief ihrer Mutter zu: »Alles klar, ich bin so weit!«

Auf dem Weg zur Haustür holte Francesca sie ein, stieß die Tür mit der Hüfte auf und meinte: »Na, worauf warten wir noch? Große Safari, Abenteuer, Expedition – wir kommen!«

»Eher wohl großes Sofa, Recamière, Couch – wir kommen«, sagte Emmie. »Du weißt, dass ich nur wegen der heißen Schokolade mitkomme, oder?« Langsam stieg sie die beiden glitschigen Holzstufen vor der Haustür runter, aber sie lächelte den Rücken ihrer Mum an. Das musste man ihr lassen, sie glühte vor Begeisterung, auch bei Eiseskälte. Der Mond stand am Himmel, die Sonne würde noch lange nicht aufgehen. Als Emmie das Gartentor aufmachen ging, hörte sie den Buschkauz aus den Bäumen hinter dem Haus rufen. Wie einsam das klang. Ein kleiner Schauer lief ihr den Rücken runter.

2. Kapitel

Emmie schob das bereifte Tor auf, damit Francesca ihren braunen Van durchfahren konnte, dann schüttelte sie die Raureifflöckchen ab, ehe sie schmelzen und ihr die Finger nass machen konnten. Blaue Abgase wirbelten in die Luft, im roten Schein der Rückleuchten färbten sie sich lila. Emmie schloss das Tor hinter dem Van und fragte sich, warum sie sich überhaupt die Mühe machten, schließlich war links und rechts davon nicht mal ein Zaun, es stand ganz allein auf der Auffahrt, wie ein Footballspieler ohne Mannschaft. Nichts deutete darauf hin, dass hier je ein Zaun gestanden hatte.

Francesca wischte mit der behandschuhten Hand auf dem Armaturenbrett des alten Möbelwagens Staub weg, den nur sie sehen konnte. Sie hatte den Van Van-essa getauft und das schlammfarbene Fahrzeug von dem Augenblick an geliebt, in dem sie sich zum ersten Mal hinters Lenkrad gesetzt hatte. Schnell war es zum dritten ständigen Expeditionsteilnehmer geworden. Van-essa hatte sie sicher in ihr neues Leben im Dorf Pippin gebracht und sich als treu und zuverlässig erwiesen, wenn Francesca auf der Suche nach Möbeln für ihr Geschäft durchs Land reiste. Van-essa hatte alle alten Stücke nach Hause gebracht, die ihnen letztlich den Lebensunterhalt finanzieren würden. Francesca redete mit Van-essa wie mit einer alten Freundin.

Während Emmie sich ins Warme setzte und ihren Gurt anlegte, steuerte ihre Mum Van-essa langsam auf die kleine Straße hinaus.

Emmie ließ den Blick durch die Sackgasse schweifen. Nebenan, in dem ordentlichen beigen Haus mit dem grünen Dach, brannte kein Licht. Hier wohnten die pummelige kleine Connie mit der weißen Dauerwelle und ihr Ehemann Percy mit den arthritischen Händen. Die hatte er vom jahrelangen Apfelpflücken in der Plantage, die er früher mal auf dem leeren Feld neben ihrem Haus betrieben hatte. Vor dem dunklen Himmel schlängelte sich träge der Rauch aus dem Schornstein, ihr Holzofen kokelte vor sich hin.

Dann kam das Haus von Pete und Doddsy, dem Baby Josh und Emmies bestem Freund Aiden. Die Wäsche hing schlaff auf einer gelben Leine unter dem Verandadach, das sich um das ganze blassblaue Holzhaus herumzog. Petes praktische Arbeitskleidung in Khaki und Dunkelblau baumelte neben den bunten Stramplern vom kleinen Joshua und Aidens aus Jeans und grauen T-Shirts bestehender Uniform. Gelbes Licht fiel aus den Küchenfenstern. Emmie konnte Doddsy in ihrem flauschigen rosa Morgenmantel an der Spüle stehen sehen.

Emmie reckte den Hals, damit sie an den Bäumen vorbei zu dem Fenster im ersten Stock gucken konnte. In Aidens Zimmer brannte ein schwaches Licht, das an- und ausging. Emmie lächelte, sie wusste, dass er ihr Zeichen machte, weil er gehört hatte, wie der Van auf die Straße gefahren war. Kein Wunder, Aiden schlief nicht viel.

Wenn er bei ihnen in der Küche saß – die lockigen Haare standen in alle Richtungen, und die langen, schlaksigen Gliedmaßen hingen vom Küchenhocker –, lag Francesca ihm immer damit in den Ohren, dass er den Fernseher aus seinem Zimmer schaffen sollte, dann würde er ganz bestimmt gut schlafen.

Aiden sagte nur: »Ja, Francesca« und machte sich nicht die Mühe, ihr zu erklären, dass er überhaupt nicht fernsah. Er war online und recherchierte zu Fotografie und Kameras. Aiden wollte Fotograf werden. Emmie kannte keinen anderen Menschen in ihrem Alter, der schon genau wusste, was er machen wollte, wenn er erwachsen war.

Ganz hinten, am Ende der Straße, lag der Eingang zum Grace-Park, der die Grenze ihres Viertels bildete. Aiden und Emmie nutzten den sich schlängelnden Pfad vom Hintereingang des Parks gern als Abkürzung auf dem Schulweg. Noch nie hatte Emmie andere Menschen hier gesehen, abgesehen von den Gemeindearbeitern, die den Rasen mähten.

»Stellst du Tom mal an?«, bat Francesca mit einer Kopfbewegung Richtung Armaturenbrett.

»Links abbiegen«, sagte die elektronische Stimme, die sie aus ihrem kleinen Dorf hinaus auf die Landstraße leitete und dann immer westwärts zu der zwei Stunden entfernt liegenden Farm, auf der die Auktion abgehalten wurde.

»Danke, Tom«, sagte Francesca und schlug gehorsam das Lenkrad ein.

Eingehüllt in die Wärme des Vans schaute Emmie rüber zu ihrer Mutter, deren behandschuhten Hände auf dem Lenkrad lagen. Sie konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Francesca war jetzt ganz anders als damals, nachdem Dad ausgezogen war und sie orientierungslos und in einem Schockzustand zurückgelassen hatte.

Während sie noch überlegt hatten, was sie nun machen sollten, hatte Francesca ihrem Vater, Emmies Opa, in dem kleinen Schuppen hinter seinem Vorstadthaus geholfen, alte Möbel zu restaurieren. Genau wie früher, vor ihrer Heirat. Diese Arbeit hatte nicht nur die Möbel, sondern auch Francesca wiederhergestellt.

Inspiriert von einem Zeitungsartikel waren sie an einem eiskalten Samstagmorgen übers Wochenende zu einem kleinen Dorf namens Pippin aufgebrochen, das angeblich ein heimliches Schmuckstück war, ein Ort, an dem man die Farben des Herbstlaubs besonders gut bewundern konnte. Mit neuem Plan und einem Ziel waren sie wieder in die Stadt zurückgekehrt. Pippin, mit seinen kleinen gemütlichen Häusern und den rauchenden Kaminen, war wie ein anderer Planet verglichen mit dem weißen Licht des Strandlebens, das sie aufgegeben hatten. Es war, als hätten die Herbstfarben Francescas Künstlerherz erweckt und ihnen beiden einen ganz neuen Anfang angeboten. An diesem Tag war nämlich Francescas Möbelladen geboren worden, und seitdem wuchs und gedieh das Unternehmen.

Draußen vor dem Fenster zog die Dunkelheit kilometerweise dahin, ab und zu aufgehellt durch eine Farm oder einen Melkstall. Eingelullt von den Geräuschen des Vans dämmerte Emmie weg. Sie wachte wieder auf, als sie in eine Ortschaft abbogen.

»Wo sind wir?« Emmie rieb sich die Augen.

»In Boondaloo«, sagte Francesca und zeigte auf das Schild über einem alten Pub. »Ich weiß nicht, wie du das siehst, aber ich könnte einen heißen Kakao und einen Muffin vertragen.« Sie manövrierte Van-essa auf einen Parkplatz in der nahezu leeren Straße.

Während Emmie geschlafen hatte, war der Tag angebrochen, und jetzt glomm ein heller Fleck hinter den tief hängenden grauen Wolken. Sie fröstelte, als sie aus dem Van kletterte. Die Sonne wärmte kein bisschen.

Sie schoben die hölzerne Schwingtür der einzigen Bäckerei auf, die zu dieser Zeit geöffnet war – oder vielleicht sogar der einzigen Bäckerei der Stadt, dachte Emmie, nachdem sie sich kurz umgeschaut hatte. Drinnen wurden sie von einem gebeugten Mann hinter dem Tresen begrüßt, der aussah, als sei er noch früher aufgestanden als sie – oder noch gar nicht im Bett gewesen. »Was kann ich für Sie tun?«, fragte er.

»Wir hätten gern zwei große Becher Kakao zum Mitnehmen, ohne Marshmallows«, sagte Francesca und reichte ihm die Reisebecher. »Und ein paar Muffins. Welche Sorten gibt es denn?« Francesca guckte hoffnungsvoll in die Vitrine.

»Nur eine, weiße Schokolade / Orange«, antwortete der Mann, der ihnen allem Anschein nach zu verstehen geben wollte, dass sie da von Glück reden konnten.

»Wunderbar, das erleichtert das Leben. Zwei davon, bitte«, sagte Francesca und kramte in ihrer Geldbörse. »Wissen Sie, wie weit wir noch fahren müssen bis zur Victoria-Auktion?«, fragte sie über das Getöse des Milchaufschäumers hinweg.

»Meinen Sie den Staat Victoria oder das Anwesen Victoria?«, fragte der Mann über die Schulter. Entweder war er ein Witzbold oder einfach unhöflich – schwer zu sagen.

»Das Anwesen.« Francesca lächelte, sie ließ sich nicht aus dem Konzept bringen.

»Wenn Sie die Stadt verlassen, folgen Sie dem Schild nach Harden, etwa fünfzehn Minuten. Sie können es nicht verfehlen – zweistöckiges Sandsteingebäude, groß, alt. Am Zaun hängen Wegweiser. Wenn Sie an der Gabelung der Straße landen, sind Sie zu weit gefahren.« Mit diesen Worten schob er die Becher über den Tresen und verpackte die Muffins in Tüten. »Wollten Sie die aufgewärmt mitnehmen?«

»Nein, danke, das ist gut so.« Francesca nahm das Gebäck mit einem Lächeln entgegen. »Schönen Tag noch.«

»Suchen Sie nach was Bestimmtem auf der Auktion?«, fragte der Mann, als sie gehen wollten. Er lehnte sich über den Tresen.

»Nein, gar nicht«, antwortete Francesca. »Ist nur so ein Hobby von uns, am Wochenende zu Auktionen zu gehen.«

»Dann ist ja gut.« Der Mann drehte sich wieder um. »Normalerweise gibt’s da nur einen Haufen alte Möbel und jede Menge Schrott von der Farm«, ergänzte er.

»Oh, das wollen wir doch hoffen!«, sagte Francesca. Sie hielt sich offenbar für clever. Der Mann zog eine Augenbraue hoch und grunzte.

»Der hatte ja gute Laune«, murmelte Emmie, als sie die Autotür zuzog. Francesca zuckte die Achseln und stellte ihren heißen Kakao in den Becherhalter.

»Vielleicht ist er nur kein Morgenmensch.« Sie ließ das Auto an.

»Vielleicht hätte er dann nicht Bäcker werden sollen, wenn er’s nicht so hat mit dem Morgen«, antwortete Emmie.

»Wenigstens sind wir fast da«, sagte Francesca. »Also habe ich jede Menge Zeit, mir in Ruhe alles anzuschauen. Hast du dran gedacht, dir ein Buch mitzunehmen?«

»Selbstverständlich.« Emmie pflückte ihren Muffin auseinander.

»Du darfst dich auch einfach mal ausruhen, weißt du«, zog ihre Mum sie auf. »Du musst nicht immerzu lernen.«

»Dieses Mal ist es ein Roman.« Emmie lächelte. »Bei Dad habe ich endlos gelernt.« Das stimmte. Sie hatte ihre treuen Physik- und Mathebücher benutzt, um sich Caroline und Dad vom Leib zu halten. Sie war nämlich fest entschlossen gewesen, Gespräche mit Caroline auf ein Minimum zu beschränken. Abgesehen davon wollte sie in der Schule nicht zu sehr hinterherhinken. Sie hatte so viel Unterricht versäumt.

»Ich hab keine Einwände«, sagte Francesca, die Gas gab, als sie die Hauptstraße entlangfuhr. »Ich hoffe bloß, dass du dich nicht langweilst.« Wortlos und mit einem Lächeln zeigte sie auf die schwarzen Rabenkakadus mit den gelben Flecken, die langsam über ihren Köpfen vorbeizogen. Sie lehnte sich über das Lenkrad und zeigte in die Ferne. »Guck, ich wette, das ist es.«

Emmie schob die Sonnenblende hoch. »Was hat der Bäcker gesagt: alt und groß? ›Runtergekommen‹ hat er wohl vergessen.« Das alte Haus wirkte kalt.

Ein »Ausverkauf«-Schild mit einem Pfeil drauf wies ihnen den Weg eine lange, breite, mit Kies aufgeschüttete Auffahrt hinauf, die eher was von einem Feldweg hatte. Dann ragte das Haus vor ihnen auf.

Francesca murmelte vor sich hin: »Genau, an der Weggabelung links und weiter zu den Schuppen.«

Kurz vor einer Besichtigung fing Francesca immer an schneller zu reden, weil sie so gespannt war, was sie finden würde. Emmie dachte oft, dass Francesca, hätte sie in grauer Vorzeit gelebt, bestimmt eine gute Jägerin gewesen wäre.

Van-essa bog auf einen Grünstreifen, und Emmie schaute durch die Bäume zum Haus rüber. Es war gewaltig. Aus buttergelbem Sandstein, mit einem geschmiedeten rostnarbigen weißen Eisengeländer an der Dachterrasse. Es wirkte, fand Emmie, so ungeliebt wie nur was.

»Guck mal.« Sie zeigte auf das Haus, das gerade die ersten schwachen Sonnenstrahlen des Tages abbekam.

An einem gefährlich schief stehenden Pfosten lehnte ein Schild, auf dem in verblasster Schrift »Victoria« stand.

»Wow«, seufzte Francesca. »Victoria muss mal ein stattlicher Besitz gewesen sein, was für ein großartiges altes Haus. Traurig, dass es so runtergekommen ist.«

»Sieht nicht so aus, als ob hier jemand wohnt.« Emmie reckte den Hals, um besser sehen zu können. Dabei wurde ihr klar, dass sie aus purer Gewohnheit nach irgendwas Ausschau hielt, das auf Pferde hindeutete – einem Reitplatz oder Ähnlichem – aber so was gab es nicht.

»Wahrscheinlich nicht«, sagte Francesca. »Das Anwesen ist ein Nachlass, alles muss raus heute.« Sie seufzte. »Stell dir mal vor, wie schön es hier im Sommer aussehen würde, wenn der Blauregen an der Veranda blüht. Aber wichtiger ist, dass es in diesem großartigen, wenn auch runtergekommenen Haus jede Menge wunderbare, hinreißende, interessante Schätze gibt, die versteigert werden!« Lange ließ sich Francesca nicht von ihrer Mission ablenken.

Emmie klammerte sich am Griff über der Tür fest, als sie zum Parken über die Wiese rumpelten. Sie waren nicht die Ersten hier, bei Weitem nicht. Die meisten Fahrzeuge waren Pick-ups und Jeeps – Vans oder Lieferwagen von Möbelhändlern, die gegen ihre Mutter bieten könnten, waren nicht zu sehen. Hoffentlich blieb das auch so.

3. Kapitel

Fußspuren im bereiften Gras wiesen ihnen den Weg zur Auktion, beim Gehen knirschte das Eis unter ihren Stiefelspitzen. Sie quetschten sich durch eine kleine Holzpforte zwischen zwei niedrigen Stallgebäuden und gelangten auf einen kopfsteingepflasterten Hof, der von einer riesigen Scheune und einer Reihe von großen alten Ställen und einem Schuppen mit angeschlossenen Pferchen umgrenzt wurde. In der Mitte waren Planen ausgebreitet und große Tische aufgebaut, bedeckt mit Maschinenteilen, Werkzeug und kistenweise altem Hausrat. Emmie hatte nicht die geringste Ahnung, wozu all das gut sein sollte. Stapel alter Familienfotos, mit Gummibändern zusammengehalten, lagerten trocken und vergilbt in einem Weidenkorb. Der Anblick machte sie irgendwie traurig. Wo waren eigentlich ihre Familienfotos? Nicht, dass das noch eine Rolle spielte, jetzt, wo sie keine Familie mehr waren. Sie zog die Mütze über die Ohren und hielt Ausschau nach Francesca.

Die schlenderte auf der anderen Seite vom Hof umher. Emmie musste lächeln. Francesca achtete darauf, sich nicht anmerken zu lassen, an welchen Stücken sie Interesse hatte.

Emmie beschloss, sich in der Scheune und den Ställen umzuschauen. Unter dem Blechdach der Scheune war es sogar noch kälter als draußen. Schwache Lichtstrahlen stahlen sich durch Löcher in den hölzernen Wänden, und der Staub, den die Leute mit den Füßen aufwirbelten, stieg in kleinen Wölkchen auf.

Ein altes Pferdegeschirr hing starr an der Wand, aber niemand interessierte sich dafür. Stattdessen sahen sich die Leute eine schwarze Pferdekutsche mit vier Rädern genauer an. Ein Seil hielt die Betrachter auf Abstand, und auf dem Sitz lag ein Schild mit der Aufschrift »NICHT ZU VERKAUFEN«.

Emmie ging um die Gruppe herum, denn etwas auf der anderen Seite des Schuppens hatte ihr Interesse geweckt. Ein Stapel alter Sättel – Auktionslos Nummer siebenundvierzig. Das Leder der Pauschen und die Sitzflächen waren rissig. Schichten von Staub und Dreck verrieten, dass die Sättel schon sehr lange nicht mehr benutzt worden waren.

Plötzlich fragte sich Emmie, wie ihr sauberkeitsfanatischer-weiße-Möbel-ja-kein-Schmutz-Dad eigentlich den ganzen Matsch, Staub und die Pferdehaare ertragen hatte, die Emmie immer ins Haus geschleppt hatte. Vielleicht war es da hilfreich gewesen, dass Chet eingestellt gewesen war. Pferde auf Armeslänge … Emmie schüttelte den Kopf. Für solche Sachen hatten sie kein Geld mehr – Francesca jedenfalls nicht. Emmies Dad hatte das Geld, und er hatte sein Angebot gemacht – aber der Preis, dass sie von ihrer Mum wegzog, war zu hoch.

Wenn das Geschäft richtig laufe, hatte Francesca gesagt, würden sie eine Reitmöglichkeit für Emmie finden. Emmie sprach Francesca nie darauf an. Ihre Mum tat wirklich ihr Bestes – und abgesehen davon wollte Emmie eigentlich nicht die Pferde anderer Leute reiten. Sie war nie der Meinung gewesen, dass sie irgendwas richtig toll konnte, aber auf Chet war sie immer stolz gewesen. Superstars waren sie nicht gewesen, aber sie hatten hart gearbeitet und waren ganz gut zurechtgekommen.

Emmie solle ihren Vater bitten, Reitstunden zu bezahlen, hatte Francesca vorgeschlagen, dann könne sie wenigstens wieder zurück in den Sattel. Aber Emmie hatte das abgelehnt. Mit ihrem Vater würde sie nie wieder über Pferde reden. Und Francesca hatte sie verboten, dieses Thema anzuschneiden.

Emmie hörte, wie der Auktionator die Leute willkommen hieß. Mit einem Finger fuhr sie noch mal über die Sitzfläche des alten Sattels, dann verließ sie die Scheune und machte sich auf die Suche nach Francesca. Die war nicht schwer zu finden. Mit ihrem Pelzstirnband und dem bunten Schal, den sie sich kunstvoll um den Hals geschlungen hatte, stach sie aus der Menge der Farmer in Dunkelblau und Khaki hervor wie ein exotischer Vogel. Emmie lächelte. Wenn Francesca ein Papagei war, dann war sie selbst eine braune Ente – nichts Schrilles, an ihre Umgebung angepasst. So gefiel es ihr. Als sie bei ihrer Mum angekommen war, flüsterte sie:

»War was Gutes dabei?«

»Ja«, antwortete ihre Mum leise, »ein schönes Sofa, Armlehnen und Rücken aus Holz, und ein großer alter Sessel. Steht leider ganz unten auf der Liste, das könnte also ein langer Tag werden.« Sie schaute Emmie mitfühlend an.

»Alles gut, ich guck zu, wenn die Kisten mit dem Kram versteigert werden«, sagte Emmie und ging rüber zu den Tischen.

Es sah aus, als ob jemand sämtliche Schubladen und Schränke einfach in Kisten entleert hätte. Einiges schien Ramsch zu sein, in anderen Kisten war vielleicht ein gutes Stück, und der Rest war total mysteriös. Emmie überlegte, ob die Leute vielleicht boten, weil sie Spaß am Risiko hatten.

Als Bratwurstduft über den Hof zog (das Auktionshaus spendierte Wurst) und die letzten Sachen aus den Kisten versteigert waren, fing Emmies Magen an zu knurren. Der Muffin hatte das Loch nicht füllen können, das die Kälte ihr in den Bauch gefressen hatte. Sie machte sich auf den Weg zu Francesca, die gerade mit einem Mann in einem blauen Arbeitshemd redete. Dem muss eiskalt sein, dachte Emmie, die beobachtete, wie er an seine Mütze tippte und davonging.

»Wer war das?«, fragte sie.

»Hab seinen Namen nicht verstanden«, sagte Francesca. »Wir haben nur ein bisschen geplaudert beim Warten.«

Emmies Magen knurrte wieder, diesmal lauter. Francesca zog eine Augenbraue hoch. »Möchtest du eine Wurst? Riecht wirklich gut.«

»Ja, bitte. Und dann setze ich mich in Van-essa und lese eine Weile, wenn das okay ist.«

»Klar. Geht es dir auch gut?« Plötzlich war Francesca beunruhigt.

»Mir geht’s gut«, antwortete Emmie. »Ich dachte nur, ich geh lesen, um etwas Zeit totzuschlagen.«

»Ich würde ja mitkommen, aber wenn ich verpasse, wie meine Posten aufgerufen werden, dann wäre die ganze Warterei umsonst gewesen.« Francesca verdrehte die Augen. Sie reichte Emmie die Schlüssel und sagte: »Aber du verriegelst die Türen, okay?«

Emmie ließ Francesca weiter auf der Lauer liegen, holte sich ihre Wurst im Brötchen und schlenderte zum Van. Als sie die Schiebetür aufzog, stieg ihr der Geruch von Kakao und Muffin in die Nase – und der leicht muffige Geruch der alten Wolldecken, die Francesca hinten im Laderaum aufbewahrte, damit sie die Möbel abdecken konnte. Emmie schnappte sich ihren Roman und zerrte einen Haufen Wolldecken auf den Boden, aus denen sie sich ein Nest machte. Ein paar Stunden später, der Roman war gelesen, gab sie es auf, gegen die Müdigkeit anzukämpfen, die sie schon seit Stunden umschlich. Ich mach einfach einen Moment die Augen zu, und dann guck ich, wie Mum sich schlägt. Sie merkte nicht mal, wie sie einnickte.

Als sie aufwachte, hörte sie Männer lachen, die am Van vorbeigingen. Sie hatte das Gefühl, stundenlang geschlafen zu haben, aber ob das stimmte, konnte sie hinten im Van nicht feststellen. Sie setzte die Mütze wieder auf, zog die Tür auf und schnappte nach Luft. Müsste sie raten, würde sie sagen, dass es zwei Uhr nachts war – aber es war noch hell. Eisige Kälte lag in der Luft. Noch eine Stunde, dann wäre es höchste Zeit, nach Hause zu fahren. Nicht zu fassen, dass sie so lange geschlafen hatte.

Schon als sie durchs Tor ging, sah sie, dass die Reihen sich gelichtet hatten, in der Ferne standen aber immer noch Leute. Francesca schien sich nicht vom Fleck gerührt zu haben, seit Emmie sie das letzte Mal gesehen hatte. Mann, ist die geduldig, dachte Emmie.

Ihre Mum sah sie kommen und grinste von einem Ohr zum anderen. »Das muss ja ein gutes Buch gewesen sein! Hast du’s durch?«

»Ja. Wie lange hab ich geschlafen?«, fragte Emmie gähnend und trat von einem Fuß auf den anderen, um die Kälte abzuwehren.

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